Schattenelfen - Die weinende Stadt - Bernhard Hennen - E-Book

Schattenelfen - Die weinende Stadt E-Book

Bernhard Hennen

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Beschreibung

Alathaia, die Fürstin von Langollion, schien endgültig besiegt zu sein. Doch dann wendet sie das Blatt der Geschichte: Sie findet eine Waffe, mit der sie binnen Augenblicken eine ganze Stadt vernichten könnte. Nun fordert sie ihr Fürstentum zurück und obendrein den Kopf der Elfenkönigin Emerelle. Sich ihr jetzt noch zu widersetzen, heißt einen grausamen Tod zu sterben – und das Leben tausender Unschuldiger zu gefährden. Finden der Wolfself Melwyn, die Lutin Zafira und der Kobold Broja eine Lösung dieses schrecklichen Dilemmas? Sonst wird in Albenmark ein Zeitalter der Tyrannei anbrechen ...

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Seitenzahl: 593

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Das Buch

Ganz Langollion ist besetzt, der Widerstand gegen die Elfenkönigin Emerelle zusammengebrochen. Die gesellschaftliche Utopie eines freien, nur den schönen Künsten verpflichteten Gemeinwesens scheint ausgeträumt zu sein.

Doch damit will sich die vertriebene Fürstin Alathaia nicht abfinden. Sie lässt nichts unversucht, eine Kreatur zu beschwören, so schrecklich und machtvoll, dass sich ihr Schicksal noch einmal wendet.

Emerelle setzt alles daran, dies zu verhindern, selbst als sie dazu mit Melvyn, der Lutin Zafira und dem Drachen Morgenstern in die verfluchte Zwergenstadt Ishaven aufbrechen muss: ein Ort, den seit Jahrhunderten niemand mehr zu betreten wagt, weil die Verbrechen, die dort begangen wurden, etwas Dunkles geweckt haben. Etwas, so scheint es, von dem Alathaia glaubt, sie könne es beherrschen.

Die Fürstin Langollions ist in ihrem Zorn so maßlos geworden, dass selbst ihr treuester Gefolgsmann, der Hauptmann Nanduval, an ihr zu zweifeln beginnt. Ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit entbrennt, und Alathaias Vorsprung scheint kaum noch aufholbar …

Der Autor

Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Mit seiner »Elfen«-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.

Bernhard

HENNEN

SCHATTENELFEN

DIE WEINENDE STADT

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Bernhard Hennen

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Uta Dahnke

Coverkonzept: Bernhard Hennen

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,

unter Verwendung einer Illustration von Kerem Beyit

Karten [>>]: Andreas Hancock

Illustration Elfenknoten: Olaf Sigel

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-29933-0V001

www.heyne.de

Für den Drachen auf Reisen

»Ein Widerstand um jeden Preis ist das Sinnloseste,was es geben kann.«

(Friedrich Dürrenmatt,»Romulus der Große«)

DAS ENDE

Es war nun an ihm zu entscheiden, auf welche Art sie sterben würden. Swid ließ sich gegen die gut gepolsterte Lehne des Kapitänssessels sinken und legte die Hände auf die Steuerknüppel rechts und links des komfortablen Sitzes, der dazu geschaffen war, dass man endlose Stunden in ihm verbrachte und schwere Entscheidungen traf. Die Bolzenspucker leckte wie ein Sieb. Ganz gleich, wie sehr sie sich anstrengten, sie würden den Untergang des Tauchboots allenfalls hinauszögern können.

Er lauschte auf das dumpfe Hämmern. Grumgri trieb, wo die Bolzen fehlten, Korkstücke in die wasserspeienden Löcher. Es waren zu viele dieser Lecks. Grumgri führte einen aussichtslosen Kampf, und dennoch gab er nicht auf. Auch das leise Quietschen der Pumpe verstummte keinen Herzschlag lang. Nur die große Kurbelwelle stand still. Die Mannschaft wartete auf Swids Befehle. Sollten sie ausbooten? Er könnte die Bolzenspucker bis auf zehn Schritt ans Ufer heranbringen, bevor sie auf Grund lief. Vielleicht sogar noch ein kleines bisschen näher. Aber sie würden auf jeden Fall ein Stück durch das eisige Wasser waten müssen und völlig durchnässt das unwirtliche Ufer erreichen. Er hatte dort nur Schnee und Felsen gesehen. Kein Holz, um Feuer zu machen, keine Höhle, die Schutz vor dem Wind versprach. Vermutlich würden sie alle, keine Stunde nachdem sie die Bolzenspucker verlassen hätten, erfroren sein. Irgendwann würden die Trolle ihre Leichen finden und einen Festschmaus halten, und dann würden sie die Bolzenspucker nahe dem Ufer ausschlachten und das Eisen nutzen, um Waffen zu fertigen.

Die andere Möglichkeit wäre, aufs Meer hinauszufahren. Darauf zu hoffen, dass sie es zu irgendeinem belebten Küstenflecken schafften oder den Weg eines Seglers kreuzten und an Bord genommen wurden. Doch welches Schiff würde sich schon im Winter hoch in den Norden verirren? Swid lächelte. Außer ihnen wagte das keiner. Wenn sie aufgetaucht fuhren, würde ein Teil der Lecks kein Wasser ziehen. Das würde ihnen ein paar zusätzliche Stunden verschaffen. Aber wozu das Unausweichliche hinauszögern? Im Grunde war die Wahl leicht: Sie würden den Trollen kein Futter und kein Eisen liefern!

Kein Aal, von dem er je gehört hatte, hatte so weite und so abenteuerliche Fahrten unternommen wie die Bolzenspucker. Sie hatten die Blaue Halle entdeckt und Hornboris Turm. Sie waren nach Darna gereist und tief ins Waldmeer. Selbst die Helden der alten Sagen waren nicht so viel herumgekommen wie sie. Nur schade, dass außer ihnen kein Zwerg davon wusste. Swids Lächeln wurde melancholisch, doch nicht bitter. Sie würden sterben, wie sie gelebt hatten: als tollkühne Seefahrer. Das Meer sollte ihr Grab sein. Sie würden tief im Dunkel der See verschwinden. Was aus ihnen geworden war, würde für immer ein Geheimnis bleiben. Das war das passende Ende für ihre Geschichte!

Seine Hände schlossen sich fester um die Griffe der Steuerhebel. »Volle Kraft voraus!«, rief er in das Sprachrohr. Er hörte, wie sich die Kurbelwelle in Bewegung setzte. Niemand hinterfragte seinen Befehl. Alle gaben ihr Bestes. Wussten sie, wohin diese Fahrt führen musste? Oder hofften sie, dass er es irgendwie schaffte, das Schicksal zu wenden?

Swid schluckte hart, als ihm bewusst wurde, dass er genau das gehofft hätte, wenn Harr noch in diesem Sessel säße und er, Swid, statt hier zu sein, mit den anderen nun in die Pedale träte. Er würde ihnen diese Hoffnung nicht nehmen. »Legt euch ins Zeug, Jungs! Da geht noch mehr! Wir retten uns in tieferes Fahrwasser. Dann halten wir einen südlichen Kurs und suchen uns einen trollfreien Küstenstreifen, um die Bolzenspucker wieder auf Vordermann zu bringen. Grumgri? Wenn der letzte Korken in ein Leck gehämmert ist, zersägst du den Stiel des Wischmopps in daumenlange Stücke, spitzt sie an und verschließt damit die letzten Nietenlöcher. Ich wünsche mir, dass wir bis zum Abend wieder im Trockenen sitzen.«

»Aye, Kapitän!« Grumgri klang erschöpft, aber zuversichtlich.

Swid öffnete die Blende vor dem Barinstein, dessen gebündeltes Licht durch das blaugraue Wasser schnitt, nahm die Linke von dem Hebel, mit dem er das Seitenruder bediente, und wechselte zu dem anderen Hebel, mit dem er das Licht schwenkte. Er schätzte, dass ihre Tauchtiefe drei oder vier Schritt betrug.

Der Lichtkegel wanderte über einen Meeresboden aus dunklem Schlick und Geröll. Der Grund senkte sich nur langsam weiter ab. Swid korrigierte den Kurs über das Heckruder und wich einem einzelnen Felsbrocken aus, der sich aus dem Geröll erhob. Voller Sorge horchte er auf die Geräusche im Wasser. Die doppelte Hülle der Bolzenspucker dämpfte alle Laute, doch wenn er sich konzentrierte, vermochte er das Mahlen zu vernehmen, mit dem sich große Eisbrocken aneinander rieben. Trotz der zahllosen Tauchfahrten, die er schon hinter sich hatte, konnte Swid die Distanz zu den jeweiligen Geräuschquellen nur sehr grob einschätzen. Die Eisbrocken des kalbenden Gletschers waren zwischen einer Meile und hundert Schritt entfernt.

Swid bewegte den Hebel, über den sich die Rumpflaterne schwenken ließ. Der kleine bernsteingelbe Lichtkreis glitt über den Meeresboden. Ab und an schob sich ein Kliff aus dem sanft abfallenden Untergrund. Sie würden nur sehr langsam an Tauchtiefe gewinnen. Swid biss die Zähne zusammen. Im Grunde konnte ihm alles egal sein. Sie waren hoffnungslos verloren, und dennoch hatte er den Ehrgeiz, das Unausweichliche so weit wie möglich in die Zukunft zu verschieben. Er würde kämpfen, so wie jeder an Bord kämpfte. Grumgri, der unablässig den Hammer schwang, Hergast und Gemlar an der Pumpe und die Männer um Durbrok und Drombosch, die unablässig in die Pedale traten.

