Schwesternliebe - eine Halal-Seifenoper - Safeta Obhodjas - E-Book

Schwesternliebe - eine Halal-Seifenoper E-Book

Safeta Obhodjas

0,0

Beschreibung

Meryam wird in eine arabische Großfamilie in Deutschland hineingeboren. Als Teenie rebelliert sie gegen die traditionelle Lebensart ihrer Familie. Ihre Mutter stiftet den ältesten Sohn an, Meryam zu verprügeln. Diese läuft von zuhause fort und versteckt sich bei der Familie ihrer Schulfreundin Anne. Von einer staatlichen Einrichtung betreut, arbeitet Meryam hart, studiert, und es gelingt ihr, als junge Frau auf eigenen Füßen zu stehen. Nach dem Studium arbeitet sie als Assistentin in einer Anwaltskanzlei, während Anne im Sozialwesen tätig ist. Von der Freundin erfährt Meryam, dass ihre Großfamilie nicht mehr existiert: Einige Mitglieder sind tot, andere im Knast oder krank. Nur ihre Schwester, die noch ein Kind war, als Meryam das Elternhaus verlassen hatte, ist übriggeblieben und obdachlos geworden. Anne setzt Meryam unter Druck, ihre noch immer minderjährige Schwester bei sich aufzunehmen. Letztendlich holt Meryam ihre Schwester zu sich. Doch die Weltanschauungen der beiden prallen aufeinander. Die jüngere Latifah hat die traditionellen Werte ihrer Mutter verinnerlicht und verabscheut Meryems westliche Lebensart. Anne verlangt von ihrer Freundin, Geduld mit der Schwester zu haben … Aber Geduld ist kein Zaubermittel, um diesen culture clash zu verhindern.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 286

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Safeta Obhodjas / Schwesternliebe – eine Halal-Seifenoper

@Safeta Obhodjas - Schwesternliebe - eine Halal-Seifenoper

Lektorat und Layout: Melitta Depner

Cover: Idee: Safeta Obhodjas / Realisierung: Melitta Depner

Epubli Verlag Berlin

www.epubli.de

Safeta Obhodjas

Schwesternliebe – eine Halal-Seifenoper

Roman

1

Ein Tag, der nur freudige Aussichten mit sich gebracht hatte.

Am Abend stellte Meryam sich die unmittelbar verflossenen Stunden als einen Abakus vor, auf dessen Stäben sich nach und nach laut tönende Glückskugeln aufgereiht hatten, angefangen mit der ersten Nachricht ihrer besten Freundin Anne: "Hallo, Meryam, mein Liebster und seine Mountainbikers planen am Wochenende die Berge unsicher zu machen. Hoffentlich kommt er wieder mit heilen Knochen nach Hause. So haben wir das Wochenende nur für uns. Überleg dir, was dir lieber ist: Kultur oder Wellness?" "Beides", lautete ihre rasche Antwort, "tagsüber Wellness, abends ein Konzert oder Theater. Ich weiß, ich bin anspruchsvoll, aber bitte wähle ein idyllisches Örtchen, das komplette Behaglichkeit zu bieten hat. Du, meine liebe Geheimtipp-

Expertin."

Kaum hatte sie das abgeschickt, sauste ein neues Kügelchen von ihrem ersten Vorgesetzten in ihre Mailbox. Seit zwei Jahren arbeitete sie für ihn, und das war das erste Mal, dass er etwas Positives über ihre Zusammenarbeit äußerte. Seine Zeilen klangen trocken, aber immerhin ließ sich ein bisschen Lob dazwischen heraushören: "Hallo Frau Kasbah, danke, Sie haben in die richtige Richtung recherchiert und die überzeugendsten Argumente ausfindig gemacht, die waren mir sehr nützlich bei den Verhandlungen."

"So viel Anerkennung muss man feiern", dachte Meryam und goss sich eine Tasse Tee aus ihrer Thermosflasche ein. "Es lebe das Wettbewerbskartellrecht, wo Meryam ein kleines Rädchen spielt."

Die dritte Kugel kam per Skype aus einer anderen Welt. Ihr sehnsüchtig erwarteter Lebensgefährte Jan hatte keine Zeit gefunden, ihr sein Bild einzublenden. Während der Mittagspause hörte sie nur seine Stimme, kurz angebunden wie immer, aber jedes Wort funkelte wie ein Glücksstern: "Liebste, nur noch drei Wochen, und ich werde mit dir in unserem Bett liegen und dich in meinen Armen halten!"

Als sie sich in der Cafeteria einen frischen Tee holen wollte, rollte ihr eine weitere Überraschungskugel entgegen: Chris, ihr Kollege aus der Kartellabteilung auf der anderen Seite des Korridors fasste endlich den Mut, sie anzusprechen. Seit geraumer Zeit hatte er ihr gewisse Signale gesendet, hatte sie angelächelt, länger angesehen, ihr im Vorübergehen zugewunken, was sie als Interesse an ihr gedeutet hatte. Zwar wollte sie keine Liebelei in der Kanzlei, unbewusst freute sie sich jedoch, von so einem jungen, toll aussehenden Mann interessant und begehrenswert gefunden zu werden, insbesondere, wenn sie auf Jan sauer war und wegen seines langen Schweigens litt. Und das passierte nicht selten. Ein bisschen Erwartungskitzel gönnte sie sich im Laufe der langen Arbeitstage, aber sie war sich nicht im Klaren, was sie sich von dem Kollegen erhoffte, was sie sich von ihm wünschte: Entweder ihr einen Schritt näher zu kommen und sie direkt anzusprechen oder es doch nur beim Bewundern auf Distanz zu belassen. Und just an dem Tag, als Jan ihr seine Rückkehr oder einen Urlaub – es blieb immer unklar, was er da vorhatte – ankündigte, traf sie Chris bei der Kaffeemaschine in der Cafeteria und er entschied sich, sie direkt anzusprechen. Ihr Herz begann wild zu klopfen, als er ihr über die Schulter zuflüsterte: "Hallo Kollegin, seit langem schon wollte ich Sie um ein Gespräch bitten. Hätten Sie heute nach Feierabend vielleicht ein bisschen Zeit für mich?"

