Schauerliteratur, 3. Band - Verschiedene Autoren - E-Book

Schauerliteratur, 3. Band E-Book

Autoren Verschiedene

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Beschreibung

Die Schauerliteratur (englisch gothic fiction) bzw. der Schauerroman (englisch gothic novel) ist ein literarisches Genre der Phantastik, das Mitte des 18. Jahrhunderts in England entstand und seine Blüte am Anfang des 19. Jahrhunderts erlebte. In der Gestalt des Schauerromans wurde in der englischen Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts das von der Rationalität der Aufklärung verdrängte Übernatürliche und Unkonventionelle wieder aufgenommen. Dabei wurde der Schrecken zur bewusst geschaffenen ästhetischen Ware, die sich gut verkaufen ließ. Die Erstellung erfolgte vor allem nach Regeln, die sich an Burkes Theorie des Erhabenen und literarischen Modellen wie dem jakobäischen Drama oder der mittelalterlichen Romanze orientierten. Wir lesen Engel und Teufel von Anna Katharine Green und Dämon Chanawutu und Wer?! von Max Schraut.

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Seitenzahl: 420

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Verschiedene Autoren

Schauerliteratur

3. Band

Schauerliteratur

3. Band

Verschiedene Autoren

Impressum

Texte: © Copyright by Verschiedene Autoren

Umschlag:© Copyright by Walter Brendel

Übersetzer: © Copyright by Dr. Berthold A. Baer

Verlag:Das historische Buch, 2023

Mail: [email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Engel und Teufel

Erster Teil: Die purpurrote Orchidee

Zweiter Teil: Der Mann ohne Reputation

Dritter Teil: Wäre Batsy am Leben!

Dämon Chanawutu

Wer?!

Engel und Teufel

von Anna Katharine Green

Die Personen des Romans

Mrs. Agatha Webb geborene Gilchrist, angesehene Bürgerin von Sutherlandtown

Mr. Philemon Webb, ihr Ehemann

Miss Batsy, Köchin bei den Webbs

Mr. Charles Sutherland, angesehener Bürger von Sutherlandtown

Mr. Frederick Sutherland, sein Sohn

Miss Amabel Page, Hausangestellte der Sutherlands und Nichte der Haushälterin

Mr. Halliday, Bürger von Sutherlandtown und Nachbar von den Sutherlands

Miss Agnes Halliday, seine Tochter

Mr. John und James Zabel, verarmte Schiffsbauer aus Sutherlandtown

Pastor Crane, Geistlicher aus Sutherlandtown

Mr. Amos Fenton, Polizist aus Sutherlandtown

Mr. Harvey, Rechtsanwalt aus Sutherlandtown

Mr. Caleb Sweetwater, Musiker und Amateur-Detektiv aus Sutherlandtown

Kapitän Wattles, zwielichtige Gestalt aus Boston

Mr. Knapp, Kriminalbeamter aus Boston

Dr. Talbot, Untersuchungsrichter

Mr. Courtney, Staatsanwalt

und andere

Erster Teil: Die purpurrote Orchidee

01. Ein Mord

Der Tanz war vorüber. Die Gäste des großen Hauses auf dem Hügel hatten sich schon entfernt; nur die Musiker waren noch da. Als diese durch die weite Türe ins Freie traten, dämmerte im Osten der neue Tag.

„Seht nur“, rief einer der Musiker, ein magerer, aufgeschossener junger Mann mit blassen Zügen und großen, ausdrucksvolen Augen, „dort wird es schon Tag. Das war eine vergnügte Nacht für Sutherlandtown.“

„Fast zu vergnügt“, murmelte ein anderer. Kaum hatte er beendet, als ein junger Mann schnel aus dem Hause lief und an den Musikern vorbei eilte. Der Sprecher trat zur Seite.

„Wer war das?“, rief er.

Inzwischen war der junge Mann aus dem Tore gelaufen und in dem Wald, auf der anderen Seite der Straße, verschwunden.

„Mr. Frederick! Mr. Frederick Sutherland!“, riefen ale, wie aus einem Munde. „Der scheint es ja hölisch eilig zu haben!“

„Mir hat er fast die Zehen abgetreten.“

„Habt Ihr gehört, was er im Vorbeilaufen sagte?“

„Nein. Was war es?“

„Ich hab wohl was gehört, hab es aber nicht verstanden.“

„Ich glaube, er hat auch nicht zu Dir gesprochen - nebenbei bemerkt: zu mir auch nicht. Doch ich hab Ohren, ich kann fast hören, wenn Ihr mit den Augenlidern winkt.“

Er sagte: „Gott sei Dank, dass diese Schreckensnacht vorüber ist!“

„Denkt Euch, solch herrlicher Bal, ein so prächtiges Mahl und das nennt er „Schreckensnacht“ und dankt Gott, dass sie vorüber ist.“

„Ich glaubte immer, er wäre gerade einer von denen, denen es nie tol genug hergehen könnte.“

„Das dachte ich auch!“

„Ich auch!“

Die fünf Musiker steckten die Köpfe zusammen. „Wahrscheinlich hat er mit seinem Schatz Streit gehabt“, bemerkte der eine.

„Das wundert mich nicht“, sagte ein anderer. „Ich glaube überhaupt nicht, dass die Beiden mal heiraten werden.“

„Wär auch eine Schande, wenn sie es täten“, rief der magere junge Mann, der zuerst gesprochen. Da der junge Mann, über den die Musiker sprachen, der Sohn des Hauses war, aus dem sie eben gekommen waren, dämpften sie ihre Stimmen.

Doch das Interesse war erregt und flüsternd sprachen sie weiter.

„Ich habe ihn bemerkt“, sagte .ein anderer, der bis jetzt stil zugehört hatte, „als er mit Miss Page zum ersten Tanz antrat und auch, als er in der letzten Quadrile ihr gegenüber tanzte und ich kann Euch sagen: es war ein großer Unterschied in seinem Benehmen gegen Miss Page in seinem ersten und dem letzten Tanz.

Man hätte kaum glauben solen, dass er derselbe Mann war. Junge Leute, wie Mr. Frederick, lassen sich nicht durch schöne Grübchen allein fangen; die wolen auch Bargeld haben.“

„Oder wenigstens ein Mädchen aus feiner Familie. Sie hat keines von beiden. Aber wie schön sie ist! Ich kenne manche reiche und vornehme junge Leute, die froh wären, sie zu nehmen, wie sie ist“

„Schön!“ rief der magere Musiker und rümpfte die Nase, „ich möchte wissen, wo sie schön ist? Im Gegenteil: ich finde, sie hat ein sehr altägliches Gesicht.“

„Oho!“ riefen die anderen, protestierend und der Violinenspieler fügte hinzu:

„Weshalb reißen sich dann ale jungen Leute um sie?“

„Sie hat keinen einzigen regelmäßigen Zug im Gesicht!“

„Was hat das mit dem Eindruck zu tun, den ihre Person macht?“

„Ich kann sie nicht leiden!“

Ein Gelächter folgte diesen Worten.

„Das wird sie wohl ungeheuer grämen, Sweetwater. Der junge Mr. Sutherland kann sie umso besser leiden und daran ist ihr jedenFalls mehr gelegen. Und ich behaupte, er wird sie auch heiraten! Er kann gar nicht anders. Sie ist imstande, den Teufel zu verhexen, dass er sie heirate, wenn sie es sich in den Kopf setzte, ihn zum Mann zu haben.“

„Der würde jedenFalls besser zu ihr passen“, brummte Sweetwater. „Was indes Mr. Frederick betrifft -.“

„Ssssst! Es kommt jemand aus dem Haus, - das ist sie!“

Ale schauten nach der Haustüre, unter der eine graziöse, weiß gekleidete Figur erschienen war, die nach der Stele schaute, wo die Musiker standen.

Hinter ihr brannten noch die Lichter in der Hale und scharf hob sich ihre reizende Gestalt von dem helen Hintergrunde ab.

„Wer ist dort?“ fragte sie im flüsternden Tone.

Die Frage blieb unbeantwortet, denn im selben Augenblicke wurden eilige Schritte vernehmbar und laute, unverständliche Rufe drangen herauf zum Hügel.

Immer näher kamen die Schreier. Die Musiker gingen zurück, dem Hause zu, einer derselben sogar bis zur Türe, wo noch immer die weiße Gestalt stand.