Jetzt gesellte sich noch ein anderer Laut zu den Geräuschen des Eises und dem der Schiffsschraube. Es war ein fremdartiger Singsang, der ihn tief im Innersten berührte. Bevor sie in die Walbucht eingefahren waren, hatte er ihn nur zwei Mal auf ihren Reisen gehört, aber nie so nah. Selbst Harr hatte nicht gewusst, wer da sang, und etwas vom Lied des Meeres gemurmelt.

Ein Geräusch, als krachte ein Holzhammer gegen die äußere Hülle der Bolzenspucker, lenkte Swid ab. So angeschlagen, wie das Tauchboot war, mochte schon ein einzelner Treffer an der falschen Stelle genügten, um die Hülle aufreißen zu lassen. Diese verdammten Eisbrocken reichten weit unter die Wasseroberfläche. Eine Tauchtiefe von drei bis vier Schritt war nicht genug, um ihnen zu entkommen.

Er ließ den kleinen Lichtkreis über den Meeresboden gleiten. Steuerbords gab es eine tiefe Furche, die an ein Bachbett erinnerte, das sich über Jahrhunderte tiefer in einen Hang gegraben hatte. War sie breit genug für die Bolzenspucker? Sie war zu schmal, um den Lichtstrahl aus diesem Winkel bis auf ihren Grund vordringen zu lassen.

Ein Schemen ein Stück voraus ließ Swid das Licht zur Wasseroberfläche hin ausrichten. Dort trieb eine Eiswand, so breit, dass er durch die beiden dicken Glasfenster vor sich keine Enden entdecken konnte. Swid keuchte. Ihr Tauchboot würde zwischen dem Eis und dem Meeresboden zermalmt werden wie ein Korn zwischen Mühlsteinen.

Er griff nach dem Hebel des Seitenruders. Leise knirschend glitt er nach vorn. Quälend langsam veränderte die Bolzenspucker ihren Kurs. Swid spürte das zusätzliche Gewicht durch das Wasser, das eingedrungen war. Es machte den ohnehin schon trägen Aal noch langsamer.

»Die Schonzeit ist vorbei, Jungs«, rief er ins Sprachrohr. »Jetzt tretet mal so richtig in die Pedale.« Überrascht nahm er wahr, dass seine Stimme ruhig klang, obwohl er den Tod vor Augen hatte, ganz, wie es bei einem Kapitän sein sollte.

Stetig glitten sie dem Einschnitt im Meeresboden entgegen. Swid korrigierte leicht den Kurs. Sie mussten in einem möglichst spitzen Winkel auf die tiefe Furche treffen, um nicht darüber hinwegzugleiten. Das war riskant.

Immer noch erklang der unheimliche Singsang. Der Ton hatte sich verändert. Das Lied des Meeres klang nun traurig, wie eine Totenklage.

Ein Knirschen, das Swid durch Mark und Bein ging, ließ ihn in seinem Sessel zusammenzucken. In dem winzigen Lichtkegel war zu sehen, wie die Eiswand vor ihnen zerbrach. Hunderte Eisbrocken, manche groß wie Häuser, wurden durch die Kräfte, die wirkten, ins Wasser hinabgedrückt, statt an die Oberfläche zu schnellen, wie es hätte sein sollen.

»Bei den Alben!«, entfuhr es Swid. Die Bolzenspucker fuhr in die Rinne am Meeresgrund ein. Swid spürte, wie seine Hände schweißnass wurden, als er den Aal in die Tiefe führte. Was auf den ersten Blick wie eine Furche mit schattigem Grund angemutet hatte, entpuppte sich nun, da der Aal in deren Mitte dahinglitt, als etwas völlig anderes. Die sanft abfallenden Böschungen aus Geröll gingen in fast senkrechte, zerklüftete Felswände über. Das goldene Licht der Bolzenspucker reichte nicht bis auf den Grund dieser unterseeischen Schlucht, so tief war sie. Sie mutete an, als sei das Felsgestein in ferner Zeit von einem Beben zerrissen worden und habe eine Wunde empfangen, die niemals heilen wollte.

Swid zögerte – nur einen Herzschlag lang –, dann legte er den Hebel des Tiefenruders ganz nach vorn. Die Nase des Aals senkte sich um fast fünfundvierzig Grad. In den Tiefen der Bolzenspucker hörte er es poltern und dann den unverkennbaren Laut, wenn Fleisch auf Metall klatschte. Grumgri fluchte. In der Kurbelwellenkammer hinter ihm erhob sich besorgtes Gemurmel. Die Pumpe änderte ihren Rhythmus. Das eingedrungene Wasser wogte klatschend durch die eisernen Kammern des Tauchboots. Der Rumpf knirschte, als sie schnell an Tiefe gewannen. Und doch nicht schnell genug. Die Druckwelle, die durch die gewaltige Bewegung im Wasser entstanden war, erreichte sie und ließ die Bolzenspucker taumeln wie ein besoffener Lotse.

Erste Eissplitter kratzten über die Außenhaut, als glitten Hunderte feine Krallen über den Aal. Dann war ein helles Plong zu hören.

Swid lief es eiskalt den Rücken hinab. Jetzt kamen die ersten größeren Brocken. Der Lichtkegel ließ ihn, etwa fünfzig Schritt voraus und knapp zehn Schritt tiefer, einen breiten Felsüberhang in dem Dunkel erkennen.

Plong! Plong!

»Fahrt drosseln!«, befahl Swid, obwohl alles in ihm danach schrie, so schnell wie möglich unter den Vorsprung zu gelangen. Aber die Bolzenspucker konnte keinen Anker werfen. Es gab für ihn keine andere Möglichkeit, die Fahrt abzubremsen, als langsamer zu werden, darauf zu warten, dass der Widerstand des Wassers sie aufhielt, und dann im richtigen Augenblick den Befehl zu geben, kurz rückwärts in die Pedale zu treten. Nur so würden sie zum Stillstand kommen. Der Vorsprung war nicht sonderlich lang. Wenn er einen Fehler machte, würden sie unter ihm hindurchgleiten, bevor das Tauchboot zum Stillstand kam. Während er diese Gedanken wälzte und die Entfernung schätzte, prasselten unablässig kleine Eisbrocken auf die Hülle der Bolzenspucker und wirbelten vor den beiden Sichtfenstern, was es noch schwerer machte, das Tauchboot zu steuern. Es war, als führen sie durch einen Nebel, in dem der Dunst gelegentlich feste Brocken bildete.

Plong. Plong. PLONG!

Etwas Größeres hatte das Tauchboot getroffen. Groß genug, um die eiserne Hülle ächzen zu lassen und die Bolzenspucker ein wenig vom Kurs abzubringen.

»Fahrt weiter drosseln«, befahl Swid ruhig und wechselte mit der Linken vom Hebel des Scheinwerfers zum Tiefenruder. Behutsam fing er die Tauchfahrt ab und brachte den Aal wieder in die Waagerechte.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie ein Eisbrocken, groß wie ein Kutschwagen, heran trieb. Er schlug gegen die Steilwand und zerbarst in zahllose Splitter. Einige Felsbrocken lösten sich unter dem Aufprall und sanken, einen Schleier aus grauem Staub mit sich ziehend, in die Tiefe. Dumpf hörte Swid sie auf das Gestein der Steilwand schlagen. Dazu das unablässige Plong der Eisbrocken. Es war die Melodie ihres Todes, wenn er nur einen einzigen Fehler machte oder sein unverschämtes Glück ihn verließ. Wenn es nur um ihn ginge … Vielleicht hätte er dann schon aufgehört zu kämpfen.

Die Bolzenspucker glitt unter den Felsvorsprung. »Halt!«, rief Swid ins Sprachrohr und richtete den Lichtstrahl auf die Felswand. So konnte er die Geschwindigkeit besser einschätzen, mit der sie dahinglitten.

Im Lichtkegel erschienen gezackte Felsnasen. Die Wand backbord war zerklüftet. Sie durften ihr nicht zu nahe kommen, oder sie würden sich daran aufspießen, wie ein Neuntöter seine Beute auf Dornen aufspießte.

Kein Plong erscholl mehr. Sie waren in Deckung. Swid atmete erleichtert aus und ließ das Licht weiter über den Felsen gleiten. Etwa fünfzig Schritt voraus funkelten Eispartikel im dunklen Wasser. Etwas kratzte backbord am Rumpf. Die verdammten Felsnasen! Er korrigierte den Kurs etwas nach Steuerbord, und fast sofort bestrafte ein Plong seine Tat. Noch vierzig Schritt bis zum Ende des schützenden Vorsprungs. Die Bolzenspucker verlor nur langsam an Fahrt. Obwohl die Heckschraube mit ihren vier geschwungenen Bronzeflügeln stillstand, glitt der Aal weiter voran, dem Verderben entgegen. Wann war der richtige Zeitpunkt für Gegenschub? Swid wünschte sich, er würde das Tauchboot besser kennen. Obwohl seine Füße in eisigem Wasser standen, war ihm heiß. Seine Brille war am oberen Rand beschlagen. Ausgerechnet jetzt.

Er korrigierte den Kurs nach Backbord. Wie weit lag diese eine vorspringende Felsnase hinter ihnen? Weit genug? Wenn er mit Gegenschub darauf auflief, mochte das Felsgestein die bronzene Flügelschraube zerstören.

Er löste kurz die Hände von den Steuergriffen und streckte die Finger, damit sie nicht verkrampften. Zwanzig Schritt.

Ein dumpfes Krachen ließ ihn erschrocken zupacken. Der Felsvorsprung über ihnen! Etwas hatte ihn getroffen. Gesteinssplitter und feiner Sand rieselten durch den Lichtkegel. »Halbe Kraft zurück!«, rief Swid entschieden.