Sie drehte sich zu ihm um, sah ihm voller Erwartung direkt in die Augen, bemüht ihre Aufregung zu dämmen, und flüsterte zurück: "Heute nicht, vielleicht morgen. Worüber wollen Sie mit mir reden?" Sie ging einen Schritt beiseite, damit er seine Tasse füllen konnte. Es ginge um etwas Privates, flüsterte er. Das hatte sie sich schon gedacht. "Wie kann ich ihn jetzt abweisen, ohne ihn zu verletzen?", huschte es durch ihren Kopf. Hinter ihnen standen noch mehrere Kollegen, die ihrem Geflüster neugierig lauschten. Schnell verlieh sie ihrem Austausch eine offizielle Note, indem sie ihm halblaut versprach, ihm eine E-Mail mit Terminvorschlägen zu senden. Natürlich hatte sie nicht vor, sich mit ihm privat zu unterhalten, trotzdem genoss sie die durch seine Bewunderung hervorgerufene Wärme und musste sich selbst eingestehen, dass er ihr sehr gefiel, dass sie gerne nachgeholt hätte, was sie in ihren jungen Jahren aus mehreren Gründen verpasst hatte. Aber das durfte nicht in der Tabuzone der Kanzlei geschehen.

Nach der Rückkehr in ihre Nische erstaunte sie eine Nachricht von Frau Lothar aus der Abteilung Familienrecht: "Hallo, Frau Kasbah, die bedrohte Mandantin, für die Sie vorige Woche gedolmetscht haben, hat einen Unterschlupf in einem Frauenhaus gefunden. Jetzt muss sie nicht zu ihrem prügelnden Partner zurück." Es kam ihr ein bisschen komisch vor, dass sich die sonst mürrische Frau Lothar mit so einem Feedback bei ihr meldete. "Heute passieren lauter Wunder", dachte sie erfreut: "Ein Opfer häuslicher Gewalt wird, wenigstens in den nächsten Monaten, in einem sicheren Versteck bleiben können."

Als sie aus der Toilette kam, wo sie ihr Tampon ausgewechselt hatte, fand sie auf ihrem Schreibtisch die Krönung der Glückssträhne dieses Tages, und das war eine rote Minirose im Blumentopf. An der Blume hing eine Dankeschön-Karte vom zweiten Rechtsanwalt, für den sie ebenfalls als Assistentin tätig war. Auch er bedankte sich für die gute Zusammenarbeit, letztendlich für eine Anklageschrift, die sie für ihn verfasst hatte, an die sie sich aber momentan nicht mehr erinnern konnte "Was ist heute nur los? Ich habe bis jetzt, wer weiß wie viele Male, dasselbe für die beiden Chaoten gemacht, und sie haben es nie für wichtig befunden, sich bei mir zu bedanken. Hier stimmt etwas nicht, ihr Sinneswandel macht mir Angst. Nein, es gibt keinen Grund für Befürchtungen. Ich glaube, diese Nettigkeit hat ihnen ihr Oberboss, Herr Kowalsky, nahegelegt." Meryam erinnerte sich an das neulich geführte Protokoll, als sie bei einer Sitzung seine erkrankte Sekretärin vertrat. Sie fand diesen Text und las seine Worte: "Wir müssen möglichst viele junge Juristen aus ihren dunkeln Kämmerchen holen und sie für das Tageslicht der Gerichtssäle vorbereiten, um expandieren zu können. Und das ist ein Knochenjob, das wissen wir, deshalb scheuen viele ..." "Danke für die Anerkennung, aber ich habe nicht vor, so bald mein Refugium der Recherchen und Paragraphen zu verlassen." Sie lächelte vor sich hin, schloss die Augen und lauschte ihrer Zukunftsmusik, die im Privatbereich spielte: Hauptsache, Jan kommt wieder. Vielleicht wird er ihr gleich nach der Rückkehr einen Antrag machen. Aber das musste nicht sein, wichtig war, bald ein Baby zu zeugen, um eine Familie zu gründen.

Am Ende der Arbeitszeit war es ihr eine Genugtuung, die Stäbe ihres Abakus voller positiver Erwartungen zu betrachten, egal ob privat oder beruflich. Meryam gratulierte sich selber, zumal nichts davon ihr von selbst in den Schoss gefallen war.

Und nichts deutete darauf hin, dass viele dieser glänzenden Seifenblasen auf den Stäben vor ihr bereits am nächsten Tag, eine nach der anderen, wieder zerplatzen würden.

2

Am nächsten Tag.

In ihrer Glückswelle badend, war Meryam zu Bett gegangen, aber trotzdem wurde sie in der Nacht von einer Serie böser Träume heimgesucht, sogar ein Albtraum aus ihrer Jugend hatte sich wiederholt. Sie wurde von einer Frau gezwungen, ihre rechte Hand auf das Heilige Buch zu legen, wobei sie die Schwüre auf Arabisch wiederholen musste, nämlich, dass sie nie eine verdorbene Deutscharaberin werden würde. Sie wehrte sich dagegen und deklamierte stattdessen ein Gedicht von Ingeborg Bachmann aus dem deutschen Lesebuch. Die Frau im Traum drohte ihr an, ihr die Mähne anzuzünden, mit denselben Worten wie ihre Mutter in der Kindheit.

