Schattenpfade - C.S. Steinberg - E-Book

Schattenpfade E-Book

C.S. Steinberg

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Beschreibung

Schattenpfade – Teil 1 von 2 Eine Welt, in der du Magier oder Ausgestoßener bist. Ein Krieg für Freiheit und Gerechtigkeit. Ein Mann, auf der Flucht vor sich selbst. Gefangen in den düsteren Erinnerungen seiner Vergangenheit, strandet Savinama Merat in Dáima. Bei sich, ein geheimnisvolles Medaillon. Geführt vom Stadthalter Solvat Lepove, der eines nicht besitzt: Emotionen. Savinama gerät zwischen die Fronten und wird zum Spielball des mächtigsten Magiers der Alten Welt. Gebunden an einen lebenslangen Vertrag, sucht er Zuflucht in Alkohol und Drogen und stößt jeden von sich, der ihm helfen will. Selbst die Liebe zu einer Frau ... Denn die Schatten spüren Savinamas außergewöhnliche Verbindung zu den Elementen und haben nur ein Ziel ...! Was ist, wenn dir nicht einmal der Tod als Flucht bleibt? Was ist, wenn du die Furcht vor der Angst verlierst? Wie tief wirst du fallen, ehe du das Licht erkennst! "Schattenpfade – im Zeichen des Vigil": das neue Fantasy-Epos von C.S.Steinberg. Wie alles begann: Savinamas Reise zu sich selbst – vom Kind zum Mann, vom Kopfblinden zum Krieger – vom Krieger zur Legende! Die Mythen und Legenden der Vigils, Wächter, der Alten Welt haben einen Ursprung. ... Nuavera, erwache. Es ist noch nicht an der Zeit

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C.S. Steinberg

Schattenpfade

Im Zeichen des Vigil

Teil 1 von 2

Fantasy-Roman

eISBN 978-3-948987-25-1

Copyright © 2021 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Coverrechte: C.S.Steinberg

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Inhalt

Die Autorin

Die Alte Welt

Die Charaktere

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Einige Wochen später

Danksagung

Die Autorin

Geb. 1977 in Deutschland, schrieb C.S. Steinberg mit 12 ihr erstes Buch, einen Jugend-Liebesroman. Mit 18 Jahren folgte ihr erster Fantasy-Roman mit dem Titel „The last Thoughts“. Beide hat sie bis heute keinem Verlag vorgelegt.

2013 wird der mainbook Verlag auf die Autorin aufmerksam und die Fantasy-Saga „Magie der Schatten“ erscheint mit Band 1 „Barshim und Cashimaé“ (2014), Band 2 „Feuerspuren im Eis“ (2017) und Band 3 „Am Ende der Zeit“ (2019).

Neben dem Schreiben und der Familie beschäftigt sich die Autorin mit Fotografie, Kunst und Musik.

Die Alte Welt

Die „Alte Welt“ ist eine eigenständige Parallelwelt zu unserer.

Sie besteht aus zwei „Ländern“ (Liyiell und Natriell).

Die Bewohner leben in einfachsten Verhältnissen, ähnlich dem Mittelalter.

Sprache: Eigene Sprache

- Aussprache: Die Alte Sprache wird gesprochen, wie geschrieben.

ä/ ö/ ü existiert nicht.

Beispiel:magic - magik

magico - magiko

Bezahlung: Der Handel beruht auf dem Austausch von Waren. Geld gibt es kleine Mengen und ist nur ein Äquivalent, wenn das Lagern von Gegenständen/ Waren nicht sinnvoll oder nötig ist.

Die Bewohner:

Charfea (gesprochen: Scharfe - a): Urvolk der Alten Welt. Sie leben im Einklang mit der Natur und sehen den wahren inneren Charakter einer Person.

Das Alte Volk hält sich vorzugsweise von den Magiern fern und siedelt in den wenig erschlossenen Teilen von Natriell.

Magier (betrifft fast alle Bewohner der Alten Welt): Bereits bei der Geburt verbindet sich das Kind mit einem Naturelement, solange das bewusste Denken noch nicht einsetzt.

Magie wird über die eigenen Körperenergien umgesetzt. Je kräftiger eine Person ist, desto intensiver kann die Begabung umgesetzt werden.

- Bann der Zeit - Die Körperenergien können zur Gesundung des Körpers genutzt werden. Ebenso können sie das Altern des Körpers verlangsamen. Eine Umkehr (Verjüngungsprozess) ist nicht möglich.

Kopfblinde - Caraser: (Aussprache - Kara-ßer): Sind alle Personen die keine Verbindung zu einem der Elemente haben. Ihre Nähe empfinden Magier als störend aufgrund der - Leere im Geiste -. Magier sehen sie als minderwertig.

Vigil (Übersetzung - Wächter - Aussprache ähnlich dem Englischen „Virgil“ - nur statt ö ein i)

Es gibt vier von ihnen, einen für jedes Element. Sie sehen sich als Wächter / Waage der Elemente. Jeder Wächter besitzt besonders starke, magische Kräfte, die seinem Element entsprechen.

Die Länder:

Liyiell: Die meisten Bewohner der Alten Welt leben auf Liyiell. Es existieren diverse kleine Ortschaften über das ganze Land verteilt.

An der nordwestlichen Küste befindet sich die Hauptstadt - Dáima.

Dáima ist eine Hafenstadt und hat über die Schiffart Verbindung zu Natriell.

Natriell:

Natriell ist kaum erschlossen.

Im südwestlichen Teil entsteht die Hafenstadt Darabor (später Comoérta).

Politik:

Eine einheitliche Regierungsform und allgemeingültige Politik sind bisher nicht existent.

Auf Liyiell verwalten sich die kleinen Dörfer abseits von Dáima selbst.

Die Hafenstadt Dáima wird vom „Stadthalter“ (eigene Bezeichnung) diktatorisch geführt.

Seine Verwaltungsstruktur macht Dáima zum Zentrum und kontrolliert jeden Handelsweg.

Natriell organisiert sich in weiten Teilen selbst.

Ausgenommen die entstehende Hafenstadt Darabor, die einzige Handelsverbindung zu Liyiell. Den Aufbau der Stadt überwacht ein vom Stadthalter aus Dáima eingesetzter Verwalter.

- Gegenspieler - die Rebellen - Sie agieren auf Liyiell. Ihr Ziel ist der Aufbau einer Demokratie.

Die Charaktere

Wichtige wiederkehrende Namen

Savinama Merat: Hauptcharakter der Geschichte

Mirame & Luter Merat: Eltern von Savinama

Curat Merat: Bruder von Luter Merat

Siriame: Eine Marassé aus Dáima (Marassé - Edelhure mit besonderer Ausbildung)

Parou Persue: Anführer der Rebellen

Locan Persue: Bruder von Parou

Market Shorbes (später Shorbo): Rechte Hand und Begleiter von Parou

Solvat Lepove: Stadthalter von Dáima

Tessec: Rechte Hand vom Stadthalter

Laver: Aufseher über den Hafen von Dáima

Gervan: Heiler

… unsere Geschichte beginnt in „Saantes“,ein kleines Dorf auf Liyiell.

„Sie fürchten die Schatten.Deswegen wird keiner sehen, was wir sehen.Keiner erfahren, was hinter den Grenzen der eigenen Angst liegt.Nur wir!Die ihr ins Angesicht geblickt und sie ausgelacht haben!“

(Solvat Lepove)

Dieses Buch möchte ich dir widmen,lieber Bernd Kohn!

Danke, dass du mich geschubst hast!

1.

Lautes Kindergeschrei klang durch das Plätschern und Gurgeln des Regens.

Zwischen den Marktständen schoss ein kleiner Junge hindurch und jagte mit einer Selbstsicherheit über den rutschigen Boden, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan.

Seine Füße flogen dahin, dicht gefolgt von einem Trupp aus sechs Kindern. Alle vom Schlamm besudelt, der kaum erahnen ließ, ob es Jungen oder Mädchen waren.

Am Dorfrand angekommen, zielte der Flüchtende eine offene Wiese auf der rechten Seite an. Er geriet ins Rutschen, landete im Matsch und hob den Kopf. Er spuckte braunes Wasser aus. Wieder auf den Beinen stolperte er dem greifbar rettenden Baum entgegen. Die Hand packte ein Seil, das den Eindruck vermittelte, auf ihn gewartet zu haben. Schnell wie ein Wiesel hangelte sich das Kind auf einen der breiten Äste hinauf. Im letzten Augenblick zog er den Strang hinter sich her.

Siegessicher blitzten weiße Zähne durch den Dreck. Warme, braune Augen glänzten in provozierendem Schalk.

Die Verfolger kamen unter ihm zum Stehen. Schnaufend und prustend rangen die Kinder nach Luft. Der Größte, dessen rote Lockenpracht nass die schmalen, sommersprossigen Gesichtszüge verklebte, ballte die Faust und fixierte ihn mit wütendem Blick. „Merat, du Feigling, komm da runter!“

Der Angesprochene lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und setzte die bloßen Füße vor sich ab. „Kommt doch rauf.“ Der Spott tropfte von den Lippen wie das Wasser von der Kleidung.

„Du kopfblinder Bastard. Kannst froh sein, dass deine Eltern einen so hohen Rang haben, sonst wärst du schon längst aus dem Dorf geflogen“, keifte ein Kleinerer, dessen Körperform dem Vergleich eines Weinfasses standhalten konnte.

