Schattenwelten - Gert R. Polli - E-Book

Schattenwelten E-Book

Gert R. Polli

0,0

Beschreibung

"Die sogenannte BVT-Affäre, vor allem die Hausdurchsuchung in dieser Behörde unter der türkis-blauen Regierung 2018, war nicht ohne Konsequenzen geblieben. Die Beschlagnahme von vertraulichem Material des "Berner Clubs" im Rahmen der Durchsuchung führte zu einer Vertrauenskrise und zu einer temporären Suspendierung des BVT aus diesem informellen, elitären Kreis. Vieles spricht dafür, dass die Initialzündung für dieses Vorgehen des "Clubs" vom BVT selbst ausging, das Feuer also von den eigenen Leuten gelegt wurde." Ein folgenschwerer Anruf: 2002 wurde Gert R. Polli durch ÖVP-Innenminister Ernst Strasser von seiner Dienststelle beim militärischen Auslandsnachrichtendienst Österreichs ins Innenministerium abgeworben. Im Lichte einer sich aufbauenden internationalen Terrorlage nach dem 11. September 2001 sollte ein Inlandsgeheimdienst entstehen. Es galt nun, eine der umstrittensten Sicherheitsbehörden Österreichs neu zu strukturieren und auszurichten: die Staatspolizei. Ein fast unmöglicher Auftrag, mit dem der auslandserfahrene Offizier Polli betraut wurde. Nach Abschluss dieser Aufgabe wurde die Staatspolizei in das neu gegründete Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung eingegliedert. Polli seinerseits wurde zum ersten Direktor dieser Behörde ernannt – eine Funktion, die er fast sieben Jahre lang ausüben sollte. Dieses Buch ist ein sehr persönlicher Rückblick auf Leben und Laufbahn. Gert R. Polli zeichnet den bemerkenswerten Weg nach, der ihn von der Volksschule in Kärnten über das Bundesheer in das Dickicht der österreichischen Behörden und Nachrichtendienste, von dort wiederum in die freie Sicherheitsbranche und schlussendlich auf den Jakobsweg mit Endstation in Santiago de Compostela führte. In zahlreichen Geschichten, die sich so ähnlich tatsächlich zugetragen haben könnten, lassen sich die österreichischen, europäischen und globalen Schattenwelten erahnen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 477

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



„Die beiden wichtigsten Tage in meinem Leben sind der Tag, an dem ich geboren wurde, und der Tag, an dem ich herausfand, warum.“

(nach Mark Twain)

Dieses Buch ist der Versuch einer Positionsbestimmung.

Meinen Eltern Josefine und Max Polli gewidmet.

Wien, Valencia, Bodrum10. August 2021

GERT R. POLLI

SCHATTENWELTEN

Österreichs Geheimdienstchef erzählt

Umschlaggestaltung: DSR – Digitalstudio Rypka, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

Umschlagabb. Vorderseite: istockphoto.com; freepik.com

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter https://www.dnb.de abrufbar.

Hinweis

Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die zum Schutz vor Verschmutzung verwendete Einschweißfolie ist aus Polyethylen chlor- und schwefelfrei hergestellt. Diese umweltfreundliche Folie verhält sich grundwasserneutral, ist voll recyclingfähig und verbrennt in Müllverbrennungsanlagen völlig ungiftig.

Auf Wunsch senden wir Ihnen gerne kostenlos unser Verlagsverzeichnis zu:

Ares Verlag GmbH

Hofgasse 5 / Postfach 438

A-8011 Graz

Tel.: +43 (0)316/82 16 36

Fax: +43 (0)316/83 56 12

E-Mail: [email protected]

www.ares-verlag.com

ISBN 978-3-99081-097-2

eISBN 978-3-99081-111-5

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Ares Verlag, 2. Aufl. Graz 2022

Layout: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, Wien

Inhalt

Bekanntgabe

Danksagung

Vorwort

Eine Reise geht zu Ende

Frühe Weichenstellung

Respektvoller Umgang und eine Chance

River of no return …

Theresianische Militärakademie – TherMilAk

Ein traditionsreiches Haus

Über den Wolken

Dobroe yutro – … WWWWTTTTT …

Lienz 15 Sekunden

Neue Herausforderungen

Hier kommt Kurt

Eine Frage der Adjustierung

Nachruf

Die Insel der Aphrodite

SA-GA-PO

Out of Bounds

Eine unspektakuläre Rekrutierung

Kinderjahre im Geheimdienst

Militärattaché-Konferenz – „shit happens“ …

Operation Monterey – eine Karriere beginnt

Ganbei aodili

Ein Kanal in die falsche Richtung

In the Navy …

Gym und Sauna

The Fog

Zurück im kalten Nest

„Das kann jeder sagen“ – der Beginn einer Karriere

Alice und der Elektroschocker

Wetterleuchten

Von der Stapo zum BVT

Mit leeren Händen

Stolperfallen für Anfänger

Armenien und Aserbaidschan

Zwischen den Fronten

Alice und die Luftverträge

Iwan ante portas

Patruschews langer Arm

Horrido – ein wundervoller Abend

Der Jakobsweg beginnt im Kopf

Politik hinter verschlossenen Türen

Die Libyen-Connection

Kein ganz so lockeres Forum

Washington – immer im August

Langley … schon wieder

Madame …

Der Stöckchenmann

Terrorismus und Überwachungsstaat

Ein Seidenteppich und viele Verdächtige

Waffen für die Mullahs

Scharfschützengewehre für den Iran

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint

Der iranische Geheimdienst unter Verdacht

Nächtliche Umtriebe in der Herrengasse

Der Krisenstab tagt

Vertrauen – Die ultimative Waffe

Farewell, hani salaam!

Dünnes Eis

Mein Camino de Santiago 2007

Der Mann ohne Eigenschaften

Saint-Jean-Pied-de-Port – eine Reise beginnt

Abschied von zu Hause

Quälende Erinnerungen und ein Stein

Eine seltsame Begegnung

Parkemed 500

Vom Niederknien

Hostel de Los Reyes Catolicos – déjà-vu

Wunder gibt es eben nicht – sonderbar

Abu und der Würstelstand

Ein Pulverfass

Vom Zeitgeist und der Terrorbekämpfung

Islam und Islamismus – ein Lernprozess

Eine Reise in die Kälte

Farewell Eliza

Siemens am Horizont

Siemens und der Fall Hariri

Überführt und vorgeführt

Ein folgenschwerer Besuch – zumindest für mich

Hausgemachte Ermittlung mit Langzeitfolgen

Gebrochene Flügel

Wirtschaftlich überleben – aber wie?

Einmal Geheimdienst, immer Geheimdienst!

Landstreicher unter sich

Weinviertler Jakobsweg

VomCamino de Levanteund von Parkbänken

Affe am Spieß

Kaşarlı Tost im Orient-Express

Ein kühler Empfang

All in …

Wenn Gerüchte töten könnten …

Herbert Kickl, der Gründungsvater der DSN

Ende gut, alles gut?

Epilog

BEKANNTGABE

Alle beschriebenen Handlungen, Personen und Zeitabläufe könnten, müssen aber nicht zwangsläufig genau so passiert sein.

Jedwede Übereinstimmungen mit nachrichtendienstlichen Operationen sind zufällig. Die beschriebenen Ereignisse könnten, müssen aber nicht zwangsläufig so passiert sein.

Alle genannten Akteure müssen nicht zwingend zur genannten Zeit an den genannten Orten anwesend gewesen sein, könnten es aber gewesen sein.

DANKSAGUNG

Dieses Buch wäre nie geschrieben worden ohne meinen Freund Bernd. Wer schreibt schon ein Buch über sein langweiliges Leben? So dachte ich zumindest, bevor ich damit begonnen hatte.

Bernd führte mir vor Augen, dass mein Leben – ob beruflich oder privat – so langweilig nicht war. Im Gegenteil. Er motivierte mich, überhaupt mit dem Schreiben anzufangen. Als ich dann schließlich begann, meine Erinnerungen niederzuschreiben, war ich schnell geradezu besessen davon, damit fertig zu werden. Nur so ist es erklärbar, dass mein erstes Manuskript nach nur 32 aufeinanderfolgenden Tagen und 16 Nächten schließlich vor mir lag. Viele Überarbeitungen sollten noch folgen.

Ich war erleichtert, und mehr noch: Ich stellte fest, dass das, was da vor mir lag, mein ungewöhnliches Leben war. Was ursprünglich als Erinnerung an meinen Jakobsweg 2007 gedacht war, entpuppte sich schließlich als ein Buch mit autobiografischen Zügen. Ein Auf und Ab von Ereignissen, Gefühlen und Erinnerungen in einer beruflichen Welt, die der Öffentlichkeit verborgen bleibt: der Welt der Geheimdienste. So seltsam es klingen mag, bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nur eine vage Vorstellung davon, wer ich bin und wofür ich im beruflichen und privaten Leben eigentlich stehe.

Schließlich wurde mir klar, dass ich selbst der größte Nutznießer dieser niedergeschriebenen Lebensgeschichte bin.

Ich bin Bernd dankbar dafür, dass dieses Buch geschrieben wurde.

