Schauerliteratur, 4. Band - Verschiedene Autoren - E-Book

Schauerliteratur, 4. Band E-Book

Autoren Verschiedene

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Beschreibung

Die Schauerliteratur (englisch gothic fiction) bzw. der Schauerroman (englisch gothic novel) ist ein literarisches Genre der Phantastik, das Mitte des 18. Jahrhunderts in England entstand und seine Blüte am Anfang des 19. Jahrhunderts erlebte. In der Gestalt des Schauerromans wurde in der englischen Literatur am Ende des 18. Jahrhunderts das von der Rationalität der Aufklärung verdrängte Übernatürliche und Unkonventionelle wieder aufgenommen. Dabei wurde der Schrecken zur bewusst geschaffenen ästhetischen Ware, die sich gut verkaufen ließ. Die Erstellung erfolgte vor allem nach Regeln, die sich an Burkes Theorie des Erhabenen und literarischen Modellen wie dem jakobäischen Drama oder der mittelalterlichen Romanze orientierten. Wir lesen Carmilla von Joseph Sheridan Le Fanu und Eine dunkle Tat von Levin Schücking.

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Verschiedene Autoren

Schauerliteratur

4. Band

Schauerliteratur

4. Band

Verschiedene Autoren

Impressum

Texte: © Copyright by Verschiedene Autoren

Umschlag:© Copyright by Walter Brendel

Verlag:Das historische Buch, 2023

Mail: [email protected]

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Carmilla

Eine dunkle Tat

Carmilla

von Joseph Sheridan Le Fanu

Prolog

Auf ein Blatt Papier, welches dem folgenden Bericht beigegeben war, hat Dr. Hesselius eine ziemlich ausführliche Anmerkung geschrieben und ihr einen Hinweis auf seine Abhandlung über das merkwürdige Problem, das im Manuskript beleuchtet wird, hinzugefügt.

In der erwähnten Schrift behandelt er jenes geheimnisvolle Thema mit der ihm eigenen Gelehrsamkeit und Geistesschärfe, und zudem bemerkenswert unumwunden und präzis. Die Abhandlung wird übrigens nur einen Band der gesammelten Werke dieses außergewöhnlichen Mannes ausmachen.

Wenn ich, allein um das Interesse der "Laien" zu wecken, den betreffenden Fall hier veröffentliche, so will ich der klugen Berichterstatterin in nichts vorgreifen. Aus dem gleichen Grunde habe ich mich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, von einer Zusammenfassung der Argumente des gelehrten Doktors abzusehen und auch keinen Auszug aus seiner Stellungnahme zu einem Thema beizufügen, das, wie er schreibt, "auf nicht unwahrscheinliche Weise an einige der tiefsten Geheimnisse der beiden Bereiche unserer Existenz und der dazwischenliegenden Stufen rührt".

Als ich die folgenden Aufzeichnungen entdeckte, war ich begierig, den Briefwechsel fortzusetzen, den Dr. Hesselius vor vielen Jahren mit einer so gescheiten und umsichtigen Person, wie seine Informantin es gewesen sein muß, begonnen hatte. Aber zu meinem großen Bedauern erfuhr ich, daß sie inzwischen verstorben ist.

Wahrscheinlich hätte aber auch sie dem Bericht wenig hinzufügen können, den sie ‐ soweit ich beurteilen kann, mit größter Gewissenhaftigkeit ‐ auf den folgenden Seiten erstattet hat.

I ‐ Frühes Entsetzen

Obwohl wir keineswegs hohe Herrschaften sind, bewohnen wir ein Schloß in der Steiermark. In diesem Teil der Welt reicht ein bescheidenes Einkommen weit. Acht‐ oder neunhundert Pfund jährlich wirken hier Wunder. Zu Hause hätte man uns wohl kaum zu den Begüterten gezählt. (Mein Vater ist Engländer, und ich trage einen englischen Namen, obgleich ich England nie gesehen habe.)

Hier jedoch, in dieser einsamen, primitiven Gegend, könnte man selbst mit unbegrenzten finanziellen Mitteln nicht bequemer, ja luxuriöser leben als wir es tun.

Mein Vater war in österreichischen Diensten. Nach seiner Pensionierung griff er auf sein väterliches Erbteil zurück und erwarb diesen Adelssitz samt dem dazugehörigen kleinen Landgut zu einem äußerst günstigen Preis.

Nichts kann malerischer und einsamer sein als unser Schloß. Es steht mitten im Wald auf einer leichten Anhöhe. Der schmale, ausgetretene Weg führt an der Zugbrücke vorbei, die, so lange ich hier gelebt habe, niemals hochgezogen worden ist, und verläuft entlang dem Burggraben, in dem Karpfen gezüchtet werden und auf dessen Wasserspiegel viele Schwäne zwischen den weißen Flottillen der Wasserlilien ihre Bahn ziehen.

Darüber erhebt sich das Schloß mit seinen vielen Fenstern, seinen Türmen und seiner gotischen Kapelle.

Vom Portal aus blickt man auf eine sehr idyllische Waldlichtung. Rechter Hand spannt sich eine steile, gotische Brücke über einen Fluß, der sich in tiefem Schatten durch den Forst windet. Ich habe diesen Ort sehr einsam genannt. Beurteilen Sie selbst, ob ich recht habe. Vom Eingang der Halle aus gesehen, erstreckt sich der Wald, in dem unser Schloß steht, fünfzehn Meilen nach rechts und zwölf nach links. Das nächste bewohnte Dorf liegt ungefähr sieben englische Meilen gen Osten, das nächste bewohnte Schloß von historischem Interesse ist das des alten Generals Spielsdorf, das in entgegengesetzter Richtung fast zwanzig Meilen entfernt liegt.

Ich habe absichtlich vom nächsten bewohnten Dorf gesprochen, denn nur drei Meilen westlich, also in derselben Richtung wie General Spielsdorf Schloß, steht ein verfallenes Dorf mit einer kleinen altertümlichen Kirche, die kein Dach mehr hat und in deren Seitenschiff die Gräber der stolzen Karnsteins zerbröckeln, einer ausgestorbenen Familie, einst Eigentümer des heute ebenfalls verödeten Schlosses, das, von dichtem Wald umgeben, die stummen Ruinen des Dorfes überragt.

Eine Erklärung dafür, warum dieser eindrucksvolle, melancholisch stimmende Ort von seinen Bewohnern verlassen wurde, findet sich in einer alten Geschichte, die ich Ihnen später erzählen werde.

Jetzt muß ich Sie mit dem sehr kleinen Kreis von Menschen bekanntmachen, der in unserem Schloß lebt. Ich nehme die Dienerschaft und die in den anliegenden Gebäuden wohnenden Angestellten aus.

Hören und staunen Sie! Da ist mein Vater, der gütigste Mensch auf der Welt, aber ein alternder

Mann, und da bin ich. Zu der Zeit, von der ich berichten will, war ich erst neunzehn. Seitdem sind acht Jahre vergangen. Wir beide waren die einzigen Familienmitglieder. Meine Mutter, eine Steiermärkerin, starb, als ich noch ganz klein war, doch ich hatte eine gutmütige Gouvernante, die mich seit meiner frühen Kindheit betreute. Ihr dickliches, wohlwollendes Gesicht war mir von jeher vertraut: Madame Perrodon, aus Bern gebürtig, ersetzte mir mit ihrer Fürsorglichkeit und ihrem guten Herzen wenigstens zum Teil die Liebe meiner Mutter, die ich zu früh verloren hatte, um mich ihrer erinnern zu können. Madame also war die Dritte in unserer kleinen Tischrunde. Und die Vierte war Mademoiselle De Lafontaine, die sie vermutlich als Hauslehrerin bezeichnen würden. Sie sprach Französisch und Deutsch, Madame Perrodon Französisch und gebrochen Englisch, während mein Vater und ich, teils um das Englische nicht ganz und gar zu vergessen, teils aber auch aus patriotischen Gründen, uns täglich in dieser Sprache unterhielten. Die Folge war eine babylonische Sprachverwirrung, über die fremde Besucher sich amüsierten und die ich in diesem Bericht nicht wiedergeben will. Hier und da waren zwei oder drei uns befreundete junge Damen, etwa in meinem Alter, bei uns zu Gast, und gelegentlich erwiderte ich ihren Besuch.

Das also war mein täglicher Umgang. Aber natürlich sprachen bisweilen auch Nachbarn bei uns vor, die fünfzehn bis zwanzig Meilen entfernt wohnten. Trotzdem, das können Sie mir glauben, war mein Leben recht einsam. Meine Gouvernanten hatten mich nur so weit in der Hand, wie es eben möglich ist, wenn ehrwürdige Damen es mit einem ziemlich verzogenen jungen Mädchen zu tun haben, dessen Vater ihm fast immer seinen Willen läßt.