„Mord! Mord!“ klang es nun deutlich in aler Ohren.

Kaum hatte die junge Dame dies gehört, als sie schnel die Türe schloss und sich zurückzog, zum großen Erstaunen des Musikers, der wusste, dass sie die neugierigste junge Dame im ganzen Städtchen war.

„Mord! Mord!“

Ein schrecklicher und in diesem gottesfürchtigen Städtchen nie zuvor gehörter Schrei. Immer mehr Menschen kamen den Hügel herauf.

„Mrs. Webb ist ermordet worden! Mit einem Messer! Erstochen! Wo ist Mr. Sutherland?“

Mrs. Webb! Als die Musiker den Namen dieser alseitig geliebten und verehrten Frau hörten, fuhren sie zusammen!

Unmöglich!

Mrs. Webb! Unglaublich! Sie gingen zum Hause zurück und riefen nach Mr. Sutherland.

„Es kann nicht sein! Nicht Mrs. Webb! Wer wäre so verrucht oder herzlos, sie zu ermorden?!“

„Das weiß Gott allein“, rief eine Stimme von der Straße her. „Aber dass sie tot ist, haben wir gesehen.“

„Dann hat es ihr Mann getan“, rief einer. „Ich hab schon immer gesagt, dass er eines Tages seinen besten Freund umbringt. Ein Mensch, wie der, gehört ins Narrenhaus und nicht -.“

Das Übrige verlor sich in unverständlichem Gemurmel. Eine Hand hatte sich dem Sprecher auf den Mund gelegt, in demselben Augenblicke, als Mr. Sutherland auf der Veranda erschien.

Der dort stand, war ein schöner Mann, mit ausdrucksvolen Zügen, aus denen Freundlichkeit und Würde gleich mächtig sprachen. Kein Mann in weitem Umkreise - ich hätte fast gesagt: keine Frau - ward mehr geliebt und mehr geachtet, als er.

Nur auf einen Menschen vermochte er keinen Einfluss auszuüben - was jedermann weit und breit wusste - auf seinen einzigen Sohn Frederick.

Schmerz und Bestürzung lagen auf des Mannes Zügen. „Was schreit Ihr da?“ fragte er. „Agatha Webb? Ist Agatha Webb etwas zugestoßen?“

„Sie ward ermordet!“ riefen mehrere Stimmen zugleich. „Wir kommen eben von ihrem Haus. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Man sagt, ihr Mann habe es getan.“

„Nein, nein!“ sagte Mr. Sutherland, mehr zu sich selbst als zu den Umstehenden. Philemon Webb mag sich vieleicht selbst umbringen, aber nicht Agatha.“

„Es war ihr Geld -.“

Er richtete sich auf und rief den Erregten zu:

„Wartet! Ich gehe mit Euch!“

„Wo ist Frederick?“ fragte er die Diener, die ihn umstanden. Niemand wusste es.

„Bringt ihn hierher. Er sol mit mir in die Stadt gehen.“

„Er ist dort drüben im Wald“, rief eine Stimme von der Straße her.

„Im Wald?“ wiederholte der Vater, aufs höchste erstaunt.

„Jawohl. Wir haben ihn hingehen sehen. Solen wir ihn rufen?“

„Nein, danke. Ich kann schon ohne ihn fertig werden.“

Dann ergriff er seinen Hut und wolte eben gehen, als sich eine Hand auf seinen Arm legte und eine wohlbekannte Stimme ihm zuflüsterte: „Darf ich mitgehen? Ich werde Ihnen nicht beschwerlich Falllen.“ Es war die junge Dame, die wir vorhin beobachtet hatten. Der alte Mann zog die Stirn in Fallten und antwortete ernst:

„Eine Mordstätte ist kein Platz für junge Damen.“

Die so Angeredete blieb unbewegt.

„Ich denke, ich gehe doch“, sagte sie. „Ich kann mich ganz unbemerkt unter die Leute mischen.“

Er antwortete nicht mehr. Miss Page war zwar eine Angestelte in seinem Hause und wurde für ihre Leistungen bezahlt, doch seit langem versuchte niemand, ihr zu widersprechen.

Sie hatte seit ihrem ersten Erscheinen unter der Türe das weiße Balkleid mit einem einfachen, dunkleren vertauscht und schloss sich so dem alten Herrn an, der wortlos der Menge folgte.

Nach und nach verließen auch die Dienstboten das Haus, als letzter Jerry, der die Lichter ausblies und, nachdem er die Fronttüre geschlossen hatte, sich den Neugierigen anschloss.

Den Nebeneingang aber hatte er offen stehen lassen und durch diesen trat, sobald die Tritte der Fortgehenden in der Ferne verhalt waren, ein bleicher junger Mann: es war Sweetwater, der Musiker, der die Schönheit Miss Pages in Frage gestelt hatte.

02. Im Dunkel der Nacht

S utherlandtown ist eine kleine Hafenstadt, die aus nur einer Hauptstraße und, davon abzweigend, vielen Nebenstraßen besteht. Die Hauptstraße zieht sich geradeswegs vom Hügel bis zur Werft.

Oben, an der Ecke der „Hilside Lane“ steht das Webb-Haus, dessen Vordereingang nach der Hauptstraße zu liegt. Das Haus war leicht zu finden; war es doch das einzige, in dem noch Licht brannte, ganz abgesehen von den Gruppen aufgeregter Menschen, die es umstanden. Als Mr. Sutherland ankam, grüßte ihn ein beifäliges Gemurmel. Die Menge trat zur Seite und gab den Eingang des Hauses frei.

Eben wolte er eintreten, als ihn jemand am Arme zupfte und sagte:

„Schauen Sie in die Höhe!“

Er tat so und sah den leblosen Körper einer Frau halb aus dem Fenster des zweiten Stockes hängen.

„Wer ist das?“ rief er. „Das ist nicht Agatha Webb!“

„Nein, das ist Batsy, die Köchin. Sie ist auch tot. Wir ließen sie so liegen, wie wir sie fanden, bis der Untersuchungsrichter hier ist.“

„Das ist schrecklich!“ murmelte Mr. Sutherland.

Wie er so sprach, fühlte er sich wieder am Arm berührt. Er schaute sich um und bemerkte die Gestalt einer jungen Dame.

Ehe er sie indes anreden konnte, war sie schon zwischen der Menge verschwunden. Es war Miss Page.

„Der Körper, der aus dem Fenster hängt, zog zuerst die Aufmerksamkeit auf das Haus“, sagte ein Mann, der am Haupteingang des Hauses stand und die Menge zurückhielt.

„Die Frauen der Matrosen, die heute früh ausfuhren, bemerkten, als sie von der Werft zurückkamen, die Tote und schlugen Alarm. Hätten die sie nicht bemerkt, wüssten wir vieleicht jetzt noch nicht, was passiert ist.“ „Aber Mrs. Webb?“

„Treten Sie ein und sehen Sie selbst.“

Hinter einem Holzzaune, umgeben von einem Gärtchen, lag das kleine Haus, in dem sich das schrecklichste Drama abgespielt, das Sutherlandtown je gesehen.

In diesem Holzzaune befand sich ein Tor, durch das nunmehr Mr. Sutherland schritt, begleitet von Miss Page, die sich ihm unbemerkt angeschlossen hatte.

Ein Gartenweg, auf beiden Seiten von Flieder umsäumt, führte zu der, jetzt offen stehenden Türe des kleinen Hauses, aus der ihm Amos Fenton, der Polizist des Städtchens, entgegen trat.

„Ah, Mr. Sutherland“, sagte er, „ein trauriger Fall, ein sehr trauriger Fall. Doch - wer ist die junge Dame bei Ihnen?“

„Das ist Miss Page“, entgegnete Mr. Sutherland, sich umschauend und die Stirn in Fallten ziehend, „die Nichte meiner Haushälterin. Sie wolte absolut mitkommen. Neugierde natürlich. Gegen meinen Wilen.“

„Miss Page muss unten bleiben. Wir gestatten Niemanden Zutritt - außer Ihnen natürlich“, setzte er respektvol hinzu, eingedenk der Tatsache, dass in Sutherlandtown nichts ohne Mr. Sutherland unternommen wurde.