Diesen Alptraum hatte sie seit langem nicht mehr gehabt, und sie wunderte sich, woher er plötzlich wieder auftauchte, und das nach diesem wunderschönen gestrigen Tag. Sie vermied, ihn als ein böses Omen zu deuten, trotzdem stieg sie sehr bedrückt aus dem Bett und schaltete gleich ihr Smartphone ein, um zu sehen, ob Jan ihr die genauen Daten seiner Rückkehr geschickt hatte.

Tatsächlich gab es eine Botschaft von ihm, aber nicht die erhoffte.

"Meri, Liebste, die Situation hat sich ein bisschen geändert. Der junge Kollege, mein Ersatz, musste seine Ankunft aus familiären Gründen verschieben, nur einen Monat. Hab Geduld, Liebste, ich melde mich … , aber nicht heute, ich bin sehr beschäftigt, eine Epidemie ist im Anmarsch …"

Sie las seine Nachricht nicht zu Ende, alles über seine Selbstaufopferung bei der Verhinderung einer Seuche hatte sie bereits unzählige Male gelesen. Gefühle wie Aufregung oder Enttäuschung ließ sie gar nicht mehr zu, auch seine plötzlich geänderten Pläne waren ihr nichts Neues. Deshalb löschte sie die Nachricht, ohne auf seine Mitteilung zu reagieren. Sie betrachtete sich kurz im Spiegel und grinste ihr Konterfei an: "Hallo, Penelope, hast du wirklich gedacht, dass du deine Wartebank schon so bald verlassen kannst? Wie naiv, nein, wie blöd warst du gestern eigentlich, dass du ihm das abgenommen hast?"

Um nicht weiter daran denken zu müssen, wie viele Male Jan sie mit seinem "Kommen" und "Nichtkommen" manipuliert hatte, fuhr sie früher in die Kanzlei und begann gleich mit der Lektüre für den nächsten Fall des unfairen Wettbewerbs. Sie las zwei, drei Seiten, als sie das nächste Ploppaus dem Smartphone hörte. Anne, auch eine wiederholte Wortbrecherin, wollte das von ihr selbst vorgeschlagene, gemeinsame Wochenende abblasen. Auch das war nichts Neues. "Ruf mich an, es ist dringend", las sie erstaunt und war ein bisschen besorgt, was so dringend sein sollte. Hätte sie bloß absagen wollen, hätte es gereicht zu schreiben: "Mit Bedauern ... " An ihrer Arbeitsstelle telefonierte sie ungern privat, deshalb verschob sie den Anruf bis zur Mittagspause. Jedoch fünf Minuten vorher rief Anne sie an, mit einer Neuigkeit, die Meryam zu Eis erstarren ließ.

"Deine Schwester, Meryam, hörst du, das Mädchen ist deine

Schwester!"

"Anne, was redest du? Was für ein Mädchen?"

"Du hattest eine viel jüngere Schwester, nicht wahr? Wir haben sie gefunden."

"Wen habt ihr gefunden? Von wem redest du?"

Anne überschlug sich. Sie sprudelte eine Geschichte hervor, die Meryam wie ein böser Spuk in die Ohren drang und ihr Löcher ins Gehirn bohrte: Angelina Fojali, eine Sozialarbeiterin vom Verein 'Refugium', in dem Anne den leitenden Posten bekleidete, hatte gestern Abend in Begleitung zweier Polizisten in den Stadtteil gehen müssen, in dem Meryam früher gewohnt hatte, um einem Elternpaar das Sorgerecht für seine minderjährigen Kinder zu entziehen. Dabei hatte sie rein zufällig auch ein obdachloses, verwirrtes Mädchen von der Straße aufgelesen, und für eine Nacht in einem Jugendheim untergebracht. Aber das Jugendheim war brechend voll, sodass das Mädchen auf einem Sofa im Wohnbereich übernachten musste, was eigentlich nicht genehmigt war. An dieser Stelle schaltete sich ihr Gehirn aus und sie wartete auf eine Pause, um Anne zu fragen, ob sie fürs Wochenende packen sollte.

Ihre Freundin beendete ihre Story mit der Frage, ob sie das Mädchen kennenlernen möchte.

"Was redest du da? Warum soll ich ein obdachloses Mädchen in deiner Obhut kennenlernen?"

"Hast du nicht kapiert, ich rede von deiner Schwester! Ich habe sie heute Morgen besucht, weil mir der Name bekannt vorkam. Und tatsächlich, es ist Latifah, deine Schwester. Ich habe dir ja bereits gesagt, dass euer Bruder tot ist und seine Witwe sie vor die Tür gesetzt hat."

"Entschuldige Anne, aber ich kann nicht weiter reden. Ich habe eine Menge zu erledigen."

An dieser Stelle unterbrach sie den Kontakt und schaltete das Handy aus. Sie brauchte einige Minuten, um zu begreifen, was sie gerade von Anne erfahren hatte. "Wie kann sie mir so etwas zumuten? Sie weiß, dass alles, was mit meiner Vergangenheit zu tun hat, längst für mich gestorben ist. Ich habe keine Eltern, keine Geschwister mehr ..."

Es blieb ihr keine Zeit, die Wut auf ihre Freundin verrauchen zu lassen, weil die Sekretärin des Kanzleichefs plötzlich vor ihrer Büronische auftauchte, und ihr dessen Auftrag überbrachte:

Sie möge in einer Stunde in seinem Büro zu einem persönlichen Gespräch erscheinen.

"Ein persönliches Gespräch mit der obersten Autorität! Das hatte mir noch gefehlt!", dachte sie, aber die Sekretärin sah nur ihr gezwungenes Lächeln. Sobald diese um die Ecke verschwunden war, begann sie zu grübeln, was wohl hinter dieser unerwarteten Einladung steckte. Sein Büro hatte sie bis jetzt zwei Mal von innen gesehen, das erste Mal beim Vorstellungsgespräch, als er sie wohlwollend befragt hatte, und das zweite Mal, als der Vorgesetzte sie dem Duo der Wirtschaftsanwälte als ihre zukünftige Assistentin vorgestellt hatte. "Meine Herren, das ist Frau Meryam Kasbah, eine frischgebackene Juristin. In der Wettbewerbskartellabteilung brauchen wir frisches Blut. Bitte seien Sie nachsichtig mit ihr während der Einarbeitungsphase."