Wien15. Oktober 2021

VORWORT

Dieses Buch ist meinen Eltern gewidmet – und doch auch der Nachfolgeorganisation des BVT sowie insbesondere deren Leiter, DSN-Direktor Omar Haijawi-Pirchner. Von Napoleon Bonaparte ist überliefert, dass er seine Generäle gern fragte, ob sie auch „Fortune“ hätten bei ihren Feldzügen. Ich wünsche den neuen Leitungsfunktionären der DSN sehr viel davon und dem neuen Leiter viel Erfolg bei seiner schwierigen Aufgabe. Ein bisschen habe ich die Hoffnung, dass Erfahrungen weitergegeben werden können, auch im öffentlichen Dienst und in so sensiblen Bereichen. Bisher war das eher die Ausnahme. Trotzdem habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass das künftig anders sein könnte.

Angefangen hat alles mit meiner Entscheidung, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Fast mein gesamtes berufliches Leben habe ich in Geheimdiensten, Nachrichtendiensten und Sicherheitsdiensten verbracht. Es waren aber nie anonyme Akten oder die Berge von Papier, die es mir angetan hatten. Es waren die Menschen und ihre Pläne, denen mein Interesse galt. Pläne, die das Potenzial hatten, die Welt zu verändern. Ob das der Krieg im ehemaligen Jugoslawien war oder der Zerfall des Ostblocks, die Ausdehnung der NATO nach Osten oder der Aufstieg Chinas zur Weltmacht. Es war aber auch die Omnipräsenz der amerikanischen Dienste, mit denen ich schon sehr frühzeitig in Berührung kam, die mich Zeit meines beruflichen Lebens begleitete. Das war die Welt, die mich faszinierte, die Welt der Geheimdienste, eine Schattenwelt. Kleine Puzzleteile an Informationen, die man aneinanderfügt, um das gesamte Bild zu erhalten. Und doch, oft lag ich mit meiner Interpretation daneben. Später habe ich verstanden, was einen guten von einem weniger guten politischen Analytiker unterscheidet: Es ist die jahrelange Erfahrung im Umgang mit diesen Informationsschnipseln, vor allem aber die richtige Einschätzung der Akteure. Es ist eine spannende, faszinierende und zugleich gefährliche Welt.

Meine nachrichtendienstliche Kinderstube verbrachte ich beim militärischen Nachrichtendienst in Österreich, dem Heeres-Nachrichtenamt. Im Alter von 43 Jahren wechselte ich das Ministerium, von der Landesverteidigung zum Innenministerium. Ich wurde damit beauftragt, den ersten zivilen Nachrichtendienst aus dem Boden zu stampfen. Eine unmögliche Aufgabe, wie ich heute weiß, da der politische Auftraggeber das Interesse daran verloren hatte, noch bevor ich damit begann. Diese Organisation, die später als BVT in die österreichische Nachkriegsgeschichte eingehen sollte, leitete ich fünf lange und schwierige Jahre lang, unmittelbar nach 9/11. Der Umstieg vom Militär in den zivilen Sektor kam einem Himmelfahrtskommando gleich.

Aus heutiger Sicht war für mich der Wechsel vom Militär ins Innenministerium ein nicht mehr wiedergutzumachender Fehler. Beim Heeres-Nachrichtenamt wuchs ich beruflich in einer geschützten Werkstatt und einem intrigenfreien Raum auf. Vielleicht lag das auch daran, dass ich dort keine Leitungsfunktion auszufüllen hatte. Im Innenministerium war das anders: Ich hätte die Warnungen meiner damaligen Vorgesetzten ernst nehmen sollen. Fritz, mein unmittelbarer Vorgesetzter und späterer Leiter des Heeres-Nachrichtenamtes, verglich mich bei meinem Abschied von dort mit einem Kaninchen, das in die Schlangengrube – das spätere BVT – geworfen werden sollte. Irgendwie habe ich es geschafft, mich aus dieser Schlangengrube zu befreien, wenn auch mit einigen Blessuren.

Nach so langer Zeit in dieser Welt der Geheimdienste bin ich heute kein Kaninchen mehr; im Gegenteil.

Und wieder ist es so weit, das nächste Kaninchen steht schon am Rande der Schlangengrube und kann der Verlockung nicht widerstehen, sich hineinzustürzen. Am 1. Dezember 2021 wurde der neue Leiter der Nachfolgeorganisation des BVT ernannt. Die Behörde wurde umbenannt, die Probleme sind allerdings die gleichen geblieben. Noch halten sich die Schlangen in der hell erleuchteten Grube, die Ruhm und Ehre verheißt, bedeckt.

Der nächste Direktor des neu geschaffenen Geheimdienstes in Österreich, DSN – er wird ähnliche Erfahrungen machen müssen wie ich damals, als ich ehrfürchtig, voller Energie und Elan diese Herausforderung annahm. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Spitze einer solchen Organisation mit permanenten externen und internen Anfeindungen zu rechnen hat, die mitunter in langwierigen und absurden Ermittlungen und Strafverfahren münden. Das alles ist der Schattenwelt zu verdanken, deren Handeln nicht immer im Interesse der Republik liegt und nicht so ohne Weiteres den Weg in die Öffentlichkeit findet.

Obwohl zwischen der Aufstellung des BVT und der inzwischen eingerichteten Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienste mehr als 20 Jahre vergangen sind, bleiben die Probleme die gleichen. Sie bleiben deshalb die gleichen, da sich die menschlichen Charaktere der handelnden Personen nicht geändert haben, genauso wenig wie das Umfeld des neuen Amtes.

Am kritischsten gestaltete sich die Arbeit in Sicherheitsdiensten, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung einer war. Auch die Nachfolgeorganisation ist, wie ihr Vorgänger BVT, im Kern ein Sicherheitsdienst. Das bedeutet, dass eine solche Organisation zumindest zwei Hüte trägt: einen, der sich mit staatsschutzrelevanter Analyse und daraus abgeleiteten nachrichtendienstlichen Operationen beschäftigt, und einen anderen, der als Strafverfolgungsbehörde eng mit der Staatsanwaltschaft zusammenarbeitet. Auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches. Der Unterschied zwischen einem klassischen Geheimdienst und einer Strafverfolgungsbehörde könnte auf den zweiten Blick nicht größer sein. Zu oft habe ich von meinen leitenden Beamten Klagen gehört, dass sie sich in ihrer Aufgabe alleingelassen fühlten und dass sie den Eindruck hätten, immer „mit einem Fuß im Kriminal“ zu stehen. Das ist die Praxis der Arbeit in Sicherheitsdiensten, die auch nachrichtendienstliche Aufgaben zu bewältigen haben, jedoch ohne ausreichende rechtliche Grundlagen – damals.

Das Ziel der Strafverfolgungsbehörde ist die Überführung des Täters und seine Verurteilung bei der Hauptverhandlung vor Gericht. Das Ziel eines Nachrichtendienstes ist die Generierung von Informationen und die Veranlassung von Aktivitäten, um schon im Vorfeld eine Straftat zu verhindern. Die Grenzen sind fließend. Und genau das ist das Problem. Die Arbeit der Geheimdienste passiert im Hintergrund, die der Strafverfolgungsbehörden jedoch in der Öffentlichkeit. Die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden schlägt sich in Gerichtsakten nieder, und die darin enthaltenen Informationen finden meist ihren Weg in die Medien. Genau daran haben Geheimdienste kein Interesse.

In Deutschland sind die beiden Bereiche daher strikt voneinander getrennt. Man nennt das Trennungsgebot. Auch in den USA wird, oder genauer gesagt: wurde dieses Trennungsgebot bis 9/11 gelebt. Die CIA als klassischer Geheimdienst hat ihre Informationen nur in den seltensten Fällen mit dem FBI als Strafverfolgungsbehörde geteilt. Dies führte zu einem enormen Informationsverlust und einem nicht zu unterschätzenden Sicherheitsrisiko, wie die Aufarbeitung der Anschläge vom 11. September 2001 zutage förderte. Der Vertreter der CIA achtete peinlich genau darauf, dass er bei seinen regelmäßigen Besuchen im BVT nicht mit seinen Kollegen vom FBI zusammentraf. Und als es im Wege wichtiger kriminalpolizeilicher Ermittlungen darum ging, sowohl die CIA als auch das FBI in Wien an einen Tisch zu bringen, stieß diese Selbstverständlichkeit an ihre institutionellen Grenzen. Die Welt der Geheimdienste und die der Strafverfolgungsbehörden sind bis heute nur schwer miteinander in Einklang zu bringen. Auch die Beteuerungen nach 9/11, den Informationsaustausch zwischen diesen unterschiedlichen Welten zu verbessern, scheitern bis heute an der gelebten Praxis. Geheimdienst ist eben Geheimdienst und Polizei ist eben Polizei – und das weltweit.

Ich finde es daher sehr mutig, diesen Versuch mit der neu geschaffenen DSN ausgerechnet in Österreich zu wagen. Und da gibt es noch etwas: Sicherheitsdienste, also Polizei und Geheimdienst unter einem Dach, sind durch den Charakter ihrer Arbeit eine permanente Gefahr für die Leitungsebene einer solchen Organisation und auch für die politisch Verantwortlichen. Die Erschütterungen der Hausdurchsuchung im BVT 2018, unter einer ÖVP-FPÖ-Regierung, wirken bis heute nach. Es geht dabei im Grunde um den Konflikt zwischen Geheimdienst- und Polizeiaufgaben.