Das erste Ereignis meines Lebens, das mir einen furchtbaren Schrecken einjagte und mir nie mehr aus dem Gedächtnis geschwunden ist, zählt zu den frühesten Vorfällen, deren ich mich überhaupt entsinnen kann. Manch einem mag es zu unbedeutend erscheinen, um in diesen Bericht aufgenommen zu werden; doch Sie werden allmählich verstehen, warum ich es erwähne. Das Kinderzimmer, das so genannt wurde, obwohl ich es allein bewohnte, war ein großer Raum im oberen Stockwerk des Schlosses, unmittelbar unter dem steilen eichenen Dachgebälk. Ich war kaum älter als sechs Jahre, als ich eines Nachts aufwachte, mich vom Bett aus im Zimmer umsah, weder die Kinderfrau noch das ihr zugeteilte Hausmädchen entdeckte und glaubte, ich sei allein. Ich fürchtete mich nicht, denn ich war eines jener glücklichen Kinder, denen man absichtlich keine Geistergeschichten, Märchen oder Sagen erzählt, und die daher den Kopf nicht unter die Bettdecke stecken, wenn plötzlich die Tür knarrt oder im Flackern einer niedergebrannten Kerze der Schatten des Bettpfostens an der Wand tanzt; ganz nahe am Kopfkissen. Aber ich war ärgerlich und beleidigt, denn ich fühlte mich vernachlässigt; ich begann zu wimmern und war nahe daran, in heftiges Geschrei auszubrechen. Da erblickte ich zu meiner Überraschung ein ernstes, aber sehr liebreizendes Gesicht, das mich vom Rand des Bettes her ansah. Es war das Gesicht einer jungen Dame, die neben mir kniete und die Hände unter die Bettdecke geschoben hatte. Ich betrachtete sie mit fast freudigem Staunen und hörte auf zu schluchzen. Sie streichelte mich zärtlich, legte sich neben mich aufs Bett und zog mich lächelnd an sich. Sofort fühlte ich mich wunderbar beruhigt und schlief wieder ein. Doch plötzlich schreckte ich hoch: mir war, als seien zwei Nadeln tief in meine Brust gedrungen. Ich stieß einen lauten Schrei aus. Die Dame richtete sich rasch auf, starrte mich an, ließ sich zu Boden gleiten und schlüpfte, wie mir schien, unters Bett.

Jetzt erst packte mich die Angst, und ich schrie so laut ich konnte. Kinderfrau, Mädchen, Haushälterin ‐ alle stürzten ins Zimmer, hörten sich meine Geschichte an, versuchten, sie mir auszureden und mich zu beruhigen. Aber ich bemerkte, wenngleich ich noch ein Kind war, daß ihre Gesichter blaß wurden und einen seltsam ängstlichen Ausdruck annahmen, und ich sah, wie sie unters Bett schauten, sich im Zimmer umblickten, unter die Tische lugten und die Schränke öffneten. Ich hörte, wie die Haushälterin der Kinderfrau zuflüsterte: "Spüren Sie diese Vertiefung im Bett? Hier hat jemand gelegen, so wahr mir Gott helfe! Die Stelle ist noch warm." Ich weiß noch, wie das Hausmädchen mich streichelte, wie alle drei meinen Oberkörper besahen, dort, wo ich die Stiche gespürt hatte, und dann erklärten, es sei nicht das Geringste zu entdecken.

Die Haushälterin und die beiden fürs Kinderzimmer verantwortlichen Mädchen wachten bis zum Morgen bei mir. Und von jenem Tag bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr verbrachte stets eine Bedienstete die Nacht in meinem Zimmer.

Nach diesem Vorfall war ich lange Zeit sehr nervös. Man holte einen Arzt, einen blassen ältlichen Mann. Wie gut ich mich an sein langes, melancholisches, leicht pockennarbiges Gesicht erinnern kann! Eine Zeitlang erschien er jeden zweiten Tag und gab mir eine Medizin ein, die ich natürlich verabscheute.

Am Morgen nach der nächtlichen Erscheinung hatte mich das Entsetzen so gepackt, daß ich es nicht ertrug, auch nur einen Augenblick alleingelassen zu werden ‐ obwohl doch heller Tag war. Ich entsinne mich, daß mein Vater heraufkam, munter plaudernd an meinem Bett stand, ein paar Fragen an die Kinderfrau richtete, über eine ihrer Antworten herzlich lachte, meine Schulter tätschelte, mich küßte und mir zuredete, keine Angst zu haben ‐ es sei alles nur ein Traum gewesen, der mir nichts anhaben könne.

Ich aber empfand keinen Trost, denn ich wußte, daß der Besuch der fremden Dame kein Traum gewesen war. Ich hatte furchtbare Angst.

Es half auch nicht viel, daß das Hausmädchen mir versicherte, es habe in der Nacht nach mir gesehen und sich zu mir aufs Bett gelegt. Offenbar hätte ich im Halbschlaf ihr Gesicht nicht erkannt. Obwohl die Kinderfrau das alles bestätigte, gab ich mich mit dieser Erklärung nicht zufrieden.

Ich weiß noch, daß am selben Tag ein ehrwürdiger alter Mann in schwarzer Soutane von der Kinderfrau und dem Mädchen ins Zimmer geführt wurde, sich kurz mit beiden unterhielt und sich dann freundlich an mich wandte. Er hatte ein mildes, gütiges Gesicht. Er sagte, er wolle jetzt mit uns beten, ergriff meine Hände, legte sie zusammen und bat mich, leise vor mich hin zu sagen: "O Herr, erhöre alle, die für uns bitten, um Jesu willen." Ich glaube, das waren genau die Worte, denn ich habe sie in Gedanken oft wiederholt, und meine Kinderfrau achtete jahrelang darauf, daß ich sie meinen Gebeten zufügte.

Ich kann mich lebhaft an das nachdenkliche, milde Gesicht jenes weißhaarigen alten Mannes erinnern, der in seiner schwarzen Soutane in dem strengen, hohen, braunen Raum mit dem schwerfälligen Mobiliar im Stil der Zeit vor dreihundert Jahren stand, einem Raum, dessen Düsterkeit nur spärlich von dem durch das kleine vergitterte Fenster dringenden Licht erhellt wurde. Er und die drei Frauen lagen auf den Knien, und er betete ‐ sehr lange, wie mir schien ‐ mit ernster, bebender Stimme. Alles, was ich vor diesem Tag erlebt hatte, habe ich vergessen, und auch, was in der darauffolgenden Zeit geschah, ist versunken. Die Szenen aber, die ich gerade geschildert habe, sehe ich klar und deutlich vor mir, wie die unzusammenhängenden Bilder einer aus dem Dunkel aufsteigenden Phantasmagorie.

II ‐ Ein Gast

Was ich Ihnen jetzt berichten werde, ist so seltsam, daß Sie es nur glauben werden, wenn Sie meiner Wahrhaftigkeit voll vertrauen. Meine Geschichte ist wahr, mehr noch, ich habe sie selbst erlebt.

Es war ein milder Sommerabend, und mein Vater forderte mich wieder einmal zu einem Spaziergang in der herrlichen Waldlichtung auf, die, wie ich bereits erwähnt habe, direkt vor dem Schloßtor beginnt.

"General Spielsdorf kann nun doch nicht so bald zu uns kommen, wie ich gehofft hatte", sagte mein Vater, während wir dahinschritten.

Der General hatte geplant, uns für einige Wochen zu besuchen, und wir hatten ihn bereits am folgenden Tag erwartet. Er wollte eine junge Dame mitbringen, Fräulein Rheinfeldt, seine Nichte und zugleich sein Mündel. Ich kannte sie nicht, hatte aber gehört, sie sei ein reizendes Mädchen, und hatte mich auf viele schöne Tage in ihrer Gesellschaft gefreut. Ich war tiefer enttäuscht, als eine in der Stadt oder in einer belebten ländlichen Gegend wohnende junge Dame sich vorstellen kann. Seit vielen Wochen hatte ich mir diesen Besuch und die neue Bekanntschaft in meinen Tagträumen ausgemalt.

"Wann wird er denn kommen?" fragte ich.

"Nicht vor dem Herbst. In zwei Monaten wahrscheinlich", erwiderte mein Vater. "Und ich bin jetzt sehr froh, daß du Fräulein Rheinfeldt nie kennengelernt hast."

"Warum?" fragte ich betroffen und neugierig zugleich.

"Weil die arme junge Dame tot ist. Ich vergaß beinahe, daß ich es dir noch nicht erzählt habe, aber du warst nicht im Zimmer, als ich heute abend den Brief des Generals erhielt."