Miss Page, die schön erschien wie die Morgensonne und frisch wie das junge Gras im Gärtchen, warf dem alten Polizisten bittende Blicke zu, die diesen veranlassten, sein stachliges Kinn zu streichen; doch seinen Befehl änderte er nicht. Als sie bemerkte, dass er sich nicht erweichen ließ, trat sie, liebenswürdig lächelnd, zur Seite, hinter Büsche, die sie den übrigen Neugierigen verbarg. Mr. Sutherland trat ins Haus. Er kam in einen schmallen Gang, aus dessen linker Seite eine offene Tür zu sehen war, während hinten eine Treppe nach oben führte.

Unter der erwähnten offenen Türe stand ein Mann, der den Angekommenen höflich grüßte. Mr. Sutherland ging stil an ihm vorüber und trat in das nächste Zimmer, woselbst an einem, mit Speisen bedeckten Tische, Philemon Webb saß, der Herr des Hauses.

Erstaunt, seinen alten Freund in diesem Zimmer und in solch aufFalllender Stelung zu finden, wolte er diesen eben ansprechen, als Mr. Fenton dazwischen trat.

„Einen Augenblick, bitte! Betrachten Sie den armen Philemon erst näher, ehe Sie ihn stören. Als wir vor etwa einer halben Stunde ins Haus traten, fanden wir ihn ganz in derselben Stelung und, aus begreiflichen Gründen, ließen wir ihn unbelästigt. Beobachten Sie ihn genau, Mr. Sutherland; er wird es nicht merken“

„Was fehlt ihm? Weshalb lehnt er sich so gegen den Tisch? Ist er auch verwundet?“

„Nein. Sehen Sie seine Augen an.“

Mr. Sutherland beugte sich nieder, bog die langen, weißen Locken zurück und rief erregt:

„Die Augen sind geschlossen! Er ist doch nicht tot?“

„Nein, er schläft.“

„Ja. Er schlief, als wir herein kamen und schläft noch. Die Nachbarn wolten ihn aufwecken, doch gab ich das nicht zu. Sein Gehirn würde den plötzlichen Schreck nicht aushalten“

„Nein, nein! Armer Philemon! Dass er schlafen kann, während sie -. Doch was solen diese Flaschen hier bedeuten und der gedeckte Tisch, in einem Zimmer, in dem sie sonst nie zu essen pflegten?“

„Das wissen wir nicht. Wie Sie sehen, wurden die Speisen hier nicht berührt. Er trank ein Glas Portwein, das war alles. In den anderen Gläsern war kein Wein“

„Stühle für drei und nur einer besetzt“, murmelte Mr. Sutherland.

„Sonderbar! Sollte er Gäste erwartet haben?“

"Es scheint so. Ich wusste nicht, dass seine Frau dies erlaubt hat. Sie war immer zu gut gegen ihn und ich fürchte, sie hat diese Güte mit ihrem Leben bezahlt.“

„Unsinn! Er hat sie nicht getötet! Hätte er sie nicht geradezu abgöttisch verehrt - was er tatsächlich tat - so hätte er doch, selbst in seinen dunkelsten Augen blicken, nie Hand an sie gelegt!“

„Ich traue keinem Geisteskranken“, entgegnete der andere.

„Sie haben noch nicht alles gesehen, was merkwürdig ist in diesem Zimmer.“

Mrs. Sutherland blickte schnel umher. Außer dem Tisch und was darauf stand, konnte er nichts AufFalllendes bemerken. Er schaute daher wieder auf Philemon Webb.

„Ich sehe nichts - außer dem armen Schläfer hier.“

„Betrachten Sie seinen Ärmel.“ Schnel beugte sich Mr. Sutherland nieder. Der Arm des alten Mannes lag auf dem Tische; am Ärmel der blauen Jacke konnte man deutliche Flecken sehen, die zwar von Rotwein herstammen konnten, die aber in Wirklichkeit - Blut waren.

Als. Mr. Sutherland diese Gewissheit erlangt, erblasste er und schaute fragend auf den Mann neben ihm, der ihn aufmerksam betrachtete.

„Schlimm!“ sagte er. „Noch andere Blutspuren hier unten?“

„Nein, dies sind die einzigen.“

„O, Philemon!“ entfuhr es Mr. Sutherland schmerzlich.

Dann betrachtete er wieder seinen alten Freund und setzte langsam hinzu:

„Er befand sich offenbar in dem Zimmer, in dem seine Frau getötet ward, doch glaube ich nicht, dass er weiß, was dort geschah, sonst würde er hier nicht so ruhig schlafen. Lassen Sie uns nach oben gehen!“

Fenton nickte seinem Untergebenen zu, aufzupassen und wandte sich sodann zur Treppe, wohin ihm Mr. Sutherland folgte. Sie gingen direkt durch den oberen Gang nach dem großen Vorderzimmer, das der Schauplatz des Dramas war.

Ein einfacher Teppich bedeckte den Fußboden, alte, anspruchslose Möbel standen an den Wänden. Auf einem altmodischen Sofa lag die tote Herrin des Hauses.

Obwohl sie einen gewaltsamen Tod gefunden, ging von ihrer Gestalt und ihren Zügen - beide von seltenem Ebenmaß - eine solche Ruhe aus, dass Mr. Sutherland, der an ihre vornehme Erscheinung und ihre majestätische Würde gewohnt war, erstaunt ausrief:

„Ermordet?! Sie?! Sie irren, mein Herr! Sehen Sie ihr Gesicht an!“

Doch da fiel sein Blick auf das Blut, das an ihrem Kleide klebte und er fragte schauernd:

„Wo ward sie getroffen? Wo ist die Waffe?“

„Sie ward offenbar getroffen, während sie an diesem Tische stand oder saß“, entgegnete Fenton und deutete auf zwei oder drei Tropfen Blut, die auf der polierten Tischplatte zu sehen waren.

„Die Waffe konnten wir nicht finden, doch zeigt die Wunde, dass es ein dreischneidiger Dolch gewesen sein muss.“

„Ein dreischneidiger Dolch?“

„Jawohl.“

„Ich wusste nicht, dass ein solcher sich in der Stadt befand. Philemon kann unmöglich einen solchen Dolch gehabt haben.“

„Scheinbar nicht; doch man kann nie sicher sein. Solch alte Häuser, wie dieses, enthalten oft die merkwürdigsten Artikel.“

„Ich glaube kaum, dass je ein solcher Dolch in diesem Hause war“, erklärte Mr. Sutherland. „Wo fanden Sie Mrs. Webb, als Sie ins Haus kamen?“

„An derselben Stele, wo Sie sie jetzt sehen. Es ward nichts im Zimmer berührt oder von der Stele bewegt.“ „Sie fanden sie hier, auf diesem Sofa, in derselben Lage, wie ich sie jetzt sehe?“

„Gewiss.“

„Das ist kaum glaublich! Sehen Sie, wie sie daliegt, die Hände geFalltet, die Augen geschlossen, gerade als ob sie zur Beerdigung getragen werden sollte - nur liebende Hände können dies getan haben! Was hat dies zu bedeuten?“

„Das deutet auf Philemon, klar und deutlich.“

Mr. Sutherland erschauerte, doch er sagte nichts. Er war starr, diesen Beweisen des Werkes eines Geistesschwachen gegenüber. Philemon Webb schien stets so harmlos, volkommen harmlos, obwohl sein Geist sich seit zehn Jahren immer mehr umnachtete.

„Aber“, fuhr Mr. Sutherland plötzlich auf, „es ist noch ein anderes Opfer im Hause! Ich sah die alte Batsy aus dem Fenster hängen, tot!“

„Ja, sie ist im nächsten Zimmer. Es ist aber keine Wunde an Batsy zu finden.“

„Wie ward sie dann getötet?“

„Das müssen uns die Doktoren sagen.“

Mr. Sutherland ging mit Fenton in das kleine, anstoßende Zimmer und sah auf den ersten Blick die leblose Gestalt der alten Batsy aus dem Fenster hängen, wie er sie schon von der Straße aus bemerkt hatte.

Dass sie tot war, unterlag keinem Zweifel. Doch, wie Fenton gesagt hatte, es war keine Wunde an ihr zu finden, keine Blutspur, nichts, das auf die Art und Weise ihres Todes hätte hinweisen können.