„Du solltest dir mehr Sorgen machen!“

Auf die saloppe Antwort von oben wechselte das rote Gesicht mit den Pausbacken in Verblüffung. „Ich? Wieso ich?“

Der Junge auf dem Baum kreuzte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Er fühlte sich sicher. „Weil das Dorf sonst Angst bekommt, dass du ihnen die Lager leer frisst.“

Zornige Ausrufe. Etwas traf klatschend seinen Arm. Alle bückten sich, um dem ersten Schlammgeschoss weitere folgen zu lassen. Er zog es vor, mit einem Lachen einen höheren Ast zu erklimmen. Keiner war so geschickt beim Klettern wie er. Niemand würde es den Baum hinaufschaffen. Sollten sie sich wie die Schweine im Dreck suhlen.

„Was ist hier los?“, donnerte eine tiefe Stimme über das Kreischen der Kinder hinweg.

Augenblicklich kehrte Stille ein, unterbrochen vom Plätschern des Regens.

Auf einem großen, braunen Wallach mit schwarzer Mähne und Schweif saß ein Mann, der seinem Pferd in dessen Robustheit ähnelte. Den Körper eingehüllt in einen dunklen Mantel mit Fellen besetzt, schauten zwei schwarze Augen finster auf die Kinder herab. Das dämmrige Licht ließ den silbernen Knauf eines Schwertes erkennen.

„Nichts, wir … äh, wir spielen“, stotterte der Größte der Gruppe.

„Spielen? Ich sehe einen Haufen Feiglinge, die zu sechst auf einen Einzelnen losgehen! Eure Ärsche sollten Bekanntschaft mit meiner Hand schließen, bevor ich sie euren Eltern übergebe“, brummte der Reiter missbilligend durch einen Bart, der der Länge nach zu urteilen, seit einigen Tagen die herben Gesichtszüge bedeckte. Er spuckte über den linken Arm auf den Boden. Dunkelbraunes Haar fiel nass und wellig auf die Schultern.

„Onkel Curat!“, erklang es erfreut von oben. Der Junge kletterte behände zurück auf den tieferen Ast und strahlte ihn an.

„Macht, dass ihr wegkommt!“, fuhr der Mann die Kinder an und dirigierte das Pferd näher an den Baum.

Unwirsch und murrend zogen sie sich zurück. Der Anführer der Bande patzte einen letzten Ausruf zu ihnen. „Wir werden dich zwischen die Finger bekommen, Merat, dann hilft dir auch kein Onkel!“

Auf das von Furchen durchzogene Gesicht des Kriegers legte sich ein Grinsen. Er hob dem Jungen auf dem Ast eine Hand entgegen. „Wirklich Savinama, du solltest nicht dauernd übertreiben. Eines Tages ziehen sie dir das Fell über die Ohren.“

Fest packte das Kind die gereichte Stütze und sprang herunter. Er glitt hinter den Onkel in den Sattel. „Sie werden mich nie erwischen. Dafür müssten sie das Denken anfangen. Denken ist nicht unbedingt ihre Stärke.“

Der Magier zog die Zügel an. Warf einen Blick auf das Seil, das weiterhin über dem Ast geschlungen hing. Er erahnte, was hier vorgegangen war. Curat wendete das Pferd und ließ es langsam auf das Dorf zuschreiten. „Glaube mir Savin, auch der dümmste Bauer begreift irgendwann, dass er ausweichen muss, wenn man ihn ständig an der gleichen Stelle tritt.“

„Dafür muss er verstehen, dass es weh getan hat.“

Das Lachen des Onkels schallte laut durch den seichten Regen. Die schweren Pferdehufe ließen den Schlamm aufspritzen. „Deine Mutter wird weinen, wenn sie deine Sachen sieht.“

Der Junge drehte sich, sprang auf die Hinterhand des Pferdes und glitt zurück, dass er rückwärts auf dem Tier hockte. Der Wallach zog mit ausladenden Schritten an den anderen Kindern vorbei. Der kleine Reiter schenkte ihnen ein Augenzwinkern. „Onkel, würde sie deswegen noch weinen, wären ihre Augen nie wieder trocken.“

Sie erreichten die Marktstände. Der große Mann saß ab. Savinama wandte sich und schob sich in den Sattel. Er fühlte sich wie ein Krieger. Von hinten traf ihn die behandschuhte Hand des Onkels am Kopf. „Au, wofür ist der denn?“

Der Magier lehnte sich mit den Armen auf das Pferd. Seine wuchtige Statur wirkte wie ein Berg. Seine schwarzen Augen durchbohrten ihn. „Du bist ein Idiot, Savinama. Selbstüberschätzung führt dazu, dem Tod zu begegnen. Meistens belässt er es nicht bei einem Besuch, bei dem er dir anbietet, einen Becher Wein mit dir zu saufen.“ Hinter ihnen zogen mürrisch dreinblickend die Kinder vorbei.

„Was erwartest du? Sie halten mich für einen Bastard. Denkst du, sie verbringen ihre Zeit mit Erklärungen, wie nett sie mich finden?“ Verbitterung schwang in der Stimme des Achtjährigen mit.

„Du bist ein Bastard, Junge! Du wirst nie etwas anderes sein, wenn du keinen Zugang zu den Elementen findest. Da draußen werden Kriege geführt.“ Die Hand des Onkels wies in die Weite des Dorfes hinaus. Seine Stimme eindringlich. „Dort werden solche wie du zu Chrishkafutter verarbeitet. Wenn du Glück hast, darfst du in einem Hurenhaus den Dreck der Besoffenen wegräumen oder in den Häfen den Gesichtslosen den Arsch nachtragen. Das ist alles egal, Savinama, aber eines nicht: Wie wir sterben. Sterbe ehrenvoll! Mit hocherhobenem Haupt, egal wie tief du in der Scheiße steckst, aber niemals, weil du deinen Gegner aus Arroganz unterschätzt. Dann sterbe wie ein Bastard!“ Für eine Sekunde herrschte Stille. „Wie oft machen sie das mit dir?“

Eine Furche legte sich auf die Stirn des Kindes. Selbstsicher streckte es das Kinn vor.

„Das ist mir Antwort genug.“ Curat griff in die Satteltasche und holte einen Beutel heraus. „Es gibt Hoffnung, dass du nicht irgendwann wie eine Ratte ertränkt wirst und in den Kanälen verrottest, weil du im eigenen Elend ersäufst. Bist ein Kämpfer! Warte hier.“ Er wandte sich ab und verschwand zwischen den tiefhängenden Lederdächern.

Kurze Zeit später kehrte er mit einem Schlauch zurück, dessen Riemen er über die Schulter warf. „Deine Mutter ist immer so karg mit dem Wein, da bringe ich lieber meinen eigenen mit.“ Er saß hinter dem Jungen auf und ließ das Pferd den Dorfplatz entlang schreiten.

„Ich bin kein Bastard!“, erklang es leise von vorne.

2.

„Mirame, schau was ich auf der Straße gefunden habe.“

Laut polternd betrat Curat das Haus und schob den Jungen durch die hölzerne Tür vor sich her.

In dem schlichten, für die Verhältnisse des Dorfes, großen Raum stand auf der rechten Seite am Fenster ein langer Tisch. An ihm saß vornübergebeugt eine Frau und bearbeitete mit größter Sorgfalt Stoff mit einer Nadel. Bei dem Lärm schreckte sie auf und drehte sich um. „Curat, du bist zurück und … meine Güte, Savinama, wie siehst du wieder aus?“ Sie erhob sich in einer fließenden Bewegung von ihrem Stuhl und warf einen tadelnden Blick auf den Sohn, der schlammverschmiert vor dem Magier stand. Zu dessen Füßen breitete sich ein dunkler Fleck aus. Entschuldigend zog das Kind den Kopf ein. „Geh nach hinten und wasche dich! Wenn dein Vater das sieht, gibt es Ärger.“ Ihre Stimme verriet Unmut, die klaren, meerblauen Augen erzählten von Wärme und Liebe. Das hellbraune Haar fiel in weichen Locken über die Schultern bis zur Hüfte. Eine anmutige Gestalt, eingehüllt in dunkelgrünes Leinen, das ihre schlanke, weibliche Figur zur Geltung brachte.

„Zisch ab!“ Der Onkel schob ihn brüsk weiter.

„Verzeih, Maman“, flüsterte Savinama und huschte an ihr vorbei. Er fühlte sich schuldig. Nicht aufgrund der Jungen draußen, wegen der Kleidung. Ihm war bewusst, wie lang ihre arbeitsreichen Tage waren, damit die Familie etwas zum Anziehen besaß. Jeden Stich, mit dem sie Stoffe miteinander verband, setzte sie mit Liebe und Sorgfalt. Seine Mutter hatte ein sanftes Wesen. Er erinnerte sich nicht, dass sie ihn je ernsthaft gescholten hatte. Sie war im Recht. Bekäme sein Vater Savinama so zu Gesicht, würde es einen Haufen Ärger geben. Im Gegensatz zu Mirame konnte der unleidlich werden, wenn der Sohn rücksichtslos mit den Sachen umging. Respekt und Achtung vor der Natur, den Mitmenschen und den Dingen, die sie zum Leben benötigten, waren die wichtigsten Aspekte, die Luter Merat zu vermitteln suchte.

Savinama eilte zum hinteren Ausgang. Groß war das Interesse an den Berichten, die der Onkel mit sich trug. Abenteuergeschichten aus jener Welt, die weit weg von der eigenen lag. Oft klangen sie wie Märchen. Vor allem die Schiffe …

Allein der Gedanke an sie ließ einen sehnsuchtsvollen Seufzer über seine Lippen gleiten.