Ich war entsetzt. General Spielsdorf hatte in seinem ersten Brief, vor sechs oder sieben Wochen, zwar erwähnt, daß sie sich nicht wohlfühle, aber nichts hatte auf die geringste Gefahr gedeutet.

"Hier ist der Brief des Generals", sagte mein Vater und gab mir das Schreiben. "Ich fürchte, er ist völlig verstört. Er muß den Brief in großer Verwirrung geschrieben haben."

Wir ließen uns unter herrlichen Linden auf einer klobigen Bank nieder. Am bewaldeten Horizont sahen wir die Sonne in melancholischer Pracht sinken, und im Fluß, der am Schloß vorbeifließt, von der bereits erwähnten alten, steilen Brücke überspannt wird und sich dann, fast zu unseren Füßen, zwischen zahlreichen prächtigen Baumgruppen hindurchschlängelt, spiegelte sich der verblassende Purpur des Abendhimmels. General Spielsdorfs Brief war so außergewöhnlich, so heftig und stellenweise so widerspruchsvoll, daß ich ihn zweimal las ‐ das zweite Mal laut ‐, ihn aber auch dann noch unerklärlich fand, es sei denn, man unterstellte, daß der Kummer den Geist des Generals verwirrt hatte.

"Ich habe", so begann er, "meine geliebte Tochter verloren, denn als meine Tochter habe ich sie betrachtet. Während der letzten Krankheitstage meiner lieben Bertha war ich nicht fähig, Ihnen zu schreiben. Vorher hatte ich keine Ahnung, in welcher Gefahr sie schwebte. Ich habe sie verloren, und jetzt sollen Sie alles erfahren ‐ zu spät! Sie starb in dem Frieden, den die Unschuld gewährt, und in der wunderbaren Hoffnung auf eine gesegnete Zukunft. Der Unhold, der unsere liebevolle Gastfreundschaft mißbraucht hat, ist an allem schuld. Ich glaubte, mein Haus der Unschuld und Heiterkeit geöffnet und meiner dahingegangenen Bertha zu einer reizenden Gefährtin verholfen zu haben. Himmel! Was für ein Narr bin ich gewesen! Ich danke Gott, daß meine Tochter starb, ohne die

Ursache ihrer Leiden zu kennen. Sie verschied, ohne zu ahnen, welcher Art ihre Krankheit war, ohne um die verfluchte Leidenschaft jenes Wesens zu wissen, das für unser ganzes Elend verantwortlich ist. Ich werde den Rest meines Lebens damit verbringen, ein Ungeheuer aufzuspüren und zu vernichten. Ich habe erfahren, daß mein gerechtes und barmherziges Unterfangen nicht aussichtslos ist. Gegenwärtig jedoch ist kaum ein Lichtstrahl zu entdecken, der mir den rechten Weg weisen könnte. Ich verfluche meine überhebliche Ungläubigkeit, mein verabscheuungswürdig überlegenes Gehabe, meine Blindheit, meine Verbohrtheit ‐ alles ‐ zu spät. Ich kann jetzt weder vernünftig schreiben noch klar denken. Ich bin verwirrt. Sobald ich mich etwas erholt habe, werde ich Nachforschungen anstellen, die mich möglicherweise bis nach Wien führen werden. Irgendwann im Herbst, in zwei Monaten, oder, falls ich dann noch lebe, auch früher, werde ich sie aufsuchen ‐ vorausgesetzt, daß es Ihnen genehm ist. Dann werde ich Ihnen alles erzählen, was ich jetzt nicht dem Papier anzuvertrauen wage. Leben Sie wohl. Beten Sie für mich, lieber Freund."

Mit diesen Worten schloß das seltsame Schreiben. Obwohl ich Bertha Rheinfeldt nie begegnet war, trieb mir die unerwartete Nachricht die Tränen in die Augen. Ich war bestürzt und gleichzeitig zutiefst enttäuscht.

Die Sonne war untergegangen, und Dämmerlicht umgab uns, als ich meinem Vater den Brief des Generals zurückgab.

Es war ein milder, klarer Abend. Wir gingen langsam nach Hause, über die Bedeutung der wilden, unzusammenhängenden Sätze nachsinnend, die ich soeben gelesen hatte. Wir mußten eine Meile zurücklegen, bis wir den Weg vor dem Schloß erreichten. Inzwischen glänzte der Mond am Himmel.

An der Zugbrücke sahen wir Madame Perrodon und Mademoiselle De Lafontaine stehen, die ohne Kopfbedeckung ins Freie gekommen waren, um den herrlichen Mondschein zu genießen.

Während wir uns der Zugbrücke näherten, hörten wir die beiden angeregt plaudern. Wir gesellten uns zu ihnen und bewunderten gemeinsam das schöne Panorama.

Die Lichtung, die wir gerade durchquert hatten, lag vor uns. Zu unserer Linken wand sich der schmale Weg zwischen einzelnen majestätischen Baumgruppen hindurch und verlor sich im Waldesdickicht.

Zu unserer Linken führte dieser Weg über die steile, malerische Brücke, in deren Nähe ein verfallener Turm stand, von dem aus früher der Paß bewacht wurde. Und hinter dieser Brücke erhob sich schroff ein bewaldeter Berg mit efeubewachsenen Felsen.

Über die Talwiesen stahlen sich dünne Nebelschwaden und hüllten alles in einen zarten Schleier. Hier und da konnte man den Fluß im Mondlicht schimmern sehen.

Es war ein unvergleichlich friedvoller, beglückender Anblick. Er stimmte mich, da ich noch unter dem Eindruck jenes Briefes stand, zwar recht melancholisch, doch der ruhigen Heiterkeit und dem fast unwirklichen Zauber dieser Szenerie konnte auch ich mich nicht entziehen. Zusammen mit meinem Vater, den das Malerische stets entzückt hat, sah ich schweigend in die nächtliche Landschaft hinaus.

Hinter uns unterhielten sich die beiden Erzieherinnen über das Panorama und ergingen sich in Betrachtungen über den Mond. Madame Perrodon, beleibt, in mittleren Jahren und romantisch veranlagt, gab poetische Ergüsse und Seufzer von sich, Mademoiselle De Lafontaine ‐ die echte Tochter eines Deutschen, der, wie es hieß, in der Psychologie und Metaphysik bewandert und selbst so etwas wie ein Mystiker war ‐ erklärte, daß der Mondschein von solcher Intensität spirituellen Vorgängen bekanntlich ungemein förderlich sei. Die Auswirkungen eines derart gleißenden Vollmondes seien vielfältig. Er beeinflusse Träume ebenso wie mondsüchtige und nervöse Menschen, und stehe in wunderbarem Zusammenhang mit dem Leben auf der Erde. Mademoiselle erzählte, ihr Cousin, Matrose auf einem Handelsschiff, sei in einer Nacht wie dieser auf Deck eingeschlafen, auf dem Rücken liegend, das Gesicht dem Mond zugekehrt, und habe geträumt, eine alte Frau habe sich in seine Wange verkrallt. Als er erwachte, sei sein Gesicht furchtbar verzerrt gewesen, und bis heute habe es sein Ebenmaß nicht ganz zurückgewonnen.

"Der Mond", sagte sie, "hat heute nacht starke odylische und magnetische Kräfte. Sehen Sie nur, wie die Schloßfenster in seinem Silberglanz funkeln und blitzen! Ist es nicht, als hätten unsichtbare Hände die Zimmer für Gäste aus dem Elfenreich erleuchtet?"

Es gibt Augenblicke, in denen wir uns nicht aufraffen können, an einer Unterhaltung teilzunehmen, in denen jedoch die Gespräche anderer unserem trägen Geist wohltun. So sah ich, während ich der angenehm plätschernden Konversation der Damen lauschte, stumm in die Nacht hinaus.

"Ich bin heute abend wieder einmal recht trübsinnig", sagte mein Vater nach langem Schweigen, und dann zitierte er Shakespeare, aus dessen Werken er uns vorzulesen pflegte, damit unser Englisch intakt blieb. "Fürwahr, ich weiß nicht, was mich traurig macht: Ich bin es satt; ihr sagt, das seid ihr auch. Doch wie ich dran kam, wie mir's angeweht ..."

"Wie es weitergeht, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls habe ich das Gefühl, als läge großes Unheil in der Luft. Wahrscheinlich hat der traurige Brief des Generals etwas damit zu tun."

In diesem Augenblick vernahmen wir vom Weg her den ungewohnten Klang von Wagenrädern und Pferdehufen.

Er schien sich von der Anhöhe hinter der Brücke zu nähern, und tatsächlich konnten wir kurz darauf eine Equipage erkennen. Zuerst sprengten zwei Reiter über die Brücke, dann erschien eine von vier Pferden gezogenen Karosse, der wiederum zwei Reiter folgten.