So frisch von der Uni war sie doch nicht gewesen, das war bereits ihre hundertzwanzigste Bewerbung, und endlich ein Volltreffer, und zwar im Wirtschaftsrechtssektor. Genau so etwas hatte sie die ganze Zeit gesucht. Im Familienrecht hätte sie viel schneller eine Stelle gefunden, aber dort wollte sie auf keinen Fall landen. Weder als Assistentin noch als aktive Rechtsanwältin.

Was wollte Herr Kowalsky so plötzlich? Sie feuern oder sie befördern? Sie warf einen Blick auf das Dankeschön-Röschen von ihrem Erststufe-Chef und Mentor. Hatte sie nicht mit ihrem Eifer ein bisschen übertrieben und ungewollt beider Aufmerksamkeit erregt? Oder … ? Sie hatte sich noch als Abiturientin entschieden, alles was mit Rassismus und Diskriminierung zu tun hatte, einfach nicht wahrzunehmen. Auch nicht die übertriebene politische Korrektheit. Dennoch war bei ihr irgendwo im Hinterkopf noch gespeichert, dass Herr Kowalsky ihr gegenüber, wie ihr schien, übermäßig nett gewesen war. Plötzlich kam ihr auch seine Äußerung bei der Vorstellung wieder in Erinnerung: Er möchte in seiner Firma gerne Mitarbeiter unterschiedlicher Herkunft beschäftigen und damit ein Zeichen gegen Rassismus setzen. "Schön für Sie, Herr Kowalsky, aber mir müssen Sie nicht beweisen, wie korrekt Sie politisch ticken. Können Sie mich nicht in Ruhe lassen, mich ungestört meine Arbeit verrichten lassen, wie das in meinem Vertrag festgelegt ist? Ein Überfall, der meine Beförderung zum Ziel hat, kann mir im Moment gestohlen bleiben!"

Von dem Gedankenkarussell wurde ihr übel. Hastig kaschierte sie die Blässe um ihre Nase mit einer getönten Gesichtscreme, um nicht wie ein erschrockenes Huhn in sein Büro zu flattern. Die Blässe übertüncht, den psychischen Aufruhr mit einer Dosis Selbsthumor betäubt, fühlte sie sich gewappnet, in seinem Büro selbstbewusst aufzutreten.

Herr Kowalsky bot ihr an dem kleinen Tisch für individuelle Gespräche und Beratungen Platz an, und gleich war ihr klar, es lag nicht in seiner Absicht, sie zu feuern. Aber was dann? Wahrscheinlich noch Schlimmeres, sie aus ihrem ruhigen Besenkämmerchen zu vertreiben.

Es erschien ihr merkwürdig, dass er nicht gleich zur Sache kam. Zuerst sprach er allgemein von Frauen und Karrieren. Dass deren Biouhren unablässig ticken, könne er nachvollziehen, zumal er dies in seiner eigenen Partnerschaft erlebt hätte. Nachdem seine Frau ihren Dreißigsten hinter sich hatte, habe sie ihm ein Ultimatum gestellt: entweder ein Baby oder sie würde ihn verlassen. Damit habe sie ihre Ehe in eine ernsthafte Krise gestürzt, er sei damals noch nicht dazu bereit gewesen ... Jetzt sei er glücklich, dass sie so gehandelt hatte, es sei so schön, eine Familie zu haben.

Während Herr Kowalsky Dinge von seinem Privatleben preisgab, beobachtete sie seine Hände, die sich bewegten, als agiere er als Verteidiger in einem Gerichtssaal.

"Will er mich prüfen, ob ich lieber ein Kind möchte als eine Karriere in dieser Kanzlei?" Eigentlich hatte sie nie eine Biouhr in sich ticken hören, in einer Schwangerschaft sah sie lediglich eine Möglichkeit, den Doktor Jan endlich aus Afrika nach Hause zu holen. Sie hatte es sattsam genug, sich im Leben immer alleine durchschlagen zu müssen und ewig zu warten, nicht einmal sicher zu sein, ob er überhaupt plante, in absehbarer Zeit zurückzukehren.

Vertieft in ihre Gedanken, verpasste sie seine Überleitung zum Familienrecht in ihrer Firma, in dem gerade drei Rechtsanwältinnen ihre Schwangerschaft angekündigt hatten. Er wiederholte seine Information, als er merkte, dass sie nicht zuhörte.

"Drei auf einmal, das ist ein Problem", flüsterte sie, in Vorahnung, was jetzt kommen würde.

"Wir sind familienfreundlich, natürlich fragen wir die jungen Frauen bei der Einstellung nicht, wie ihre Familienplanung aussieht."

"Herr Kowalsky, in diesem Sinne habe ich im Moment keine Pläne", sie schaffte es zu lächeln, "mein Lebensgefährte bleibt noch eine Weile in Afrika, wo er ein Krankenhaus aufbaut und leitet. Und ich habe nicht vor, zu ihm zu fliegen ..."

Und dann knallte sein Paukenschlag auf sie nieder: Frau Lothar, die Leiterin der Familienrechtsabteilung wünschte sich eine Rechtsanwältin mit Meryams Sprachkenntnissen und ihrem psychologischen Gespür für die Probleme der Menschen zwischen den Kulturen.