„Das ist schrecklich!“ jammerte Mr. Sutherland, „das schrecklichste, was ich je gesehen habe! Helfen Sie mir, den Leichnam hereinzubringen. Sie lag lange genug zur Schau der Neugierigen aus dem Fenster.“

Es befand sich ein Bett in diesem Zimmer - in der Tat war es Mrs. Webbs Schlafzimmer - und auf dieses legten sie die Tote. Als ihr Gesicht zu sehen war, schauten sich die beiden Männer erstaunt an: der Ausdruck von Schreck und Angst, den sie hier sahen, stand in aufFalllendem Gegensatz zu der Ruhe und Majestät, die auf den Zügen der toten Herrin lagen!

03. Die leere Schublade

Als die beiden Männer in das erste Zimmer zurücktraten, waren sie nicht wenig erstaunt, Miss Page zu sehen, die unter der Türe stand. Sie starrte die Tote an und schien die beiden Männer nicht zu bemerken.

„Wie kommen Sie hierher? Wer hat Sie, entgegen meinem ausdrücklichen Befehl, eintreten lassen?“ fragte Fenton, ärgerlich und erregt.

Sie ließ ihre Kapuze vom Kopfe Falllen und sah den Frager lächelnd an, mit demselben gewinnenden Lächeln, mit dem sie versucht hatte, ihn vor dem Hause ihren Wünschen gefügig zu machen.

Damals hatte er widerstanden, doch dem abermaligen Versuch konnte er nicht standhalten.

„Ich bestand darauf, eingelassen zu werden“, sagte sie. „Machen Sie den Männern draußen keinen Vorwurf; sie wolten einer Dame gegenüber keine Gewalt anwenden“.

Ihre Stimme war nicht wohlklingend und sie wusste das; sie schlug daher den Ton an, der ihre Worte zu Herzen trug und sie siegte auch über den alten, wetterharten Amos Fenton.

„Na, na“, murmelte er, „das ist schlimme Neugierde, die Sie hierher führte. Legen Sie die besser ab; ehrenwerte Personen missverstehen dergleichen sehr leicht.“

„Danke“, entgegnete sie mit schelmischem Lächeln, das Fallten auf Mr. Sutherlands Stirn brachte. Er schaute von ihr nach der Toten und sagte in vorwurfsvolem Tone:

„Ich verstehe Sie nicht, Miss Page. Wenn dieser Anblick Ihrer Koketterie keinen Zwang auferlegen kann, dann weiß ich nicht, was überhaupt diese in Schranken zu halten vermag! Was Ihre Neugierde betrifft, so ist selbige ebenso unpassend als unweiblich. Verlassen Sie dies Haus sofort, Miss Page! Und sollten Sie in den paar Stunden, die noch bis zum Frühstück dahingehen, Zeit finden, Ihre Koffer zu packen, würden Sie mich noch besonders verpflichten.“

„Schicken Sie mich nicht fort, ich bitte Sie!“ Es war dies ein Schrei aus innerstem Herzen, den sie jedenFalls gleich bedauerte, denn sie versuchte sofort diesen unvorsichtigen Selbstverrat durch Beugen ihres schönen Kopfes und durch Zurücktreten zu verwischen.

Weder Mr. Sutherland noch Amos Fenton schien das eine oder das andere bemerkt zu haben; hatten sie doch ihre Aufmerksamkeit wichtigeren Sachen zugewandt.

„Ihrer Kleidung nach zu urteilen“, sagte Mr. Sutherland, der die Tote wieder eingehend betrachtete, „scheint meine unglückliche Freundin vor dem Schlafengehen ermordet worden zu sein. Wenn Philemon –.“

„Entschuldigen Sie, meine Herren“, rief da der junge Mann, der in der Hale zurückgelassen worden war, „die junge Dame horcht, was Sie sagen. Sie steht noch oben auf der Treppe.“

„So ist es! So ist es!“ rief Fenton, dessen Galanterie bei der Zurechtweisung vonseiten seines Kameraden verschwunden war.

„Ich wil ihr aber zeigen -.“

Als er zur Türe gekommen, war die junge Dame verschwunden und nur ein feines Parfüm erinnerte daran, dass sie kurz zuvor hier gestanden hatte.

„Eine merkwürdige Person“, murmelte der Polizist beim Zurückgehen.

Er kehrte indes sofort wieder um, da er in der unteren Hale Stimmen hörte.

„Der alte Mann ist wach!“ rief eine Stimme hinauf.

Sofort stiegen Fenton und Mr. Sutherland die Treppe hinab. Miss Page stand unter der Türe des Zimmers, in dem Philemon Webb saß. Als die beiden Männer näher kamen, machte sie eine halb ironische, halb abbittende Verbeugung und verließ das Haus. Wie von einem Bann erlöst, atmeten die beiden Männer auf und besonders Mr. Sutherland war durch das Fortgehen der jungen Dame sichtbar erleichtert.

„Ich wünschte, der Doktor wäre hier“, sagte Fenton. "Ich sandte unsere n besten Reiter nach ihm, doch er ist irgendwo da draußen am Portchester Weg und es kann eine Stunde dauern, ehe er kommt.“

„Philemon!“ rief Mr. Sutherland, indem er die Hand seinem alten Freund auf die Schulter legte, "Philemon! Wo sind Deine Gäste? Du hast bis zum Morgen auf sie gewartet!“

Philemon schaute erstaunt auf die beiden Gedecke neben ihm und sagte, indem er mit dem Kopfe schüttelte: „James und John werden stolz - oder sie haben es vergessen, sie haben es vergessen.“

James und John. Er meinte wohl die Zabels. Es gibt aber so viele Leute in der Stadt, die diese Vornamen trugen.

Wieder frug Mr. Sutherland: „Philemon, wo ist Deine Frau? Ich sehe, es ist hier nicht für sie gedeckt.“

„Agatha ist nicht wohl, Agatha ist ärgerlich. Sie kümmert sich nicht um einen alten, kranken Mann, wie ich.“

„Agatha ist tot und Du weißt es!“ schrie der Polizist unüberlegter Weise.

„Wer hat sie ermordet? Sag, wer hat sie ermordet?“

Der plötzliche Schreck nahm dem Kranken den letzten Rest von klarer Besinnung. Mit dem gurgelnden Lachen, das Geistesschwachen eigen ist, erwiderte er:

„Die Mieze-Katze, es war die Mieze-Katze. Wer ist ermordet? Ich bin nicht ermordet. Lasst uns nach Jericho gehen.“

Mr. Sutherland nahm ihn unter dem Arm und geleitete ihn nach oben. Vieleicht würde der Anblick seiner toten Gattin ihn zur Besinnung bringen. Doch er schaute sie an, mit demselben starren Blick des Nichterkennens, mit dem er alles andere betrachtete.

„Ich kann dies Kaliko-Kleid nicht leiden“, sagte er nach einer Weile. „Sie kann erfordern, sich in Seide zu kleiden, doch sie wil nicht. Agatha, wirst Du zu meinem Begräbnis dein Seidenkleid anziehen?“

Erschüttert, zog Mr. Sutherland den alten Mann hinweg und übergab ihn der Obhut eines Polizisten. Fentons Neugierde war erregt worden.

Er nahm Mr. Sutherland bei Seite und flüsterte: „Was wolte der alte Mann damit sagen: sie kann erfordern, sich in Seide zu kleiden? Sind die Leute etwa nicht so arm, als sie scheinen?“

Ehe Mr. Sutherland antwortete, schloss er die Türe.

„Sie sind reich“, erklärte er sodann dem erstaunten Frager, „das heißt, sie waren reich; vieleicht wurden sie beraubt.

Wenn dem so ist, dann war es sicher nicht Philemon, der sie tötete. Wie ich hörte, bewahrte Agatha ihr Geld in einem altmodischen Wandschrank auf - wie etwa dieser hier“, setzte er hinzu, auf eine Doppeltüre in der Wand über dem Kaminfeuer zeigend. Fenton, der einen Schlüssel im Schloss bemerkte, ging sofort hin und öffnete die Türen. Erst sah er nichts, als einige Reihen Bücher.

Als er diese jedoch herabgenommen, bemerkte er dahinter zwei Schubladen.

„Sind sie verschlossen?“ fragte Mr. Sutherland.