Das Gefährt war offenbar die Reisekutsche einer Persönlichkeit von Rang. Gebannt beobachteten wir das seltene Schauspiel. Wenige Augenblicke später wurde es noch dramatischer: Gerade als die Kutsche den höchsten Punkt der Brücke passiert hatte, scheute eines der Leitpferde, die anderen wurden von Panik ergriffen, schlugen ein paarmal wild aus, das ganze Gespann verfiel in Galopp, raste mit donnernden Hufen an den Vorreitern vorbei und wie ein Wirbelsturm auf uns zu. Aus der Kutsche drangen die gellenden, langgezogenen Schreie einer Frauenstimme und machten die Szene noch erregender.

Von Neugier und Entsetzen gepackt, liefen wir ein Stück vorwärts, mein Vater schweigend, wir anderen schreiend.

Das spannende Schauspiel fand ein jähes Ende. Kurz vor der Zugbrücke steht an der einen Seite des Weges eine herrliche Linde, an der anderen ein altes Steinkreuz. Als die rasenden Pferde dem Kreuz ausweichen wollten, gerieten die Wagenräder auf die knorrig aus dem Erdboden ragenden Wurzeln.

Ich ahnte, was nun geschehen würde. Um es nicht mit ansehen zu müssen, hielt ich mir die Augen zu und wandte mich ab. In diesem Moment hörte ich meine Begleiterinnen, die weitergelaufen waren, aufschreien.

Die Neugier bewog mich hinzusehen. Das Durcheinander war unbeschreiblich. Zwei Pferde waren gestürzt, die Kutsche war umgekippt, zwei Räder ragten in die Luft. Die Männer versuchten, die Pferde auszuschirren. Eine Dame von imposanter Statur und Haltung stand neben dem Gefährt, rang die Hände und führte immer wieder ihr Taschentuch an die Augen. Dann wurde die regungslose Gestalt eines jungen Mädchens aus der Kutsche gehoben. Mein guter alter Vater war bereits an der Seite der älteren Dame, hatte den Hut gezogen und bot ihr offenbar seine Hilfe und Gastfreundschaft an. Sie jedoch schien seine Worte nicht zu hören; sie hatte nur Augen für das schlanke Mädchen, das jetzt an der Uferböschung niedergelegt wurde. Ich ging langsam auf die Gruppe zu. Die junge Dame lebte, schien jedoch einen schweren Schock erlitten zu haben. Mein Vater, der sich für einen halben Arzt hielt, fühlte gerade ihren Puls und versicherte der anderen Dame, die sich als die Mutter des

Mädchens ausgab, er könne ihn spüren, wenn auch schwach und unregelmäßig. Daraufhin faltete sie die Hände und blickte, wie von Dankbarkeit überwältigt, gen Himmel. Aber sofort verfiel sie wieder in jene theatralische Attitüde, die meiner Meinung nach bestimmten Menschen angeboren ist.

Für ihr Alter war sie eine gutaussehende Frau und früher dürfte sie sogar hübsch gewesen sein. Sie war hochgewachsen, aber nicht hager, trug schwarzen Samt, sah ziemlich blaß aus und hatte stolze, herrische Züge, die jetzt allerdings Erregung verrieten.

"War jemals ein Mensch so vom Unglück verfolgt wie ich?" sagte sie und rang die Hände. "Ich befinde mich auf einer Reise, bei der es um Leben und Tod geht. Eine einzige Stunde verlieren heißt vielleicht alles verlieren. Wann meine Tochter wohl gesund genug sein wird, um die Fahrt fortzusetzen, ist ungewiß. Ich muß sie zurücklassen, denn ich kann und darf nicht säumen. Können Sie, mein Herr, mir sagen, wie weit es bis zum nächsten Dorf ist? Ich muß sie dort unterbringen, und dann werde ich meinen Liebling drei Monate lang nicht sehen, ja, nicht einmal von ihm hören."

Ich zupfte meinen Vater am Rock und flüsterte ihm aufgeregt zu: "Papa, frag´ doch, ob wir sie hierbehalten dürfen ‐ es wäre herrlich! Bitte, fragśie doch!"

"Falls Madame ihr Kind der Pflege meiner Tochter und ihrer Gouvernante, Madame Perrodon, anvertrauen und erlauben wollten, daß die junge Dame bis zu Madames Rückkehr Gast unseres Hauses, unter meiner Obhut, ist, würden wir uns geehrt fühlen und ihr die Fürsorge angedeihen lassen, die einem so teuren Schützling zusteht."

"Dem kann ich unmöglich zustimmen, mein Herr, denn das hieße, Ihre Güte und Ritterlichkeit schamlos ausnutzen", erwiderte die Dame verwirrt. "Ganz im Gegenteil! Sie würden uns damit einen großen Gefallen erweisen, und zwar gerade in einem Augenblick, da wir seiner dringend bedürfen. Meine Tochter ist heute bitter enttäuscht worden; ein grausames Mißgeschick hat sie um einen Gast gebracht, auf dessen Besuch sie sich seit langem gefreut hat. Es wird ihr ein großer Trost sein, wenn Sie uns die junge Dame anvertrauen. Das nächste Dorf auf Ihrer Route ist weit entfernt und hat kein Gasthaus, in dem Sie Ihre Tochter einquartieren könnten. Ihr jetzt eine längere Fahrt zuzumuten, wäre gefährlich. Wenn Sie sich wirklich keine Unterbrechung leisten können, müssen Sie sich noch heute Nacht von ihr trennen, und nirgends wird ihr eine liebevollere Pflege zuteil werden als bei uns."

Das Auftreten und die Erscheinung der Dame hatte etwas so Distinguiertes, ja Achtunggebietendes, daß man, selbst wenn man die vornehme Equipage nicht gesehen hätte, sicher gewesen wäre, eine Persönlichkeit von Rang und Namen vor sich zu haben.

Inzwischen stand die Kutsche wieder auf den Rädern, die Pferde hatten sich beruhigt und waren wieder angeschirrt.

Die Dame warf ihrer Tochter einen Blick zu, der mir nicht ganz so liebevoll vorkam, wie es nach dem Vorausgegangenen zu erwarten gewesen wäre. Dann winkte sie meinen Vater zu sich und redete ernst und bestimmt auf ihn ein ‐ ganz anders als zuvor.

Ich war sehr erstaunt, daß mein Vater diese Wandlung nicht zu bemerken schien, aber auch unbeschreiblich neugierig, zu erfahren, was sie ihm so eilig zugeflüstert hatte.

Das Ganze dauerte zwei, höchstens drei Minuten, dann wandte sie sich ab und ging hinüber zu ihrer Tochter, die, von Madame Perrodon gestützt, noch immer auf der Erde lag. Die Dame kniete einen Augenblick bei ihr nieder und flüsterte ihr etwas zu, das Madame für einen kurzen Segenswunsch hielt. Dann küßte sie sie hastig, bestieg die Kutsche, die Wagentür wurde geschlossen, die Lakaien in ihren prächtigen Livreen sprangen hinten auf, die Vorreiter gaben den Pferden die Sporen, die Kutscher ließen die Peitschen knallen, die Pferde stampften, preschten los, als wollten sie sofort wieder in wilden Galopp fallen, und die Karosse jagte davon, gefolgt von den beiden Nachreitern.

III ‐ Wir tauschen Erinnerungen aus

Wir sahen der Dame und ihrem Gefolge nach, bis sie im nebligen Wald verschwunden waren, und lauschten dem Klang der Hufe und Räder, bis er sich in der Nacht verlor.

Der einzige Beweis dafür, daß wir dieses Abenteuer nicht nur geträumt hatten, war die junge Dame, die in diesem Moment die Augen aufschlug. Ihr Gesicht war mir abgewandt, aber ich sah, wie sie den Kopf hob, offenbar um sich zu orientieren, und hörte sie mit sanfter, klagender Stimme fragen: "Wo ist Mama?"

Unsere treue Madame Perrodon beschwichtigte sie in liebevollem Ton.

Dann hörte ich das Mädchen fragen:

"Wo bin ich? Warum liege ich hier?" Und dann: "Wo ist die Kutsche? Und wo ist Matska?"

Madame beantwortete ihre Fragen, soweit sie ihr verständlich waren. Allmählich erinnerte sich die junge Dame des unglückseligen Vorfalls und zeigte sich erfreut darüber, daß weder die Insassen der Kutsche noch die Bediensteten verletzt waren. Als sie erfuhr, daß die Mutter sie bis zu ihrer Rückkehr in drei Monaten hier zurückgelassen hatte, begann sie zu weinen.

Ich wollte zu ihr gehen, um sie gemeinsam mit Madame Perrodon zu trösten, doch Mademoiselle De Lafontaine hielt mich zurück.