Frau Lothar, Gott erbarme dich, die Leiterin mit dem Charme eines Drachen! Meryam hatte ein paar mal miterlebt, wie sie ihre Mitarbeiterin wegen einer Nichtigkeit zusammenfaltete. Ihr Dolmetschen und Beraten hatte sie niemals mit einem Dankeschön gewürdigt.

Herr Kowalsky taxierte sie, gespannt auf ihre Reaktion.

Ihr Herz hatte Mühe, den Kopf mit Blut zu versorgen.

"Aber Herr Kowalsky, ich mag meine Stelle im Wettbewerbskartellrecht … Ich habe nie angestrebt ..."

"Das glaube ich Ihnen, ich habe auch mit Ihren Chefs gesprochen ..."

"Ich habe wirklich wenig mit Familienrecht am Hut, dort bin ich nur als Unterstützerin aufgetreten, ich meine, ich habe mit meinen Sprachkenntnissen unterstützt … Jemand unterstützt einen Verein, der andere eine Stiftung … durch gute Taten eben."

Ihr Vorgesetzter hatte keine Zeit mehr, ihren Ausflüchten zuzuhören, denn seine Sekretärin signalisierte ihm einen wichtigen Anruf. Er entließ Meryam mit den Worten:

"Wir haben noch vielleicht ein paar Monate Zeit. Überlegen Sie es sich! Ohnehin müssen wir Sie aktivieren, Sie können nicht ewig in dieser ruhigen Ecke bei den vielen Recherchen verharren. Ihre Fähigkeiten brauchen Aktionen, um sich entfalten zu können."

"Woher wollen Sie wissen, was ich brauche?", murmelte sie und lief gleich zur Toilette, um ein blutiges Desaster zwischen den Beinen zu verhindern. Jetzt fiel der Groschen. Mit einem Mal wurde ihr klar, weshalb dieses Dankeschön auf ihrem Schreibtisch gelandet war, und warum es Frau Lothar als wichtig erachtet hatte, ihr die positive Entwicklung eines Falles mitzuteilen.

"Die schönen Erwartungen von gestern haben sich in Luft aufgelöst. Der heutige Tag bringt ganz andere Bescherungen: Anne will mir eine Schwester aus der Vergangenheit aufdrängen, die ich nicht brauche, der Boss will mich mit einer Beförderung beglücken, die mir gestohlen bleiben kann …"

Auf dem Weg zu ihrer Nische traf sie Chris, der erneut ihren Augenkontakt suchte, und sie erinnerte sich vage, ihm etwas versprochen zu haben. "Entschuldigung, junger Mann, aber heute ist mir ganz und gar nicht nach Flirten zumute. Eigentlich habe ich Jan ja nie versprochen, auf ihn wie eine Nonne zu warten, das hat er auch von mir gar nicht verlangt. Wahrscheinlich hatte er gar keine Zeit, daran zu denken. Neben seiner Mission ist ihm alles andere so unwichtig. Chris, du gefällst mir, du duftest so angenehm … aber bleib lieber auf Distanz von mir, ich muss mich zuerst ein bisschen sortieren,“ dachte sie und würdigte ihn keines Blickes.

Sie schaltete kurz ihr Telefon ein, und fand darauf drei Fragen Annes: Warum sie schweige? Ob sie heute Abend mit ihr zum Jugendheim gehen möchte? Ob sie ihre Schwester wirklich nicht kennenlernen wolle?

"Woher und warum hat sie gerade jetzt eine Schwester für mich ausgegraben? Anne, komm mir nie mehr damit!" Ja, damals gab es noch zwei jüngere Kinder in dieser Wohnung, die sie durch ihre jungen Jahre wie eine enorme Last hatte schleppen müssen, die sie aber nie als ihre Geschwister wahrgenommen hatte. Für sie waren diese beiden die Kinder ihrer Feindin, die trotz aller ihrer Bemühungen nicht trocken werden wollten, und denen sie Tag und Nacht die Popos abputzen und die Windeln wechseln musste. "Anne, lass die Leichen meiner Vergangenheit im Keller, wo sie hingehören", antwortete sie Anne und fragte sie, wohin sie am Wochenende fahren würden, falls solche Pläne noch aktuell seien. Danach begrub sie sich in ihrer Arbeit, um die Dokumentation für einen Widerspruch vor Gericht zusammenzustellen. Was für eine Erleichterung, sich um die Sorgen der anderen und nicht um ihre eigenen kümmern zu müssen.

Chris, ihr junger Kollege, hatte keine Geduld mehr, auf ihren guten Willen zu warten und sprach sie nach Feierabend auf dem Parkplatz vor dem Gebäude wieder an.

"Frau Kasbah, haben Sie heute ein wenig Zeit für mich? … Ich brauche ... , es ist dringend, ich möchte Sie um einen Rat bitten."

Sie stand unschlüssig da, bis er wiederholte, dass er sie wirklich nur um einen Rat bitten möchte. Sein Ton verriet ihr, dass er keine Verführung im Schilde führte. "Wenn ich ihn jetzt fragen würde: 'Wohin heute Abend, zu mir, oder zu dir?', würde er die Flucht ergreifen. Vielleicht sollte ich ihn mit so etwas vertreiben?"

Sie fuhr sich mit dem Lippenstick über den trockenen Mund und schaute ihm direkt in die Augen.

"Unsere Kanzlei ist voller Rechtsanwälte, die sicher bessere Ratgeber sind als ich."

"Frau Kasbah, es geht um eine sehr private Angelegenheit, und ich hoffe, Sie können mir helfen, weil Sie sich damit auskennen. Darf ich Sie zu einem Drink einladen? Dort gibt es eine Bar."