„Eine ist verschlossen, die andere nicht.“

„Öffnen Sie die unverschlossene.“

Fenton tat so. „Sie ist leer“, sagte er.

Mr. Sutherland warf wiederum einen Blick nach der Toten. Die ebenmäßigen Züge, die seelische Ruhe, die auf ihnen lag, berührten ihn sonderbar.

„Ich weiß nicht, ward sie das Opfer ihres geistesschwachen Gatten oder eines ruchlosen Räubers. Sehen Sie doch, ob Sie den Schlüssel zu der anderen Schublade finden können.“

„Ich wil es versuchen.“

„Vieleicht fangen Sie mit Suchen am besten bei der Toten an; der Schlüssel sollte sich in ihrer Tasche finden, wenn kein Dieb ihn weggenommen hat.“

„Er ist nicht in der Tasche.“

„Vieleicht hängt er an einer Schnur an ihrem Halse?“

„Nein. Da hängt wohl ein Medailon, aber kein Schlüssel. Ein prachtvoles Medailon, Mr. Sutherland, mit einer goldenen Haarlocke eines Kindes darin -. Wir können das später betrachten; jetzt wolen wir erst den Schlüssel suchen.“

„Herr des Himmels!“

„Was ist es?“ „Sie hat den Schlüssel in der Hand - in der Hand, auf der sie liegt!“ „Ah! Das ist wichtig, Fenton!“ „Sehr wichtig!“ „Bleiben Sie hier, Fenton. Lassen Sie keinen Menschen diesen Schlüssel wegnehmen, bis der Untersuchungsrichter hier war und dies selbst gesehen hat!“

„Ich werde hier bleiben!“

„Inzwischen wil ich diese Bücher wieder an ihren Platz stelen.“

Er war kaum damit fertig, als eine andere Person im Hause erschien: Pastor Crane.

04. Die volle Schublade

Der Neuangekommene hatte wichtiges zu erzählen. Zu früher Morgenstunde, vom Krankenbette eines seiner Pfarrkinder kommend, war er an diesem Hause vorübergegangen.

Als er eben die Türe passierte, lief ein Mann in höchster Erregung aus dem Hause; in der Hand hielt er etwas glänzendes und obgleich er ihn - den Pastor - fast umgerannt hatte, blieb er doch nicht stehen, um sich zu entschuldigen, sondern eilte mit unsicheren Schritten dahin.

Daraus schloss der Pastor, dass der Fremde alt war. Außerdem sah er auch die Spitzen eines weißen langen Volbartes über die Schultern flattern; das Gesicht konnte er nicht sehen.

Philemons Gesicht ist glatt rasiert. Um genauere Zeitangabe gefragt, sagte der Pastor, dass es ungefähr um Mitternacht gewesen sein muss, denn halb ein Uhr befand er sich wieder in seinem Hause.

„Haben Sie im Vorübergehen nach den Fenstern gesehen?“ fragte Fenton. „Ich erinnere mich, dass beide beleuchtet waren.“ „Waren die Jalousien herabgelassen?“

„Ich glaube nicht, sonst wäre mir das aufgeFalllen.“

„Wie waren die Jalousien, als Sie heute Morgen ins Haus kamen?“ fragte Mr. Sutherland den Polizisten.

„Genauso, wie Sie sie jetzt sehen; es ward nichts im Hause berührt. Beide Jalousien waren herabgelassen, die eine über ein offenes Fenster.“

„Diese Begegnung mit dem Unbekannten ist von größter Wichtigkeit, Herr Pastor.“

„Ich wünsche, ich hätte sein Gesicht gesehen“

„Was mag wohl der glitzernde Gegenstand gewesen sein, den Sie in seiner Hand sahen?“

„Ich möchte keine Meinung darüber äußern; ich sah den Mann nur eine flüchtige Sekunde.“

„Kann es ein Messer oder ein altmodischer Dolch gewesen sein?“

„Arme, arme Agatha! Das gerade sie, die das Geld so verachtete, das Opfer eines habgierigen Mörders werden musste! Ein glückloses Leben und ein glückloses Ende - Fenton, ich werde mein Leben lang um Agatha Webb trauern.“

„Und doch scheint es, als ob sie endlich Ruhe gefunden habe“, sagte der Pastor. „Ich sah sie im Leben nie so seelisch zufrieden.“

Dann, Mr. Sutherland bei Seite ziehend, fragte er:

„Was sagten Sie eben von Geld? Hat sie wirklich, entgegen alem Anschein, über ein größeres Vermögen verfügt? Ich frage deshalb, weil sie, trotz ihrer einfachen Kleidung und ihrer einfachen Lebensweise, stets mehr für die Kirche gab, als irgendeiner ihrer Nachbarn. Außerdem bekam ich von Zeit zu Zeit anonym größere Beträge zugesandt, stets für arme, kranke Kinder bestimmt, die -.“

„Ja, ja, die kamen von ihr, ohne Zweifel von ihr. Sie waren nicht arm, obwohl ich nie wusste, wie reich sie war, bis in letzter Zeit. Sie zogen offenbar vor, einfach zu leben und da sie keine Kinder am Leben haben.“

„Man sagte mir, sie begruben sechs Kinder.“

„So sagen die Leute von Portchester. JedenFalls hatten sie kein Verlangen nach weltlichen Genüssen und gaben sich auch nie solchen hin.“

„Philemon hat wohl seit Jahren nach nichts mehr verlangt?“

„O, er lebt gerne gut und hatte auch immer, was sein Herz verlangte. Agatha schlug ihm nie etwas ab.“

„Weshalb denken Sie, dass Geld die Ursache ihres gewaltsamen Todes gewesen ist?“

„Sie hatte eine größere Summe im Hause und es gibt viele hier herum, die das wussten.“

„Ist das Geld nicht mehr im Hause?'

„Das werden wir später erfahren.“ In diesem Augenblicke kam der Untersuchungsrichter Dr. Talbot an. Er war ein Mann von wenig Worten und noch weniger Fühlen. Umso mehr überraschten seine ersten Worte:

„Wer ist die junge Dame, die da draußen steht, die einzige Frauensperson unter den Neugierigen?“

Mr. Sutherland ging schnel an das Fenster, bog die Jalousie zur Seite und erwiderte dann:

„Das ist Miss Page, die Nichte meiner Haushälterin. Sie folgte mir hierher und wir konnten sie kaum aus dem Zimmer hier bringen, wohin sie mir, entgegen meinem ausdrücklichen Wunsche, gefolgt war. Ich begreife nicht, was sie an dem Mord interessieren kann.“

„Sehen Sie nur, wie sie dasteht!“ rief Fenton. „Sie scheint noch verrückter als Philemon zu sein.“

Ihr Benehmen gab vieleicht Veranlassung zu dieser Bemerkung. Inmitten des kleinen Gartens, von der erregten Menge durch den hohen Bretterzaun getrennt, stand sie, hoch aufgerichtet, unbeweglich, gespannt horchend. Ihre Kapuze hatte sie wieder über den Kopf gezogen und so glich sie eher einer grauen Statue, als einem lebenden, atmenden Wesen. Ihr Blick, den Beobachtern zugerichtet, machte diese erschauern.

„Ein merkwürdiges Mädchen“, sagte der Pastor.

„Und eine, die ich weder in Schutz nehme, noch begreife“, fügte Mr. Sutherland hinzu. „Ich zeigte ihr soeben meinen Unmut über ihr Eindringen, indem ich sie aus meinen Diensten entließ.“

Der Untersuchungsrichter warf ihm einen schnelen Blick zu, öffnete den Mund zum Sprechen, schien seine Absicht jedoch sofort zu ändern und wandte sich der Toten zu.

„Wir haben eine traurige Pflicht vor uns“, sagte er. Die Untersuchung, die er nunmehr vornahm, brachte zwei Tatsachen zu Tage. Erstens: dass ale Türen des Hauses unverschlossen gewesen sind und zweitens, dass der Polizist mit den Ersten ins Haus getreten ist und so versichern konnte, dass, außer Batsys Entfernung vom Fenster nach dem Bette, nichts im Hause berührt worden war. Als er dann die Tote besichtigte, fand er den Schlüssel in ihrer Hand.

„Wozu gehört dieser Schlüssel?“ fragte er.

Man zeigte ihm die Schubladen im Wandschrank.