"Gehńicht hin! Sie darf jetzt nicht zuviel sprechen. Die geringste Erregung könnte ihr schaden."

"Sobald sie ruhig im Bett liegt", dachte ich bei mir, "gehe ich hinauf und besuche sie."

Inzwischen hatte mein Vater einen Diener beauftragt, zum Arzt, der etwa sechs Meilen entfernt wohnte, zu reiten. Im Schloß wurde bereits ein Schlafzimmer für die junge Dame hergerichtet. Nun erhob sich die Fremde und ging, auf Madames Arm gestützt, langsam über die Zugbrücke und durchs Schloßtor. In der Halle standen Bedienstete bereit, um sie zu ihrem Zimmer zu begleiten.

Der Raum, den wir gewöhnlich als Salon benutzten, ist lang und hat vier Fenster, die auf den Burggraben, die Zugbrücke und die eingangs beschriebene Waldlichtung hinausgehen. Er ist mit alten, geschnitzten Eichenmöbeln ‐ darunter einige schwere Schränke ‐ ausgestattet; die Stühle sind mit rotem Utrechter Samt gepolstert, an den Wänden hängen Gobelins in schweren Goldrahmen, auf denen lebensgroße Figuren in wunderlichen, altmodischen Gewändern bei der Jagd, der Falknerei und verschiedenen Festlichkeiten zu sehen sind. Trotzdem ist dieses Zimmer nicht so prächtig, daß man sich darin nicht behaglich gefühlt hätte. Wir fanden uns dort gewöhnlich zum Tee ein. Mein Vater war nämlich patriotisch genug, um darauf zu bestehen, daß neben Kaffee und Schokolade auch das englische Nationalgetränk regelmäßig serviert wurde.

In jener Nacht also saßen wir dort zusammen und unterhielten uns über das soeben Erlebte. Auch Madame Perrodon und Mademoiselle De Lafontaine waren anwesend. Die junge Fremde war sofort nach dem Zubettgehen in tiefen Schlaf gesunken, und die beiden Damen hatten eine Dienerin beauftragt, bei ihr zu wachen.

"Wie gefällt Ihnen unser Gast?" fragte ich Madame, als sie ins Zimmer trat. "Erzählen Sie mir alles, was Sie von ihr wissen!"

"Sie gefällt mit außergewöhnlich gut. Ich glaube, ein hübscheres Geschöpf habe ich noch nie gesehen. Sie ist ungefähr in deinem Alter, und sie ist sehr lieb und nett."

"Sie ist ausgesprochen schön", warf Mademoiselle ein, die einen Blick ins Zimmer der Fremden geworfen hatte.

"Und sie hat eine so sanfte Stimme!" setzte Madame Perrodon hinzu.

"Haben Sie, als die Kutsche wieder aufgerichtet war, eine Frau bemerkt, die nicht ausgestiegen war und nur aus dem Fenster schaute?" fragte Mademoiselle.

Wir hatten sie nicht gesehen.

Nun berichtete sie von einer unheimlichen schwarzen Gestalt, die eine Art farbigen Turban getragen, die ganze Zeit aus dem Wagen gestarrt und den Damen höhnisch zugenickt und zugegrinst habe ‐ mit glitzerndem Blick und wie vor Wut gefletschten Zähnen.

"Ist Ihnen aufgefallen, was für eine wüste Horde die Bediensteten waren?" fragte Madame.

"Ja", erwiderte mein Vater, der gerade eingetreten war, "häßlichere Galgenvögel sind mir noch nie über den Weg gelaufen. Ich hoffe nur, daß sie die arme Dame nicht im Wald ausrauben werden. Aber geschickt sind diese Schurken! Im Handumdrehen war alles wieder in Ordnung." "Ich glaube fast, sie waren von der langen Reise erschöpft", sagte Madame. "Sie machten zwar einen verruchten Eindruck, aber ihre Gesichter waren auffallend hager und wirkten düster und verdrossen.

Ich gebe zu, daß mich die Neugier quält. Aber sicher wird uns die junge Dame morgen, wenn sie sich einigermaßen erholt hat, alles erzählen."

"Das glaube ich nicht", sagte mein Vater, lächelte geheimnisvoll und nickte vor sich hin, als wüßte er etwas, das er uns nicht sagen wollte.

Nun brannte ich noch mehr darauf zu erfahren, wovon er und die Dame in Schwarz während der kurzen, ernsten Unterhaltung vor ihrer Abfahrt gesprochen hatten.

Kaum war ich mit ihm allein, da bestürmte ich ihn auch schon mit Fragen. Er ließ sich nicht lange bitten.

"Ich sehe keinen besonderen Grund, warum ich es dir verheimlichen sollte. Sie äußerte Bedenken, uns mit der Pflege ihrer Tochter zu belasten, da diese von zarter Gesundheit und sehr nervös sei. Sie fügte von sich aus hinzu, daß das Mädchen allerdings weder an plötzlichen Anfällen noch an Wahnvorstellungen leide, also völlig normal sei."

"Höchst seltsam, so etwas zu sagen", warf ich ein. "Das war doch ganz unnötig."

"Nun, sie hat es jedenfalls gesagt", erwiderte er lachend, "und da du alles, was gesprochen wurde, wissen wolltest ‐ und es war wenig genug ‐, habe ich auch das erwähnt. Außerdem sagte sie folgendes: 'Ich befinde mich auf einer langen, lebenswichtigen Reise' ‐ sie betonte dieses Wort ‐, 'die eilig und geheim ist. In drei Monaten werde ich meine Tochter abholen, inzwischen aber wird sie mit keinem Wort erwähnen, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir reisen.' Mehr sagte sie nicht. Sie sprach übrigens akzentfreies Französisch. Nach dem Wort 'geheim' zögerte sie ein paar Sekunden und sah mich unbewegt an. Ich glaube, es ist ihr sehr ernst damit. Du hast ja gesehen, wie rasch sie davonfuhr. Ich hoffe nur, daß ich keine Dummheit gemacht habe, als ich die Verantwortung für die junge Dame übernahm."

Ich für meinen Teil war begeistert. Begierig, sie zu sehen und zu sprechen, wartete ich sehnsüchtig darauf, die Erlaubnis des Arztes zu erhalten. Wer in der Stadt lebt, kann sich nicht vorstellen, welch wichtiges Ereignis die Begegnung mit neuen Menschen in einer so einsamen Gegend wie der unseren ist.

Der Arzt traf erst kurz vor ein Uhr nachts ein, aber zu Bett zu gehen und zu schlafen wäre mir ebenso unmöglich gewesen, wie zu Fuß die Kutsche einzuholen, in der die fürstliche Dame in schwarzem Samt davongefahren war.

Als der Arzt zu uns herunterkam, brachte er gute Nachrichten. Die Patientin hatte sich im Bett aufgesetzt, ihr Puls war regelmäßig, und sie fühlte sich offenbar wieder wohl. Sie war nicht verletzt und hatte den leichten Nervenschock gut überstanden. Falls ich sie besuchen wolle, habe er nichts dagegen einzuwenden. Und so ließ ich bei ihr anfragen, ob ich auf ein paar Minuten zu ihr kommen dürfe.

Das Dienstmädchen richtete mir kurz darauf aus, sie wünsche sich nichts sehnlicher als meinen Besuch.

Sie können sich vorstellen, wie rasch ich dieser Aufforderung nachkam! Unser Gast lag in einem der prächtigsten Zimmer des Schlosses. Es war vielleicht etwas zu pompös. Dem Bett gegenüber hing ein düsterer Gobelin, der Kleopatra mit den Schlangen an der Brust zeigte, und auch die anderen Wände waren mit leicht verblaßten Darstellungen ernster klassischer Motive bedeckt. Aber das vergoldete Schnitzwerk und die satten Farben der übrigen Ausstattung machten den bedrückenden Eindruck der alten Gobelins mehr als wett.

Am Bett brannten Kerzen. Sie hatte sich aufgerichtet, den schönen, schlanken Körper umhüllte der weiche, seidene, blumenbestickte und mit gestepptem Seidenfutter ausgeschlagene Morgenrock, den die Mutter ihr, als sie draußen auf der Erde lag, über die Füße geworfen hatte. Was war es wohl, das mich, als ich ans Bett trat und gerade ein paar Begrüßungsworte sagen wollte, augenblicklich verstummen und ein paar Schritte zurückweichen ließ? Ich will es Ihnen sagen.

Ich blickte in jenes Gesicht, das mir einst, in der Kindheit, nachts erschienen war, das sich meinem Gedächtnis eingeprägt und über das ich viele Jahre lang voller Entsetzen nachgegrübelt hatte, ohne daß die anderen es ahnten.