Sie kannte diese Bar. Manchmal feierten die Kollegen in diesem Gefilde ihre Siege vor Gericht, und, wenn sie ebenfalls eingeladen war, versuchte sie, keine Spielverderberin zu sein, obwohl sie sich dort immer wie in einer Folterkammer fühlte, in der die Gäste selber die Folterknechte bezahlten, damit diese ihnen durch eine Tortur aus schriller Musik und grellen Lichtern den Verstand raubten. Das war kein Ort für ein ernsthaftes Gespräch. Dazu war die Wahrscheinlichkeit hoch, zu dieser Uhrzeit dort auch noch andere Kollegen anzutreffen, deren Phantasie grenzenlos war, wenn sie eine Affäre in der Kanzlei witterten.

Sie schlug ihm vor, in die Cafeteria zurückzukehren, wo man zu dieser Zeit ungestört war, wenn man ein privates Gespräch führen wollte. "Bringen wir das hinter uns", dachte sie, ein bisschen neugierig, zu erfahren, welche gemeinsame Schnittstelle seine und ihre Privatsphäre haben mochten, warum er überzeugt war, dass sie ihn beraten konnte.

Sie ließ sich eine Tasse Cappuccino durchlaufen, um ihre Müdigkeit zu vertreiben. Auch Chris bereitete sich eine zu, wobei seine Hände leicht zitterten.

"Frau Kasbah ... ich möchte Sie bitten, mit meiner Partnerin zu sprechen", sagte er, als sie sich an den Tisch setzten.

Seine Bitte verblüffte Meryam so sehr, dass sie das mitgebrachte Glas Wasser umkippte, das sich auf ihre Schuhe ergoss. Sie bückte sich, um ihr Schuhwerk trocken zu reiben und blickte ihn von unten her an. Er wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn, stand auf und ging zum Automaten, um sich eine kühle Flasche Saft zu holen.

"Was ist los mit ihm? Hat der berühmte Crash der Kulturen ihn erwischt? Aber wie oder wo? Vielleicht im Kindergarten? Hat ein Rabauke aus dem Ghetto seinem Sohn dort eine Tracht Prügel verpasst und danach sind die Mütter der Jungs in Streit geraten? Zwei Helikopter-Mamas, aber diejenige aus der Unterwelt ist stärker, sie hat noch ihre Schwester oder ihren Bruder als Stärkung mitgebracht. Die Blutbande in diesem Milieu hat ihre eigenen Gesetze und schert sich wenig um Gerechtigkeit ..." Diese Gedanken flogen ihr durch den Kopf, während sie sich die Hände wusch und ein Wasser holte.

"Keine Sorge, lieber Kollege, Dolmetschen und Aufklären ist meine Lieblingsbeschäftigung. Ihre Partnerin kenne ich nicht.

Worüber soll ich mit ihr reden?"

Er räusperte sich, sein Teint färbte sich rot, sie fand seine Verlegenheit richtig süß.

"Einige Frauen aus der Abteilung fürs Familienrecht haben mir erzählt … Frau Lothar, zum Beispiel. – Sie hat Sie 'eine mutige Ausländerin' genannt.

Ausländerin? Typisch Frau Lothar. Meryam hatte ihr schon ein paar Mal gesagt, dass Deutschland ihr einziges Heimatland war. Das Land, aus dem ihre Eltern stammten, hatte sie nie in ihrem Leben gesehen. Aber diese Leiterin hatte nicht verstanden, was sie ihr sagen wollte. Sie belehrte die hilfesuchenden

Mandantinnen mit Zuwanderungshintergrund: Nehmt euch

Frau Kasbah als Vorbild, sie ist eine Ausländerin, wie ihr."

"Es ist sehr gefährlich, von Frau Lothar gelobt zu werden", dachte Meryam und fragte, was er noch von der Leiterin erfahren habe.

" 'Sie hätten immer so gelebt', sagte sie, 'wie Sie wollten. Sie hätten sich Ihre Freiheit erkämpft und Sie würden jetzt mit einem deutschen Mann zusammenleben ... ' "

In seiner ganzen Haltung gab es etwas rührend Unbeholfenes, wie bei vielen jungen Menschen, die überzeugt waren, so viel Pech im Leben nicht verdient zu haben.

"Es scheint, in der Firma wird viel über mein privates Leben gesprochen ..."

"Nichts Negatives. Viele bewundern Sie, weil Sie so emanzipiert sind."

"Für eine Ausländerin zu emanzipiert", dachte Meryam und fragte ein wenig barsch, was ihre Lebenserfahrungen mit seiner Partnerin zu tun hätten. Ihr Kollege stöhnte und schaute Meryam voll Bewunderung an.

"Frau Kasbah, bei uns ist alles so beschämend kompliziert. Meine Partnerin findet keinen Mut, ihren türkischen Eltern die Wahrheit zu gestehen, dass ihr Partner, das bin ich, mit dem sie einen Sohn hat, ein ganz normaler Deutscher ist. Wie war das bei Ihnen, wie haben Ihre Eltern reagiert, als Sie ihnen gesagt haben … wie konnten Sie sie überzeugen?"

"Frau Lothar redet viel. Gut für mich, dass sie nicht alles weiß", dachte Meryam und suchte nach Worten. "Ich bin verdammt, immer wieder in denselben Integrationsschlamassel zu geraten." Sie sah ihm direkt in die Augen, die nass glänzten, vor Wut, Enttäuschung, Ohnmacht … Er tat ihr leid, aber sie wollte ihm ihre Situation nicht verraten.

"Latifah heißt dieses Mädchen, dessen Mutter … dessen Mutter mir angedroht hatte, mein Haar anzuzünden, wenn ich nicht gehorsam sein würde … Das will ich ihm nicht erzählen, ich will nicht das Bild, das er von mir hat, zerstören. Es ist so schön, von der Umgebung so hoch geschätzt zu sein."