Die Füße trugen ihn vor einen überdachten Verschlag. Er schlüpfte aus der Kleidung und betrat den mit Holz ausgelegten Boden. Aus einem Fass hob er einen vollen Wassereimer heraus, goss zwei davon über den Kopf und kniete sich mit einem dritten nieder.

Von der Seite zog er eine Kiste heran, in der Seife und Bürste lagen.

Er wusch sich und ließ die Gedanken schweifen.

Schiffe, Savinama hatte bisher keines gesehen. Boote und kleine Segler, die mit den Wellen über das Meer trieben, waren ihm bekannt. Die Großen, von denen Onkel Curat erzählte, bekam er nicht zu Gesicht. Ein Boot passt immer auf ein Schiff, aber ein Schiff nie auf ein Boot, erklärte der ihm.

Es war möglich viele Personen, inklusive Ladung und sogar Pferde auf ihnen zu transportieren. Die Masten hoch, die Segel groß, fuhren sie zu einem fremden Land namens Natriell.

Für ihn klang das wie aus einem Traum. Savinamas Welt hörte hinter den Hügeln und unten an den Klippen auf.

Er würde mit seinem Vater dorthin reisen, um diese Wunder zu sehen. Das hatte Luter Merat im letzten Jahr versprochen, damit sein Sohn endlich mit den Fragen aufhörte. Die Neugierde wuchs mit jedem Besuch des Onkels. Mit neuen Erzählungen der seltenen Reisenden, die das Dorf durchquerten. Seine Eltern betonten immer wieder, dass Saantes alles hatte, was sie zum Leben brauchten, eines besaß Saantes nicht … Freunde.

Er stand auf und trocknete sich ab. Der Blick schweifte aus dem Fenster. Durch die Ritzen zog ein frischer Wind, bei dem er eine Gänsehaut bekam und fröstelte. Vater, warum verschließt du nicht alles, auch im Eingang? Es ist kalt, hatte Savinama vor zwei Jahren gefragt, als er beim Bau des Waschraumes half. Luter Merat war aufgestanden, hatte ihn aus den dunkelbraunen Augen angeschaut, während der Ostwind mit dem gleichfarbigen Haar spielte. Magier brauchen nicht frieren, Savinama. Irgendwann wirst du das verstehen.

Er ließ das Handtuch sinken. Irgendwann.

Es war bis heute nicht eingetreten. Sein Vater, ein Mann, der streng, aber gerecht handelte, hielt weiterhin zu ihm. Niemals gab er dem Sohn das Gefühl, ein Außenseiter zu sein oder ihn weniger zu lieben, weil er kein Magier war, sondern ein Caraser, Kopfblinder, ohne energetischen Bezug zur Natur. Die Erwachsenen im Dorf achteten Luter. Niemand würde es wagen, etwas Negatives zu Savinamas fehlender Magie zu äußern.

Auf die Dorfkinder traf das nicht zu. Es war der Grund, warum der Junge meistens alleine auf den Hängen unterwegs war. Als alle kleiner waren, urteilte keiner darüber. Magier besaßen von Geburt an ihre Verbindung zu den Elementen. Manchmal trat es später ein. Aber je älter Savinama wurde und den Vater fragte, wie alt denn spät war, bekam er irgendwann keine Antwort mehr. Was er in dessen Augen sah, ließ ihn den Glauben daran verlieren. Der Prozess des ausgestoßenen Kopfblinden setzte langsam und schleichend ein. Die ersten Streiche folgten und Savinama zog sich zurück. Er entwickelte mit der Zeit einen ausgeprägten Spürsinn für Situationen.

Die Kinder hielten sich für unbesiegbar, weil sie verschiedene Möglichkeiten erlernten, wie sie ihre Fähigkeiten mit den Elementen anwenden konnten. Altaran, der Älteste der Gruppe, war sogar mit zwei von ihnen verbunden. Eine Gabe, die den Sohn des Obsthändlers in die Position des Anführers brachte. Savinama schaffte es immer wieder, dem drei Jahre Älteren zu entkommen. Die Streiche wurden zu einer Jagd. Altaran hasste die ständigen Niederlagen. Savinama blieb die Wahl, sich wie eine Maus in ein Loch zu verkriechen oder schneller und besser zu sein, als alle im Dorf. Mochte er ein Kopfblinder sein, auf den Kopf gefallen war er nicht und ein Feigling schon gar nicht.

Savinama huschte mit dem Handtuch ins Haus. Die Dämmerung war weit vorangeschritten. Unter der Treppe stand eine große Truhe. Er hob den Deckel, fischte Leinenhose und ein braunes Hemd heraus.

Er eilte in die warme Wohnstube und kämmte mit den Fingern die feuchten, kinnlangen Haare zurück.

Curat saß am Tisch in der Mitte des Raumes und goss Wein aus dem mitgebrachten Schlauch in einen Becher. Das Schwert lehnte an der Wand neben dem Eingang, darüber hing der nasse Mantel und tropfte vor sich hin. „Ich hasse dieses verdammte Dreckswetter. Es macht das Reisen langwierig und beschwerlich“, brummte er in den struppigen Bart.

Savinamas Mutter stand am Feuer und blickte ihrem Sohn entgegen. Sie hob ein Tuch von ihrem Arbeitsplatz und trat hinter ihn. Warf es über seinen Kopf und begann zu rubbeln.

„Oh naé, muss das sein?“, murrte der Junge vor sich hin.

„Du brauchst nicht mehr Wasser im Haus verteilen, als schon vorhanden.“

Unwillig ließ er die Prozedur über sich ergehen, bis hin zum Kämmen. Es ziepte und zog überall. Sein Gesicht sprach Bände. „Maman, was ist ein Hurenhaus?“

Vor Schreck fiel Mirame die Bürste aus der Hand. „Curat, was hast du wieder für Geschichten erzählt?“, rief sie vorwurfsvoll.

Der Magier zeigte belustigt die Zähne. „Ich habe meinem Neffen erklärt, wie das Leben funktioniert.“

Sie schob das Kind zu einem Stuhl und drückte ihn darauf nieder. „Wie das Leben funktioniert? Indem du ihm vom tiefsten Abschaum Liyiells erzählst?“ Verärgert kehrte sie zum Feuer zurück. Lud aus dem großen Topf Suppe in eine Schale, die sie scheppernd vor dem Jungen auf den Tisch stellte.

Savinama begann zu essen, hob den Blick und fixierte den Onkel. „Und was ist jetzt ein Hurenhaus?“

„Deine Mutter hat recht, es ist verrucht und dreckig. Dort geht man hin, wenn du für körperliche Liebe bezahlen musst. Egal in welcher Form.“

„Curat!“, donnerte eine tiefe Stimme von der Tür. Unbemerkt war ein großer, kräftiger Mann eingetreten. Er streifte die Stiefel ab und zog die Handschuhe aus. „Du musst meinen Sohn nicht mit schmutzigen Gepflogenheiten abseits unseres Dorfes verunglimpfen.“

Der nasse, schwere Mantel fand Platz neben dem des Bruders, bevor er auf Mirame zuging und ihr einen sanften Kuss auf die Stirn hauchte.

„Luter.“ Der Klang seines Namens spiegelte die Liebe wider, die das Paar trotz der vielen Jahre, die sie ihr Leben gemeinsam verbrachten, verband.

Er trat an den Tisch, wuschelte dem Sohn durch den Schopf und setzte sich neben ihn. Wie die zwei beieinandersaßen, war die Ähnlichkeit zwischen ihnen unübersehbar. Die gleichen braunen Augen und Haare. Savinama besaß eine leichte Wellung, die er von der Mutter geerbt hatte. Vor allem verriet die Augenpartie, dass das Kind vergleichbar charismatische Gesichtszüge wie Luter bekommen würde. Er hatte ein breites Kreuz, einen wachsamen, warmen Blick. Arme und Hände erzählten von harter Arbeit. Das schulterlange Haar im Nacken mit einem Lederband zusammengebunden. Luter Merat war ein Mann, der nicht lange diskutierte, und schnell auf den Punkt kam. „Du bist spät dran, du wolltest vor über einem Monat hier sein.“

Curat ergriff den zweiten Becher, den Mirame brachte. Füllte ihn mit Wein und ignorierte ihre missbilligenden Blicke. „Entschuldige, die beschissene Wetterlage sorgt dafür, dass kaum ein Durchkommen möglich ist. Die Wege sind gefährlich und glitschig. Wenn sich mein Gaul ein Bein bricht …“

„Erzähl, was der Rest dieser verlausten Welt macht“, bat Luter den Bruder.

„Ich glaube …“, unterbrach Mirame die Männer und warf einen Blick auf ihren Sohn, „ihr solltet warten, bis gewisse Kinder im Bett sind.“

„Oh Maman, ich bin acht und kein Kind mehr.“

Curat erinnerten die Worte an etwas. Er wühlte in der Innentasche des schwarzen Leinenhemdes. „Ich muss ihm recht geben, meine Liebe. In den Städten führen Kinder in dem Alter ein Schwert und mancher teilt sein Bett mit einer …“

„Curat!“, wurde er brüsk von beiden Elternteilen unterbrochen.

Der Besucher grinste und hob beschwichtigend die Hände. „Ist schon gut, … Mirame, ich habe deinem Wunsch entsprechend das Geschenk mitgebracht.“ Er legte einen kleinen Lederbeutel auf den Tisch.