Schwerfällig begann die Kurbelwelle, sich zu bewegen. Die Bolzenspucker verlor an Vortrieb. Swid schloss die Augen – was Harr stets als die größte Verfehlung eines Steuermanns angeprangert hatte – und stellte sich vor, eins zu sein mit dem Tauchboot. Dass die eiserne Haut seine Haut war, die augenförmigen Fenster seine Augen. Er spürte, wie das Boot langsamer wurde, schließlich verharrte und dann zurückglitt.

»Halt!«, rief er.

Die Pedale standen still, die Kurbelwelle ruhte, die große Flügelschraube am Heck drehte sich nicht länger. Die Bolzenspucker trieb noch etwas weiter rückwärts, dann stand sie erneut still. Swid lauschte. Auf die leisen Gespräche seiner Kameraden. Auf das Plätschern der fingerdicken Wasserfontänen, die aus den leeren Bolzenlöchern in das Boot sprühten. Das Schaben der sich aneinander reibenden Eisberge war kaum noch zu hören. Dafür wurde er des fernen Gesangs erneut gewahr. Manchmal klang es wie traurige Jagdhörner, dann wieder ganz anders. Es waren viele Stimmen, die sich zu diesem Lied vereinten. Eines der Geheimnisse des Meeres, das sie nun nicht mehr ergründen würden.

Swid fiel auf, dass Grumgris Hämmern verstummt war. Er erinnerte sich daran, dass er ihn hatte stürzen hören. Danach hatte sein eigener einsamer Kampf ihn abgelenkt. »Grumgri?«

Keine Antwort.

»Grumgri?«, rief er nun lauter.

Die Gespräche seiner Kameraden bei der Kurbelwelle verstummten.

»Alles gut!«

Swid blickte auf und sah durch das Luk über ihm das von einem zerzausten roten Vollbart eingefasste grob geschnittene Antlitz seines Gefährten. Ein blutgetränkter Leinenstreifen war um seine Stirn gewickelt.

Etwas schwerfällig kletterte Grumgri die eiserne Leiter hinab, platschte durch das wadenhohe Wasser und blieb hinter dem hohen Ledersessel stehen.

»Hast ’nen guten Kampf geliefert, Käpt’n.« Grumgri legte ihm eine Hand schwer auf die Schulter. »Ganz ehrlich, als es plötzlich so steil in die Tiefe ging, dass ich wie ein Kegel durch die Gegend gewirbelt bin, dachte ich, es wird die Bolzenspucker zerlegen. Und dann noch die ganzen Aufschläge auf der Hülle … Aber du hast das Ruder noch mal herumgerissen.« Er beugte sich an der Lehne des Stuhls vorbei und spähte durch das Steuerbordfenster.

Swid spürte Grumgris nach Zwiebeln stinkenden Atem auf der Wange.

»Keine Ahnung, wo du uns hingebracht hast, Käpt’n, aber du hast unsere Galgenfrist noch ein bisschen verlängert.«

Galgenfrist. Wie ein Gongschlag dröhnte das Wort in Swids Kopf. »Ihr wisst es?«

Grumgri lachte sein derbes und doch herzliches Lachen, das so oft von den eisernen Wänden der Bolzenspucker widergehallt war. »Natürlich wissen wir das, Käpt’n. Wir sitzen in einem Aal. Früher oder später verwandelt jeder Aal sich in einen nassen Sarg. Wir haben schon erstaunlich lange durchgehalten, aber heute ist unser Tag gekommen. Das ist jedem an Bord klar.«

»Glaubst du, es ist sinnlos, sich so verbissen gegen das Unausweichliche zu wehren?«

Wieder lachte sein Kamerad. »Ob gegen den Tod anzukämpfen sinnlos ist? Nee, Käpt’n. Schon im Augenblick unserer Geburt ist klar, dass unsere Tage gezählt sind. Den Abgang so lange wie möglich hinauszuzögern, das ist es, was man Leben nennt.«

Das trotzige Lachen Grumgris vermochte Swid nicht aufzumuntern. Er blickte auf das Wasser zu seinen Füßen, und nun, da er die unmittelbare Todesgefahr abgewendet hatte, wurde er sich der eisigen Kälte bewusst, die in seinen Körper gekrochen war. Er begann zu zittern, und seine Zähne klapperten. Er vermochte nichts dagegen zu tun und schämte sich für seine Schwäche. »Du glaubst wirklich … dass es nicht sinnlos … ist … zu kämpfen?«, brachte er abgehackt hervor.

»Unbedingt!«, entgegnete Grumgri im Brustton tiefster Überzeugung. »Weißt du, es gibt zwei Sorten von Zwergen, Käpt’n. Jene, die den Kopf senken, wenn sie auf Widerstand stoßen, und sich willenlos fügen. Und die anderen, die trotzig mit dem Kopf durch die Wand gehen, die sich jeder Herausforderung stellen, die nicht nach Wahrscheinlichkeiten fragen, ob etwas gelingen wird, sondern zupacken und die Dinge mit Selbstbewusstsein angehen. Das ist das Holz, aus dem Helden geschnitzt sind. Und Aalfahrer!«

Swid lächelte verlegen. Er war immer der merkwürdige Kerl mit der Brille gewesen. Der Zwerg, mit dem etwas nicht so richtig stimmte. Ein Außenseiter. Einen Helden hatte ihn noch nie jemand genannt, auch nicht indirekt, so wie Grumgri es gerade getan hatte. »Du glaubst, wir sind Helden?«

»Glauben? Ich weiß es!« Sein Kamerad kam um den großen Sessel herum und packte ihn bei den Schultern. »Eines Tages wird es Lieder über uns geben, und wer weiß, vielleicht wird sogar jemand mit viel Zeit und Pergament ein Buch über uns schreiben. Die Welt braucht Heldengeschichten. Geschichten darüber, dass es doch noch weitergeht, wenn man sich aufrafft. Man kann es schaffen, egal wie hoffnungslos es aussieht. Solche Geschichten sind wie Lichter in der Dunkelheit.«

Das Antlitz seines Gefährten war keine zwei Handbreit von Swids Gesicht entfernt. Grumgris Lippen waren blau vor Kälte, seine Augen rot entzündet, und dunkle Ringe lagen unter ihnen. Dennoch strahlte sein Kamerad eine unerschöpfliche Kraft aus. Und das mit den Lichtern in der Dunkelheit … Einen so poetischen Spruch hätte er von Grumgri niemals erwartet, ließ der sich doch sonst bevorzugt über unflätigen Unsinn aus.

»Ich weiß, was du jetzt denkst, Swid.« Sein Gefährte sah ihm, ohne zu blinzeln, in die Augen. »Du denkst, wir saufen ab und es wird niemanden mehr geben, der eine Geschichte über uns erzählen kann. Ha! Falsch!« Grumgri bohrte ihm einen Zeigefinger in die Brust. »Diese verdammten Langohren werden von uns erzählen. Irgendeiner von denen wird die Reise durch das Land der Trolle überstehen, und weil sie endlos lange leben, werden sie von uns erzählen, allein schon, um die entsetzliche Langeweile der Ewigkeit zu besiegen. Welcher Elf ist schon wochenlang mit einer so erstklassigen Truppe von Zwergen wie uns unterwegs gewesen? Und noch dazu im berühmtesten aller Aale, der Bolzenspucker. Diese Geschichte ist viel zu gut, um nicht erzählt zu werden. Und nach einer Weile wird die Geschichte auch ihren Weg in unsere Heimat finden, denn gute Geschichten breiten sich unaufhaltsam aus und werden unsterblich. Die abenteuerlichen Reisen der Kapitäne Harr und Swid, denen der ruhmreiche Grumgri immer wieder den Arsch rettete. Das klingt doch mal nach einem Titel für ein ordentliches Heldenlied.«

Swid hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Er sollte sich ein Beispiel an Grumgri nehmen. Niemals aufzugeben, das war er seiner Mannschaft schuldig! »Genug geschwatzt! Du wirst jetzt weiter die kleinen Lecks bekämpfen.«

Sein Kamerad ließ ihn los. Dann hob er verlegen die Hände. »Alle Korken sind verbraucht. Und auch der Besenstiel …«

»Du wirst dir alles suchen, was einen Stiel hat, der dick genug ist, um ein Bolzenloch zu verstopfen, und es zersägen. Zuletzt nimmst du den Stiel deines Hammers. Wir werden die Bolzenspucker dazu bringen, dass sie damit aufhört, Wasser zu speien. Ans Werk, Grumgri!«

»Aye, Käpt’n.« Grumgri stieg eifrig die Leiter hinauf.

Swid lauschte den Schritten seines Gefährten auf dem Metalldeck über ihm. Weniger Eissplitter wirbelten durch den Lichtkegel. Bald könnten sie die Deckung wieder verlassen. Und dann? Vermutlich war das Meer über ihnen nun von Eisbrocken bedeckt. Unter anderen Bedingungen wäre er nicht davor zurückgescheut, zwischen den mächtigen Schollen aufzutauchen, und hätte einfach auf den eisernen Rumpf der Bolzenspucker vertraut. Doch ihr Aal hatte zu viele dieser Nieten, die ihn zusammenhielten, verloren. Ein unglücklicher Stoß, und der Rumpf würde aufbrechen wie eine Eierschale.