Das BVT hat diese Zerreißprobe nicht überstanden. Im Gefolge der Hausdurchsuchung wurden an die 100 Strafverfahren und Ermittlungen lanciert, in die Angehörige oder Randfiguren des BVT und seiner nachgeordneten Behörden verwickelt wurden. Die Anzeigen erfolgten meist anonym und oft aus den eigenen Reihen. Das bedeutet in der Praxis, dass die Organisation in hohem Maße mit sich selbst beschäftigt war und ist und daher ihre ureigenste Aufgabe, den Staatsschutz, nur mehr bedingt wahrnehmen kann.

Dieses Buch begibt sich weit hinter die Kulissen der Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden und gibt Einblick in Operationen innerhalb einer Welt, die der Öffentlichkeit meist verschlossen bleibt. Solche nachrichtendienstlichen Operationen finden keinen Niederschlag in Gerichtsakten, noch sind sie der breiten Öffentlichkeit bekannt. Das sollten sie auch nicht werden!

Das Buch beleuchtet das Umfeld der ausländischen Nachrichtendienste in Wien und deren Interagieren mit Akteuren nicht nur aus der heimischen Administration. Es unterstreicht einmal mehr die Bedeutung Wiens als europäisches Zentrum für Spionageaktivitäten und als Operationsgebiet ausländischer Geheimdienste.

Meist sind sich die österreichischen Akteure nicht einmal bewusst, dass sie Teil solcher nachrichtendienstlichen Aufklärung sind. Ob Vorstandsvorsitzender einer großen Bank, ob leitender Beamter eines Ministeriums, ob Abgeordneter oder Lobbyist, sie alle leisten einen Beitrag in diesem nachrichtendienstlichen Netzwerk, mit oder ohne Kenntnis davon.

In den letzten Jahren hat sich der Begriff des Deep State etabliert. Die Vorstellungen, worum es sich dabei handele, gehen auseinander. Bei ganz bestimmten, meist politischen Ereignissen zeigt sich dieses Phänomen und materialisiert sich. Mit den Aktivitäten von Nachrichtendiensten hat das an sich wenig zu tun. Trotzdem, nachrichtendienstlich geleitete Operationen sind ein Teil dieses Phänomens.

Nachrichtendienstliche Operationen werden als komplexe, ineinandergreifende Handlungen zur Gefahrenabwehr oder zur Vermeidung meist außen- und innenpolitischer Problemstellungen definiert. Oft sind sie am Rande der Rechtsstaatlichkeit angesiedelt, und nicht immer dienen sie einem guten Zweck. Es gibt aber noch eine andere Interpretation, wenn es um nachrichtendienstliche Operationen geht: Da ist das Ziel die rücksichtslose Verfolgung nationaler Interessen, wie immer diese auch definiert werden. Als Beispiel für eine solche Operation wäre die Überzeugungsarbeit der CIA und anderer amerikanischen Behörden zu nennen, dass der Irak an einem Massenvernichtungswaffenprogramm arbeite. Hintergrund war die Notwendigkeit, eine militärische Invasion international zu rechtfertigen. Die Geheimdienste gaben sich alle Mühe, etwas als Rechtfertigung für das, was schon beschlossene Sache war, zu finden. Und sie fanden es: Die deutschen Dienste, allen voran der Bundesnachrichtendienst (BND), erscheinen heute noch in einem seltsamen Licht. Die Kultivierung eines irakischen Nachrichtenschwindlers im deutschen Asylsystem durch die eigenen Nachrichtendienste in Deutschland wurde von den Amerikanern bewusst als Beweis für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak herangezogen. Das zu einem Zeitpunkt, als der BND und auch die CIA sich bereits im Klaren darüber waren, dass es sich um einen Aufschneider handelte. Jahre später wurde der Vorgang unter dem Codewort „Curveball“ schließlich bekannt. Selbst die UNO war auf diesen Zug aufgesprungen. Der Angriff auf den Irak wurde durch ein Mandat der internationalen Staatengemeinschaft legitimiert, basierend auf bewusst zirkulierten Falschinformationen. Die Rolle der Intelligence Community dabei bleibt bis heute eine beschämende.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie oft der Vertreter des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 in Wien in meinem Büro erschien, um mich davon zu überzeugen, dass Saddam sein Biowaffenprogramm auf mobilen Transportern vor den Inspektoren der UNO versteckt habe. Als dann allmählich klar wurde, dass es solche mobilen Einheiten nicht gab, versuchte George – so hieß der MI6-Mann –, mich davon zu überzeugen, dass Saddam diese mobilen Einheiten auf Schiffen installiert habe. Bald hatte ich genug von diesem Unsinn und machte daraus auch kein Geheimnis. Das ist ein Beispiel für eine globale nachrichtendienstliche Operation, wie es noch viele andere gab und gibt. Auch wir hier in Österreich haben unseren Teil dazu beigetragen.

Paradoxerweise werden geheimdienstliche Operationen eher selten durch österreichische Akteure, wie das BVT oder das Heeres-Nachrichtenamt, initiiert. Meist sind andere Dienste die Akteure solcher nachrichtendienstlichen Operationen, und wir dulden solche Aktivitäten auf unserem Staatsgebiet. Noch besser ist es allerdings, wenn man davon überhaupt nichts mitbekommt. Zumindest im Innenministerium fehlen dafür ohnehin sowohl das Verständnis als auch die Ressourcen, zumal es sich beim BVT im Innenministerium in erster Linie um eine Strafverfolgungsbehörde handelte und wohl auch bei der neu geschaffenen DSN handelt. Zu groß ist die Gefahr, dass solche Informationen die Öffentlichkeit erreichen und in einer „Career-Ending-Mission“ für die Verantwortlichen enden könnten. Die in Österreich operierenden ausländischen Nachrichtendienste wissen das. Ein stillschweigender Konsens hat sich über Jahre eingebürgert: Man weiht uns nicht ein – und wir sind dafür auch noch dankbar. So funktioniert Spionageabwehr in Österreich im Kern.

Einer meiner unmittelbaren Vorgesetzten hat mich im Laufe einer solchen Operation einmal gefragt, was ich denn unter dem Begriff „Operation“ eigentlich verstünde. Allein die Frage hat Unverständnis und Ärger in mir ausgelöst. Im Nachhinein wurde mir klar, dass der Mann als gelernter Polizist wirklich nicht verstand, was ich damit meinte, und nicht etwa – wie ich damals annahm – mich brüskieren wollte. Heute noch bedauere ich meine voreilige Antwort: „Eine Operation ist alles, was komplexer ist als das Ausstellen eines Strafmandates!“ Ich glaube, seit damals war uns beiden klar, dass der Polizist und der Geheimdienstmann keine Freunde fürs Leben mehr werden würden. Bei meinem Gesprächspartner handelte es sich um den ranghöchsten Polizisten im Innenministerium, den Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit.

Die hohe Kunst, solche komplexen Operationen zu steuern, ist jedoch nicht allein auf Nachrichtendienste beschränkt. Längst hat diese Methode in die Handlungsweisen großer Konzerne, Interessenvertretungen, politischer Parteien und Glücksritter Eingang gefunden. Wahlkampfbeeinflussung im großen Stil, wie jene des britischen Datenanalyseunternehmens Cambridge Analytica in den Jahren 2014–2016 – das sind solche Operationen, und meist stehen Nachrichtendienste im Hintergrund Pate. In Akten wird man die eigentlichen Auftraggeber nur dann finden, wenn eine Operation schiefgeht. Auch in Österreich wurden wir staunende Zeugen einer Vielzahl solcher politisch motivierten Manipulationsversuche mit oder ohne nachrichtendienstlichem Hintergrund.

Die sogenannte Ibiza-Affäre, die im Mai 2019 zum Ende der ÖVP-FPÖ-Regierung in Österreich führte, oder die Steuerung von Printmedien zum Zwecke der Umfragemanipulation sind nur zwei Beispiele dafür, wie nachrichtendienstlich angelegte Operationen Einzug in die zivile Welt der Politik und Wirtschaft gehalten haben. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied: Nachrichtendienste legen genauso viel Augenmerk auf die Beseitigung von Spuren wie auf die Operation selbst.

Dieses Buch ist allerdings mehr als nur ein Schlaglicht auf das Agieren von Geheimdiensten in Wien. Es erzählt meine ganz persönliche Geschichte mit sehr privaten Nuancen, nicht nur die Zeit als Leiter einer der zentralen Sicherheitsbehörden des Landes. Auch sind die einzelnen Abschnitte nicht immer chronologisch geordnet, da sie sich auf längere Zeitabschnitte beziehen.

Ursprünglich war das Buch als eine Replik auf meinen ganz persönlichen Jakobsweg gedacht, den ich im Jahre 2007 antrat. Die niedergeschriebenen Erlebnisse und meine Gedanken am Weg waren so intensiv, dass ich beschloss, ein kleines Manuskript für ein Büchlein zu verfassen. Beim Schreiben allerdings musste ich die Erfahrung machen, dass sich so viel in mir aufgestaut hatte, dass ich es nicht zurückhalten konnte – und das Buch wuchs und wuchs. Es wurde immer umfassender und artete schließlich zu einer Art Lebensbekenntnis aus.

Der größte Nutznießer dieses Buches bin ich selbst. Für vieles, was in der Hitze des Lebens nicht spurlos an mir vorübergegangen war, hatte ich jetzt die Kraft und die Zeit, darüber nachzudenken und zu resümieren.

Das Buch versteht sich auch als Rückblick auf die interessanteste und zugleich prägendste Zeit meines ereignisreichen Lebens abseits der Öffentlichkeit. Auch darauf, wie es dazu kam, dass sich mein Leben in diese Richtung entwickelte und es immer noch tut.