Sie fixierte das Niedergelegte, als könne es lebendig werden und sie anspringen. Langsam ließ sie sich auf dem letzten Stuhl nieder. „Ist es … ist es das, worum ich dich bat?“

Irritiert sah er sie an. „Aé, ich habe lange suchen müssen, bis ich jemanden fand, der es deinen Vorstellungen entsprechend herstellen konnte. Eine Feuermagierin in Dáima. Sie sagte, dieses Zeichen …“

Mirame unterbrach ihn, indem sie den Beutel zu Savinama schob. „Hier mein Junge, für dich!“

Überrascht zog der eine Braue hoch. „Für mich? Wieso?“

Ihre Züge wurden warm. „Ich wollte es dir zu deinem Jahrestag geben, wie du gehört hast, ist Curat zu spät.“ Er starrte seine Mutter an und zog den Beutel ein Stück näher. Täuschte er sich oder zögerte sie loszulassen?

Endlich hielt er ihn und löste voller Freude das Band. Er ließ den Inhalt auf die Hand gleiten. Das Licht des Feuers brach sich in einem blauen Stein und der Junge glaubte, es würde ihm heiß werden. Unglaube breitete sich aus. „Oh Maman, es ist wunderschön.“ Ein silbernes Medaillon.

Es bestand aus einem Dreieck, das von einem Ring eingeschlossen wurde. An den Spitzen je einer der Steine. Er drehte es, um die Gravur im Außenring zu entziffern. „Eine Einheit bildet, was von jeher eine Einheit war, und dem, der glaubt, die Sicherheit einer ganzen Welt bietet. Der Alten wie der Neuen“, las er vor.

„Oh, da tritt mich doch ein Pferd. Du hast dem Bengel das Lesen beigebracht, Luter? Verdammt, bring ihm das Kämpfen bei, statt so einen unnützen Mist.“

Mirame verdrehte, genervt über Curats rüpelhafte Ausdrucksweise, die Augen.

Luter mischte sich ein. „Er kann auch rechnen und schreiben. Ich würde es nicht als Mist bezeichnen. Ich sage dir, dass mein Sohn ausgesprochen intelligent ist und geistig den meisten im Dorf voraus.“

Curat trank einen tiefen Schluck. „Also ein Kopfblinder und ein Klugscheißer. Eine wunderbare Mischung, die ihm im Leben noch was bringen wird. Mindestens noch mehr arrogante Arschlöcher, die ihn verurteilen. Darauf sollten wir anstoßen.“

„Es reicht!“ Mirames Hände schlugen auf die Tischplatte. „Nenne meinen Sohn nie wieder einen Kopfblinden. Er ist es nicht!“ Ihre Stimme zitterte. Sogar Savinama, der das Lederband des Medaillons umfasste, hielt in der Bewegung inne und starrte sie an.

„Es … ich …“ Sie bewegte sich um den Tisch und streifte ihm das Band über den Kopf. „Es tut mir leid.“ Sie strich ihm durch das Haar.

Luter räusperte sich und schob den leeren Weinbehälter zu seinem Sohn. „Savin, sei so gut und gehe zu Sibylla. Sie möchte den Schlauch füllen. Ich werde morgen dafür etwas tauschen.“

Die Männer beobachteten, wie Mirame die Augen schloss und sich ihre Brust deutlich hob. Sie drückte sanft Savinamas Schultern und nickte. „Mach, was dein Vater sagt, und lauf nicht wieder barfuß.“

Verwirrt erhob er sich vom Stuhl. Seine Mutter war die Letzte, die Weingenuss befürwortete. „Soll ich wirklich …?“

„Geh einfach!“ Die Schärfe in ihrer Stimme sorgte dafür, dass er hastig im Vorbeilaufen den Mantel ergriff und in die Stiefel schlüpfte. Das Medaillon verschwand im Ausschnitt seines Hemdes. Mit dem Schlauch bewaffnet huschte er zur Tür hinaus.

*

Kaum war er fort, wurde an ihren Händen ein Zittern ersichtlich. „Mirame, Liebes. Was ist los? Hast du etwas gesehen?“

Mit hoch erhobenem Haupt trat sie an die Näharbeiten. Ihr Gesicht wandte sich dem Fenster und der hereingebrochenen Nacht zu. Der Regen bedeckte unablässig das Land. „Er ist kein Kopfblinder.“

Die beiden Männer tauschten vielsagende Blicke. Mirame besaß eine seltene Gabe, die schwer auf ihren Schultern lastete. Sie sah in den Energieströmen die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Über Letztere schwieg sie sich aus. Das kleinste Wort, die banalste Handlung beeinflusste den Verlauf. Sie erklärte, dass es vorherbestimmte Ziele im Leben gab. Wie man dorthin gelangte, blieb offen. Eine Entscheidung, eine Bewegung löste eine Kettenreaktion aus, die stetig den Pfad zum Unausweichlichen veränderte. Es war so komplex, würde sie versuchen, es zu ändern, lief sie Gefahr, dass ihr Geist in der Flut der Bilder dem Wahnsinn verfiel. Zumal sich das Ende des Weges nicht immer deutlich präsentierte und im Nebel der Möglichkeiten verschwamm. Die Anwohner im Dorf nannten sie Seherin.

Ihr Mann trat hinter sie und zog sie sanft heran. „Was hat dich heute durcheinandergebracht? Du schaffst es doch sonst, auf deinem Weg zu bleiben.“

Sie senkte das Gesicht gegen seine Brust. „Das Medaillon. Als Curat es auspackte, und ich sah, wie genau es dem Bild in meinem Kopf entsprach, wurde mir klar, es ist ein unausweichliches Ziel.“

Curat warf einen Blick zur geschlossenen Tür und leerte den Becher. „Hast du noch Wein, Mirame?“

„Su, dort im Schrank.“ Mit der Aussage war ihnen klar, dass sich ihre Sorge auf Savinama konzentrierte. Sie hätte ihn sonst nicht zur späten Stunde hinausgeschickt, um etwas zu holen, was sie verabscheute und sich im Haus befand.

*

Savinama patschte durch den Regen die Wege des Dorfes entlang. Keine Ahnung, warum sich seine Mutter so aufregte. Ihr Ausbruch brachte für ihn eine ungewohnte Freiheit. Die Nacht war über das Land gekommen. Normalerweise verbot sie dem Sohn, nach Einbruch der Dunkelheit draußen zu sein.

Er verwarf die Gedanken.

Sie verabscheute die deftige Wortwahl des Onkels.

Das Medaillon ruhte unter dem Hemd auf der Brust. Er war überwältigt, etwas so Kostbares zu besitzen.

Die Markthändler räumten ihre Sachen zusammen.

„Merat, was treibt dich zur späten Stunde in die Dunkelheit? Hat dich dein Vater rausgeworfen?“

Savinama war in Gedanken. Erst mit den lauten Worten wurde er auf Altaran aufmerksam. Der Elfjährige hielt sich vor einem Holzhaus, an einem der Stände auf. In den Händen eine Kiste, die er im Begriff war hinein zu tragen.

„Kümmer dich um deinen Dreck“, antwortete Savinama.

Der Rothaarige fixierte ihn aus grünen Augen. „Ich kümmer mich um Dreck, kopfblinder Bastard. Und Dreck sollte bekanntlich beseitigt werden.“ Ein Pfiff durch die Zähne. Hinter Altaran kamen zwei Jungen heraus, einer älter, der andere jünger. Seine Brüder, die bei der Arbeit geholfen hatten.

Savinama schätzte die Lage ab. Der Schwerpunkt seiner Interessen lag nicht auf einer erneuten Verfolgungsjagd. Aber er kannte Altaran lange genug, um zu wissen, dass der sich eine solche Chance nicht entgehen lassen würde. Unbemerkt grub er den rechten Stiefel tiefer in den Schlamm und fand festen Boden. Er würde ihn brauchen, wenn absehbar wurde, dass nur die Flucht blieb.

„Savin?“, erklang eine helle Stimme von links. „Was machst du um diese Zeit hier draußen?“

Genervt schob Savinama den Schlauch auf den Rücken. Erea kam mit einem Sack beladen die Straße entlang. Das blonde Mädchen des Bäckers war die Letzte, die zu ihm gehalten hatte. Zu Beginn des Frühjahres wechselte sie die Seiten.

Altaran stellte die Kiste zu Boden und wischte sich beiläufig die Hände an einem Lumpen ab. „Es ist unwichtig, was ihn hierher verschlägt. Wichtig ist, dass ich noch eine Rechnung mit ihm offen habe.“

Savinama lachte laut und schallend. „Eine? Feuerkopf, du solltest endlich Mathematik lernen. Wenn ich mich recht entsinne, sind es eine ganze Menge. Hast du jemals gewonnen?“ Die Blicke, die ihn trafen, sagten alles.

Es war eine einzige Bewegung, ein Atemzug, in der der Sohn des Obsthändlers den Lumpen zur Seite warf und um den Stand herum hechtete. Dicht gefolgt von den Brüdern. Genauso schnell drückte sich Savinama ab und rannte los. Im Stillen hoffte er, derweil er einen Stapel Hölzer überwand und einem Esel auswich, nicht hinzufallen. Zweimal an einem Tag würde sogar seine Mutter aus der Fassung bringen. Bei Tageslicht bewegte sich das Dorf in einem Trott, den er kannte. Im Dunkeln, stellte er fest, brachte ihm seine Erfahrung im Flüchten nichts. Wege, die sonst frei lagen, wurden von Dorfbewohnern bevölkert, die ihre Waren zusammenpackten und sich auf den Heimweg begaben. Einigen wich er aus, andere rempelte er unsanft an.