Swid blickte zu seinen Füßen hinab. Das Wasser war weiter gestiegen. Trotz aller Bemühungen Hergasts und Gemlars an der Pumpe und trotz Grumgri, der wieder gegen die kleinen Lecks anhämmerte. Bald würde sie das zusätzliche Gewicht des Wassers im Boot nach unten ziehen. Sie würden ersticken oder ertrinken, hier in der Bolzenspucker oder, wenn die angeschlagene Hülle unter dem Wasserdruck nachgab, im dunklen Meer.

Aber diese Aussichten beunruhigten Swid nicht länger. Er hatte seinen Frieden mit ihrem Schicksal gemacht. Die Worte Grumgris hatten ihn aufgerichtet, und die überraschende Gewissheit, in den Augen seiner Gefährten ein Held zu sein, erfüllte ihn mit einem bislang ungekannten Stolz.

Vielleicht hatte Grumgri ja recht, und die Elfen würden ihre Geschichte erzählen. Dann würde nur das Ende fehlen. Sie waren aufgebrochen und verschollen … Stoff für unzählige weitere Geschichten.

Swid richtete den Lichtkegel in den Abgrund. Dort in der Tiefe verenden? Nein, das gefiel ihm nicht. Niemand würde sie hier auf dem Grund der Walbucht jemals finden. Und Helden sollten bis zuletzt die Zuversicht bewahren und kämpfen!

»Männer!«, sagte er mit fester Stimme. »An die Pedale. Wir haben lange genug gerastet. Jetzt gilt es, wieder zu kämpfen.«

Er lauschte auf das leise metallische Schleifen, mit dem sich die Kurbelwelle neuerlich in Bewegung setzte, und legte die Hände fest um die Steuerknüppel für Seitenruder und Tiefenruder.

Langsam setzte auch die Bolzenspucker sich wieder in Bewegung. Er würde seine Männer hinaus in die tiefe See bringen. Er würde sie bis an den Rand der Erschöpfung bringen und dann noch ein kleines Stück weiter. Er hatte eine klare Vorstellung davon, wo ein guter Platz zum Sterben war.

EIN GUTER PLATZ ZUM STERBEN

Es fühlte sich an, als läge eine schwere Hand auf seiner Brust. Ihm war kalt und warm zugleich und ein wenig schwindelig. Dieser seltsame Gesang umgab sie. Manchmal hörte er sich wie ein langer Stoß in ein Jagdhorn an, dann wieder seltsam abgehackt und stotternd. Das Wasser reichte Swid inzwischen fast bis zu den Knien. Die Bolzenspucker schlingerte leicht. Das Wasser im Rumpf schwappte hin und her und verstärkte das Schlingern. Swid umklammerte eisern die Hebel neben dem Kapitänssessel und versuchte, ihre taumelnde Fahrt über das Seitenruder auszugleichen.

Jeder Atemzug war ein Kampf. Hin und wieder verfiel er in ein Hecheln.

Er atmete, aber es kräftigte ihn nicht. Etwas fehlte in der Luft. So musste es sich anfühlen, wenn ein Verhungernder nur Wasser hatte, um seinen Bauch zu füllen.

Sein Kopf sackte ihm auf die Brust. Sein rechter Arm sank nach vorn. Er drückte das Tiefenruder hinab. Nicht willentlich, es geschah einfach. Swids Blick folgte starr dem Lichtkegel, der sich im Dunkel verlor. Die Nase der Bolzenspucker senkte sich nach vorn. Ein mächtiger Schatten glitt kurz durch das Licht.

Swid lächelte und erinnerte sich an eine Geschichte seines Großvaters, die er als kleiner Junge besonders gern gehört hatte. Darin hieß es, dass sich die Geister der gesunkenen Aale um ein Tauchboot versammelten, wenn seine letzte Stunde schlug.

Die Eisenhaut stöhnte unter dem Druck des Wassers. Swid biss die Zähne zusammen. Das Eisen keuchte. Weitere Schatten glitten durch den Lichtkegel.

Der Gesang im Wasser erklang von überallher. Feierlich und traurig zugleich. Die Geisteraale versammelten sich zum letzten Geleit.

Ein tiefer Friede überkam Swid. Er verstieß erneut gegen Harrs eiserne Regel für Steuerleute und schloss müde seine Augen. Er fürchtete den Tod nicht. Auf diese Art zu gehen war ehrenvoll. Er hatte seinen Ahnen keine Schande bereitet.

Ein Ruck lief durch die Bolzenspucker. Sie hatte auf dem Meeresboden aufgesetzt. Der Ort ihrer letzten Ruhe war erreicht. Die eiserne Haut des Aals ächzte erneut, und die Stützstreben im Boot gaben ein lang gezogenes Seufzen von sich. Nicht mehr lange, und das Gewicht des Wassers wäre zu viel für die Hülle, selbst wenn sie nun nicht weiter sanken. Die Hülle würde nachgeben, und binnen eines Herzschlags würde eisiges Wasser das Tauchboot füllen. Wie es wohl war zu ertrinken? Würde er auch diese letzte Prüfung ehrenvoll bestehen? Er rutschte im Sessel zurück und versuchte, noch etwas aufrechter zu sitzen. Swid atmete tief ein, doch es brachte nichts. Ihm war schwindelig. So sehr, dass er glaubte, dass sich die Bolzenspucker bewegte. Doch das Geräusch der Kurbelwelle war verstummt. Sie lagen auf dem Meeresgrund! Es war vollkommen unmöglich, dass sie sich bewegten.

Es knackte in seinen Ohren. Er schluckte und fühlte sich besser. So fühlte es sich oft an, wenn die Bolzenspucker abtauchte oder wieder zur Oberfläche aufstieg. Was ging hier vor sich?

Er öffnete die Augen und sah im ersten Moment alles leicht verschwommen. Er schwankte im Sessel. Wieder hechelte er, doch die Luft war einfach zu verbraucht, ganz gleich, wie schnell und wie viel er atmete, es half nicht.

Er konzentrierte sich auf den Lichtkegel vor dem Fenster. Draußen erklang immer noch das seltsame Meereslied. Das Licht verlor sich im Dunkel, statt ihm einen runden Ausschnitt des Meeresbodens zu zeigen. Das konnte nicht sein. Die Bolzenspucker lag auf Grund. Das konnte er fühlen. Und zugleich spürte er, wie sie emporstieg.

Tränen der Verzweiflung rannen ihm über die Wangen. Er war dazu verdammt, seine letzten Augenblicke in geistiger Umnachtung zu verbringen. Wie unwürdig!

Wütend griff er nach dem Hebel und ließ den Lichtkegel wandern, bis er auf eine dunkle, leicht längsgefurchte Fläche traf. Einzelne weiße Sprenkel zeichneten sich darauf ab. Die Bolzenspucker ruhte auf dieser Fläche. Und dieses gesprenkelte Grau stieg höher.

Swid ließ die Steuerhebel los, blinzelte und legte beide Hände auf die Armlehnen. Mühsam stemmte er sich hoch und schaffte torkelnd die zwei Schritt zu dem Fenster aus dickem Glas. Die weißen Flecken waren Seepocken auf einem von Narben gezeichneten Rücken. Manche der Narben waren kreisrund, andere zeugten von Schnittwunden. Es waren Spuren von Kämpfen mit den großen Kraken aus der Tiefe, die Swid nur aus den Schauergeschichten anderer Aalmannschaften kannte. Und er wusste, dass es nur eine Art von Geschöpfen gab, die diese Kraken bekämpften und fraßen: die Pottwale! Die Bolzenspucker musste auf dem Rücken eines dieser Meeresgiganten liegen. Was wiederum bedeutete, dass der Wal unter ihnen hindurchgetaucht war, um sie dann langsam anzuheben.

Er war also nicht verrückt, erkannte Swid erleichtert. Sie lagen auf festem Grund und stiegen dennoch zur Wasseroberfläche auf. Und dort würden sie an den Eisschollen zerschellen.

»Nicht!« Seine Stimme war kaum mehr als ein heiseres Krächzen. Der Aufschrei ließ ihn völlig atemlos zurück. Der Wal schien ihn nicht gehört zu haben. Wie hätte er ihn auch verstehen sollen? Und war es nicht ohnehin egal? Die Luft im Tauchboot war so gut wie aufgebraucht. Was spielte es für eine Rolle, ob sie erstickten oder ertranken?

Andererseits … Er schwankte hinüber zur Leiter, die nach oben führte. Dort angekommen, musste er sich erst einmal an einer Sprosse festhalten und Atem schöpfen. Doch es war eine Illusion … Er hechelte und hechelte, und es wurde nicht besser. Er musste dort hinauf. Eisiges Wasser tröpfelte unablässig durch das Luk über ihm. Verzweifelt hob er das linke Bein. Es fühlte sich an, als gehöre es nicht mehr zu ihm, als sei es nur noch eine ungeheuerliche Last, die von seinem Rumpf hing, um ihn zu Boden zu zerren.

Swid biss sich auf die Unterlippe. Er schmeckte Blut auf seiner Zunge, metallisch und warm. Der Schmerz riss ihn aus seiner Lethargie. Er schaffte zwei Sprossen, dann musste er verschnaufen. Er biss sich erneut, um sich durch den Schmerz zu beleben und voranzukommen. Unablässig troff Wasser an ihm herab, durchtränkte sein Haupthaar und seinen Bart und auch den letzten trockenen Faden, den er noch am Leib trug. Völlig ausgekühlt, begann er so sehr zu zittern, dass er es kaum noch wagte, eine Hand von den Sprossen zu lösen und höher zu greifen. Er fürchtete, eine Hand allein könnte nicht genügen, um ihn zu halten.

Swid kniff die Augen zu, um sich vor dem brennenden Salzwasser zu schützen und um nicht sehen zu müssen, wie unendlich weit es noch nach oben bis zum Luk war. Vorwärts, Sprosse um Sprosse. Vorwärts!