„Die eine ist leer“, sagte Mr. Sutherland. „Wenn die andere ebenFalls leer ist, dann liegt ein Raubmord vor. Der Schlüssel, den sie in der Hand hält, sollte beide Schubladen öffnen.“

„Dann wolen wir sofort nachsehen. Es ist von höchster Wichtigkeit, zu wissen, ob nur ein Mord vorliegt oder ein Raubmord.“

Darauf nahm er den Schlüssel aus der Toten Hand und gab ihn Fenton, der sofort die Schublade aufschloss und sie, mit ihrem ganzen Inhalt, auf den Tisch stelte.

„Hier drin ist kein Geld“, sagte er.

„Aber Papiere, die so gut sind, als Geld“, bemerkte der Richter. „Sehen Sie hier: Hypothekenbriefe und viele gute Staatspapiere. Es scheint, sie war reicher, als jemand von uns wusste.“

Mr. Sutherland schaute mit enttäuschter Miene in die nun leere Schublade.

„Wie ich fürchtete“, sagte er. „Man hat sie ihres Bargeldes beraubt. Es befand sich dies zweifelos in der anderen Schublade.“

„Wie kann sie dann den Schlüssel in der Hand halten?“

„Das ist eines der Geheimnisse dieses Fallles. Dieser Mord ist nicht so einfach; es dünkt mir vielmehr, als ob wir viele Überraschungen zu gewärtigen hätten.“

„So zum Beispiel: Batsys Tod.“

„O ja, Batsy! Ich vergaß ganz, dass sie auch tot aufgefunden ward.“

„Und ohne jede Wunde, Herr Richter.“

„Sie war herzkrank, der Schreck hat sie wohl getötet.“

„Ihr Gesichtsausdruck scheint diese Annahme zu bestätigen.“

„Lassen Sie mal sehen. So scheint es in der Tat! Es muss jedoch eine Sektion vorgenommen werden, dies zu bestätigen.“

„Ehe wir weiter gehen, möchte ich erklären, wieso ich weiß, dass Agatha Bargeld im Hause hatte“, sagte Mr.

Sutherland, als sie ins andere Zimmer zurückgingen.

„Vorgestern, als ich mit meiner Familie zu Tische saß, kam Judy, die alte Klatschbase, in das Zimmer. Wäre Mrs. Sutherland am Leben, hätte sie es nicht gewagt, zur Essenszeit einzudringen; doch so, da Niemand die Honneurs des Hauses vertritt, kam sie einfach ins Zimmer gelaufen und kramte ihre Neuigkeiten aus.

Sie kam eben von Mrs. Webb. Mrs. Webb habe Geld, viel Geld im Hause; sie habe es gesehen; sie sei, wie gewöhnlich, ohne anzuklopfen ins Haus gegangen; da sie Agatha oben hörte, ging sie hinauf; die Türe stand offen und sie schaute hinein; Agatha ging eben durchs Zimmer, Papiergeld in der Hand, viel Geld; sie legte die Scheine in eine Schublade hinter den Büchern im Wandschrank und sagte: „Eintausend Dolars! Das ist zu viel Geld, im Hause zu behalten“; sie - Judy - sei derselben Meinung; sie habe Angst bekommen und sei geräuschlos davon gerannt, den Nachbarn zu erzählen, was sie gehört und gesehen habe. Glücklicherweise war ich der Erste, den sie an jenem Morgen traf, doch bin ich überzeugt, dass sie, trotz meiner ausdrücklichen Verwarnung, ihre Neuigkeit noch bei mindestens einem halben Dutzend anderer ausgekramt hat.“

„War die junge Dame dort unten zugegen, als Judy dies erzählte?“ fragte der Untersuchungsrichter.

Mr. Sutherland sann nach.

„Vieleicht - ich erinnere mich nicht mehr genau. Frederick saß mit mir am Tische, während meine Haushälterin den Kaffee eingoss. Ich glaube kaum, dass Miss Page zugegen war; sie steht nicht so früh auf - sie ist in letzter Zeit ziemlich „vornehm“ geworden.“

„Sollte es möglich sein, dass er so blind ist und nicht sieht, dass sein Sohn Frederick dieses Mädchen heiraten wil?“flüsterte Pastor Crane dem Polizisten ins Ohr. Dieser zog als Antwort die Schultern in die Höhe. Mr. Sutherland war ein Mann, freundlich gegen Jedermann, aber desto unergründlicher.

05. Eine Spur im Grase

Als der Untersuchungsrichter, gefolgt von Mr. Sutherland, aus der Türe trat, bot sich den beiden ein merkwürdiger Anblick dar. Miss Page stand noch immer unbeweglich auf derselben Stele und schaute die Kommenden unverwandt an. Als sie in ihrer Nähe waren, zog sie die rechte Hand aus dem Umhange hervor, deutete auf das Gras zu ihren Füßen und sagte ruhig:

„Sehen Sie dies?“

Die beiden Männer beeilten ihre Schritte, beugten sich nieder und betrachteten angelegentlich die bezeichnete Stele.

„Was sehen Sie da?“ fragte Mr. Sutherland, der ohne Gläser in der Nähe nicht mehr gut sehen konnte.

„Blut“, entgegnete der Richter, einen Grashalm abpflückend und ihn genau betrachtend.

„Blut!“ wiederholte Miss Page, mit einem so bezeichnenden Blick, dass Mr. Sutherland sie verwirrt anschaute, eine Empfindung, die er sich nicht erklären konnte.

„Wie konnten Sie diese kaum sichtbaren Flecken bemerken?“ fragte der Richter.

„Kaum sichtbar? Es ist das einzige, was ich in dem ganzen Garten sehe!“

Und mit einer Verbeugung, die nicht ohne Spott war, ging sie dem Tore zu.

„Ein unbegreifliches Mädchen“, sagte der Untersuchungsrichter.

„Aber sie hat recht, was diese Flecken anbetrifft. Abel“, rief er den Mann an, der an der Türe stand, „bringen Sie eine leere Kiste oder ein Fass und decken Sie diese Stele hier zu. Ich wil nicht, dass Jemand das Gras hier zertritt.“

Abel ging, den Auftrag auszuführen und kam eben an das Tor, als Miss Page dies zu öffnen im Begriffe war. „Wolen Sie mir, bitte, helfen“, sagte sie. „Ich kann nicht durch diese Menschenmenge kommen.“

„Nicht?“ rief eine Stimme von außen. „Gehen Sie heraus, während ich hineingehe und Sie finden einen Weg offen.“

Da sie die Stimme des Sprechers nicht erkannte, zögerte sie; doch da das Tor sich eben bewegte, presste sie gegen dasselbe und stand im nächsten Augenblicke dem Eintretenden gegenüber.

„Ah, Sie sind es“, murmelte der, sie durchdringend anschauend.

„Ich kenne Sie nicht!“ entgegnete sie naserümpfend und schlüpfte aus dem Tore, ehe er Zeit zum Erwidern fand. Er schnalzte mit den Fingern der rechten Hand und winkte lächelnd Abel zu, der erstaunt diesem Zwiegespräch zugehört hatte.

„Schmiegsam, wie ’ne Weide, he?“ sagte der Angekommene.

„Nun, ich habe schon oft Pfeifen aus Weiden geschnitten und - wie kommst Du zu dem?“, brach er plötzlich ab und deutete auf eine seltene Blume, die halb welk aus Abels Knopfloch hing.

„Das? Oh, ich hab sie im Haus gefunden; sie lag auf dem Boden, fast unter Batsys Röcken. Merkwürdige Blume, was? Wunder, woher sie sie hatte.“

Der Andere ward sofort äußerst erregt. Seine grünen Augen leuchteten sonderbar.

„War das, ehe die junge Hexe, die Du eben hinausgelassen hast, ins Haus kam?“ fragte er. „Oh ja, ehe überhaupt Jemand auf den Hügel kam. Was sol die junge Dame mit einer Blume zu tun haben, die Batsy Falllen ließ?“

„Sie? Nichts. Nur möchte ich Dir raten - und Du weißt, ich habe Dir noch immer gut geraten - nimm das Ding aus Deinem Knopfloch. Stecke die Blume in ein Kuvert und bewahre sie gut auf und wenn sie Dir nicht eines Tages abverlangt wird, um eine wichtige Role zu spielen, dann darfst Du mich einen Esel heißen und vergessen, dass wir Spielkameraden gewesen sind.“

Abel lächelte, nahm aber die Blume aus dem Knopfloch und schickte sich an, das Gras zu bedecken, wie Dr. Talbot ihm aufgetragen hatte.