„Entschuldigung – Vorsicht – Achtung!“, rief er immer wieder. Öfters hörte er ein zorniges „Merat!“ im Rücken nachhallen. Beim Wein in der Taverne wäre er das abendliche Gesprächsthema, bei dem die Anwohner Mutmaßungen ausstießen, was Luters Sohn angestellt hatte. Savinama war der König der Streiche, zum Leidwesen der Mutter. Doch heute Nacht ging es nicht um Hühner unter einem Rock oder freigelassene Schweine im Dorf. Savinama wurde sich bewusst, wenn er Altaran nicht abhängte, würde er die Tracht Prügel seines Lebens kassieren.

Im Slalom jagte er weiter. Kisten und Fässer versperrten die Gassen. Karren wurden beladen. Maulesel und Pferde belagerten die Plätze. Ausgerechnet heute Abend schien jedes Lebewesen aus Saantes auf den Dorfstraßen unterwegs zu sein. Mit Mühe schaffte er es, die Hindernisse unbeschadet zu überstehen. In einem Seitenweg kam er ins Rutschen und prallte gegen eine Steinmauer. Die Rufe und Schreie hinter ihm verrieten, dass sich der Abstand verkleinerte. Die letzten Meter bis zum Rand des Dorfes lagen vor ihm. Er hetzte auf den Feldweg hinaus und warf den Weinschlauch zur Seite. Ein Satz auf den Zaun! Er landete auf dem Boden. Wasser spritzte in alle Richtungen. Savinama bog nach rechts, auf die Wiese. Gegen den düsteren Nachthimmel zeichnete sich die Kontur des Baumes ab.

Seine Hand streckte sich in gewohnter Art und …

Griff ins Leere. Durch den Schwung schlug es ihn der Länge nach in ein knöcheltiefes Schlammloch. Erschrocken hob er den Kopf. In den Schatten der Nacht erkannte er auf dem Ast das Seil.

Die Erkenntnis traf ihn hart. Savinama war nicht dazu gekommen, es herunter zu holen. „Are debra su!“, entfuhr es ihm. Ein Blick über die Schulter, sie waren fast da.

„Jetzt bist du dran!“ Altaran!

„Savin lauf!“, rief Erea hinter den Jungen hervor.

Strauchelnd kam er hoch. Den glitschigen Stamm zu erklimmen, war ein Unterfangen, das nicht einmal er angehen brauchte. Hastige Blicke in alle Richtungen. Es gab eine Möglichkeit, die Verfolger abzuschütteln. Augenblicklich sprintete er los. Rechtzeitig! Hinter ihm knallte einer der Jungen in den Matsch. Die anderen zwei waren dicht auf.

Er hetzte auf die Klippen zu. Wenn er es schaffte, vor ihnen unten anzukommen, blieb eine geringe Chance, sich zwischen den Felsen am Strand zu verstecken. Altarans Kletterkünste waren katastrophal. Er vermied alles, was keinen festen Weg besaß.

Der Junge erreichte den Rand des kleinen Pfades, den die Kinder oft nutzten, statt den großen Hauptweg auf der anderen Seite des Dorfes. Die Dunkelheit verwandelte die Klippe in einen Abgrund aus Schwärze, zu dessen Füßen die Wellen im Sand ausliefen.

Nach den ersten Metern wurde Savinama klar, die Entscheidung war nicht sonderlich schlau. Der Weg war rutschig und aufgeweicht. Für die Witterungs- und Lichtverhältnisse zu schmal. „Bleib oben“, flehte er vor sich hin und drückte sich mit dem Rücken an den Felsen. Tastete sich Stück für Stück mit den Füßen voran. Die Kinder gaben nicht auf. Zu Savinamas Überraschung war es Altaran, der deutlich besser vorwärtskam als er.

„Heute wirst du nicht entkommen, Merat! Das schwöre ich!“, fauchte sein Widersacher.

Hastiger als gut, suchten Savinamas Füße Halt. Kleine Steine rieselten vor ihm über die Kante. Warum bei allen Chrishkas entdeckte Altaran ausgerechnet jetzt seinen Hang zum Heldentum? „Verpiss dich Feuerkopf, du glaubst nicht ernsthaft, schneller zu sein als ich!“ Große Worte für die Situation. Eine Armeslänge trennte sie.

„Das glaube ich nicht, das weiß ich, Merat!“

Savinama wandte den Kopf und bleckte die Zähne. „Dafür hast du viel zu viel Schiss. Ist schon scheiße, jahrelang von einem Kopfblinden ausgetrickst zu werden.“

Altaran hielt inne. Selbst in den Schatten erkannte Savinama den Zorn, den er mit dem Satz verursacht hatte. Es wurde Zeit, mehr Abstand zwischen sie zu bringen. Der Fuß stieß gegen etwas. Er drehte den Kopf und schaute runter. Jäh nahm er eine Bewegung hinter sich wahr. Sein Mantel wurde gepackt. Zu schnell. Keine Chance, Halt zu finden. Durch den Ruck trudelte der Junge nach links. Die Füße verloren den Boden. Er schrie erschrocken auf. Die Hände griffen in den luftleeren Raum. Der Körper wurde über die Kante katapultiert. Aus einem Reflex heraus schaffte er eine leichte Drehung. Mit den Ellbogen schlug er auf die harte Steinkante, die Finger erwischten Altarans Hose. Das nasse Geröll an der Steilwand gab nach. Mit einem Aufheulen fiel Savinamas Gewicht auf die rechte Hand. Zeitgleich entzog er dem Rothaarigen den Stand. Dieser knallte mit dem Rücken auf den Boden.

„Du brichst mir den Fuß!“, brüllte der vor Schmerz und Angst.

„Hilf mir, du Arsch!“, keifte Savinama. Verzweifelt versuchte er, mit der linken auf dem glitschigen Untergrund Halt zu finden. Seine Schuhe berührten Steine, die sich lösten. Im Halbschatten der Nacht spiegelte sich das Entsetzen in Altarans Gesicht wider.

Mit panischer Stimme rief er: „Ich kann nicht. Wenn ich loslasse, falle ich selber.“

Der Jüngere griff nach und verlor fast den letzten Halt. „Komm schon! Du bist schuld, dass ich hier hänge!“

„Ich bin schuld? Welcher Idiot ist denn hier runter gelaufen!“

„Wer hat mich denn gezwungen!“, patzte Savinama zurück. Endlich! Altaran holte tief Luft, klammerte sich mit der rechten Hand an einen Vorsprung im Felsen und hielt ihm die linke entgegen.

„Glaub mir, ich werde dich dermaßen verprügeln, dass du dir wünschst, meine Hilfe nicht angenommen zu haben!“

„Halts Maul und zieh mich hoch!“, folgte Savinamas schroffe Antwort. Er versuchte erneut, mit den Füßen einen Absatz zu finden. Die Streitereien der Jungen konnten die lähmende Furcht nicht verdecken, die darin schwang. Die aufgeregten Stimmen der anderen Kinder rückten in den Hintergrund.

Es fehlte eine Fingerbreite. Altaran streckte sich. Einen Millimeter. Es erweckte den Eindruck, dass die Zeit sie foppte und alles zum Stillstand brachte. Ein Geräusch von fallenden Steinen. Eine Mischung aus Wasser, Schutt und Schlamm, die sich in einer einzigen Bewegung lösten. Die Erkenntnis in Savinamas Gesicht, dass die rettende Hand seine nicht rechtzeitig erreichen würde. Irgendwer riss Altaran zurück. Der Felsvorsprung gab nach. Nichts mehr, was einen Halt ermöglichte. Ein Aufschrei, der sich im Plätschern des erneut einsetzenden Regens verlor.

Von unten mischte sich das gleichmäßige Rauschen der Wellen hinein.

3.

„Savinama!“ Einem Flackern gleich hallte es aus weiter Ferne. War er gemeint?

Was war geschehen? Wo war er? Das Denken fiel unsagbar schwer.

Ein erster Versuch, die Umgebung wahrzunehmen.

Der Sand unter den Händen. Die auslaufenden Wellen, die die Finger umspülten. Der Wind, der über das Gesicht strich. Die Erinnerung an eine Flucht. Die Klippen.

Die Erkenntnis breitete sich in ihm aus, er war gestürzt.

Er atmete. Eine beruhigende Feststellung. Der Zustand, befremdlich.

Seltsam, er empfand keinen Schmerz. Wenn er es recht betrachtete, war da gar nichts. Er bemühte sich, die Augen zu öffnen. Schlieren waberten durch das Sichtfeld und die Anstrengung ließ den Geist wieder verwischen.

Trotzdem war alles nah. Unwirklich.

Eine Zwischenwelt, die ihn umgab. Nicht kalt oder warm. War es das, was sein Vater versuchte zu beschreiben, wenn er von der Magie erzählte? Etwas so Großes, dass es unmöglich war, es in Worten auszudrücken? Die Finger regten sich, berührten den feuchten Sand. Leben. Ein erneuter Versuch, die Lider zu heben. Der Drang, die Welt zu sehen. Jedes Detail, das er liebte. Eine Bewegung der Lippen. Er schmeckte Salz darauf. Die Luft, die die Lunge durchdrang und die Wärme der Sonne. Es war Nacht. Ihr Atem trotzdem anwesend. Zog sich durch das Erdreich. Wie kleine Adern. Er stellte sich vor, wie sie in die Haut eindrangen, sich das Blut mit den Elementen vermischte.

Keine Furcht, keine Fragen. Kein Wunsch, den Zustand zu ändern. Wenn er nicht so müde wäre. Etwas Unvergleichliches bewegte sich um ihn herum. Streifte ihn, fremd und vertraut zugleich. Sein Bewusstsein drohte abzudriften. Nicht schlafen, bitte nicht schlafen.