Er machte keine Pausen mehr, um noch Atem zu schöpfen. Das half ohnehin nicht. Er musste es bis nach oben schaffen, so schnell wie möglich. Bis ganz nach oben, bis zum Turmluk. Sofern die Bolzenspucker nicht im treibenden Eis zerschellte, wären sie gerettet, wenn er das Luk aufbekam.

Sprosse um Sprosse. Vorwärts! Das schuldete er seiner Mannschaft. Sie hatten bis zum Umfallen gekämpft, an der Pumpe und an der Kurbelwelle. Er hingegen hatte im Sessel gesessen. Jetzt war es an ihm, alles zu geben.

Er zog sich durch das Luk und kroch durch das Mannschaftsdeck zur zweiten Leiter. Verzweifelt sah er daran empor. So unendlich viele Sprossen. Heute Morgen noch hätte es ihn nur einen Augenblick gekostet, dort hinaufzusteigen. Jetzt aber erschien ihm die Leiter so unbezwingbar wie das legendäre Albenhaupt in den Slanga-Bergen.

Du schuldest es deinen Männern, wiederholte er immer und immer wieder in Gedanken, zu erschöpft, um die Worte zu flüstern.

Mit den Ellenbogen zog er sich vorwärts, hin zur Leiter, Zoll um Zoll. Wieder hatte er die Augen geschlossen, um nicht sehen zu müssen, wie erbärmlich langsam er vorankam.

Inzwischen fühlte es sich an, als lägen eiserne Fassreifen um seine Brust, so eng angezogen, dass es unmöglich war, noch einzuatmen.

Er stieß mit dem Kopf gegen die Leiter.

Sich hochzuziehen, bis er stand, schien ein Zeitalter lang zu dauern. Ihm zitterten die Knie. Ein dumpfer, lähmender Schmerz strahlte von seinem Kopf in den ganzen Körper aus. Es war der Schmerz der Niederlage. Ein Schmerz, der ihn dazu verlockte, sich einfach hinzulegen und dem Unvermeidlichen seinen Lauf zu lassen.

Er war der Kapitän, ermahnte er sich. Er war der Letzte, der hier aufhörte zu kämpfen. Das schuldete er seiner Mannschaft. Es war der blanke Trotz, der ihn nach der Sprosse über seinem Kopf greifen ließ.

Sein Leib erschien ihm schwer wie ein Gebirge, als er sich hochzog, wild keuchend. Grelle Lichter tanzten ihm vor den Augen. Ihm war schwindelig, und sein Schädel fühlte sich an, als habe sich darin etwas eingenistet, das ihn von innen heraus aufplatzen lassen wollte, wie die Schale eines kochenden Eis.

Er verfehlte eine der Sprossen und schlug mit dem Gesicht hart gegen die Leiter. »Weiter«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Weiter!«

Die Leiter verschwamm vor seinen Augen. Sie wurde zu tanzenden Linien, die sich kaum noch vor dem dunklen Hintergrund der Metallwände abhoben.

»Weiter!«, keuchte er, sich gegen die Erkenntnis sträubend, dass der Kampf verloren war. Etwas drückte gegen seinen Kopf. Über ihm war Dunkelheit. Er drängte voran, doch die Dunkelheit hielt ihn zurück. Wie eine Mauer war sie … Er stemmte sich dagegen.

Vergebens. Er war am Ende des Weges.

Es dauerte lange, bis er begriff, dass er am Ende der Leiter stand und sein Kopf gegen das verschlossene Luk drückte. Swid versuchte, etwas zu erkennen, doch seine Augen zeigten ihm nur noch zerfließendes Grau. Er müsste eine Hand vom Holm der Leiter lösen, um nach dem Rad zu greifen, welches das Luk verschloss. Aber er fürchtete zu stürzen, wenn er losließ.

Schwer atmend, den Kopf gegen eine Sprosse gelehnt, rang er mit sich. Es war egal, ob er stürzte. Wenn er noch länger zögerte, war ohnehin alles vorüber. Er drehte sich halb und zwang sich, die verkrampften Finger zu lösen. Benommen tastete er nach dem Eisenrad. Dessen Rundung schmiegte sich in seine Hand.

Wenn er sich irrte, wenn das Tauchboot noch nicht durch die Wasseroberfläche gestoßen war, würde er sie alle ertränken, sobald er das Luk öffnete. Doch wenn er es nicht tat, würden sie ersticken.

Swid stieß ein bellendes Lachen aus. Alles drehte sich. Die Bolzenspucker vor seinem schwindeligen Blick. Seine Gedanken … Er war wieder am Anfang. Alles, was ihm blieb, war zu entscheiden, auf welche Art sie sterben würden.

Hoffnung war besser, als einfach aufzugeben. Er drückte gegen das Rad. Es bewegte sich nicht.

Swid änderte seine Position auf der Leiter und drückte erneut. Er stemmte sich gegen das verfluchte Rad, bis er glaubte, die Bänder müssten ihm reißen. War er denn schon so schwach, dass die einfachsten Dinge zu Götterwerk wurden? Tränen traten ihm in die Augen. Alles vergebens … Das Gewinde über dem Rad knackte. Dann bewegte sich das Rad. Endlich! Jetzt ging es schnell. Er drehte es bis zum Anschlag und verlor fast das Gleichgewicht.

Fest hielt er das Rad umklammert und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Er sah keine tanzenden Lichter mehr, keine verschwimmenden Schemen. Er sah gar nichts mehr! Er blinzelte, doch alles blieb schwarz.

Nicht jetzt!, dachte er verzweifelt. Einen Augenblick noch. Er löste die Hand in dem Bewusstsein, dass ihm nur noch wenige Atemzüge bis zur Ohnmacht blieben.

Wie durch ein Wunder fand seine Hand den Holm der Leiter. Er musste nichts mehr sehen. Er musste nichts mehr denken. Er musste nur noch das Luk hochdrücken, um frische Luft in die Bolzenspucker zu lassen.

Swid senkte den Kopf auf seine Brust, stieg noch eine Sprosse empor, sodass seine Schultern das Luk berührten. Dann stemmte er sich gegen das eisige Metall. Das Luk erschien ihm schwerer als je zuvor. Er hatte einfach keine Kraft mehr.

Wütend schrie er auf. Es war ein tierischer, unartikulierter Laut, der verzerrt von den Metallwänden widerhallte. Er drückte die Knie durch, gab alle Kraft, die er noch besaß, und das Luk schwang auf.

Eisiges Wasser ergoss sich in Sturzbächen auf ihn.

Also ertrinken, war sein letzter Gedanke, als seine Finger sich von den Holmen lösten und er stürzte.

DAS LIED DER WALE

Grumgri rieb sich fröstelnd die Arme. Seine Kleider waren durchnässt. In der Bolzenspucker gab es keinen trockenen Faden mehr. Er blinzelte im Schneegestöber und genoss es, die klare Winterluft zu atmen. Swid hatte es geschafft, dachte er traurig. Als Harr den kleinen, bebrillten Kerl mit den riesigen Augen in die Mannschaft aufgenommen hatte, glaubte niemand an Bord, dass Swid das Zeug zu einem echten Seemann hätte. Und als Harr ausgerechnet Swid in Navigation unterrichtete und Vierauge beibrachte, wie man die Bolzenspucker steuerte, hatte es sogar Unmut unter der Besatzung gegeben. Jetzt waren sie alle dankbar, dass sie Swid hatten. Er hatte härter und länger gekämpft als jeder andere an Bord. Hätte er das Luk nicht aufgestemmt, wären sie alle erstickt.

Nachdenklich betrachtete Grumgri den etwas mehr als faustgroßen Felsbrocken in seiner Linken. Den mussten sie sich gefangen haben, als sie unter das Sims getaucht waren. Er hatte sich im Speigatt des Turms verklemmt, sodass das Wasser beim Auftauchen nur sehr langsam abgeflossen war. Grumgri schätzte, dass sie etwa zwanzig Eimer Wasser genommen hatten, als Swid das Luk aufdrückte.

Nervös betrachtete er die Wasserlinie. Die Bolzenspucker lag zu tief. Sie hatten zu viel Gewicht. Obwohl die Pumpen wieder bemannt waren, schafften sie es nicht, das Tauchboot zu lenzen. Selbst jetzt, da sie aufgetaucht fuhren, drang durch die Lecks unterhalb der Wasserlinie mehr Wasser ein, als sie abpumpten.

»Albenkacke!«, schrie er auf die stille See hinaus. Soweit er sich erinnern konnte, hatten die Götter noch nie geholfen, wenn es wirklich darauf ankam.

Wütend schleuderte er den Stein fort, achtete aber darauf, keinen der Pottwale zu treffen. Die Biester schwammen überall um sie herum. Mehr als ein Dutzend. Grumgri konnte sich nicht entsinnen, je zuvor so viele von ihnen gesehen zu haben. Durch sie war die See in der näheren Umgebung der Bolzenspucker weitgehend eisfrei. Die mächtigen grauen Leiber hatten alle größeren Schollen zur Seite geschoben. Das Tauchboot trieb in einem knapp hundert Schritt messenden Kreis aus dunklem Wasser. Jenseits davon sah die See wie eine zerbrochene Marmorplatte auf dunklem Untergrund aus. Ein Mosaik aus Eisplatten und kleineren Bergen breitete sich aus, so weit das Auge reichte. Was bei dem Schneetreiben nicht sonderlich weit war … Zwischen dem Eis klafften dunkle Spalten. Ständig war das mahlende Geräusch von Platten zu hören, die gegeneinanderstießen oder sich übereinanderschoben.