Nicht umsonst sagt man in der Schattenwelt: Einmal Geheimdienst, immer Geheimdienst. Man sagt aber auch: Gebranntes Kind scheut das Feuer.

Wien14. Oktober 2021

EINE REISE GEHT ZU ENDE

Der Jakobsweg – so nennt man eine uralte Pilgerreise zum Grab des Apostels Jakobus – endet im spanischen Santiago de Compostela, einem Ort an der Atlantikküste im Norden des Landes.

Der Jakobsweg beginnt im Kopf, sagt man. Aber wann endet er? Ich glaube, wenn er einmal beginnt, dann endet er nie mehr. Auf mich trifft das jedenfalls zu. Noch heute sind die letzten Tage und Stunden meiner Reise am Camino de Santiago für mich so lebendig, als wäre es gestern gewesen. Dabei liegt es Jahre zurück, als ich 2007 dorthin flüchtete.

Damals schien mein Leben einem Wendepunkt zuzusteuern. Bis dahin hatte ich nahezu mein ganzes berufliches Leben als Berufsoffizier beim Militär und dann in Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden verbracht. Ich brauchte eine Auszeit von all den Intrigen und politischen Angriffen, die ich als Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, kurz BVT, aber auch persönlich tagtäglich erlebte. Vom Jakobsweg erwartete ich mir, meine innere Ruhe wiederzufinden, und einen Fingerzeig, in welche Richtung ich mich beruflich und auch privat entwickeln könnte. Damals hatte ich noch keine Ahnung, dass mich die Welt der Geheimdienste nie mehr loslassen würde.

Meine Odyssee war zu Ende. 850 Kilometer Fußmarsch mit 16 Kilogramm Gepäck am Rücken. Aber jetzt war ich angekommen. Gleichzeitig berührt und innerlich aufgewühlt erklomm ich Stufe um Stufe, bis ich vor dem beindruckenden Portal der Kathedrale in Santiago de Compostela stand. Ich war am Ziel – das dachte ich zumindest.

Die Pilgermesse hatte begonnen. Und da war sie, die Statue des Apostels Jakobus, die auf einem Baum aus Marmor zu schweben schien und wie eine Galionsfigur über den Eingang zum Kirchenschiff wachen würde. Das Ziel aller Suchenden. Seit Generationen hatten Pilger den linken Fuß des Schutzpatrons berührt. Die Einkerbungen im weichen Gestein waren deutlich auszumachen.

Ehrfurchtsvoll folgte ich der jahrhundertealten Tradition und legte meine Hand in die Kerbe, bevor ich die Kathedrale betrat.

Eine klare und ungewöhnlich schöne Stimme drang zu mir nach draußen, ein Gesang, wie ich ihn bisher noch nie vernommen hatte. Die außergewöhnlich berührende Stimme gehörte einer Ordensschwester, die die Messe musikalisch begleitete. Mit der Pilgermesse findet der sagenumwobene und mehr als 850 Kilometer lange Fußweg, den die Spanier schlicht Camino nennen, seinen Abschluss. Die Stimme eines Engels! Eine beeindruckende Szene.

Ich war den Tränen nah und betrat das Kirchenschiff. Mein Jakobsweg war abgeschlossen. Ein neues Leben sollte beginnen, so dachte ich wenigstens, damals. Was ich damals allerdings noch nicht wusste, war, dass mich meine Vergangenheit schon sehr bald wieder einholen würde.

Nun aber stand ich hier in Compostela und blickte zurück auf ein bewegtes berufliches und privates Leben. Damals ahnte ich nicht, was da noch auf mich zukommen würde.

FRÜHE WEICHENSTELLUNG

Gefragt danach, ob sie in ihrem Leben etwas anders machen würden, antworten viele mit einem entschiedenen „Nein“. Ich gehöre nicht dazu. In welche Richtung sich das Leben eines Menschen entwickelt, hängt von den unzähligen Entscheidungen ab, die wir tagtäglich treffen. Vor genau so einer Entscheidung stand ich damals: Ich hatte gerade die Volksschule so recht und schlecht hinter mich gebracht.

St. Paul im Lavanttal war eine beschauliche kleine Gemeinde in Kärnten. Trotzdem war der Ort über die Grenzen Kärntens hinaus bekannt. Das lag am Benediktinerstift St. Paul. Das Kloster konnte auf eine fast 1000-jährige Geschichte zurückblicken. Gegründet im Jahre 1091, thronte es erhaben über der Ortschaft und prägte die kleine Gemeinde seit Jahrhunderten. Dieses Benediktinerstift war aber auch noch für etwas anderes bekannt: das vom Orden geführte Gymnasium, das mit seinem angeschlossenen Konvikt zu einer Art Kaderschmiede für das Land geworden war.

Und genau da stand ich jetzt, im ersten Stock des mächtig wirkenden Schulgebäudes, fast mitten im Ort. Dort fand die Aufnahmeprüfung für den Eintritt in diese Schule statt, ins Gymnasium. Damals gab es noch so etwas wie einen Numerus clausus, und wir Knirpse bemühten uns redlich. Gymnasiast in St. Paul zu sein bedeutete damals noch etwas, und das wusste auch das Professorenkollegium, das mich skeptisch musterte.

Ich war nicht der Einzige aus meiner Volksschulklasse, der sich dieser Prozedur unterzog. Eine der Prüfungsaufgaben bestand darin, eine Division an der Tafel, laut rechnend, richtig zu lösen. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie schwer ich mich damit tat. Später stellte sich heraus, dass ich der Einzige aus meiner Volksschulklasse war, der es geschafft hatte, ins Gymnasium aufgenommen zu werden, wenn auch knapp. Ich glaube, meine Eltern waren sehr stolz auf mich. Ich konnte es kaum erwarten, bis der Herbst kam und ich beginnen konnte.

Die darauffolgende Zeit war alles andere als das, was ich erwartet hatte. Es regnete nur so schlechte Noten in den sogenannten Hauptgegenständen, insbesondere Mathematik war für mich wie ein Lottospiel. Verzweiflung machte sich breit, die Abschlussnoten für die 1. Klasse näherten sich bedrohlich, und ich konnte mir einfach nicht helfen. Wenn ich heute daran zurückdenke, fühle ich immer noch meine Hilflosigkeit und den Spott meiner Lehrer.

7 Uhr morgens: Heute war Schularbeit. Nicht irgendeine Schularbeit, sondern die Abschlussschularbeit für Mathematik am Ende des ersten Jahres. Man nannte uns Primaner, und wir wurden von den älteren Jahrgängen auch so behandelt. Die Situation schien aussichtslos. Der Mathematikprofessor hatte bereits in einer der letzten Schulstunden davon gesprochen, dass er die Klasse ausmisten werde. Ich wusste nur zu gut, was er damit meinte. Ich war mir sogar sicher – warum sonst hatte er mich dabei so fest im Auge?

Ich hatte mein Elternhaus früher als sonst verlassen. Die Tür zur Stiftskirche ließ sich schwer öffnen. Ich betrat das riesige Kirchenschiff des Stiftes und ging auf den Altar zu. Niemand war hier, ich war allein. Meine Familie war nicht übermäßig katholisch, aber die katholischen Gepflogenheiten waren ein fixer Bestandteil unseres Lebens. Ich kann mich heute noch an das von mir damals gesprochene Gebet erinnern. Eine halbe Stunde später startete die letzte Mathematikschularbeit in diesem Jahr. Das Schicksal nahm seinen Lauf.

Mein Ausflug ins Leben eines Gymnasiasten war vorbei. Die ehrwürdige Professorenkonferenz hatte entschieden, dass ich das erste Jahr keinesfalls positiv abschließen würde. Schlimmer noch: dass ich mir sofort eine andere Schule suchen müsse.

Erst später erfuhr ich, was das bedeuten sollte. Es bedeutete die Überstellung in den B-Klassenzug einer Hauptschule, wenigstens in die 2. Klasse und nicht noch einmal in die 1. Klasse. Der B-Klassenzug war so eine Art Sonderschule, ohne dass man ihn so nannte. Jedenfalls – und das verstand ich sofort – nichts, worauf man besonders stolz sein konnte.

Und da war er: ein Wendepunkt in meinem Leben mit einer Abzweigung ins Nichts. Ich sollte gerade so vorbeischrammen: Mein Vater öffnete die Tür und betrat das Wohnzimmer. So kannte ich ihn nur von Sonntagen, mit seinem dunklen Anzug und den glänzenden Schuhen. Sein Gesichtsausdruck war vielsagend. Er dürfte damals so etwa 45 Jahre alt gewesen sein. Meine Mutter und ich waren schon sehr gespannt.

„Gerti“, so wurde ich damals gerufen, „du bleibst noch für einige Monate im Gymnasium.“ Ich weiß nicht mehr, wie ich mich damals fühlte, aber es muss wohl Enttäuschung gewesen sein.

„Ich habe mit dem Direktor des Gymnasiums gesprochen“, fuhr er fort. „Du darfst die Klasse wiederholen, und nach dem ersten Trimester wechselst du in die Hauptschule, aber in den 1. Klassenzug.“ Was das für mein künftiges Leben bedeuten würde, konnte ich damals noch nicht ahnen. Mein Vater hatte meinen Lebenszug auf das richtige Gleis gesetzt.

Ab diesem Zeitpunkt war das Leben als Schüler für mich unspektakulär. Ich war in der Schule eher dafür bekannt, dass ich mir mit gleichaltrigen und älteren Schülern Faustkämpfe um die Rangordnung lieferte, als für meine gute Noten.