Geräusche drangen durch die Schlieren seiner Gedanken. Sie wirkten deplatziert. Stimmen? Sie erreichten ihn, leise und mal lauter, wie das Brausen der Wellen. Es war friedlich hier, wie in einem Kokon.

„Savinama!“

Sein Name, das war sein Name. Die Erinnerung setzte ein. Der Junge versuchte aufzusehen und zu antworten. Doch beim Versuch entfachte der Schmerz eine gleißend grelle Explosion in seinem Kopf. Das Wasser berührte erneut die Finger. Was eben einem wärmenden Feuer glich und ihm keine Angst bereitete, veränderte sich und trieb Eiskristalle durch sein Blut. Wo die Nebel des Sturzes ihn vor der Realität bewahrten, sorgten die Stimmen, die ihn riefen, dafür, dass sein Bewusstsein in die Wirklichkeit zurückkehrte. Die Situation mit Worten wie ‚Warum‘ und ‚Wieso‘ hinterfragten. Was vorher friedlich wirkte, schien ihn schlagartig von innen anzugreifen.

„Savin! Bei allen Himmeln.“ Hände, die ihn umfassten und hochhoben. „Es wird alles gut.“

„Ich habe Angst“, flüsterte er und ließ den Kopf gegen die breite Brust fallen. Der Geruch, die Wärme, die Arme, die seinen Körper umschlossen und beschützten.

„Ich bin da“, antwortete Luter. Die Worte hallten in Savinama nach. Ich bin da. Sie tauchten in die Wirbel aus Dunkelheit und holten die Empfindungen zu den Elementen zurück. Vermischten sich mit einem leisen Klang. Es glich dem Lachen eines Mädchens.

*

In einem kleinen Zimmer hinter den Stufen des Hauses prasselte ein Feuer im Kamin. Sanfter Kerzenschimmer erleuchtete den Raum. Gab den Blick frei auf eine Truhe. Darüber ein Regal, auf dem sich geschnitzte Tierfiguren aus Holz tummelten. Links daneben ein Bett. Der Onkel saß auf der Kante und legte ein kühles Tuch auf Savinamas Stirn. Die Eltern sprachen im Hintergrund. Bei ihnen ein Mann gehobenen Alters. In einen dunkelblauen Mantel gehüllt. Die Ärmel weit und die Säume mit braunem Leder besetzt. Um die Hüfte ein Gürtel, an dem Beutel und Dolch baumelten. Graubraunes Haar fiel in einer Krause bis über die Schulterblätter und ein dichter Vollbart bedeckte das Gesicht. Alérs, der Heiler des Dorfes.

Sanft tupfte Curat die blutigen Spuren von Stirn und Schläfe. „Du bist ein Idiot, Savin. Ich habe dich gewarnt, dass das passiert“, sprach er.

Die Hand des Kindes bewegte sich. Kaum hörbar erklang die Antwort: „Ich bin kein Bastard.“

Überrascht drückte der Onkel seinen Arm. „Naé, aber ein Idiot. Ausgerechnet die Klippen, bei dem Wetter.“

Für eine Sekunde hob der Junge die Lider, um sie gleich wieder zu schließen. Das Licht schmerzte. „Mir ist heiß.“

Curat wandte sich zur Seite. „Er ist wach.“

Augenblicklich kehrten alle an das niedrige Bett zurück. Der Heiler berührte Savinamas Stirn. Gütige tiefblaue Augen, von Falten umrahmt, nahmen das Kind in Augenschein. „Er hat hohes Fieber.“ Der Magier fixierte die Eltern. „Die Wende ist eingetreten. Ich kann die Ströme fühlen, aber in dem Alter …“ Er brach ab. Sein Blick sagte alles.

Mirame schob ihn zur Seite und kniete sich neben ihren Sohn. „Er schafft das.“ Sie drückte sanft die Lippen auf seine Wange.

„Maman, es tut mir leid … die Sachen … nicht achtgegeben.“ Die Worte fielen Savinama unendlich schwer.

„Bei allen Himmeln, Savin.“ Sie schluchzte und zog ihn in die Arme. „Das ist jetzt nicht wichtig“, sprach sie in sein Haar und strich zärtlich über den Kopf.

Alérs trat neben Luter. Curat erhob sich. „Er hat großes Glück gehabt. Die Prellungen werden heilen. Die Verletzungen sind oberflächlich. Der Kopf hat ganz schön was abbekommen. Warum der Sturz seine elementaren Energien ausgelöst hat, kann ich nicht sagen. Ein solcher Fall ist mir nicht geläufig. Genauso wenig, dass ein Kind in dem Alter je …. Die Ältesten waren drei, aber acht? Luter, der Junge denkt eigenständig. Sein Ego ist voll entwickelt. Jetzt offen gegenüber den Elementen zu sein, ist schier unmöglich. Es wird ihn zerstören. Er wird innerlich verbrennen. Ich kann nicht einmal spüren, welches der Elemente es ist. Seine Welt ist ein energetisches Chaos.“

Savinamas Vater hob bei den Worten stur den Kopf. „Dann mache ich mir um ihn keine Sorgen. Mein Sohn hat Talent, mit dem Chaos umzugehen.“ Und leise zischte er: „Ich gebe mein Kind nicht auf, solange sein Herz schlägt. Ihr solltet das auch nicht. Raus!“ Curat zog es vor, den Heiler aus dem Zimmer zu schieben.

Luter setzte sich auf die Kante des Bettes. Savinama schaffte es an der Mutter vorbei, ihn anzusehen. „Ich möchte von dir wissen, warum du nicht den Wein geholt hast, wie wir es dir sagten. Was hattest du verdammt nochmal an den Klippen zu suchen? Im Dunkeln, bei dem Wetter!“

„Luter, nicht jetzt!“, flehte Mirame.

„Ich … ich weiß es nicht.“

„Wenn die anderen Kinder …“

„Bin müde.“ Augenblicklich war er eingeschlafen.

Luter drückte die kleine Hand. „Es geht ihm besser. Der Heiler irrt sich.“

Mirame nahm das Tuch aus der Schüssel und wischte die Schweißperlen von der Stirn ihres Sohnes. Ihre Antwort kam leise. „Es hat nicht mal richtig angefangen, Bredu, Geliebter, Liebling.“

*

Mirame behielt recht.

Die Stunden zogen dahin. Manchmal sprach Savinama im Fieber. Zeitweise kam er zu sich, dann war jemand bei ihm, reichte Wasser, ehe er sich wieder im Nirgendwo verlor. Einer Welt voller Stimmen, die er fürchtete, die ihn umwanderten und nicht verstummten. Die im Körper wie Feuer brannten und ihn gleichzeitig vor Kälte frieren ließen.

Der Heiler kam immer öfter. Brachte Kräuter. Versuchte die Ströme des Kindes zu erkunden.

Je tiefer sie zogen, desto beängstigender wurde Savinamas Zustand. Je mehr baute der Körper ab. Alérs setzte dazu an, Mirame auf das Unausweichliche vorzubereiten und riet, dem Kind die Gnade eines schnellen Todes zu gewähren. Sie weigerte sich, ihm zuzuhören.

Dem alten Mann fiel es schwer, die Starrsinnigkeit zu übergehen. Curat mischte sich ein. „Was bewegt euch dazu, den Jungen aufzugeben?“

„Was mich bewegt? Seht ihn euch an! Er leidet. Er versucht, im Geist die Energien zu erfassen und sie zu verstehen. Er ist zu alt für die Verbindung. Alles, was er im Kopf nicht kennt, wird hinterfragt. Ich habe bei Altaran gesehen, wie es bei zwei Elementen ist. Aber er war ein Jahr alt. Sein Ego war nicht ausgereift. Savinamas Ströme jedoch finden keinen Ruhepol. Bedeutet: Er hat keinerlei Bezug zu einem von ihnen. Er kann sich nicht verbinden. Der Körper verbrennt darin und aé, er hat Schmerzen und aé, er leidet! Wer will sein Kind leiden sehen? Er war nicht als Magier geboren, Mirame. Warum willst du Schicksal spielen?“

Die Augenbrauen der Mutter zogen sich nach unten. Das Haar rutschte über ihre Schulter. „Mein Sohn ist das Schicksal, das ihr euch nie wünschen werdet, Alérs. Er versucht nicht die Elemente zu erklären, er ist ein Teil von ihnen!“ Sie drehte sich und stapfte zurück in das Zimmer.

Die Blicke der Männer folgten ihr. „Entweder sie weiß was, was sie nicht sagen darf, oder … sie will der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen.“

Curats Worte blieben unbeantwortet im Raum stehen.

*

Ihren Sohn in ein Laken mit kaltem Wasser gewickelt, im Kampf gegen das Fieber, saß Mirame in der Nacht auf dem Boden. Wiegte ihn sanft vor und zurück. Sie sang ihm ein altes Kinderlied vor. Ihre Stimme klang durch den von einer Kerze erleuchteten Raum. Sie sah die Nebel, die um sie herum aus dem Holz stiegen. Fühlte, wie sich die Luft veränderte.

Ihr Mann betrat das Zimmer und sah die Furcht in ihren Augen. Die weißen Schleier zogen über den Körper des Jungen, langsam, fast zärtlich. Mirame vergrub das Gesicht in seiner Halsbeuge. „Nimm ihn nicht weg. Oh bitte, nimm ihn nicht fort.“

Luter empfand eine ungewohnte Kälte, kam zu ihr, kniete sich nieder und legte die großen Arme um seine Familie. Er würde gerne kämpfen. Aber wie? Wie sollte er sie beschützen vor Dingen, die man nicht anfassen konnte?