Es war hübsch, sogar schön, und es hatte einen Augenblick lang den gleichen melancholischen Ausdruck wie damals.

Doch im nächsten Moment wich dieser Ausdruck einem eigentümlich starren Lächeln des Wiedererkennens.

Eine volle Minute lang herrschte Schweigen, dann begann sie zu sprechen; ich war nicht fähig dazu.

"Wie wunderbar!" rief sie. "Vor zwölf Jahren ist mir ihr Gesicht im Traume erschienen, und seitdem hat es mich ständig verfolgt."

"Es ist wirklich wunderbar", erwiderte ich, mühsam den Schrecken überwindend, der mich sprachlos gemacht hatte. "Vor zwölf Jahren habe auch ich Sie gesehen, im Traume oder im Wachen. Ich konnte Ihr Gesicht nicht mehr vergessen. Stets habe ich es seitdem vor Augen gehabt."

Ihr Lächeln war sanft geworden. Was immer mich daran seltsam berührt hatte, war verschwunden.

Jetzt wirkte es, im Verein mit ihren kleinen Grübchen, aufreizend und klug zugleich.

Ich fühlte mich beruhigt, besann mich meiner Gastgeberrolle, sagte ihr, wie sehr wir alle uns über ihren unerwarteten Besuch freuten und daß ich darüber besonders glücklich sei. Während ich sprach, faßte ich nach ihrer Hand. Ich war ein wenig scheu, wie alle einsamen Menschen, diese Begegnung aber machte mich beredsam, ja kühn. Die Fremde drückte meine Hand, bedeckte sie mit der ihren, und ihre Augen strahlten, als sie mir einen Blick zuwarf, wieder lächelte und errötete. Sie dankte liebenswürdig für meinen Willkommensgruß. Noch immer staunend setzte ich mich zu ihr.

"Ich muß Ihnen von meiner Vision erzählen", begann sie. "Es ist wirklich sehr seltsam, daß wir beide so lebhaft voneinander geträumt haben und jede die andere so gesehen hat, wie sie heute ist, obwohl wir damals noch Kinder waren. Ich war ungefähr sechs Jahre alt und erwachte in jener Nacht aus einem wirren, qualvollen Traum, fand mich in einem Raum, der nicht meinem Kinderzimmer glich, sondern mit rauhem, dunklem Holz verkleidet und mit Schränken, Betten, Stühlen und Bänken ausgestattet war. Die Betten schienen alle leer zu sein, so daß ich glaubte, außer mir sei niemand im Zimmer. Nachdem ich mich eine Zeitlang umgesehen und vor allem einen zweiarmigen eisernen Leuchter, den ich jederzeit wiedererkennen würde, bewundert hatte, kroch ich unter eins der Betten, um von dort aus zum Fenster zu gelangen. Als ich gerade wieder auftauchte, hörte ich jemanden weinen, und als ich, noch am Boden kniend, aufsah, erblickte ich Sie, wie Sie leiben und leben! Ihr Anblick entzückte mich. Ich kletterte aufs Bett, schlang die Arme um Sie, und soviel ich weiß, schliefen wir gemeinsam ein. Ich wurde von einem Schrei geweckt. Sie saßen im Bett und schrien.

Von Furcht gepackt, ließ ich mich auf den Boden gleiten und verlor anscheinend für einen Augenblick das Bewußtsein. Als ich zu mir kam, war ich wieder zu Hause im Kinderzimmer. Ihr Gesicht habe ich nie wieder vergessen können. Von einer bloßen Ähnlichkeit würde ich mich nicht narren lassen. Sie sind die Dame, die ich in jener Nacht sah."

Jetzt war es an mir, von der Erscheinung zu berichten, und ich tat es zum unverhüllten Staunen meiner neuen Bekannten.

"Ich weiß nicht, wer von uns beiden sich am meisten vor der anderen fürchten sollte", sagte sie lächelnd. "Wären Sie weniger hübsch, hätte ich sicher große Angst vor Ihnen, aber wenn ich Sie so ansehe und bedenke, wie jung wir beide sind, ist es mir, als kenne ich Sie seit zwölf Jahren und hätte bereits ein Recht auf Ihre Freundschaft. Jedenfalls scheint es, als sei es uns beiden von Kindheit an bestimmt gewesen, Freundinnen zu werden. Ich wüßte gern, ob Sie sich ebenso seltsam zu mir hingezogen fühlen, wie ich mich zu Ihnen. Ich habe niemals eine Freundin gehabt ‐ ob ich wohl jetzt eine finden werde?" Sie seufzte und sah mich mit ihren schönen, dunklen Augen leidenschaftlich an.

Um die Wahrheit zu sagen: Ich war mir über meine Empfindungen und Gefühle für die schöne Fremde nicht im klaren. Ich fühlte mich zwar 'zu ihr hingezogen', wie sie es nannte, gleichzeitig aber war ich irgendwie abgestoßen. In diesem inneren Zwiespalt war jedoch die Anziehungskraft, die sie auf mich ausübte, mächtiger. Die Fremde interessierte mich, und es gelang ihr, mich zu erobern. Sie war so schön und hatte ein unbeschreiblich gewinnendes Wesen.

Als ich Zeichen der Ermattung und Erschöpfung an ihr wahrnahm, beeilte ich mich, ihr Gutenacht zu sagen.

"Der Arzt möchte", fügte ich hinzu, "daß heute nacht jemand bei Ihnen wacht. Eines unserer Mädchen hat sich bereit erklärt, eine tüchtige, ruhige Person, wie Sie sehen werden."

"Wie gütig von Ihnen, aber ich könnte nicht schlafen, wenn ein Dienstbote anwesend wäre; ich habe es nie gekonnt. Ich werde keine Hilfe brauchen. Und noch etwas ‐ soll ich Ihnen diese Schwäche gestehen? ‐, ich lebe in ständiger Furcht vor Einbrechern. Unser Haus ist einmal ausgeraubt worden, und seitdem schließe ich immer meine Tür ab. Ich habe mich daran gewöhnt ‐ und Sie machen einen so verständnisvollen Eindruck, daß Sie es mir sicher nicht verübeln werden. Wie ich sehe, steckt der Schlüssel im Türschloß."

Plötzlich, einen Augenblick lang, schlang sie die Arme um mich, drückte mich an sich und flüsterte mir zu: "Gute Nacht, Liebste, es fällt mir schwer, Sie gehen zu lassen, aber nun Gute Nacht! Morgen, wenn auch nicht zu früh, sehen wir uns wieder."

Mit einem Seufzer sank sie in die Kissen, ihre schönen Augen blickten mir zärtlich und schwermütig nach, und noch einmal murmelte sie: "Gute Nacht, liebste Freundin."

Junge Menschen verschenken ihre Sympathie, und sogar ihre Liebe, spontan. Ich fühlte mich geschmeichelt von der unverhüllten, wenn auch noch gänzlich unverdienten Zuneigung, die sie mir entgegenbrachte. Es gefiel mir, daß sie mir sofort Vertrauen schenkte. Sie schien entschlossen, mich zur Freundin zu gewinnen.

Am nächsten Tag sahen wir uns wieder. Ich war von meiner neuen Gefährtin entzückt ‐ das heißt, ich war es in vieler Hinsicht.

Das Tageslicht beeinträchtigte ihr Aussehen nicht im mindesten; sie war zweifelsohne das schönste Geschöpf, das mir jemals begegnet war, und die unangenehme Erinnerung an meinen Kindheitstraum, die mich bei der ersten Wiederbegegnung beunruhigt hatte, quälte mich nicht länger.

Sie gestand mir, sie habe bei meinem ersten Eintreten einen ähnlichen Schrecken verspürt und die gleiche leichte Abneigung empfunden, die sich auch in meine Bewunderung für sie gemischt hatte.

Jetzt lachten wir beide über unseren anfänglichen Schauder.

IV ‐ Ihre Gewohnheiten. Ein kurzer Spaziergang

Ich habe bereits erwähnt, daß ich sie in vielerlei Hinsicht reizend fand. Manches an ihr gefiel mir allerdings nicht so gut.

Ich will zuerst ihr Äußeres beschreiben. Für eine junge Dame war sie ungewöhnlich groß. Sie war schlank und wunderbar graziös. Abgesehen davon, daß ihre Bewegungen etwas auffallend Träges hatten, verriet nichts an ihr, daß sie eine Rekonvaleszentin war. Sie hatte einen lebhaften, strahlenden Teint und ein schmales, wohlgeformtes Gesicht mit großen, dunklen, glänzenden Augen.