Was tatsächlich passiert ist, kann ich heute nicht mehr sagen. Ich erinnere mich aber, dass mein Vater sagte, mir sei „der Knopf aufgegangen“, was bedeutete, dass sich meine Mutter bei den Elternsprechtagen nicht mehr permanent für mich entschuldigen musste. Im Gegenteil, die Lehrer begannen, mich für meine schulischen Leistungen zu loben.

Es gefiel mir, wenn meine Mitschüler zu mir aufschauten, und meine Lehrer fingen an, mich zu schätzen. Bald wurde ich Klassen- und dann Schulsprecher. Das Leben war herrlich, das Gymnasium längst vergessen.

Aber auch dieser Abschnitt meines Lebens ging bald zu Ende. Mein Klassenvorstand wollte mich sprechen. Sie schaute mich entgeistert an. „Was hast du gesagt? Für welchen weiteren Bildungsweg hast du dich entschieden? Habe ich richtig gehört, du möchtest eine Tischlerlehre absolvieren?“ Der Ton war nicht unfreundlich, aber auch nicht sonderlich herzlich. Ich war anderes von ihr gewöhnt. Unverständnis hörte ich aus ihrer Stimme heraus. Und dann die Worte, die mein weiteres Leben prägen sollten: „Ich glaube“, höre ich sie noch heute sagen, „du solltest weiter in eine höhere Schule gehen.“

Vielleicht war es meine Unerfahrenheit, vielleicht mein Stolz, vielleicht hatte ich alles falsch verstanden, vielleicht war alles nur ein Missverständnis! Hatte sie gerade den Tischlerberuf abqualifiziert? Mein Vater war Tischlermeister, und ich nahm diese Wortmeldung persönlich, ja ich sah darin sogar einen Angriff auf meinen Vater. Natürlich war das nicht so gemeint. Aber das wusste ich damals noch nicht.

Meine Entscheidung war gefallen. Diesmal war niemand da, um meinen Kollisionskurs mit dem Leben zur korrigieren. Es dauerte sechs Jahre lang, bis ich diesen Fehler wieder korrigieren konnte. Das Schicksal nahm seinen Lauf.

Ich glaube, mein Vater war sogar stolz auf mich, als ich ihm eröffnete, dass ich in seine Fußstapfen treten würde und mich für den gleichen Beruf wie er entschieden hatte.

Und schon wieder musste ich mich einem Aufnahmetest unterziehen. Der Andrang auf eine Lehrstelle als Tischler war unerwartet hoch, zählte doch das Unternehmen zu den angesehensten Tischlereien im Tal. Es lag nur etwas weit weg von St. Paul. Aber das war nicht das Problem. Das Problem war, dass die Firma darauf bestand, dass die Lehrlinge bereits um halb 7 Uhr morgens anwesend zu sein hatten. Mit dem langen Fußweg von meinem Elternhaus zum Bahnhof und dann vom Zielbahnhof zu Fuß in das Unternehmen war das kein Spaß. Da war die halbe Stunde Bahnfahrt noch das reine Vergnügen. Kurz, der Tag begann für meine Mutter und mich sehr früh. Jeden Tag stand sie am Morgen noch vor 5 Uhr auf und versorgte mich mit einem Frühstück und der Jause für die Brotzeit. Drei lange Jahre.

Die Tischlerei bestand aus unterschiedlichen, aber zusammenhängenden Hallen, die durch metallene Flügeltüren verbunden waren. Man konnte das Quietschen der Türen deutlich hören, wenn jemand von einer Halle in die andere wechselte, so wie ich damals, nicht lange nach Beginn meiner Lehrzeit. Beinahe war ich schon am anderen Ende der Halle, als ich einen Luftzug spürte und anschließend klirrendes Glas hörte. Etwas hatte das Fenster neben mir durchschlagen. Eine Schimpftirade folgte, wie ich sie all die Jahre davor nie gehört hatte. Einer der Gesellen hatte seinen Metallhammer nach mir geworfen; noch heute habe ich keine Ahnung, warum. Zum Glück hatte er mich verfehlt.

Das war kein Einzelfall. Seit Monaten schon waren mir Spott und auch Hass entgegengeschlagen, und bis heute habe ich keine Erklärung dafür. Die Anfeindungen und das Mobbing schienen einfach nicht abzuebben. Das sollte in den kommenden Jahren noch viel schlimmer werden. Von Tag zu Tag wurde es unerträglicher, und ich sah einfach keinen Ausweg, außer meine Zeit als Lehrling abzusitzen. Natürlich gab es auch angenehme Zeitgenossen, an die ich mich heute noch gern erinnere. Die waren aber an fünf Fingern abzuzählen.

Das frühe Aufstehen, die anschließenden Märsche zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter, das alles ist nicht spurlos an mir vorübergegangen. Die Tortur begann, als ich erst 14 Jahre alt war. Ich stand unter enormer innerlicher Spannung. Einerseits konnte ich meine eigene Erwartungshaltung und auch die meines Vaters nicht erfüllen. Und andererseits wollte ich mit aller Gewalt ein guter Tischler werden.

Schließlich konnte ich sonntagabends nur mehr schwer einschlafen, wenn ich daran dachte, was in nur wenigen Stunden auf mich warten würde. Je verzweifelter ich wurde, desto mehr strengte ich mich an, ein guter Tischler zu werden. Vergebens! Irgendwann habe ich aufgegeben.

Schon am Ende des ersten Lehrjahres wurde mir klar: Ich musste hier raus. Ich begann, Unmengen von Büchern zu lesen, meist solche politischer Natur, und sprach auch in der Arbeit darüber. Das verstärkte das Mobbing nur, und ich hörte auch damit auf; nicht mit dem Lesen, wohl aber damit, darüber zu sprechen. Mit meinem Vater konnte ich darüber sowieso nicht reden, ich wollte ihn schlicht und einfach nicht enttäuschen.

Wie ich das Bundesheer als einen Ausweg aus dieser Misere für mich entdeckte, das kann ich heute nicht mehr sagen. Aber ich war keine 16, und es war für mich klar, dass ich eine Karriere als Offizier beim Bundesheer einschlagen würde. Und als ich hörte, dass es sogar die Möglichkeit gab, die Matura beim Heer nachzuholen, um die Offizierslaufbahn einzuschlagen, war ich Feuer und Flamme.

Nun hatte ich wieder ein Ziel vor Augen. Spöttisch und voller Häme hat man mich dann „Herr Offizier“ gerufen – ich hatte den Fehler gemacht, mich einem der Gesellen anzuvertrauen. Ab damals habe ich die Tage bis zu meiner Musterung gezählt. Ich habe das „Lage“ genannt.

Mein Chef war eine Legende in seinem Beruf und eine imposante Erscheinung. Sicher war er so um die zwei Meter groß, oder vielleicht kam mir das damals nur so vor, als ich vor ihm stand.

Ich hatte während meiner Zeit in seiner Firma einmal unmittelbar mit ihm zu tun. Ein wohlmeinender Geselle hatte mir geraten, meine Lehrzeit zu beenden und als Hilfsarbeiter dort anzuheuern, wo ich jetzt war. Er schlussfolgerte richtig, dass man als Hilfsarbeiter mehr verdiene als ein Lehrling. „Und außerdem, das was du bei uns machst, ist ohnedies nur ein Hilfsarbeiterjob“, erklärte er mir.

Mein Chef hat meinen Vorschlag damals abgelehnt. Warum, weiß ich nicht, möglicherweise wollte er mir nicht mehr bezahlen.

Meine Zeit als Lehrling stand kurz vor dem Ende. All die drei Jahre waren wir Lehrlinge zu unterschiedlichen Tagen einmal in der Woche in der Berufsschule. Ich war am Ende meiner Lehrzeit angekommen, und das letzte Berufsschulzeugnis stand ins Haus.

So stand ich nun vor meinem Chef. Ich hielt ihm das Abschlusszeugnis der Berufsschule unter die Nase und sah ihm deutlich an, dass er das, was er da sah, nicht erwartet hatte. Das Abschlusszeugnis wies ausschließlich die Note „sehr gut“ auf. Ich fragte mich insgeheim: Was hatte er denn erwartet?

Meine Lehrzeit war mit der erfolgreich abgelegten Gesellenprüfung dann bald zu Ende. Gott sei Dank.

RESPEKTVOLLER UMGANG UND EINE CHANCE

Meine Einberufung zum Präsenzdienst stand unmittelbar bevor. Ich hatte mich freiwillig zum Bundesheer gemeldet. Ich war noch keine 18, und es bedurfte der Unterschrift meines Vaters, den Dienst anzutreten. Ich war voller Erwartungen auf das, was da auf mich zukommen sollte. Schlimmer konnte es ja schließlich nicht werden. Ich sollte recht behalten.

Natürlich waren die ersten Tage eine Umstellung. Aber so unangenehm war es nicht! Ich hatte mich auf das Schlimmste eingestellt. Seit vielen Monaten hatte ich mich mit dem Soldatentum beschäftigt und sehr viel darüber gelesen.

Dort angekommen, hatte sich etwas in meinem Leben von einem Moment auf den anderen verändert: Man begegnete mir mit Respekt, eine für mich völlig neue Erfahrung. Ich war plötzlich nicht mehr allein, ich war in einen Kreis von jungen Männern integriert, ob ich wollte oder nicht. Und wie ich wollte! Mein Leben begann wieder von Neuem. Endlich hatte ich wieder Boden unter den Füßen. Selbst das Tragen der Uniform erfüllte mich mit Stolz. Ich wurde das, was meine neuen Vorgesetzten einen Mustersoldaten nennen sollten.