*

Schwärze hüllte Savinama ein, die ihm Angst bereitete. Ein Versuch nach den Eltern zu rufen misslang. Schier eine Ewigkeit irrte er in der Finsternis. Einsamkeit überrannte den kleinen Geist. Niemals hegte er den Wunsch, alleine zu sein. Weder in der greifbaren Welt, oder in seinem Inneren. An den Klippen war er für einen Moment ein Teil von allem. Ohne zu fragen, ohne zu wollen. War es möglich, Unendlichkeit zu beschreiben? Er war sich sicher, sie wahrgenommen zu haben. Der Kreislauf von Werden und Vergehen? Eine Einheit? Er wäre gern damit verbunden. Wo er sich jetzt im Geiste aufhielt, fand er nichts davon. Er blieb in der Dunkelheit stehen und ließ die Schultern hängen. Müde. Wie lange kämpfte er an diesem seltsamen Ort? Wie lange war er hier? Wenn sein Bewusstsein diesen Ort, für den es keine Worte gab, registrierte, war es möglich, den Zustand zu verändern? Er erinnerte sich an die Verbindung, die ihn am Fuße der Klippen erfüllte.

Der Atem wurde gleichmäßiger. Savinama rief sich das Lachen zurück in sein Gedächtnis. Etwas streifte seine Haut. Es war perfekt. Wie die Wärme und Liebe, die er zu den Eltern empfand. Er hob tapfer den Kopf. – Wir erschaffen unsere Ewigkeit selber – Es gab mehr, um die eigene Unendlichkeit zu erweitern.

Das Rauschen der Wellen an den Klippen. Der Wind, der uralte Geschichten erzählte. Die klare Luft an einem Wintermorgen. Der Boden, der stetig und immer ein pulsierender Herzschlag zu sein schien. Wenn das Schicksal verlangte, dass er starb, dann mit jeder positiven Erinnerung und Gefühlen, die er in seinem kurzen Leben erfahren durfte. Die ihn glücklich stimmten. Er würde sie festhalten.

Stück für Stück löste sich die Anspannung. Er atmete tief aus und ergab sich den betörenden Empfindungen, die ihn füllten wie ein Gefäß. Die Gedanken und Furcht verdrängten. Loslassen. Keine Angst mehr haben.

Um ihn herum wurde es heller. Die Nacht bekam einen Boden. Wie ein See, auf dessen Oberfläche sich das Leuchten der Sterne spiegelte und die Grenze zwischen oben und unten verwischte. An einem Punkt bündelte sich das Licht. Ringe breiteten sich aus. Als hätte jemand einen kleinen Stein ins Wasser der Ewigkeit fallen lassen. Die Kreise berührten Savinama. Es zog ihn unweigerlich auf das friedvolle Strahlen zu. Unschuldig. Rein. Der erste Gedanke, es zu berühren, verflog. Er blieb, wo er war. Verschmelzen und eins werden.

– Sie –

Savinama hinterfragte nicht, warum er es mit ‚Sie‘ betitelte. Worte verloren ihre Bedeutung und mit den Worten den Bezug zur Welt. Er war hier und es berührte so tief, dass alles ihr galt. Aus den Nebeln formte sich eine Gestalt, Lichtpunkte verblassten schimmernd über dem Wasser. Zurück blieb ein Mädchen.

Sie schien im gleichen Alter zu sein wie er und spiegelte für ihn wider, wie er sich Unschuld vorstellte. Genau so! – Ewigkeit – war das Wort, das sich aufdrängte. Wenn er auf der Schwelle zum Tod stand, war er bereit, wegen diesem einen Augenblick. War das Liebe? Er war ein Kind, was wusste er von Liebe? Nichts. Gegen sie war alles nichts. Ein Nichts, das er nicht fürchtete. Sie machte ihn glücklich. Er war nicht alleine. Ihre Augen blutrot, eine Geschichte der Zeit. Ihre Haut und ihr Haar so hell wie Schnee. Unbegreiflich groß. Er wünschte sich, dass sie fühlte, was er empfand. Mit ihr diese überwältigenden Emotionen zu teilen.

Der Junge bemerkte nicht, wie sich unter seinen Füßen Ringe bildeten, mit den ihren zusammenliefen und sich überkreuzten. Keine Angst, es war rein.

Selbst dafür, dass er bereits acht Jahre alt war, hatte Savinama sich etwas bewahrt: die eigene kindliche Unschuld. An Träume zu glauben. Etwas hinzunehmen, ohne zu hinterfragen. Geben, ohne zu erwarten. Er war frei.

Als ihn das leise Flüstern erreichte, ertrank er darin, ohne Furcht zu ersticken.

– Nuavera – Erwache –

*

Savinama schlug die Augen auf. Überraschenderweise fühlte er sich frisch und ausgeruht. Nicht die Mutter saß an seinem Bett. „Erea?“, brachte er krächzend heraus.

Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht strahlte. „Savin, oh bei allen Himmeln. Du bist wach!“ Sie warf sich nach vorne, dass der Zopf am Hinterkopf wippte und fiel ihm um den Hals. „Ich hatte Angst, dass ich dir nie sagen kann, wie schrecklich ich mich fühle, wegen dem, was wir dir angetan haben.“ Sachte schob sie sich zurück. Ihre blauen Augen leuchteten unsicher und glücklich zugleich.

„Wasser“, erbat er. Erea reichte einen Becher. Savinama genoss, wie das kühle Nass die trockene Kehle hinunter rann. Der Junge bemerkte, wie sie seinem Blick auswich, um ihn dann wieder anzustarren.

„Ich … du …“ Sie sah verwirrt aus und strich sich nervös die blonden Haare von der Wange.

„Ich sehe furchtbar aus, aé.“ Seine Stimme klang besser. Zaghaft versuchte er ein Grinsen.

„Das meine ich nicht. Deine Augen. Sie … hm, sie haben sich verändert.“

„Wie verändert?“

Auf einmal huschte ein verschüchtertes Lächeln über ihre Züge. „Deine Augenfarbe hat sich verändert und … es gefällt mir.“ Ein rosiger Schein wurde in ihrem Gesicht sichtbar. „Wirst du jetzt gesund?“

Savinama starrte sie an. Er haderte noch, ob sie im Begriff war ihn zu veralbern oder ob sie nervös war wegen ihm? Er bemerkte ein Brennen auf der Haut. „Also, ich denke … aé, ich glaube schon. Von den Klippen bleiben wir lieber weg.“

Sie beugte sich ohne Ankündigung vor und platzierte einen Kuss neben seinen Mund. „Aé, ich freue mich darauf.“ Sie hüpfte auf die Füße und flitzte aus dem Zimmer. In der Wohnstube wich sie mit einem Schlenker Mirame aus. „Bis bald, masia Merat.“ Fort war sie.

Überrascht folgte der Blick der Mutter dem Mädchen bis zur Tür. Aus dem Raum des Sohnes ertönte ein Knall. Hastig warf sie das Tuch zur Seite, mit dem sie sich die Hände abgetrocknet hatte, und eilte nach hinten.

Savinama lag auf dem Boden und rieb sich das schmerzende Knie. „Maman, ich kann nicht laufen!“, rief er entsetzt.

Mirame lachte, stürzte zu ihm herunter und zog ihn fest in die Arme. „Du bist wach! Bei allen heiligen Elementen, du bist wach.“

„Aé! Aber ich kann nicht laufen“, sprach er vorwurfsvoll. Sie küsste und herzte ihn. „Oh, bitte.“ Er versuchte, den Liebesbekundungen auf seinem Gesicht zu entkommen.

„Du hast zehn Tage gelegen, mein Kind. Deine Beine müssen sich wieder an dein Gewicht gewöhnen, du …“ Sie brach ab und starrte ihn an. Der Junge beobachtete, wie sie tief Luft holte und dann ein sanftes Lächeln sichtbar wurde. Zärtlich strich sie über seine Wange.

„Erea sagt, meine Augen haben sich verändert. Stimmt das? Habe ich jetzt so meerblaue wie du?“, fragte er aufgeregt. Sie schüttelte den Kopf. „Wie das frische Gras, wenn die kalten Tage vorbei sind?“ Auch dies verneinte sie.

„Deine Augen …“ Ihre Fingerspitzen umrundeten sanft die Brauen, dann sein Kinn. „Sie haben die Farbe von flüssigem Honig! Die Farbe einer untergehenden Sonne. Wie Bernstein.“

„Das ist aber schon gruselig“, stellte er nüchtern fest.

Sie ließ die Erleichterung über sein Erwachen erneut im Zimmer erklingen und zog ihn an die Brust.

Seine Aufmerksamkeit wanderte an ihr vorbei. Zu etwas, das in der Tür stand. Etwas so Schönem, von dem er glaubte, dass es ein Bestandteil seiner Fieberträume war. Silberweißes Licht hob sich empor und löste die Gestalt des Mädchens auf. Er legte den Kopf auf die Schulter der Mutter und schloss glücklich und müde die Augen. In ihm breitete sich unendliche Wärme aus. Ein Gefühl, für das er keine Worte fand. Nur das Wissen, sie war da.

4.

Es dauerte einige Tage, bis Savinama fähig war, im Haus selbständig zu laufen. Sein Körper erholte sich beständig. Kaum auf den Füßen löcherte er den Vater mit Fragen zu den Elementen. Dieser mahnte zu Geduld und wies auf eine vollkommene Genesung hin. Geduld, ein Unwort, das in Savinamas Sprachschatz abgeschafft gehörte.