Ihr Haar war herrlich. Nie habe ich üppigeres und längeres gesehen als das ihre, wenn sie es frei über die Schultern wallen ließ. Ich habe oft meine Hände darin vergraben und immer wieder freudig festgestellt, wie schwer es war. Es fühlte sich fein und weich an, und über dem dunklen, satten Braun lag ein Goldschimmer. Ich liebte es, während sie im Sessel lehnte, ihr Haar zu lösen und zu sehen, wie es schwer herabfloß. Ich teilte und flocht es, ich breitete es um sie und spielte damit. Himmel! Hätte ich doch damals alles gewußt!

Ich sagte vorhin, daß mir einiges an ihr nicht gefiel. Wie ich Ihnen erzählt habe, nahm mich ihre Zutraulichkeit gleich am ersten Abend für sie ein. Dann aber bemerkte ich, daß sie in allem, was sie selbst, ihre Mutter, ja überhaupt ihr ganzes bisheriges Leben und ihre weiteren Pläne betraf, äußerste Zurückhaltung übte. Vielleicht war ich unvernünftig, vielleicht täuschte ich mich. Sicher hätte ich die feierliche Verpflichtung, die die vornehme Dame in Schwarz meinem Vater auferlegt hatte, respektieren sollen. Aber die Neugier ist eine nimmermüde, bedenkenlose Leidenschaft, und kein Mädchen kann es geduldig ertragen, von einer Freundin im Ungewissen gelassen zu werden.

Wem würde es schon schaden, wenn sie mir verriete, was mich so brennend interessierte? Setzte sie kein Vertrauen in mein Urteilsvermögen und meine Diskretion? Warum glaubte sie mir nicht, wenn ich ihr feierlich versprach, keinem Menschen ein Wort zu verraten?

Wenn sie sich lächelnd, melancholisch und hartnäckig weigerte, mich auch nur einen Schimmer der Wahrheit erhaschen zu lassen, glaubte ich eine Kälte zu spüren, die sich mit ihrer Jugend nicht vertrug.

Ich kann nicht behaupten, daß wir uns deswegen zankten. Sie zankte sich nie mit mir. Es war gewiß sehr unfair und unhöflich von mir, sie mit Fragen zu bedrängen, aber ich konnte einfach nicht anders.

Ich hätte es lieber bleiben lassen sollen.

Was sie mir tatsächlich erzählte, schätzte ich, unvernünftig wie ich war, gering.

Es ließ sich in drei mageren Sätzen zusammenfassen: Sie hieß Carmilla. Ihre Familie war sehr alt und von Adel. Ihre Heimat lag irgendwo im Westen.

Sie wollte mir weder ihren Familiennamen noch ihr Wappen verraten, weder den Namen ihres Wohnsitzes noch ihr Heimatland. Denken Sie bitte nicht, daß ich sie unablässig mit meiner Neugier quälte. Ich wartete stets auf eine gute Gelegenheit und auch dann stellte ich eher beiläufige als drängende Fragen. Einige Male ging ich allerdings geradewegs auf mein Ziel los. Aber welche Taktik ich auch anwandte, Erfolg hatte ich nie. Weder mit Vorwürfen noch mit Zärtlichkeiten war ihr beizukommen. Und dennoch ‐ wenn sie mir auswich, tat sie es mit soviel sanfter Schwermut und leisem Tadel, mit so vielen fast leidenschaftlichen Vertrauens‐ und Sympathiebekundungen und mit so vielen Versprechungen, mir eines Tages alles zu erzählen, daß ich es nicht übers Herz brachte, ihr lange zu grollen.

Oft schlang sie dann ihre schönen Arme um meinen Hals, zog mich an sich, legte ihre Wange an die meine und flüsterte, die heißen Lippen an mein Ohr gepreßt: "Liebste, ich weiß, du fühlst dich im Innersten verletzt. Halte mich nicht für grausam, wenn ich so handle, wie die Stärken und Schwächen meiner Natur es mir vorschreiben. Wenn dein sanftes Herz verwundet ist, blutet mein wildes Herz

mit ihm. Meine tiefe Demütigung genießend, lebe ich in deinem warmen Leben, und du wirst in mein Leben hineinsterben ‐ süß sterben. Ich kann nicht anders: So, wie ich dir heute nahe bin, wirst du eines Tages anderen nahe sein und die Wonne dieser Grausamkeit, die doch nichts als Liebe ist, kennenlernen. Versuche also vorläufig nicht mehr, etwas über mich und die Meinen zu erfahren, sondern vertraue mir mit der ganzen Kraft deiner Liebe."

Nach derart überschwenglichen Worten schlossen sich ihre bebenden Arme stets noch fester um mich, und ihre warmen Lippen küßten sanft die meinen.

Ihre Empfindungen waren mir ebenso unverständlich wie ihre Worte.

Ich gebe zu, daß ich mich diesen törichten Umarmungen, zu denen es übrigens nicht so oft kam, gern entzogen hätte; aber mir fehlte die Kraft dazu. Ihr Flüstern klang mir wie ein Wiegenlied, lähmte meinen Widerstandswillen und versetzte mich in einen tranceähnlichen Zustand, aus dem ich erst erwachte, wenn sie ihre Arme sinken ließ.

In diesen unheimlichen Augenblicken mochte ich sie nicht. Ich empfand dann jedes Mal eine seltsame, stürmische Erregung, die zwar wohltuend war, in die sich aber sogleich ein vages Gefühl der Angst und des Ekels einschlich. Während solcher Szenen konnte ich keinen klaren Gedanken fassen, empfand aber eine an Anbetung grenzende Zuneigung und zugleich eine Art Abscheu. Ich weiß, das klingt paradox, aber anders kann ich diesen Zustand nicht beschreiben. Noch heute, nach so vielen Jahren, zittert mir die Hand beim Schreiben, lähmt mich die furchtbare Erinnerung an bestimmte Vorfälle und Situationen, die ich überstehen mußte, ohne ihre Bedeutung zu ahnen. Die wichtigsten Ereignisse meiner Geschichte jedoch sind mir klar und deutlich ins Gedächtnis eingegraben. Wahrscheinlich gibt es im Leben eines jeden Menschen Augenblicke, in denen wilde und schreckliche Leidenschaften ihn so überwältigt haben, daß er sich später jener Momente nur noch vage erinnert.

Manchmal nahm meine schöne, seltsame Gefährtin, wie aus langer Apathie erwachend, meine Hand, hielt sie fest und zärtlich umschlossen und drückte sie immer wieder. Dann blickte sie mich sanft errötend mit schmachtenden, brennenden Augen an und atmete so heftig, daß ihre Brust sich stürmisch hob und senkte. Es war, als säße mir ein von Glut verzehrter Liebhaber gegenüber. Mir war das peinlich. Ich fühlte mich gleichzeitig abgestoßen und überwältigt. Dann zog sie mich, mit triumphierenden Blick, an sich, ließ ihre heißen Lippen über meine wandern und flüsterte fast schluchzend: "Du gehörst mir, du wirst mir immer gehören, und du und ich sind eins für ewig." Dann ließ sie sich in den Sessel zurückfallen und verbarg ihre Augen hinter den zarten Händen, während ich zitternd und bebend neben ihr saß.

"Sind wir miteinander verwandt?" fragte ich sie oft. "Was meinst du, wenn du so mit mir sprichst?

Vielleicht erinnere ich dich an jemanden, den du liebst? Aber laß' es bitte, ich hasse solche Szenen.

Ich erkenne dich dann nicht wieder ‐ ich kenne mich selbst nicht mehr, wenn du mich so ansiehst und mir solche Dinge sagst."

Meist entlockte ihr meine Heftigkeit einen Seufzer; dann ließ sie meine Hand los und wandte sich ab.

Umsonst versuchte ich, eine einleuchtende Erklärung für diese ungewöhnlichen Gefühlsausbrüche zu finden, die sich weder als Affektiertheit noch als Scherz abtun ließen. Zweifellos brachen in solchen Augenblicken unterdrückte Instinkte und Sehnsüchte hervor. Litt sie, entgegen der Versicherung, die ihre Mutter unaufgefordert gegeben hatte, unter vorübergehenden Wahnsinnsanfällen? Oder handelte es sich gar um eine romantische Verkleidungsaffäre? In alten Geschichten hatte ich von solchen Dingen gelesen. Hatte vielleicht ein kindischer Bewunderer, unterstützt von einer alten, schlauen Abenteurerin, den Weg in unser Haus gefunden, um mir in Frauenkleidern den Hof zu machen? Aber vieles sprach gegen diese Vermutung, so sehr sie auch meiner Eitelkeit schmeichelte.