Es gab so viel zu lernen, so viel Neues. Ich schloss die Fahrschule beim Bundesheer ab, ich absolvierte Spezialausbildungen, wie die Ausbildung für den Jagdkampf und die Scharfschützenausbildung, selbst die Ausbildung zum Filmvorführer und meine ersten Rhetorikkurse absolvierte ich mit großem Engagement. Wie stolz war ich, als ich für das Bundesheer zu einem Rhetorikwettbewerb entsandt wurde! Kurz gesagt, das Leben hatte mich wieder.

Immer noch war die Offizierslaufbahn mein Ziel. Es fehlte mir allerdings eine Voraussetzung: die Matura. Ich wusste, dass es in Wiener Neustadt eine Möglichkeit gab, diese Ausbildung nachzuholen. Und wieder stand eine Aufnahmeprüfung zwischen mir und meiner Zukunft. Meine Vorbereitung dafür begann. Sie sollte zwei Jahre dauern. Von Wiener Neustadt sah ich nicht sehr viel in dieser Woche, als ich zur Aufnahmeprüfung anreiste. Schulische Gegenstände waren ebenso auf der Prüfungsagenda wie ein umfangreiches Sportprogramm mit engagierten sportlichen Leistungszielen. Bei dieser Gelegenheit war es auch, als ich meinen späteren Freund Dino das erste Mal sah. Er war ein Ass am Sportplatz, im Klassenzimmer weniger.

Drei Jahre sollte die Ausbildung am Bundesrealgymnasium für Berufstätige in Wiener Neustadt dauern, gefolgt von drei weiteren Jahren im Akademikerbataillon. Die Lernfortschritte waren so, dass keine Beunruhigung aufkam. Im Gegenteil, wir hatten genug Zeit für jede Menge anderer Aktivitäten.

Es war meine damalige Freundin Elisabeth, ein dunkelhaariges, sehr attraktives Mädchen – als wir uns näherkamen. Sie war berufstätig, studierte aber in Wien Politik und Publizistik. Sie war der Grund, warum ich bereits im zweiten Jahr im BRG als Außerordentlicher Student an der Universität in Wien mein Studium begann. Am BRG war das damals noch ohne Gefahr möglich. Aber es wurde von Monat zu Monat schwieriger. Nicht das Studium, sondern die Teilnahme an den Pflichtvorlesungen in Wien. Von Haus zu Haus waren es mindestens eine Stunde und mehr als 50 Kilometer nach Wien.

Wie der Direktor des Gymnasiums davon Wind bekommen konnte, das habe ich nie erfahren. Jetzt jedoch war Feuer am Dach, so kurz vor dem Abschluss der Matura. Ich rechnete mit allem, auch mit einem Verweis von der Schule. Zum damaligen Zeitpunkt war es noch verpönt, neben der Karriere als Offizier auch noch einen akademischen Abschluss anzustreben. Der Beruf als Offizier ist schließlich Berufung und nicht nur Beruf. Daneben hat kein Studium Platz, das war damals die gängige Auffassung.

Heute ist das anders. Fast jeder Offizier hat inzwischen ein abgeschlossenes Studium, entweder von einer Universität oder einer Fachhochschule. Damals allerdings neben der Matura an der Militärakademie zu studieren, das war wie „Gotteslästerung“.

Er stand vor mir und schaute mir direkt ins Gesicht, der Direktor des BRG, meiner Schule. Dann sagte er etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: „Ich bin stolz auf Sie!“

Ab diesem Zeitpunkt hatte ich einen Verbündeten, zumindest bis zur Matura. Ich wusste, dass es in den darauffolgenden drei Jahren um ein Vielfaches schwieriger sein würde, das Studium fortzusetzten.

RIVER OF NO RETURN …

Seit damals üben Flüsse eine magische Anziehungskraft auf mich aus: Die Donau hat es mir angetan. Stundenlang kann ich auch heute noch am Ufer sitzen und den unablässigen Strom verfolgen, der sich irgendwann über das riesige Donaudelta in das Schwarze Meer ergießt. Allein die Vorstellung, dass der Fluss von Wien abwärts seine Bahnen durch sieben weitere europäische Staaten zieht, lässt eine Art Abenteuerlust in mir hochkommen. Voller Fernweh verfolge ich noch immer die Schiffe, die Wien entlang der Donau in Richtung Schwarzes Meer passieren. Eine Art Fernweh, die auch damit zu tun hat, dass sich vor langer Zeit drei Männer leichtsinnigerweise auf eine Kajakreise begaben. Wir waren jung, und die Sommerferien am BRG luden damals förmlich dazu ein, einen Abenteuerausflug zu wagen.

Der Versorgungsunteroffizier der Theresianischen Militärakademie staunt nicht schlecht. Eigentlich sind ja Ferien, und die Frequentanten, so nennt man die Angehörigen des Schulbataillons, sind längst auf Urlaub. Die Burg ist leer. Er mag den Sommer. Es ist die einzige Zeit, in der der Dienst an der Militärakademie ohne Hektik und Drill dahinstreicht. Der Betrieb soll erst wieder im Herbst anlaufen.

„Was wollen Sie ausfassen?“, fragt er einigermaßen verblüfft. „Pionierschwimmwesten?“

Heute kann sich wohl niemand von uns dreien mehr daran erinnern, wer diese Idee eigentlich hatte. Der Entschluss ist allerdings gefasst. Wir haben vor, von Ferlach in Kärnten aus mit dem Kajak bis ans Schwarze Meer zu paddeln. Wir, das sind Dino, Robert und ich. Wir alle drei sind damals Angehörige des Schulbataillons der Militärakademie in Wiener Neustadt. Wir sind Soldaten.

Wir fühlen uns so, als ob wir schon bald eine Reise ins Ungewisse antreten werden, und das hat etwas Faszinierendes an sich. Die Reiseroute führt durch unbekanntes, damals – für uns Soldaten – feindliches Territorium. Jugoslawien ist zu dieser Zeit noch ein intakter Staat, auch wenn sich die Spannungen zwischen den Volksgruppen schon zunehmend aufschaukeln. Tito als Galionsfigur für den Zusammenhalt dieses Vielvölkerstaates ist schon seit 1980 tot, und deutlich ist das Knirschen im politischen Gefüge Jugoslawiens wahrnehmbar.

Aber für uns ist die Welt damals in Ordnung und voller Abenteuer. Bei aller Unbeschwertheit, es kommt uns gar nicht in den Sinn, unsere ungewöhnliche Reise unserer vorgesetzten Dienststelle zu melden. Das ist jedoch Vorschrift, wenn ein Angehöriger des Bundesheeres beabsichtigt, in den Ostblock zu reisen. Jugoslawien gehört dazu.

Viele Jahre später habe ich einen Platz in der ersten Reihe im österreichischen Auslandsnachrichtendienst und kann den Zerfall Jugoslawiens und den anschließenden Bürgerkrieg hautnah mitverfolgen. Aber davon sind wir noch viele Jahre entfernt.

Nach Tagen der logistischen Vorbereitungen stehen wir kurz davor, zu starten. Keiner von uns dreien ist je in einem Kajak gesessen. Das stört uns nicht weiter, wir sind uns sicher: Wenn wir die österreichische Staatsgrenze bei Lavamünd passieren, dann werden wir sicher in der Lage sein, unsere Boote auch zu steuern. Bis dahin haben wir Zeit, uns mit unseren schwimmenden Untersätzen vertraut zu machen.

Die Boote sind nicht alle gleich gebaut. In der Eile mussten wir nehmen, was eben verfügbar war. Skeptisch blicke ich auf mein Boot, das sich von der Bauart der anderen beiden unterscheidet. Der Boden meines Bootes ist stark abgerundet, was ihm eine instabile Lage im Wasser beschert.

Den Bug und das Heck vollgestopft mit Proviant und Ausrüstung, legen wir am Ferlacher Stausee ab. Hier beginnt unsere Reise ins Ungewisse.

Es ist herrlich, als wir mit den Booten vom Ufer ablegen. Der Stausee ist keine sechs Kilometer lang und endet, wie noch unzählige weitere Stauseen auf dem Weg ins Schwarze Meer, mit einer Staumauer. Das ist unsere erste Hürde, und viele sollen noch folgen. Die Boote müssen aus dem Wasser, auf die andere Seite der Staumauer getragen und wieder ins Flussbett gesetzt werden. Solche Stauseen haben noch eine weitere Unannehmlichkeit an sich: Die Strömung des Flusses verwandelt sich in ein ruhendes Gewässer, das nur mit Muskelkraft und Ausdauer überwunden werden kann. Und das kann zäh werden.

Die Landschaft ist atemberaubend. Die Stille wird nur vom Eintauchen des Paddels, rechts und dann wieder links, unterbrochen. Leise zieht die Landschaft an uns vorbei. Diesen Teil der Natur kannten wir so nicht. Eine Augenweide und ein großartiges Gefühl. Und auch das Nachtlager auf den angeschwemmten kleinen Inseln in der Drau ist ungeahnt romantisch, fast schon kitschig. Die Gelsenschwärme nehmen wir noch nicht so richtig wahr. Wir sind ja erst am Anfang unserer Reise und voller Erwartung, was da noch kommen mag. Und es kommt, unaufhaltsam.