Die Pottwale schwammen so nah bei ihnen, dass je einer backbord und steuerbord die Bolzenspucker berührte. Wie Kameraden, die sich bei einem Betrunkenen untergehakt hatten, um ihn auf den Beinen zu halten. Man konnte meinen, sie hätten das Tauchboot in ihren Schwarm aufgenommen, ja, es schien, als wollten sie es beschützen wie ein verwundetes Tier. »Ihr seid seltsam«, murmelte Grumgri, trat ganz an den Rand des Decks und betrachtete den Wal. Seine dicke Haut war von Narben zerfurcht. Seepocken hatten sich darin festgesetzt. Ein weiß gerahmtes dunkles Auge sah ihn an.

»Ich würde mich gern bei euch bedanken.« Er verneigte sich ein wenig linkisch.

Ein Schnauben drang aus dem Atemloch im Rücken des Wals.

»Verstehst du mich?«

Das große Auge rollte. Was aber auch Zufall sein mochte. Kurz überlegte Grumgri, ob er hinüberspringen sollte. Auf dem Rücken eines lebenden Pottwals spazieren zu gehen … Welcher Zwerg hatte das je getan?

Wehmütig betrachtete er die ramponierte Hülle der Bolzenspucker. Ihr stolzes Tauchboot hatte weit mehr als nur ein paar Nieten eingebüßt. Die Oberfläche war mit Schrammen und Dellen überzogen. Die Nähte zwischen einigen Eisenplatten waren aufgeplatzt. An drei Stellen hatte Grumgri Löcher, groß wie seine Hand, gefunden. Wäre es ein Tauchboot der alten Bauart, mit einer einfachen Hülle, sie wären schon längst gesunken. Die doppelte Hülle mit den Stützstreben zwischen den beiden Eisenhäuten hatte sie gerettet. Zumindest vorerst.

Er betrachtete wieder die vernarbten Leiber der Wale. »Ihr wisst nicht, wie das ist, zu sinken oder zu erfrieren.« Fröstelnd rieb sich Grumgri erneut die Arme, und gegen seinen Willen musste er an eine Schüssel voll dampfender Dorschsuppe denken. An die dicken Fettaugen, die auf der Brühe trieben. An Wintertagen wie diesem gab es nichts Besseres. Mit dem heißen Tran im Magen war es, als würde man eine innere Rüstung anlegen, die vor dem Biss des Frostes schützte.

Er hörte Schritte auf der eisernen Hülle. »Na, redest du jetzt mit Walen?«, grüßte ihn Rurgor.

»Sind geduldige Zuhörer. Und vielleicht sogar unsere Retter.« Grumgri betrachtete wieder die vernarbten Rücken. All die Linien, die Kreise. Sie erinnerten ihn an die Landkarten, die alle in der Mannschaft auf der Haut trugen. Nur dass dies die Landkarten urtümlichster Kämpfe waren. Aber gegen wen? Wer legte sich mit riesigen Pottwalen an? Kraken? Er hatte Geschichten darüber gehört. Aber Kraken konnten den Walen keine langen Schnittwunden beibringen. Dazu brauchte es Schwerter oder Messer. Was für geheimnisvolle Kreaturen sich wohl noch in der Tiefe des Meeres verbargen?

»Die Wale, unsere Retter?«, störte Rurgor seine Gedanken. »Wie kommst du denn darauf?«

»Ihr Gesang hat uns schon eine ganze Weile begleitet.«

»Dieses unheimliche Auf und Ab von Lauten und Klackgeräuschen, das einen nachts aus dem Schlaf reißt und einem eisige Schauer über den Rücken jagt? Das nennst du Gesang? Und das kommt von ihnen?« Rurgor lachte. »Singende Wale! Was für ein Unsinn!«

»Ich bin überzeugt, dass sie es sind. Hier in der Bucht ist sonst niemand. Vielleicht klingt es so unheimlich, weil es eine Warnung ist?«

Rurgor runzelte die Stirn, und ein Dutzend kleiner Fleischwellen rannten gegen das Ufer seiner veritablen Halbglatze an. »Sei gewarnt, Grumgri. Dir bekommt die frische Winterluft offensichtlich nicht. Singende Wale, die uns warnen? Lass diesen Unsinn bloß nicht die anderen hören.«

»Die Wale leben hier, immer schon. Diese riesige Bucht ist nach ihnen benannt. Vielleicht können sie ja spüren, wenn ein Eisabbruch bei dem Gletscher bevorsteht? Wäre das so abwegig?« Grumgri deutete zu den Pottwalen, die die Bolzenspucker flankierten. »Sieh dir nur an, wie groß ihre Köpfe sind. Genug Platz für eine ordentliche Portion Verstand, findest du nicht?«

»Nach dieser Logik müssten auch Trolle verdammt schlaue Burschen sein. Und Kobolde, wie dieser Broja Büffelfuß, bei denen der halbe Kopf aus der Nase besteht, müssten dumm wie Bohnenstroh sein. Merkst du, dass mit deiner Annahme etwas nicht stimmt?«

»Und was ist mit Drachen?«, wandte Grumgri ein. »Die haben große Köpfe und sind verdammt schlau.«

»Weil die Alben ihnen Verstand geschenkt haben«, entgegnete Rurgor gequält. »Die Drachen können ja sogar mit uns reden, wenn man den Geschichten über sie glaubt. Wenn auch nur in Gedanken.«

»Genau das tun die Wale doch auch! Mit uns reden. Wir verstehen sie nur nicht, weil wir nicht dieselbe Sprache sprechen.«

»Hmm.« Rurgor schaute in den Himmel hinauf und hoffte offensichtlich, dass das leidige Thema nun beendet war.

Aber Grumgri wollte es dabei nicht bewenden lassen. »Schau dir mal die Wale rechts und links von uns an. Die stützen uns, als seien wir ein verwundetes Tier aus ihrer Herde. Die haben gemerkt, dass wir Probleme haben. Und ist dir aufgefallen, dass das Gewässer um uns eisfrei ist? Nur hier, sonst nirgends, so weit das Auge reicht. Auch das waren die Wale.« Und da war noch etwas, was Grumgri erst aufging, während er sprach. »Und wir bewegen uns ebenso, wie sich die freie Stelle im Eis bewegt.«

»Du bist doch verrückt«, zischte Rurgor.

»Du bist Seemann. Bewegt sich die Bolzenspucker, obwohl niemand in die Pedale tritt, oder bilde ich mir das ein?«

Rurgor wollte zu einer patzigen Antwort ansetzen, nahm sich dann aber doch einen Augenblick Zeit. Er betrachtete die Wale und das Meer. »Jaaa …«, knurrte er mürrisch. »Ich muss zugeben, es sieht aus, als hätten die beiden Wale uns zwischen sich eingeklemmt und würden uns langsam nach Norden bringen.«

»Wir bewegen uns, kommen aber dem Rand der eisfreien Zone nicht wirklich näher«, trumpfte Grumgri auf. »Was bedeutet das?«

»Bei den Alben! Das … Nein!« Rurgor kniff die Augen zusammen und starrte, sichtlich angestrengt, nach Norden, wo an der Grenze zum treibenden Eis die Wale dicht an dicht schwammen. »Die schieben die Schollen vor sich her und halten unser Fahrwasser eisfrei.« Er starrte Grumgri mit offenem Mund an.

»Glaubst du immer noch, dass die Wale in ihren großen Köpfen nur Luft haben?«

»Ja … also. Nein! Aber … Ich verstehe das nicht. Warum bringen die uns nach Norden? Was ist da?«

»Keine Ahnung«, bekannte Grumgri. »Aber es macht den Eindruck, als wollten sie uns helfen.«

»Die Bolzenspucker läuft dennoch allmählich voll. Ich könnte dir ausrechnen, wann wir absaufen. Und ich wüsste nicht, wie die Wale das verhindern wollen. Die können uns ja schlecht zu irgendeiner Insel bringen, uns eine Hütte bauen und im Kamin ein Feuer für uns entzünden, damit wir uns wohlfühlen.«

»Kannst du immer nur nörgeln? Düstere Gedanken sind das Fundament für ein düsteres Schicksal.«

»Jetzt wird er poetisch und auch noch philosophisch …« Wieder erschien eine beträchtliche Anzahl von Falten auf Rurgors Stirn. »Aber nehmen wir mal an, die Wale halten die Bolzenspucker für irgendeinen Verwandten. Für einen anderen Wal. Einen mit seltsamer Haut, der irgendwie nicht singen kann. Und sie bringen uns nach Norden. Sie können das Eis nicht endlos vor sich herschieben. Die Platten verkeilen sich, schieben sich übereinander. Der Widerstand wird immer größer. Was werden sie dann tun?«

Grumgri schluckte. »Tauchen!«

»Wenn das passiert und unser Turmluk offen ist, sind wir erledigt! Du steigst jetzt in den Turm, Grumgri. Ich sag den anderen Bescheid und setz mich an die Steuerknüppel. Wir werden wieder auf Tauchfahrt gehen, ob wir wollen oder nicht.«

VON LECKS UND DER KUNST, EINEN AAL ZU FÜHREN

Das Eisfeld kam näher. Grumgri umklammerte angespannt das Schanzkleid des Turms. Das Metall war verbogen. Die Bolzenspucker hatte zu viel abbekommen. Egal. Wie es aussah, war die Ruhe des Grabes nicht mehr fern. Das Eisfeld vor ihnen war zu dicht. Die Wale schafften es nicht mehr, die Schollen auseinanderzuschieben. Rurgor hatte recht behalten.