Er saß am Tisch und aß ein Brot. Mit brauner Leinenhose und Hemd bekleidet. Die Arm- und Beinsäume ein Stück hochgekrempelt. Das Haar am Hinterkopf mit einem Lederband zusammengeknotet, aus dem einzelne Strähnen heraus und ins Gesicht fielen. Jetzt, wo er ein Teil der Elemente war, kam er sich wie ein Mann vor.

Der Onkel kam in die Stube gepoltert und warf ein Bündel aus verschmutztem Tuch auf die Platte. „Hier kleiner Bastard, für dich.“

„Was ist das?“ Der Junge schob den Teller zur Seite. „Pack es aus!“ Emsig wurde das störende Leinen beseitigt. Ein schwerer, brauner Ledereinband kam zum Vorschein.

„Oh!“, war alles, was Savinama herausbrachte. Ehrfürchtig strichen seine Finger darüber. „Ein Buch.“

„Su, aé … hm … dein Vater erwähnte, dass du gerne liest. Deswegen habe ich das besorgt. Im Gegensatz zu Schriftrollen findet man die Dinger nicht häufig.“

Der Junge sprang auf, rannte um den Tisch und drückte den Onkel. „Danke, viele Male, danke!“

„Schon gut.“ Zu viel Annäherung für den Geschmack des Verwandten.

„Maman, darf ich nach draußen? Bitteeeee, hinter das Haus auf den Hügel. Ich gehe auch nicht weiter.“ Sie ließ ihn gewähren.

Auf der Anhöhe setzte sich Savinama ins Gras. Ein lauer Wind zog vom Meer auf das Land und für einen Augenblick verharrte sein Blick in der Ferne. Dunst lag über dem Horizont und die Seemöwen lachten die Sonnenstrahlen aus, die seit wenigen Tagen zaghaft die Schlammpfützen austrockneten. Die Blätter der Bäume färbten sich langsam und die Nächte brachten den ersten Raureif. Die Sonne bemühte sich, die Erinnerung an den Sommer zu halten.

Ruhe und Stille, umgeben von der Natur, fiel es ihm leicht, loszulassen. Er empfand keine Furcht gegen die ungewohnten Ströme, die sich überall um und in ihm bewegten. Die wie leise Stimmen zu ihm sprachen. Er hob die Hand und der Wind strich durch die Finger. Er konnte ihn sehen, nicht nur fühlen. Er nahm eine warme Energie wahr, die den Geist streifte, schloss die Augen und sog den Duft ein, den sie mit sich brachte. Den satten, feuchten Boden. Hörte die Bewegung der Blätter an den Bäumen, wenn sie wuchsen. Alles um ihn herum atmete und pulsierte. Er hob die Lider und war nicht überrascht, das Mädchen mit den silberweißen Haaren zu sehen. Sein Herz klopfte schneller. „Schau, ich habe ein Buch von meinem Onkel bekommen. Soll ich dir daraus vorlesen?“ Eifrig schlug er die erste Seite auf und sah wieder auf. Zu seiner Enttäuschung war sie fort.

„Mit wem sprichst du?“, erklang eine helle Stimme hinter ihm.

Er drehte sich. „Erea.“ Savinama strahlte. Sie trat neben ihn und ließ sich nieder. In dunkelbraunes Leinen gekleidet fiel ihr Haar wie Weizen über den Rücken.

„Was ist das?“

„Ein Buch. Mein Onkel hat es mir geschenkt.“

Eine Weile sagte sie nichts. „Du kannst lesen?“

„Aé, und schreiben und rechnen. Vater meint immer, wenn ich kopfblind bin, kann ich wenigstens ein gebildeter Kopfblinder sein.“

Verlegen nestelte Erea am Stoff ihres Kleides. „Das wusste ich nicht.“

Savinama registrierte den entschuldigenden Klang in ihrer Stimme.

Sie schaute wieder auf. „Liest du mir vor?“

„Aé.“ Eine Herausforderung, selbst für sein geübtes Auge. Eine kleine Handschrift mit ungewohnten Schwüngen, die das Entziffern der Buchstaben zu einem Abenteuer werden ließ. Es bestand aus Berichten eines Reisenden. Erea lauschte aufmerksam und gespannt den Worten. Immer wieder erwischte er sie dabei, wie sie versuchte, seine Augen zu betrachten und rot anlief. An einer Stelle kam er nicht weiter und hielt ihr das Buch entgegen. „Das ist zu klein. Weißt du, was das heißen soll?“

Das Mädchen zuckte zusammen. „Ich … ähm, ich kann nicht lesen.“

Überrascht ließ er es sinken. „Was?“

Nervös zwirbelte sie eine Strähne um ihren Finger. „Savin, fast niemand im Dorf besitzt die Fähigkeit. Dein Vater ist deswegen im Entscheidungsrat. Er ist in seinem Handwerk als Zimmermann der Beste, weil er alles berechnen und aufschreiben kann. Wir waren neidisch, dass er dein Vater ist.“

Ereas Worte verwirrten den Jungen. „Wieso neidisch? Ihr hättet ihn nur fragen brauchen. Mein Vater lehrt gerne. Er ist streng, aber gerecht.“ Sie antwortete nicht. „Soll ich es dir beibringen?“

Die Offenheit und Begeisterung übertrug sich auf das Mädchen. „Das würdest du machen, nach allem … nach allem, was wir dir angetan haben?“

Savinama legte das Buch auf den Boden. „Mein Vater hat einmal zu mir gesagt: Hass ist ein Weg in die Selbstzerstörung. Wenn jemand über seinem Stolz stehen und dich um Verzeihung bitten kann, dann steh du über deinem und vergebe!“

*

Einige Tage später reiste Savinamas Onkel ab. „Wichtige politische Dinge, die unser aller Zukunft betreffen“, betonte Curat ernst, ohne sich in Details zu verlieren. Er verpasste dem Jungen beim Abschied eine Kopfnuss und drückte ihn fest an sich. „Weißt du Savinama, wenigstens bist du kein Kopfblinder mehr. Ein klugscheißender Bastard zu sein, ist völlig ausreichend.“ Er wuschelte dem Kind durch das Haar und stieg auf sein Pferd. „Solltest du mich je brauchen …“, er tippte mit der behandschuhten Hand gegen die linke Brust. „Hier brauchen! Werde ich da sein.“

Ein letztes verschmitztes Zwinkern im Gesicht des Onkels, ehe der schwere Wallach wendete und den Weg zum Dorf hinaus nahm.

Er vermisste Curat jetzt schon. Dafür tauchte Erea immer öfter bei den Merats auf. Die Zeiten, in denen Savinama alleine durch die Wiesen und Wälder streifte, vergessen. Wenn der Schnee in dichten Flocken vom Himmel fiel, jagten sie über die Hänge. Er stellte ihr tausend Fragen zu ihrer Magie. Wollte alles von ihr wissen. An ihrem Leben teilhaben. Im Gegenzug löste er sein Versprechen ein und bemühte sich, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen.

Bis eines Abends ein hagerer Mann mit schütterem, braunem Haar in der Wohnstube stand. „Es ist mir egal, Luter, meine Tochter braucht diesen Schwachsinn nicht. Sie hat die Aufgabe zu lernen, wie sie ihr Leben bestreitet, und nicht, wie tote Pergamente gelesen werden.“

Der Magier seufzte leise. Savinama hockte auf der Bank in der Ecke und beobachtete seinen Vater stillschweigend. Eine Gemeinschaft zu leiten, barg die größten Herausforderungen. Nach außen strahlte er Ruhe aus. Der Junge kannte den Vater, dass er an wenigen Bewegungen ausmachte, die Worte des Bäckers nervten Luter, auch wenn er es zu verstecken suchte.

„Su, Uris. Ich verstehe die Besorgnis und in Anbetracht dessen, dass deine Tochter keinen Wert auf ihre Aufgaben legt, stimme ich dir zu.“ Savinama holte Luft, um Erea zu verteidigen. Mirames Hand berührte seine Schulter und drückte sie sanft. Er hob ihr das Gesicht entgegen. Ihr angedeutetes Kopfschütteln sagte, er solle schweigen.

Der Angesprochene schien über die Antwort überrascht. „Du gibst mir recht?“

„Aé. Erea, Lesen und Schreiben lernen, ist sicher ein wünschenswertes Ziel für jeden von uns. Es eröffnet Möglichkeiten zu großem Wissen und sorgt dafür, seinem Dorf in vielen Situationen zur Seite zu stehen“, wandte sich Luter direkt an das Mädchen. Uris Gesicht verriet eine Mischung aus Interesse und Abwehr. „Aber an erster Stelle kommen Grunddinge, die uns alle betreffen. Dazu gehört Selbständigkeit und Verantwortung für das eigene Leben. Wie soll das gehen, wenn es dir nicht möglich ist, dich selbst zu versorgen und du keinen produktiven Beitrag zum Alltag leistest? Im Gegenzug findest du niemanden, der deinen Worten lauscht, nur weil du des Lesens mächtig bist.“

Das Mädchen nestelte verlegen an ihren Haaren. „Kochen und Nähen ist langweilig.“

Der Magier setzte die Hände hinter sich auf die Tischplatte und lehnte sich dagegen. „Ich weiß, du nutzt deine Zeit lieber, mit den Bengeln des Dorfes Kinder durch den Schlamm zu jagen …“ Erschrocken starrte sie erst ihn, dann Savinama an. Der war ebenso verblüfft und wünschte sich, im Erdboden zu versinken. Wie konnte sein Vater nur?

„Aber du strebst sicher an, deine Tage sinnvoller zu gestalten, und hast erkannt, dass dieser Weg nicht unbedingt der Richtige ist.“

Stille, gefolgt von einem zaghaften „Aé“.