Noch befinden wir uns in Österreich, aber die Staatsgrenze nahe Lavamünd kommt näher. Um nach Jugoslawien einzureisen, brauchen wir einen Einreisestempel in unserem Pass. Und am Fluss gibt es keinen offiziellen Grenzübergang.

Der österreichische Zöllner schaut uns mit großen Augen an, als er uns bemerkt. Wir müssen mit unseren Booten quasi zu Fuß den Zoll passieren. Das ist auf der österreichischen Seite noch einfach. Aber da liegt eine gehörige Strecke Niemandsland zwischen dem österreichischen Grenzbeamten und seinen jugoslawischen Kollegen. Eine fast unmögliche, zeit- und kraftaufwendige Aufgabe steht uns bevor. Wenn nicht der Fahrer eines Lkw mit jugoslawischem Kennzeichen sich unser erbarmen und unsere schwere Last verladen würde, wer weiß, wie das ausgegangen wäre.

Ohne weitere Probleme passieren wir auch den jugoslawischen Grenzposten, der uns mit seinen skeptischen Blicken verfolgt.

Was wir nicht wissen: Robert erhält als Einziger von uns keinen Einreisestempel. Das fällt aber niemandem von uns auf, und Robert schon gar nicht. Als die Drau kurz nach dem Grenzübergang wieder ganz nah an die Straße heranreicht, entlässt uns der Lkw-Fahrer, und weiter geht es auf der Drau Richtung Maribor. Unser erstes Abenteuer haben wir hinter uns. Viel gefährlichere und aufregendere sollen noch folgen.

An das Paddeln haben wir uns schon gewöhnt, an die Gelsenschwärme am Abend nicht. Um denen zu entkommen, gibt es nur eine Möglichkeit: So lange als möglich in den Abend hinein paddeln. Nur dann, wenn das Boot zum Stillstand kommt, fallen die Schwärme über uns her. Zum Glück hat Dino ein Zelt eingepackt, versehen mit einem Gelsennetz.

Die Tage sind extrem anstrengend, und der riesige Stausee, den wir heute bereits den ganzen Tag entlangpaddeln, will und will nicht zu Ende gehen. Insgesamt sind wir sicher schon eine Woche lang unterwegs.

Das Gewässer bewegt sich keinen Millimeter, und wir haben schon Mühe, das Boot in Bewegung zu halten. Die Muskeln beginnen langsam, zu rebellieren. Noch immer keine Staumauer in Sicht. Selbst die Breite des Stausees ist enorm. Wir paddeln in der Mitte des aufgestauten Flusses und können nur schemenhaft die Menschen an den Ufern rechts und links ausmachen.

Die Staumauer kommt und kommt nicht näher, genau genommen ist sie noch nicht einmal zu sehen. Etwas anderes nähert sich jedoch mit bedrohlicher Geschwindigkeit: ein Unwetter. Wir mitten am Stausee. Schwitzend und keuchend versuchen wir, der Staumauer näherzukommen. Jetzt ist sie schon zu sehen. Das Gewitter vor uns allerdings auch. Wind frischt auf, und der See zeigt erste kleinere Wellen.

Flaschenhalsförmig verengt sich der Stausee und läuft auf die Sperre vor uns zu. Noch etwas fällt uns erst jetzt auf. Das sanfte Ufer des Stausees ist einer Betonwanne gewichen, die sich rechts und links vor uns aufbaut. So wie das Gewitter auch.

Das kleine Lüftchen vor einer halben Stunde hat sich zu einem beachtlichen Wind hochgeschraubt. Die Wellen werden immer größer, und nun paddeln wir die Wellen hoch und die Wellen runter.

Noch etwas entdecken wir: Die Betonwanne wird immer höher, und an ein Anlanden ist gar nicht zu denken. Leichte Panik kriecht in mir hoch. Vor uns ist schon der Sperrdamm deutlich zu sehen, dem wir keinesfalls zu nahe kommen dürfen. Der Sog würde das Boot zerquetschen, und uns gleich mit. Oder, genauso schlimm: Wir wären gezwungen, den Überlauf der Flusssperre zu erreichen. Was das bedeutet, ist mir ebenfalls bewusst. Das Boot würde mit mir den tosenden Überlauf hinunterstürzen, zehn bis 15 Meter mindestens. Der Aufprall würde die Konstruktion des Bootes wie ein Streichholz knicken und mich zerquetschen. Ich glaube, so nah war ich dem Tod noch nie. Rückblickend, aus heutiger Sicht, vielleicht doch:

Viele Jahre später wird dieses Erlebnis noch getoppt. In der algerischen Wüste, nach einer erfolgreichen Geiselbefreiung, hat einer der Entführer plötzlich eine Pistole in der Hand – und aus einer Entfernung von nur fünf Metern feuert er auf meinen Kopf. Die algerischen Sicherheitskräfte sind völlig überrascht, haben sie ihn doch zuvor durchsucht. Ich bin so gut wie tot, das ist mein Gedanke, als ich den Schuss höre. Den Schuss, der einen tötet, den hört man aber nicht! Und den zweiten Schuss, den des Sicherheitsmannes, höre ich auch. Ich habe Glück.

Nur dieses Erlebnis wird einmal an die Lebensgefahr herankommen, die sich gerade vor uns am Stausee aufbaut. Der Sturm wird immer bedrohlicher, die ersten Regentropfen fallen. Es gibt kein Zurück.

Dino zeigt ganz hektisch mit dem Paddel in Richtung Betonwanne. Eine Eisenleiter reicht bis zum Wasserspiegel des Sees. Das ist unsere Rettung. Die Wellen haben inzwischen ein bedrohliches Ausmaß angenommen.

Es ist gar nicht so einfach, die Eisenleiter anzusteuern. Und es ist unmöglich, die Boote die Leiter hinaufzuhieven. Irgendwie gelingt es, sie an die Eisenleiter heranzuführen und dort zu verankern.

Erschöpft verbringen wir die Nacht im Freien, ohne Proviant, ohne Wasser und ohne Dinos Zelt, klatschnass, aber am Leben – und auch ohne Gelsen.

Wir sind heilfroh, als wir unsere Boote am darauffolgenden Morgen friedlich und unversehrt, an der Eisenleiter befestigt, wieder vorfinden. Ist ja noch einmal gut gegangen.

Es ist noch nicht einmal Mittagszeit, und unsere Boote gleiten ruhig im Strom der Drau dahin, vergessen ist das gestrige Abenteuer. Eine der größeren Städte kommt auf uns zu. Die Drau beschreibt hier einen mächtigen Bogen, und es wird wohl einige Stunden dauern, diesem zu folgen. Auf der Karte haben wir heute Morgen allerdings eine Abkürzung entdeckt. Wir würden uns mindestens zehn Kilometer ersparen, müssen nur die richtige Abzweigung finden. Wir liegen auf der Lauer.

Und tatsächlich, da ist die Abkürzung, so wie in der Karte beschrieben. Wenn wir dem Boot eine andere Richtung geben wollen, ist es erforderlich, uns gegen die Strömung zu stellen und zu paddeln, was das Zeug hält. Genau das tun wir.

Wir sind richtig stolz, als wir den vermeintlichen Seitenarm der Drau entlanggleiten. Die Fließgeschwindigkeit dieses Seitenarmes hat sich verändert. Wir sind jetzt viel schneller unterwegs. Und noch etwas hat sich verändert. Wir können das Ufer von unseren Booten aus nicht mehr sehen. Eine immer höhere Betonwand versperrt uns die Aussicht. Noch gibt es keinen Grund zur Beunruhigung. Vielleicht sind es nur mehr fünf bis sechs Kilometer, bis sich der Seitenarm wieder mit dem Hauptfluss vereinigt.

Trotzdem stimmt hier etwas nicht. Robert ist der Erste, der die Nase rümpft. Eine seltsame Ahnung beschleicht uns. Der Seitenarm entpuppt sich als ein künstlicher Kanal. Und nicht nur das: Es ist der Abwasserkanal der nahe gelegenen Stadt, die wir so rasch als möglich hinter uns lassen wollen.

Umkehren ist ebenso sinnlos wie der Versuch, das Betonbecken zu überwinden und an Land zu gehen. Ich glaube auch nicht, dass einer von uns eine solche Möglichkeit überhaupt in Erwägung gezogen hat. Nur raus hier!

Ohne uns abgesprochen zu haben, legen wir uns ins Zeug. Die Geschwindigkeit, mit der wir unterwegs sind, ist schon etwas beängstigend. Was, wenn der Kanal in einer Kläranlage endet? Daran will ich gar nicht denken. Nur raus, das ist es, was uns antreibt. Der Gestank erreicht eine ungeahnte Unerträglichkeit. Noch heute habe ich diesen Geruch in der Nase und kann ihn zeit meines Lebens nicht mehr loswerden.

Nein, eine Kläranlage ist es nicht. Die braune Suppe ergießt sich in den Hauptfluss der Drau, und wir mit ihr. Es ist vorbei, so glauben wir wenigstens.

Die Stadt im Rücken, nehmen wir wieder Fahrt auf. Den Gestank werden wir lange nicht los. Die Menschenmassen, die sich rechts und links des Flusses wie eine Perlenkette aufgereiht haben, nehmen wir gar nicht wahr. Wir halten die Boote in der Mitte des Flusses, der allerdings nicht ganz so breit ist, wie wir es bisher gewohnt waren.