Ihr Blick heftete sich auf seine schön geformten aber rauen

Lippen, die einen roten Herpesfleck trugen. "Armer Junge, eine Menge Stress mit diesen Ausländern." Sie nippte an dem lauwarmen Cappuccino und versuchte, sich auf seine Geschichte zu konzentrieren: Seine Kindheit war nicht gerade glücklich verlaufen, als Junge fühlte er sich zerrissen zwischen den geschiedenen Eltern, die dann neue Familien gründeten und ihn in ein Internat steckten. Vor ein paar Jahren hatte er das Glück, seine Partnerin kennen zu lernen, und am Anfang schien alles perfekt zu sein. Sie war eine warmherzige aber gleichzeitig stabile Persönlichkeit, genau wie er es damals benötigte.

Er verstummte und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. Eigentlich hatte sie keine Lust, die Fortsetzung zu hören, trotzdem berührte sie seine Hand und fragte wie eine besorgte Schwester, was in der Zwischenzeit geschehen sei, da seine Partnerin offensichtlich diese Stabilität verloren habe.

"Zu Beginn hat sie mir nicht gesagt, dass sie mich ihrer Familie nicht vorstellen wollte. Sie ist fast fünf Jahre älter als ich; wir haben uns im Internet kennengelernt, dort wo man einen Partner für die Gründung einer Familie sucht. Ich war fest überzeugt, dass mir so ein Desaster wie bei meinen Erzeugern nicht passieren würde."

"Unsere frommen Wünsche", murmelte Meryam und goss sich noch eine Tasse Tee auf, weil sie nicht ruhig sitzen konnte.

"Schnell zogen wir zusammen, aber anfangs hatte ich keine Ahnung, dass ihre Eltern, die in einer anderen Stadt leben, nichts davon erfahren durften. Ich habe sie meiner Mutter vorgestellt, aber ihr war es egal, mit wem ich lebte. Meine Partnerin hat Wirtschaft und Management studiert, bekleidet sogar eine leitende Position in einer Firma, verdient viel mehr als ich, also eine erfolgreiche Frau in jeder Hinsicht … Nachdem wir uns in der gemeinsamen Wohnung eingerichtet hatten, wollte sie möglichst schnell schwanger werden. Es dauerte ein bisschen. Als sie ihre Eltern das erste Mal besuchte, sagte sie mir: Nein, du kommst nicht mit, ich muss ihnen zuerst Bescheid sagen … Ich dachte, sie schämt sich für sie, weil sie nicht Deutsch können. Dann begann ich Türkisch zu lernen. Noch immer hatte ich keine Ahnung, ob sie ihnen von den Änderungen in ihrem Leben berichtet hatte. Ein paar Monate später, sie war schon schwanger, kündigten sie ihren Besuch bei ihr an. Dieses Mal erfuhr ich von ihrem Schwindel. Man muss doch viel Phantasie haben, um so eine Partnerschaft zu erfinden. Kurz gefasst, ihre Eltern erfuhren, dass sie mit einem Mann lebte und sein Kind trug, aber das war nicht ich … sondern ein eingetürkter Bosnier, natürlich ein Muslim, der für eine NGO arbeitete, eben ein Aktivist, der selten zuhause war. Natürlich durfte ich die Gäste nicht in unserer Wohnung willkommen heißen, weil ich gerade bei einer Rettungsaktion, irgendwo am Mittelmeer, engagiert war, so hat sie es ihnen erzählt. Während ihre Eltern bei ihr gastierten, wohnte ich in einer Pension. Unser Sohn wurde geboren, bekam den Namen Deniz oder Denis, wie man möchte, meine Partnerin ist eine wunderbare Mutter, schafft und organisiert alles, plant noch ein Kind, weil die Biouhr tickt … Aber ich, ich muss weiterhin aus unserer Wohnung ausziehen, wenn ihre Eltern zu Gast sind. Für sie bin ich nicht im Lande, sondern irgendwo in der Welt, wo ich um die Befreiung der politisch Verfolgten kämpfe. Sie hat aus mir einen Hero gemacht ... "

Meryam betrachtete wieder seine bebenden Lippen und analysierte schnell seinen Bericht, wie die Aussage eines Zeugen vor Gericht. Was war komisch an der ganzen Geschichte? Sie war sicher, dass die Eltern sehr wohl wussten, mit wem sie zusammenlebte, aber sie ließen sie gewähren, aus welchen Gründen auch immer.

"Ich kann nicht mehr. Frau Kasbah, bitte helfen Sie mir, meine Frau zu überzeugen, ihren Eltern die Wahrheit zu sagen. Ich will nicht, dass meine Kinder in solchen Lügen aufwachsen."

Meryam nahm eine Spange aus der Tasche und bändigte ihre Mähne, wobei sie lächelnd dachte, wie schön und einfach es gewesen wäre, wenn er sie "zu mir oder du dir?" gefragt hätte. Ein paar Stunden ihre Alpträume der Vergangenheit und seine Frustration der Gegenwart einfach ausblenden ...

"Chris … wie war Ihr Nachname? … Martin, ja, Herr Martin, wenn ihre Eltern auch in einer anderen Stadt leben, bedeutet das nicht, dass sie nicht wissen, mit wem ihre Tochter zusammenlebt. Bei den Deutschtürken oder Arabern ist die Sozialkontrolle effektiver als die einstige Stasiobservierung und -bespitzelung. Aber die Alten wollen ihre gut ausgebildete und gut verdienende Tochter, die sie wahrscheinlich auch finanziell unterstützt, nicht bloßstellen. Sie haben die Wahl getroffen, sich zu verstellen und nicht weiter zu bohren … Meiner Meinung nach eine kluge Entscheidung. Ihrer Tochter machen sie keinen Stress und gleichzeitig behalten sie auch ihren sozialen Status in der Großfamilie oder in der Gemeinde. Die Lüge schützt ihre heile Welt, die von der Wahrheit bedroht ist. In ihren Kreisen erzählen sie weiter, was sie ihnen aufgetischt hat, rühmen sich ein bisschen mit diesem fiktiven Hero und müssen sich nicht rechtfertigen."