Die beiden Bullen, die das Tauchboot flankierten, wirkten unruhig. »Ich komme runter«, rief Grumgri in das verbogene Sprachrohr. »Ich fürchte, gleich ist es so weit. Sie werden tauchen.«

»Aye«, kam die blecherne Antwort von Rurgor.

Grumgri klopfte sich auf Arme und Beine. Die feuchte Wolle seiner Kleidung war gefroren, Hose und Wams so steif, als wären sie aus dickem Leder gefertigt. Die Kälte war ihm tief in die Glieder gekrochen. Er bewegte sich unbeholfen, als er auf die Leiter und dann die ersten Sprossen hinabstieg. Mit metallischem Klang schloss sich das Luk. Es fühlte sich an, als habe er einen Sargdeckel über sich zugeschlagen. Grumgri drehte das Rad unter dem Luk bis zum Anschlag. Wenigstens diese eine Stelle im Tauchboot war nun wasserdicht. Überall entlang der Nähte zwischen den Eisenplatten rann und tröpfelte es. Es würde Wochen dauern, die Bolzenspucker wieder seetüchtig zu machen. Und sie würden eine Werft dafür benötigen … Also würden sie absaufen.

Grumgri knurrte übellaunig, als er das Mannschaftsdeck erreichte. Jetzt fing er schon an wie Rurgor! Verdammte Schwarzseherei! Ein Zwerg sollte sich seinem Schicksal stellen, ohne zu lamentieren. Alles andere war unwürdig!

Trotzig ein Liedchen pfeifend, ging er zwischen den Kojen hindurch. Seine eisigen Lippen verhinderten, dass er den rechten Ton traf. Doch auch das war egal. Hauptsache, nicht lamentieren.

Er spürte, wie sich die Bolzenspucker sanft nach vorn neigte. Ihre letzte Tauchfahrt begann. Er griff im Reflex nach dem Gestänge der Koje links von ihm. Das Wasser, das knöcheltief auf dem oberen Deck stand, geriet in Bewegung. In Kaskaden strömte es über die hohe Schwelle in die Kapitänskajüte und rauschte von dort als eisiger Wasserfall durch das Luk hinab zum unteren Steuerplatz.

Grumgri hörte Rurgor fluchen. Vermutlich flutete dort unten das Wasser schon die Sitzfläche seines Sessels.

Das Metall der Außenhaut ächzte unter dem Druck, den die beiden Pottwale ausübten, die das Tauchboot zwischen sich eingeklemmt hielten. Ob es wohl irgendeine Möglichkeit gäbe, mit den Meeresriesen zu reden? Was wohl so ein Pottwal dachte? Glaubten sie wirklich, die Bolzenspucker sei irgendeine seltsame Art von Wal? Oder wussten ihre Freunde ganz genau, was sie waren?

Grumgri ging auf, dass er aufgehört hatte zu pfeifen. War wohl nicht so weit her mit dem sich trotzig dem Schicksal stellen.

Das unheimliche Lied der Wale hob wieder an. Es drang durch das Metall und schien von überall zugleich zu kommen. Ein Dutzend Stimmen in fremdartiger Harmonie. Ein Totenlied? Die Hülle knirschte bedenklich. Lange würde sie dem Druck der mächtigen Walleiber wohl nicht mehr standhalten.

Weiter vor ihm sprühte Wasser aus einem Bolzenloch auf die Decken von Swids Koje. Grumgri nestelte das reichlich benutzte Taschentuch aus seiner Hosentasche. Verdammt, die Decken des Käptens waren schon völlig durchnässt. Immer eine Hand an einer der Bettstangen, hangelte Grumgri sich nach vorn, wobei er darum kämpfte, auf dem schräg stehenden, gefluteten Deck nicht den Halt zu verlieren.

Fluchend drückte er das Stofftuch in das Leck. Richtig dicht bekam er es nicht. Aber er erreichte, dass nur noch wenig Wasser eindrang, das nun an der gewölbten Wand hinabrann, statt in weitem Bogen in Swids Koje zu sprühen. Ihr Kapitän sah zum Erbarmen aus. Seit dem Sturz war er nicht mehr aufgewacht. Sie hatten ihn am Fuß der Leiter zum Turmluk gefunden. Swid hatte sie alle gerettet. Und sie hatten so gut wie nichts für ihn tun können, dachte Grumgri bitter. Den gebrochenen Arm hatten sie ihm notdürftig mit ein paar Gabeln aus der Kombüse geschient. Es gab keinen Besenstiel und auch nichts anderes mehr, was dafür getaugt hätte.

Um Swids Kopf war ein dicker, blutgetränkter Verband gewickelt. Keiner aus der Mannschaft hatte beurteilen können, ob der Schädel gebrochen war. Grumgri tastete nach seinem eigenen Verband. Angeschlagene Köpfe, der Fluch aller Tauchfahrer.

Traurig betrachtete er das aschfahle Gesicht seines Kapitäns. Die Lider waren wieder aufgeklappt, die Augen so verdreht, dass man nur noch das Weiße sah.

Vorsichtig tastete Grumgri nach Swids Stirn. Sie glühte im Fieber. Er drückte die Lider des Kapitäns herab. So war es leichter, dessen Anblick zu ertragen. Behutsam legte er seine schwielige Hand auf Swids Hals. Es dauerte eine Weile, bis er den Puls ertastete. Flach und unregelmäßig. Mist! Wenn sie wenigstens einen warmen und trockenen Platz für ihren Käpt’n hätten! Unter diesen nasskalten Decken konnte man sogar verrecken, wenn man nicht versucht hatte, mit dem Schädel einen eisernen Boden aufzuschlagen.

Vorsichtig zog Grumgri seine Hand zurück. »Du wirst nicht mehr mitbekommen, dass uns dein Heldenmut noch ein paar Stunden erkauft hat.«

Swids Kopf rollte auf die Seite. Seine Augen zuckten unter den geschlossenen Lidern. Blut troff aus seinem linken Ohr.

»Nein …« Grumgri steckte ihm einen Finger ins Ohr. War es besser, wenn das Blut abfloss? Nahm das Druck aus dem Kopf des Kapitäns? Oder sollte er die Blutung stillen? Er hatte keine Ahnung, und er wusste, dass ihm auch sonst niemand an Bord Rat geben konnte. Im Blut lag Kraft. Und Swid würde all seine Kraft benötigen, um wieder gesund zu werden. Besser, er verlor kein Blut. Aber er konnte ja nicht ewig hier stehen bleiben, mit einem Finger im Ohr des Kapitäns.

Wieder knirschte die Hülle bedenklich. Das war die Antwort. Ihr ewig würde nur noch sehr kurz währen. Da konnte er auch hier stehen bleiben. Grumgri lauschte auf das melancholische Lied der Wale. Zu gern hätte er gewusst, was für eine Geschichte es erzählte. Welche Geheimnisse barg das Meer? Gab es Leben in der großen Dunkelheit, dort, wo kein Aal hingelangte, ja nicht einmal Lichtstrahlen? Als Kind war Grumgri es nie müde geworden, den Geschichten der Tauchfahrer zu lauschen. Auch wenn sie im Volk der Zwerge als todesverliebte Irre galten, waren sie für ihn stets Helden gewesen. Er hatte immer einer von ihnen sein wollen. Ein Lächeln schlich sich auf Grumgris Gesicht. Und was für großartige Fahrten ihm das Leben geschenkt hatte! Seine Kindheitsträume waren mehr als reichlich erfüllt worden. Wer konnte das schon von sich sagen, wenn er dem Tod ins Auge blickte?

»Grumgri? Wo steckst du? Ich brauche dich hier unten. Da ist etwas Seltsames, dort draußen …«, rief Rurgor vom unteren Steuerplatz.

Grumgri blickte auf seinen Finger und auf Swids Ohr. Nicht einmal sterben konnte man in Frieden. Was sollte er jetzt tun? »Ruf ’nen anderen! Ich kümmere mich um Swid.«

»Die anderen brauche ich an der Pumpe und an der Kurbelwelle. Schwing deinen Arsch hier herunter. Ich brauch noch zwei Augen. Das wird haarig hier …«

Kaum saß Rurgor im Ledersessel des alten Harr, führte er sich schon auf, als sei er jetzt der Kapitän. Grumgri fluchte leise. Ganz ohne Grund würde Rurgor ihn nicht rufen. Aber er konnte den leckgeschlagenen Swid doch nicht einfach so liegen lassen. Verzweifelt sah er sich um. Die Wolldecken würde er nicht zerrissen bekommen … Das Taschentuch im Bolzenloch?

Er zog es heraus, und schon sprühte wieder ein Wasserstrahl in weitem Bogen auf Swids Decken. Das alte Leinen seines Taschentuchs war mürbe. Es war leicht, einen Fetzen davon abzureißen. Hastig steckte Grumgri den Rest zurück ins Bolzenloch und den zusammengeknüllten Fetzen in Swids Ohr. Skeptisch blickte er vom Ohr zum Loch in der gewölbten Wand. Für den Moment sah beides bestmöglich aus.

Mit einem unguten Gefühl wandte er sich ab, stieg in die Kapitänskajüte, die an das Mannschaftsdeck grenzte, und dann die Leiter hinab in den unteren Steuerraum.

»Ans Fenster, Mann!«, zischte ihn Rurgor an. »Schnell! Wir sind schon fast darüber hinweg.«

Grumgri watete durchs Wasser, das hier unten mehr als kniehoch stand. Die Kurbelwelle lag vermutlich schon ganz unter Wasser. Nicht gut, dachte er, als er dicht vor das linke Fenster trat.

»Hast du es gesehen? Am Boden?« Rurgors Stimme klang gehetzt.