Der Andere stelte sich ans Tor, dem der Untersuchungsrichter und Mr. Sutherland sich eben näherten und machte Miene, sie anzureden.

Es war der Musiker Sweetwater, den wir Mr. Sutherlands Haus betreten sahen, als der letzte der Diener es verlassen hatte.

„Dr. Talbot“, redete er den Untersuchungsrichter an, der nun vor ihm stand.

„Sie haben oft versprochen, mir zu erlauben, meine Fähigkeit als Detektiv zu beweisen, sobald sich einmal Gelegenheit hierzu böte. Denken Sie nicht, dass die Zeit hierzu nunmehr gekommen ist?“

„Ah, Sweetwater! Ich glaube, der Fall ist zu verwickelt für den ersten Versuch eines unerfahrenen Mannes. Ich muss jedenFalls einen Experten von Boston kommen lassen. Ein anderes Mal, Sweetwater, wenn die Komplikationen nicht so ernster Natur sind.“

Der junge Mann erblasste und wandte sich zum Gehen. „Darf ich wenigstens hier herum bleiben?“ fragte er, mit bittender Gebärde. „Gewiss. Fenton findet schon Arbeit - und für sechs andere“, setzte er hinzu. „Gehen Sie ins Haus und sagen Sie ihm, ich hätte Sie geschickt.“

„Besten Dank“, rief Sweetwater und sein betrübtes Gesicht klärte sich auf. „Jetzt werde ich zuerst ausfindig machen, wie die Blume ins Haus gekommen ist“, murmelte er.

06. „Frühstück ist serviert, meine Herren!“

Mr. Sutherland kehrte nach Hause zurück. Als er die weite Vorhale betrat, stand er vor seinem Sohne Frederick.

„Vater“, stammelte der junge Mann „kann ich einige Worte mit Dir sprechen?“

Mr. Sutherland, überrascht über seines Sohnes Erregtheit, nickte zustimmend und folgte dem Vorangehenden in ein kleines Zimmer, das noch den Blumenschmuck der gestrigen Festlichkeit trug.

„Ich wil Abbitte leisten“, begann Frederick, „oder vielmehr, ich wil Deine Verzeihung erbitten. Seit Jahren handelte ich Deinen Wünschen entgegen, verursachte der Mutter Herzeleid und Dir solchen Gram, dass Du oft wünschtest, ich wäre nie geboren.“

Er hatte das Wort „Mutter“ merkwürdig betont und sprach in der Tat aus innerstem Herzen.

Mr. Sutherland hörte ihm erstaunt zu. Sprach dies der Junge, an dem er längst verzweifelt war?

„Ich“, fuhr Frederick fort „ich wil mich ändern. Ich wil versuchen, Dir so viel Ehre zu machen, als ich Dir Schande gebracht. Es mag im Anfang vieleicht nicht Alles so leicht gehen, doch ich wil meine ganze Kraft daran setzen und wenn Du mir Deine Hand reichen wilst -.“

Im Augenblick hatte der alte Mann seine Arme um den jungen geschlungen.

„Frederick“, rief er unter Tränen, „mein Frederick!“

„Beschäme mich nicht zu sehr“, murmelte dieser, totenblass und wunderbar gefasst. „Es gibt keine Entschuldigung für meine Vergangenheit und ich bange um meine Zukunft - dass mir die Kraft vieleicht fehlt, meine guten Vorsätze auszuführen. Doch das Bewusstsein, dass Du diese Vorsätze kennst und Deine ungeteilte Liebe solen genügen, mich stark zu erhalten und ich müsste in der Tat die elendeste Kreatur sein, würde ich Dich zum zweiten Male enttäuschen.“

Er hielt inne, entwand sich seines Vaters Armen und, aus dem Fenster gegen Himmel schauend, fuhr er fort:

„Ich schwöre, dass ich mich künftig so betragen werde, als sei sie noch am Leben und würde über mich wachen!“

Mr. Sutherland schaute ihn erstaunt an. Er hatte Frederick schon in jeder Stimmung gesehen, aber noch nie so ernst, so gefasst und so entschlossen.

„Ja“, fuhr der junge Mann fort, unverwandt die Augen in die Ferne gerichtet, „ich schwöre, dass ich künftig nichts tun werde, das ihr Andenken entehren könnte! Mein Denken und mein Handeln solen so sein, als ob ihre Augen mich noch sehen, als ob sie noch Schmerz empfinden könne über mein Fehlen und Freude über meine Erfolge.“ Ein Bild Mrs. Sutherlands, gemalt, als Frederick kaum zehn Jahre alt war, hing nicht weit von dem Sprechenden. Er schaute nicht dahin, aber Mr. Sutherland schaute hin, mit einem Blicke, als ob er sonnige Strahlen aus den Augen scheinen zu sehen erwartete.

„Sie hat Dich sehr lieb gehabt“, sagte er dann langsam und ernst. „Wir beide hatten Dich lieber, als Du je geahnt, Frederick.“

„Ich glaube es“, entgegnete dieser, den Augen des Vaters begegnend.

„Und um Dir zu zeigen, dass ich künftig Deinen Worten folgen wil, habe ich beschlossen, Dir zu Liebe meinem innigsten Herzenswunsch zu entsagen. Vater -.“, er zögerte, doch nur einen Augenblick; dann fuhr er mit fester Stimme fort, „ich glaube bemerkt zu haben, dass es Dir nicht angenehm wäre, Miss Page als Tochter zu sehen -.“

„Ob ich wünsche, dass die Nichte meiner Haushälterin den Platz in diesem Hause einnehme werde, den einst Marietta Sutherland inne hatte? Frederick, ich hatte zu hohe Meinung von Dir, um zu glauben, dass Du dich soweit vergessenwürdest, selbst als ich sah, dass Du dich von ihren Reizen beeinflussen ließest.“

„Du hattest mich zu hoch eingeschätzt, Vater. Es war in der Tat meine Absicht, sie zu heiraten! Ich habe es indes aufgegeben, für mich allein zu leben und sie könnte mir nie helfen, für Andere zu leben! Vater, Amabel Page darf nicht in diesem Hause bleiben, sol Friede zwischen Dir und mir sein!“

„Ich gab ihr bereits zu verstehen, dass ihre Anwesenheit in diesem Hause nicht länger mehr wünschenswert ist“, entgegnete der alte Mann. „Sie fährt zehn Uhr fünfundvierzig. Ihr Betragen heute Morgen in Mrs. Webbs Hause - die, wie Du vieleicht noch nicht weißt, in der letzten Nacht schmählich ermordet wurde - war derart, dass es zu unliebsamen Bemerkungen Anlass gab und ihr Verbleiben in einer guten Familie unmöglich machte.“

Frederick erblasste. Etwas in den Worten seines Vaters hatte ihn tief erschüttert. Mr. Sutherland glaubte, dass es der Tod der edlen Frau wäre, doch schon aus den ersten Worten seines Sohnes merkte er, dass dessen Gedanken bei Amabel waren, die er unmöglich mit einem Verbrechen in Verbindung bringen konnte.

„Sie war in Mrs. Webbs Hause? Wie ist das möglich? Wer würde eine junge Dame dahin mitnehmen?“

„Sie ging allein, Niemand nahm sie mit. Kein Mensch - ich selbst vermochte sie nicht zurückzuhalten, nachdem sie gehört, dass ein Mord begangen worden war. Sie drang sogar ins Haus! Als sie aus dem Totenzimmer gewiesen wurde, ging sie in den Garten und blieb dort solange stehen, bis sie Gelegenheit hatte, uns eine Blutspur zu zeigen, die uns sonst sicher entgangen wäre.“

„Unmöglich!“ Frederick blickte seinen Vater an, als ob Erstaunen oder Schreck ihn starr gemacht hätte.

„Amabel hätte das getan? Entweder Du scherzest oder ich träume - was Gott geben möge -!“

Der Vater, der solch tiefes Gefühl in seinem Sohne nie vermutet hätte, schaute ihn erstaunt an. Doch sofort ging dies Erstaunen in Schreck über, als es ihn wanken und gegen die Wand Falllen sah.