Aufmerksamkeiten, wie man sie von galanten Herren erwarten darf, wurden mir von seiten Carmillas nicht selten zuteil. Solchem Gefühlsüberschwang folgten stets Tage, an denen nichts Besonderes geschah, und die sie entweder heiter oder in brütender Schwermut verbrachte. Wenn ich nicht bemerkt hätte, wie ihre düster glühenden Augen mich verfolgten, hätte ich manchmal glauben können, ich existierte gar nicht für sie. Abgesehen von den Momenten geheimnisvoller Erregung benahm sie sich ganz wie ein normales junges Mädchen, und auch ihre ständige Mattigkeit entsprach keineswegs dem Bild, das man sich von einem gesunden Mann macht.

Sie hatte einige seltsame Angewohnheiten. Jemand, der in der Stadt wohnt wie Sie, mag darüber freilich anders denken als wir auf dem Land. Sie kam immer erst sehr spät zu uns herunter, meist nicht vor ein Uhr mittags, trank eine Tasse Schokolade, aß aber nichts dazu. Dann machten wir gewöhnlich einen Spaziergang, einen sehr kurzen allerdings, da sie sofort müde wurde und entweder ins Schloß zurückkehrte oder sich auf einer Bank im Schatten niederließ. Ihre körperliche Ermattung wirkte sich aber nicht im geringsten auf ihren Geist aus. Stets unterhielt sie sich angeregt, stets zeigte sie eine wache Intelligenz.

Manchmal spielte sie kurz auf ihre Heimat an oder erwähnte ein Erlebnis, eine Einzelheit oder eine Kindheitserinnerung, die auf ein Volk mit seltsamen Gepflogenheiten schließen ließen, mit Sitten, die uns unbekannt waren. Ich entnahm diesen gelegentlichen Bemerkungen, daß ihr Heimatland viel ferner sein mußte, als ich anfangs vermutet hatte.

Als wir eines Nachmittags unter den Bäumen saßen, kam ein Leichenzug vorbei. Man trug ein junges, hübsches Mädchen zu Grabe, dem ich oft begegnet war: die Tochter eines Waldhüters. Der Arme ging gramgebeugt hinter dem Sarg seines einzigen Kindes. Ihm folgten, ein Kirchenlied singend, die Bauern.

Ehrfurchtsvoll stand ich auf und stimmte in den traurigen Gesang ein.

Da gab mir meine Begleiterin einen recht unsanften Stoß. Überrascht sah ich sie an. "Hörst du nicht, wie entsetzlich falsch das klingt?" fragte sie schroff.

"Im Gegenteil, ich finde es schön und rührend", antwortete ich, verärgert über die Störung und peinlich berührt von dem Gedanken, die Leute im Leichenzug könnten die Szene beobachtet und übelgenommen haben.

Ich sang weiter, wurde aber sofort wieder unterbrochen. "Du ruinierst mein Trommelfell!" rief Carmilla ärgerlich und hielt sich mit ihren schlanken Fingern die Ohren zu. "Und weißt du denn überhaupt, ob du und ich dieselbe Religion haben? Dein Ritual verletzt mich, und außerdem hasse ich Beerdigungen. So ein Getue! Sterben muß schließlich jeder, und jeder wird dadurch glücklicher."

"Vater ist mit dem Pfarrer zum Friedhof gegangen. Ich dachte, du weißt, daß sie heute begraben wird."

"Wer ist sie? Ich verschwende meine Gedanken nicht an Bauern. Ich weiß nicht, wer sie ist", erwiderte Carmilla mit blitzenden Augen.

"Das arme Mädchen, das sich vor zwei Wochen eingebildet hatte, ein Gespenst zu sehen, und das seitdem immer kränker wurde und gestern starb."

"Sprich bloß nicht von Gespenstern, sonst kann ich heute nacht nicht schlafen!"

"Hoffentlich ist keine Seuche im Anzug", fuhr ich fort. "Alles scheint darauf hinzudeuten. Die junge Frau des Schweinehirten ist vorige Woche gestorben. Sie behauptete, jemand habe sie nachts im Bett am Hals gepackt und fast erwürgt. Papa sagt, daß solche schrecklichen Träume bei bestimmten fiebrigen Erkrankungen auftreten. Sie war am Tag zuvor völlig gesund."

"Nun, ihr Begräbnis ist hoffentlich vorbei, und ihr Kirchenlied gesungen! Jedenfalls wird man unsere Ohren nicht noch einmal mit dergleichen Mißtönen und Kauderwelsch martern. Setz' dich zu mir, ganz nah! Halte meine Hand, ganz fest ‐ fester, fester!"

Wir waren ein Stück zurückgegangen, und nun ließ sie sich auf einer anderen Bank nieder. Ihr Gesicht verwandelte sich in einer Weise, die mir Schrecken, einen Augenblick lang sogar Entsetzen einjagte.

Es verdüsterte sich und wurde furchtbar fahl. Mit zusammengebissenen Zähnen, geballten Händen, gerunzelten Brauen und aufeinandergepreßten Lippen starrte sie zu Boden und zitterte dabei am ganzen Körper, als sei sie von heftigem Schüttelfrost befallen. Sie schien mit äußerster Anstrengung einen Anfall zu unterdrücken. Endlich, nach atemlosem Kampf, brach ein dumpfer, erschütternder Schmerzensschrei aus ihr hervor, und dann verebbte ihre hysterische Erregung. "Siehst du, das kommt davon, wenn sie einem mit Kirchenliedern den Hals zuschnüren!" sagte sie schließlich. "Halt' mich fest, laß' mich nicht los! Es geht schon vorüber."

Es ging vorüber. Und dann, vielleicht um mich diese deprimierende Szene vergessen zu lassen, wurde sie ungewöhnlich lebhaft und gesprächig. So machten wir uns auf den Heimweg.

Es war das erste Mal, daß ich Zeichen jener Anfälligkeit an ihr entdeckte, von der ihre Mutter gesprochen hatte. Und es war das erste Mal, daß ich sie gereizt sah.

Beides verflüchtigte sich wie eine Wolke am Sommerhimmel. Nur noch ein einziges Mal erlebte ich, daß der Zorn für einen Augenblick mit ihr durchging. Ich will Ihnen davon berichten.

Als wir eines Tages im Salon an einem der hohen Fenster standen, kam von der Zugbrücke her ein Wanderer in den Schloßhof. Ich kannte ihn gut. Er kam meist zweimal im Jahr zu uns.

Er war bucklig und hatte ein hageres, scharfgeschnittenes Gesicht, wie man es oft bei mißgestalteten Menschen findet. Er trug einen schwarzen Spitzbart und lachte übers ganze Gesicht, wobei er ein wahres Raubtiergebiß zur Schau stellte. Sein Gewand war aus lederfarbenem, schwarzem und scharlachrotem Tuch, darüber trug er unzählige Riemen und Gurte, an denen die verschiedensten Gegenstände hingen. Auf den Rücken hatte er sich eine Laterna magica und zwei mir wohlbekannte Kästchen gepackt: das eine enthielt einen Salamander, das andere eine Alraune. Die beiden Ungeheuer brachten meinen Vater jedesmal zum Lachen. Sie bestanden aus getrockneten Teilen von Affen, Papageien, Eichhörnchen, Fischen und Igeln, die fein säuberlich zusammengenäht waren. Die Wirkung war erstaunlich. Der Bucklige hatte eine Fiedel, eine Schachtel mit Taschenspielerutensilien, zwei Florette und Fechtmasken am Gürtel hängen, um ihn herum baumelten mehrere geheimnisvolle Kästchen, und in der Hand hielt er einen schwarzen Stab mit Kupferbeschlägen. Ein dürrer, struppiger Hund folgte ihm auf den Fersen, blieb jedoch an der Zugbrücke plötzlich stehen, witterte mißtrauisch und begann dann jämmerlich zu jaulen.

Der Gaukler war mitten im Schloßhof stehengeblieben, hatte seinen komischen Hut gezogen, sich gravitätisch vor uns verneigt und uns in abscheulichem Französisch und nicht viel besserem Deutsch seinen wortreichen Gruß entboten. Dann hob er die Fiedel, kratzte eine fröhliche Weise, sang dazu unbekümmert in der falschen Tonart und führte einen so drolligen Tanz auf, daß ich trotz des schrecklichen Hundegeheuls lachen mußte.

Den Hut in der Hand und die Fiedel unterm Arm kam er dann zu uns herüber, pries mit einem einzigen Wortschwall den ganzen Katalog seiner Künste an und erbot sich, uns alle möglichen Kuriositäten und Belustigungen vorzuführen.

"Wollen die hochwohlgeborenen Damen vielleicht ein Amulett zum Schutz gegen den Vampyr kaufen, der wie ein Wolf durch diese Wälder streifen soll?" fragte er und ließ seinen Hut aufs Pflaster fallen. "Ringsum sterben seine Opfer, ich aber habe ein Mittel, das nie versagt. Stecken Sie sich ein Amulett ans Kopfkissen und Sie können ihm ins Gesicht lachen!"