Er fasste sich an den Kopf, als wären ihre Worte schmerzhaft auf seinen Schädel niedergeprasselt.

"Vielleicht würden sie mich mögen, wenn sie mich, so wie ich bin, kennenlernen würden."

Meryam war zu müde, überhaupt noch zu denken. Wie durch Watte hindurch hörte sie wieder seine Stimme:

"Vor einigen Tagen haben ihre Eltern nun wieder ihren Besuch angekündigt, und ich habe mich geweigert, die Wohnung zu verlassen. Und sie, eine hochgebildete, im Berufsleben total eingedeutschte Frau, sagte mir, sie könne das ihren Eltern nicht antun, sie wolle nicht, dass sie meinetwegen ihre Ehre verlören. Wenn ich für zwei Wochen nicht anderswo wohnen wolle, werde sie sich von mir trennen, für immer. Und das Kind mitnehmen."

Meryam stand auf und kippte den Tee in das Waschbecken, während es in ihrem Kopf tickte: "Je früher, desto besser! Junger Mann, je früher, desto besser für dich ..." Sie löste wieder den Dutt, weil die Haarwurzeln ihr wehtaten, und nahm ihre Handtasche.

"Ich möchte jetzt nach Hause, ich bin so erledigt. Ich rate Ihnen, mitzuspielen, in der momentanen Situation halte ich das für das Beste."

Das wollte er von ihr nicht hören.

"Frau Kasbah, meine Partnerin kommt morgen hier vorbei, sie hat eine Beratung in der Wirtschaftsabteilung … Ich möchte sie Ihnen vorstellen ..."

"Ich habe ihr nichts zu sagen", ihre Stimme klang spöttisch, obwohl sie das gar nicht beabsichtigte.

"Wenn Sie ihr erzählen, wie souverän Sie mit Ihrer Partnerschaft umgehen, vielleicht … nein, ganz bestimmt, können Sie ihr Mut machen, ihre Eltern mit der Realität zu konfrontieren … Es wäre hilfreich für sie, sich mit jemandem austauschen zu können."

"Herr Martin ..."

"Aber wir sind Kollegen, ich bin Chris ..."

"Bleiben wir formell bitte … Herr Martin, ich kenne viele solche Geschichten wie die Ihre, zu Genüge sogar. Ich kenne alle Facetten unseres unseligen Zusammenpralls der Kulturen und ich möchte offen mit Ihnen sprechen." Plötzlich begannen die Wände ringsum zu schwanken. Sie hielt sich an einem Stuhl fest und schaute beiseite. "Begraben Sie Ihre Hoffnung, etwas ändern zu können. Spielen Sie mit, dann vielleicht hat Ihre Partnerschaft eine Zukunft."

Er fasste sich wieder an den Kopf und zog ein langes Gesicht.

"Aber wie und warum hat Ihre Familie Ihre Wahl akzeptiert?" Seine Stimme klang heiser und er blickte sie feindselig an, als wolle sie ihm etwas vorenthalten, was sie selber bewältigt hatte.

"Meine Familie? Ich habe mein Elternhaus vor langer Zeit, noch als Gymnasiastin, verlassen, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können", dachte Meryam und sagte laut, das sei eine lange sehr private Geschichte, es mache keinen Sinn, sie jetzt zu erzählen. Doch sie musste ihre Hand hinter dem Rücken verstecken, um nicht dem Impuls zu folgen, ihn wie ein enttäuschtes Kind zu streicheln und zu trösten.

"So sieht die Welt aus. Ich kenne kein Wundermittel, das Ihre Partnerin umstimmen kann …"

Die Tür flog auf, zwei Raumpflegerinnen mit Kopftüchern rückten lachend in die Cafeteria ein und schalteten das Licht an. Sie zuckten zusammen, als sie zwei Menschen darin erblickten. Meryam bemerkte, wie die beiden Blicke austauschten, nachdem sie sie gemustert hatten. Die ältere krächzte auf Türkisch: "Wenn sie meine Tochter wäre, könnte ich sie umbringen! Wissen ihre Eltern, dass sie eine deutsche Schlampe ist? Gott sei Dank ist sie nicht von unserer Nationalität, vielleicht arabisch.

Aber doch ist es eine Schande."

Meryam näherte sich ihnen und setzte ihre lang geübte Überheblichkeitsmiene auf. Ihr Türkisch war schulmäßig und nicht so fließend, aber sie wusste, dass die Frauen sie verstehen konnten.

"Meine Damen, wir haben unsere Besprechung beendet. Ihr könntet mit eurer Arbeit beginnen. Übrigens, ich bin Juristin. Wenn ihr heute Abend von euren besoffenen Männern Prügel bekommt, zögert nicht, mich um Hilfe zu bitten. Ich werde euch als Juristin mit Rat und Tat ..."

Beide Frauen verschwanden rasch Richtung Abstellkammer.

Als sie draußen waren, wollte Chris Martin wissen, worüber sie mit ihnen gesprochen hätte. "Ich kann ein bisschen Türkisch, aber das war zu schnell ..."

Sie öffnete den Mund, um ihm die Wahrheit zu sagen, aber dann kam etwas ganz anders aus ihrem Mund heraus.

"Sie möchten so gerne eine Tochter oder eine Schwester wie mich haben."

"Sehen Sie, nicht alle Türken ..."

"Nein, nein, nicht alle, natürlich nicht. Nicht alle Türken, nicht alle Araber, nicht alle Roma. Nicht alle Deutsche sind Nazis ….", murmelte sie und setzte sich schnell in den Wagen, um ihm keine Zusage in Bezug auf ein Treffen mit seiner Partnerin am nächsten Tag machen zu müssen.

3

"Arme Latifah