„Du bist krank, Frederick, Du bist wirklich krank. Lass mich Mrs. Harcourt rufen. Aber nein, die kann ich nicht rufen, sie ist ja die Tante des Mädchens.“

Frederick richtete sich gewaltsam auf.

„Rufe Niemanden, bitte“, sagte er.

„Es wird mich noch manchen Schmerz kosten, sie aus meinem Herzen zu reißen - doch ich werde zuletzt siegen - ich wil siegen! Was ihr Interesse an Mrs. Webbs Tod betrifft“, wie leise er sprach und wie seine Stimme zitterte, „so mögen die Beiden besser befreundet gewesen sein, als wir wissen; eine andere Erklärung für ihr Betragen kann ich nicht finden. Bewunderung für Mrs. Webb und der Schrecken -.“

„Frühstück ist serviert, meine Herren!“ rief eine durchdringende Stimme hinter ihnen.

Amabel Page stand lächelnd unter der Türe.

07. „Heirate mich!“

„Ich möchte einen Augenblick mit Dir sprechen!“

Amabel hielt Frederick am Arm fest, als er eben im Begriffe war, seinem Vater zu folgen, der das Zimmer bereits verlassen hatte.

„Ich fahre heute nach Springfield“, fuhr sie fort, ihn ins Zimmer ziehend und die Türe langsam schließend.

„Es wohnt dort eine Tante von mir, im Arlington House. Wann werde ich das Vergnügen haben, Dich dort begrüßen zu können?“

„Nie!“ Es lag ebenso viel Bedauern als Festigkeit in seiner Stimme.

„So schwer es mir ankommt, Amabel, muss ich Dir doch sagen, dass wir, nach Deinem Weggange von hier, uns Fremde sein müssen. Freundschaft zwischen uns wäre Heuchelei und eine engere Verbindung ist nunmehr eine Unmöglichkeit“

Es kostete ihn große Überwindung, ihr das zu sagen und er erwartete - ich muss sagen, hoffte aus tiefstem Herzen - sie erbleichen zu sehen, vieleicht gar zusammenbrechen.

Doch sie schaute ihm einen Augenblick fest in die Augen, schob dann ihre kleine zarte Hand in seinen Arm, bis sie seine Hand erreichte, drückte diese liebend fest und zog ihn tiefer ins Zimmer.

Er war machtlos. Sie hatte nie so schön, so faszinierend ausgesehen. Statt niedergedrückt zu sein, vernichtet, lächelte sie ihm zu, mit einem Lächeln, das gefährlicher war, als Tränen, denn es zeigte Bewunderung und tiefe, leidenschaftliche Liebe.

„Ich küsse Deine Hand, wie die Spanier sagen.“

Dabei beugte sie sich nieder, gerade tief genug, um ihn zwei neckische Grübchen und einen weißen Nacken sehen zu lassen.

Er wusste nicht, was er aus ihrem Benehmen machen sollte.

Er glaubte, al ihre Launen zu kennen und stand nun überrascht vor diesem Rätsel von Weiblichkeit.

„Ich würdige die Ehre“, entgegnete er, „ohne zu wissen, durch was ich sie verdient habe.“

Sie schaute ihn immer noch mit demselben Ausdruck von Bewunderung an.

„Ich dachte nicht, dass ich Dir so gut sein könnte“, sagte sie. „Wenn Du Dich nicht vorsiehst, werde ich Dich eines Tages wirklich lieb haben!“ „Ah!“ rief er und seine Züge zogen sich schmerzhaft zusammen, „demnach ist Deine Liebe nur eine Möglichkeit. Sehr gut, Amabel, lasse sie so bleiben; das wird Dir manchen Schmerz ersparen. Ich, der ich nicht so klug war, wie Du -.“

„Frederick!“ Sie war ihm so nahe gekommen, dass er nicht die Kraft hatte, den Satz zu beenden.

Sie wandte ihm ihr glühendes Gesicht zu, ihre großen, sprechenden Augen und sagte langsam, Wort für Wort:

„Frederick - hast Du mich wirklich so lieb?“

Er war ärgerlich - vieleicht weil er seine Vorsätze wanken fühlte.

„Du weißt es!“ schrie er und trat zurück.

Dann, mit plötzlich ausbrechender Leidenschaft, fast bittend, fuhr er fort:

„Führe mich nicht in Versuchung, Amabel! Ich habe genug zu leiden, auch ohne das ich meinem erst gefassten Grundsatz untreu werde!“

„Ah!“ rief sie, ihn mit allen Künsten der Koketterie an sich lockend, „Deine Gefühle haben sich bereits in einen Grundsatz verwandelt? Ich bin so vieler Liebe gar nicht wert, Frederick.“

Er verstand sie weniger denn je. Er fühlte nur, dass, gegenüber so viel Reizen, er nicht Stand zu halten vermochte und wandte sich ab.

Sie sah diese Bewegung, wusste, dass sie gesiegt hatte und stieß ein kurzes Lachen aus, ein Lachen, faszinierend, wie ein stürzender Bach, wie Falllende Perlen. „Du kommst nach Springfield“, sagte sie dann, bei Seite gehend, um ihn zur Türe gehen zu lassen, „und recht bald!“

„Amabel“, zischte er, mit heiserer Stimme, „sag mir das Eine: Liebst Du mich?“

Seine Hände öffneten und schlossen sich nervös.

„Du hast es mir oft gesagt, doch stets im Spaß, im Spott. Nun sagtest Du, Du könntest mich eines Tages lieben - und diesmal schien es Dir ernst gewesen zu sein! Wo liegt die Wahrheit? Sag mir es ohne Ausflüchte, ohne Koketterie, denn es ist mir -.“

Er verstummte. Ein unverständliches Gurgeln - ein konvulsivisches Zucken al seiner Gesichtsmuskeln - er stand dem Fenster gegenüber, durch das er vor wenigen Minuten geschaut hatte, als er einen heiligen, feierlichen Eid geschworen hatte!

„Nein, nein!“ fuhr er auf, „sage nichts! Wenn Du auch schwörst, Du liebst mich nicht - ich glaube es nicht! Und sagtest Du, Du liebst mich, dann wäre es umso schlimmer, denn ich sage Dir wieder, es muss aus zwischen uns sein, alles aus!

Ein heiliges Versprechen, das ich meinem -.“

„Nun? Warum volendest Du nicht? Wird es Dir so schwer, mit mir zu sprechen, dass Du keine Worte findest?“

„Ich habe meinem Vater versprochen. Dich nie zu heiraten. Er hat Gründe dies zu wünschen und da ich ihm Alles danke -.“

Er stockte. Sie schaute ihn durchdringend an, immer noch das spöttische Lächeln auf den Lippen. „Sprich die Wahrheit“, flüsterte sie. „Ich weiß ja, wie weit Du Deines Vaters Wünsche berücksichtigst! Du glaubst, nachdem, was in letzter Nacht geschah, dürftest Du mich nicht heiraten. Frederick, ich liebe Dich dieser rücksichtsvolen Schonung halber. Doch dies sol Dein Gewissen nicht drücken. Ich vergebe Dir viel mehr, als Du ahnst und wenn Du mich wirklich lieb hast -.“

„Halt ein! Dass wir uns auch recht verstehen!“

Er war totenbleich geworden und schaute sie vol Angst an.

„Was sol diese Anspielung auf letzte Nacht? Ich erinnere mich nicht, dass in unserem Gespräch -.“

„Ich meinte nicht unser Gespräch.“

„Oder bei den Tänzen -.“

„Frederick, ein Tanz ist ein unschuldiges Vergnügen.“

„Unschuldig!?“, wiederholte er und ward noch bleicher, als er die Bedeutung ihrer Worte verstand, „unschuldig?“

„Ich schlich Dir nach, als Du in die Stadt gingst“, flüsterte sie, näher kommend und ihm ins Ohr zischend; „doch was ich dort sah, sol mich nicht daran hindern, Dir zu folgen, wenn Du sagst: komm mit mir, Amabel, von nun an sol unser Leben eins sein!“

„Mein Gott!“

Das war Alles, was er sagen konnte. Doch diese beiden Worte brachten eine weite Kluft zwischen ihm und ihr.