Die Einwohner dieser Stadt haben an Sonntagen wie diesem eine besondere Angewohnheit. Ganze Familien sind zum Fischen ausgerückt. Das ist auch der Grund, warum die Menschen in einer endlos erscheinenden Kette rechts und links am Ufer aufgereiht dastehen. Und wir in der Mitte durch.

Erste Beschimpfungen nehmen wir gar nicht wahr. Wir wollen so schnell wie möglich diese Menschen hinter uns lassen.

Dino schaut mich an und ruft mir zu: „Hoffentlich nimmt keiner der Fischer einen Stein und …“ Kaum gesagt, klatscht der erste Stein unweit von unseren Booten ins Wasser. Und viele mehr der Sonntagsfischer am Ufer folgen diesem Beispiel. Niemand von uns wird verletzt. Aber seitdem wissen wir, was man unter einem Spießrutenlauf versteht.

Es wird langsam dunkel, und wir legen an einer der Sandbänke mitten im Fluss an. Jeder Sonntag geht einmal zu Ende, nächsten Sonntag werden wir vorsichtiger sein. Beim Surren der Gelsen dauert es nicht lang, und wir sind eingeschlafen.

Seit Tagen schon verfolgen wir das hektische Treiben auf den mit Stacheldraht eingezäunten Wachtürmen rechts und links entlang des Flusses. Das Wachpersonal scheint uns schon zu erwarten. An jedem Turm die gleiche Szene. Mancher Grenzsoldat winkt uns sogar zu. Ob das freundlich gemeint ist oder nicht, das wollen wir gar nicht wissen.

An die Wachtürme der Militärgrenze der Habsburgermonarchie zum Osmanischen Reich muss ich denken. Die dürften nicht weit entfernt von diesen Wachtürmen vor uns gestanden sein, vor mehr als hundert Jahren. Damals lagen die Türme in Rufweite voneinander, und die Rufe der Wachposten müssen weit zu hören gewesen sein, damals. „Tschuschai?“, riefen sich die Posten zu und warteten auf Antwort. Das bedeutet in der Landessprache: „Hörst du mich?“ Heute ist das anders. Die Wachtürme vor uns sind sicher mit moderner Kommunikation ausgestattet.

Aber seit damals nennen die Wiener die vom Balkan stammende Bevölkerung „Tschuschn“, und dieser Ausdruck hat längst seine ursprüngliche Bedeutung, „Hörst du mich“, verloren. Heute meint der Wiener damit etwas ganz anderes.

Die Türme rechts in Paddelrichtung markieren die Grenze Jugoslawiens, die Türme links die Grenze Ungarns. Die Grenze verläuft genau in der Mitte des Flusses, zumindest auf der Landkarte. Man beobachtet uns von beiden Seiten mit Argwohn, und das schon seit einigen Tagen.

Die Drau bildet über weite Strecken die Staatsgrenze zwischen Ungarn und dem damaligen Jugoslawien. Was wir nicht wissen, ist, dass die Drau die Gewohnheit hat, sich nicht an die Staatsgrenze zu halten. Von Zeit zu Zeit verschiebt sich das Flussbett, und so kann es vorkommen, dass der Lauf manchmal zur Gänze auf jugoslawischem Gebiet liegt und manchmal zur Gänze auf ungarischem Gebiet. Davon haben wir keine Ahnung.

Wird auf uns geschossen? Eine Signalrakete zieht eine rote Spur hinter sich her und verglüht schließlich unweit von uns. Ein Schnellboot hat sich in Bewegung gesetzt und hält auf uns zu. Ein Mann in Uniform gestikuliert wild in unsere Richtung. Wir befinden uns ziemlich genau in der Mitte des Flusses.

Mit enormer Kraftanstrengung drehe ich den Bug meines Kajaks in die Strömung und versuche, das linke Ufer zu erreichen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Robert und Dino das gleiche Manöver versuchen. Die Fließgeschwindigkeit der Drau ist gerade an dieser Stelle ungewöhnlich hoch, und es ist enorm schwierig, sich im rechten Winkel auf das linke Ufer zuzubewegen. Auf die ungarische Seite also.

Der heftig gestikulierende Mann lässt keinen Zweifel daran, dass wir mit den Booten anzulegen haben. Zum Glück auf der ungarischen Seite, nicht auf der jugoslawischen. Es dauert eine Ewigkeit, bis wir das Wendemanöver erfolgreich hinter uns gebracht haben.

Das Gefängnis, in das man uns bringt, ist eigentlich eine Kaserne der ungarischen Grenztruppen. Unsere Boote hat man auf einen Militärtransporter verladen. Ich kann sie von meiner Zelle aus sehen. Ein eigenartiges Gefühl beschleicht uns.

Ist es unsere Schuld, dass die Drau einmal in Ungarn und dann wieder auf jugoslawischem Territorium ihr Bett hat? Genau genommen, so werden wir später erfahren, haben wir Grenzverletzungen begangen, da wir einmal hier und einmal dort waren. Jetzt allerdings sind wir im Gefängnis, daran wenigstens gibt es keinen Zweifel.

Sind wir jetzt Kriegsgefangene? Aber es ist doch nicht Krieg! Wir haben vorsichtshalber alle Dokumente zurückgelassen, die uns als Soldaten ausweisen. Aber da sind noch die Pionierwesten. Auf denen ist gut sichtbar aufgedruckt: Eigentum der Militärakademie. Aber das hat man offenbar noch nicht entdeckt.

Wir legen uns schon Erklärungen für unsere abenteuerliche Reise zurecht, für den Fall, dass wir die jetzt eingetretenen Umstände unseren Vorgesetzten zu Hause erklären müssen.

Es ist 10 Uhr abends, als sich die Tür zu meiner Zelle öffnet und ein Mann, Mitte 50, eintritt. Er spricht Deutsch. Das habe ich erwartet, das ist der Auftakt zu einem Verhör.

Von solchen Verhören habe ich schon viel gehört. Die Verhöre der Ungarn sind legendär. Sie werden nur noch von denen der Stasi übertroffen. Erneut beschleicht mich ein sonderbares Gefühl.

Wir sind inzwischen in einer Art Verhörraum gelandet. Im Augenwinkel sehe ich Dino und Robert, wie sie in einem Aufenthaltsraum sitzen, essen und fernsehen. Offenbar haben sie ihre Verhöre schon hinter sich. So schlimm kann es also nicht werden. Das ist mein Gedanke.

Und tatsächlich, es ist nicht so schlimm und gar nicht das, was ich erwartet habe. Nachdem ich meine Story über das Zustandekommen dieser abenteuerlichen Reise losgeworden bin, erhellen sich die Gesichtszüge des Mannes vor mir. Offenbar hat er diese Geschichte so oder so ähnlich schon zweimal gehört.

Wir lassen den Abend bei Salami, ungarischem Rotwein und ungarischem Fernsehen ausklingen. Wir wissen nicht, was noch auf uns zukommt. Die Pässe sind in der Hand der Ungarn, und selbst unsere persönlichen Sachen werden durchsucht. Robert hatte vorsichtshalber eine der Ausbildungsvorschriften des Bundesheeres eingepackt. Es fällt ihm nicht auf, dass ebendiese Vorschrift in seinen Sachen fehlt, als er seine persönlichen Sachen zurückerhält. „Leben im Felde“ ist eine kleine Broschüre mit allerlei Tipps für das Überleben abseits der Zivilisation. Aber eben eine Ausbildungsvorschrift des Österreichischen Bundesheeres. Das ist auch in großen Lettern auf dem Umschlag zu lesen.

Erschöpft, aber auch etwas erleichtert über den glimpflichen Verlauf der Verhöre schlafe ich ein. Ich bin nicht mehr in einer Zelle untergebracht, sondern befinde mich in einem Mannschaftsraum, gemeinsam mit Robert und Dino. Beide im Tiefschlaf. Was wohl der nächste Tag bringen wird?

Um 4 Uhr erfahren wir es. Polternd öffnet sich die Tür, und unser deutschsprachiger Verhöroffizier steht im Zimmer. Nach einem kurzen Frühstück soll es losgehen. Wohin, sagt er nicht.

Wir sind jetzt schon seit mehr als einer Stunde auf der Ladefläche eines Militärtransporters unterwegs, landeinwärts, wie es scheint. Unsere Boote wurden ebenfalls verladen. Ein bedrückendes Gefühl, wenn man nicht weiß, wohin die Reise geht.

Der Transporter hält an. Noch immer benommen von der unangenehmen Fahrt, taumeln wir von der Ladefläche des Fahrzeuges. Wir werden umgeladen auf einen anderen Transporter. Ob das gut geht? Unser deutschsprachiger Offizier tritt hinzu. Freundlich verabschiedet er sich von uns.

„Und was ich noch sagen wollte, meine Herren“, setzt er an, „Sie haben mir zu berichten vergessen, dass Sie Soldaten sind.“

Das war’s! So durchfährt es mich wie ein Blitz, und mir wird heiß. Ich habe so eine Vorahnung, wohin uns der andere Militärtransporter bringen soll. Ich bin auf alles gefasst. Offenbar auch Dino und Robert. Wir vermeiden jeden Blickkontakt.

Und wieder setzt sich der Militärtransporter mit unseren Booten und uns in Bewegung. Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wissen: Dieser Transporter hat ein serbisches Kennzeichen. Wir werden abgeschoben. Nach Jugoslawien. Das verheißt nichts Gutes!