Er musste den Kopf verdrehen, doch dann erhaschte Grumgri noch einen kurzen Blick auf den leuchtenden Pfeil am Meeresboden. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, was das bedeutete. Sein Blick folgte dem Lichtstrahl der Bolzenspucker, der nervös durch das Dunkel der See tastete und eine langsam enger werdende Schlucht erkennen ließ.

»Was hast du gesehen?«, bedrängte ihn Rurgor.

»Drei Barinsteine. Zwei eng beieinander hinten. Einer vorn. Ein Pfeil aus Licht«, flüsterte Grumgri.

»Ja! Es war also keine Halluzination.« Rurgor ließ eine Hand auf eine der Lehnen des Ledersessels klatschen. »Pfeile aus Barinsteinen. Unvergängliches Licht.«

Grumgri nickte langsam. Solche Markierungen waren früher einmal einige Meilen im Umfeld eines Tunnels angebracht worden, um den Aalen das letzte Stück ihrer Reise zu erleichtern. Die Pfeile aus Licht wiesen den Weg zu den Zwergentunneln, die zu den unterirdischen Häfen führten. Sie mussten mit Zaubern geschützt werden, damit sie nicht unter Sedimentablagerungen verschwanden oder von Algen überwuchert wurden. Dafür musste einer der wenigen Zauberer ihres Volkes in einen Fassanzug steigen und sich auf den Meeresboden sinken lassen, um sein Werk zu tun. Keine ungefährliche Aufgabe. Einmal hatte das einen Zauberer das Leben gekostet. Eine Muräne hatte seinen Luftschlauch durchgebissen. Er war ertrunken. Das lag schon mehr als zweihundert Jahre zurück, aber die Feinde der Tauchfahrer waren nicht müde geworden zu betonen, dass dies eine unverantwortliche Verschwendung war.

»Ein Tunnel«, sagte Grumgri ergriffen. »Ein Hafen. Ganz nah!«

»Nicht irgendein Hafen«, stieß Rurgor begeistert hervor. »Das muss Ishaven sein. Die verlorene Binge.«

Es gab wohl keinen Zwerg, der die Geschichten um Ishaven nicht kannte. Einst war Ishaven eine reiche Zwergenstadt gewesen, aus der viele der Barinsteine gekommen waren, aber auch andere Kostbarkeiten. Wunderbare Kristalle und Rubine, größer als alle, die man anderswo fand. Dieser Reichtum lockte die Zwerge ins Reich des Winters. Fast alles Lebensnotwendige musste nach Ishaven gebracht werden. Laut Überlieferung hatte es in der Binge keinen Albenstern gegeben, und so mussten Karawanen und Frachtaale alles Lebensnotwendige in die unterirdische Minenstadt bringen. Angeblich hatte es ein gewaltiges Netz von Tunneln gegeben, durch das Aale reisten. Bis weit unter das Windland sollte es sich erstreckt haben. Grumgri hatte die Geschichten um Ishaven geliebt, denn dort, wo man nichts wusste, war alles denkbar. Als von Ishaven keine Waren mehr kamen, waren Aale ausgeschickt worden, um zu erkunden, was in der Binge geschehen war. Auch sie blieben verschollen. Und so wurde Ishaven von einer reichen Binge zu einer unheimlichen Geschichte, die man sich flüsternd in eisigen Winternächten erzählte.

»Die Schlucht wird zu eng!« Rurgors Worte begleitete das Kreischen eines der Hebel neben seinem Ledersessel. »Die Wale werden uns gleich verlassen.«

Grumgris Blick folgte dem tastenden Lichtstrahl der Bolzenspucker. Die Wände der Schlucht fielen nun fast senkrecht in die Tiefe ab. Und sie rückten näher.

Er konnte spüren, wie die Pottwale zur Seite glitten, noch bevor er es sehen konnte. Die Bolzenspucker verlor langsam ihren Vortrieb. Dann schwebte sie nur noch. Hing bewegungslos im dunklen Wasser, während die Wale wie lebende Schatten an ihr vorüberzogen. Das Lied, das sie den Weg über begleitet hatte, veränderte sich. Es war nicht länger melancholisch. Es hatte jetzt etwas Forderndes.

»Tretet in die Pedale, Männer!«, rief Rurgor in das Sprachrohr vor seinem Sessel.

Grumgri hörte, wie sich die Kurbelwelle in Bewegung setzte, doch es klang anders als sonst. Dumpfer, schwerfälliger. Sie drehte im Wasser. Die Schmiermittel würden fortgewaschen. Bald würde Metall auf Metall schleifen.

»Glotz nicht bloß, Grumgri. Sag mir, was du siehst! Haben wir freies Fahrwasser unter uns? Gibt es einen weiteren Lichtpfeil voraus?«

»Ja, ja …« Er sah nach unten, so gut die Scheibe aus Panzerglas es eben erlaubte. »Unter uns ist Dunkelheit. Du musst den Lichtkegel schwenken. Wir sind auf Sinkfahrt. Etwa zwanzig Grad, schätze …«

»Ich sehe, wie sich das Wasser hier drinnen neigt.« Rurgor klang gehetzt. »Erzähl mir nichts über Sinkfahrt. Sag mir, was du siehst. Ist da ein Lichtpfeil?« Ein metallisches Krachen ertönte. Der Lichtstrahl neigte sich und verlor sich in bodenloser Tiefe.

»Wir laufen mitten im Graben. Keine Klippen. Der Abstand zu den Steilwänden ist je etwas mehr als zehn Schritt. Wir liegen auf gutem Kurs …« Grumgri räusperte sich. »Aber du solltest die Steuerhebel mit etwas mehr Gefühl bedienen. Bei Harr und Swid hat es nie so gekreischt.«

»Armleuchter«, knurrte Rurgor. »Harr hat mitgeholfen, die Bolzenspucker zu bauen. Er kannte jeden Bolzen in ihrem eisernen Leib. Und Swid ist etliche Monde lang von Harr unterwiesen worden, wie man die Bolzenspucker steuert. Ich hatte nur ein paar Tage, um zu lernen. Dann musste ich schon meine Prüfung ablegen: die Flucht aus dem Hafen von Rosan.«

Grumgri dachte mit Schaudern an die Fahrt durch die Elfenflotte. An all die Zauber … Dass sie noch lebten, war dieser seltsamen Leynelle zu verdanken, die sich unter ihren Augen von einer hässlichen Vettel in ein Geschöpf von solcher Schönheit verwandelt hatte, dass selbst Zwergenherzen bei ihrem Anblick schmolzen. Es gab keinen an Bord, der ihr nicht heimlich hinterhergeschaut hatte. Eigentlich machte sich Grumgri nichts aus Elfenfrauen. Zu groß, zu dürr, zu arrogant. So einfach war das mit ihnen. Doch diesen Dreiklang der Abneigung hatte Leynelle außer Kraft gesetzt. Womöglich lag das nur an einem Zauber, den sie wirkte. Immer wieder hatten sie versucht zu verstehen, was ihre Anziehungskraft ausmachte. Endlos waren die Gespräche um sie gekreist, wenn keine spitzen Ohren lauschen konnten. Am Ende hatte sie bei der Mannschaft einen viel tieferen Eindruck hinterlassen als die Fürstin. Dass sie nun durch das Eis den Trollen entgegenmarschierte … Was für eine Verschwendung. Die grauen Unholde würden ganz gewiss nicht dem Zauber ihrer Schönheit erliegen. Sie würden in der Elfe nur eine Mahlzeit sehen. Was für ein verzweifelter, törichter Einfall, ausgerechnet unter den Trollen Verbündete zu suchen! Der Hass der Hünen auf die Elfen war so alt wie diese Welt. Und die Elfen hatten reichlich Öl ins Feuer dieses lodernden Hasses gegossen.

»Außerdem steht die Mechanik unter Wasser«, riss die Stimme Rurgors ihn aus seinen Gedanken. »Da ist nichts mehr so geschmiert, wie es sein sollte. Ich geb mein Bestes, das muss genügen. Und jetzt glotz nicht schweigend ins Dunkel, sondern sag mir, was du siehst.«

»Dunkel eben …«

»Der Abstand zu den Steilwänden?«

»Gleichbleibend. Wir fahren auf stabilem Kurs. Keine Felsvorsprünge in Sicht … und kein leuchtender Pfeil.« Grumgri lauschte auf das Lied der Wale, das ihnen noch immer folgte. Und auf das metallische Knacken der beiden Hüllen. Wie tief sie wohl fuhren? Irgendwann zerdrückte das Wasser die Aale einfach. Aber die Baumeister der Tauchboote waren sich uneins, wann das geschah. Vielleicht lag es auch an der Form der Aale und daran, wie gut die Metallplatten vernietet waren, oder an etwas, woran noch keiner gedacht hatte. Aber die Bolzenspucker litt unter der Last des Wassers. Das war deutlich zu hören. Auch wenn das Pling der herausspringenden Bolzen, die irgendwann auf Metall schlugen, jetzt nur noch sehr selten zu hören war. Die Bolzen, die jetzt noch saßen, würden ihnen treu bleiben bis zum letzten Augenblick. Bis die Bolzenspucker binnen eines Herzschlags zu einem Metallklumpen zusammenpresst wurde wie ein Helm, der unter den Fuß eines Mammuts geriet.

Der Gesang der Wale änderte sich erneut. Jetzt waren Töne darin, die Grumgri direkt in den Bauch fuhren. Sie sorgten für ein ungutes Gefühl.

»Da stimmt was nicht«, flüsterte Rurgor, als habe er Sorge, belauscht zu werden.