Scheiß auf die anderen - Rebecca Niazi-Shahabi - E-Book

Scheiß auf die anderen E-Book

Rebecca Niazi-Shahabi

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Beschreibung

Haben Sie das Gefühl, dass immer dort, wo Sie nicht sind, das Leben aufregender und schöner ist? Dass Andere mehr Abenteuer, Glück und Liebe erleben? Auf Facebook sieht Ihr normales Leben oft ziemlich armselig aus? Lehnen Sie sich zurück, denn ab heute ist Schluss mit dem schlechten Gefühl, dauernd das Falsche zu wollen. Pfeifen Sie auf Ratschläge, die schwer mit der Realität vereinbar sind und übernehmen Sie nicht leichtfertig Ideale, die in Wirklichkeit völlig unerreichbar sind! Denn niemand ist glücklicher, beliebter oder spiritueller als Sie selbst - und schon gar nicht jene, die einem ständig erzählen, was man wollen soll. 

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

ISBN 978-3-492-97159-1

Oktober 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin

Covermotiv: Martina Kiesel

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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VORWORT

»Pari shōkōgun« ist der Name eines Syndroms, das Japaner befällt, die zum ersten Mal nach Paris reisen. Kaum betreten sie die Stadt ihrer Träume, fallen sie in Depressionen, bekommen Herzrasen, manchmal sogar Halluzinationen. Anstatt in den Straßen herumzubummeln, ziehen sie sich in ihr Hotelzimmer zurück. Voller Erwartungen waren sie aufgebrochen zu ihrem Sehnsuchtsort, den sie sich mitunter jahrelang in den schönsten Farben ausgemalt hatten. Die Wirklichkeit versetzt sie in eine Art Schockzustand.

Befragt man Japaner, wie sie sich Paris vorstellen, dann schildern sie einen inspirierenden Ort voller Künstlercafés, in dem alle Menschen aussehen wie Fotomodels. Sowohl Männer als auch Frauen tragen schöne, teure Kleidung, schlendern lässig umher und lächeln den ganzen Tag, und ehe man sich versieht, hat man sich in einen dieser charmanten Stadtbewohner verliebt.

Mit dem echten Paris werden die japanischen Besucher nicht fertig: einer Stadt voller Menschen, die nicht nur eine unverständliche Sprache sprechen, sondern zudem alles andere im Sinn haben, als Touristen in sich verliebt zu machen. Wie in fast allen europäischen Großstädten verhalten sich die meisten Einwohner so ruppig, dass ein Japaner dies als ausgesprochen aggressiv empfindet. Was die japanischen Touristen in dieser Stadt erleben müssen, hat mit dem Mythos Paris wenig zu tun.

So ähnlich geht es mir mit dem Mythos von einem gelingenden, erfüllten Leben. Ein Leben, in dem man immer Zeit für eine gute Tasse Kaffee in der Morgensonne findet und trotzdem irgendwie erfolgreich ist. In diesem Leben ist die Liebe stets leidenschaftlich, der Job eine Berufung, der eigene Körper ein Tempel und Kinder ein kostbares Geschenk.

Wo es früher gereicht hat, eine feste Stelle zu haben und Stefan und Sandra auf die Schule nebenan zu schicken, einmal die Woche zum Sport zu gehen und im Sommer nach Italien zu fahren, werden wir heute in sozialen Netzwerken dazu aufgefordert, »endlich richtig zu leben«,»gleich heute damit anzufangen«, »unserDing zu machen«.

Diese allgegenwärtigen Aufforderungen erzeugen in mir ein diffuses Gefühl der Erwartung. Denn wie die meisten Menschen möchte auch ich etwas Besonderes aus meinem Leben machen, und so sehne ich mich nach dem Moment, in dem ich spüre, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Dann werde ich nichts mehr halbherzig und ohne Leidenschaft tun, dann werde ich die Welt entdecken, meine Träume leben und meine Tochter Anna-Madita Xiomara nennen. Während ich noch auf diesen wunderbaren Moment warte, genießen die anderen bereits ihr selbstbestimmtes Leben.

In den sozialen Netzwerken kann ich es mit eigenen Augen sehen: Andere Menschen reisen weiter, lieben inniger, ernähren sich gesünder und sind im Einklang mit sich selbst. Die anderen haben – und das ist der Unterschied zu mir – ihren Platz im Leben schon gefunden. Und solange ich diesen Platz nicht gefunden habe, darf ich mich nicht wundern, wenn sich mein Leben wie ein Provisorium anfühlt.

Viel schlimmer als die Tatsache, dass man selbst nicht weiß, wie man leben soll, ist also die Sorge, dass es anderen viel besser gelingt! So wie ein japanischer Reisender sich ohne den Mythos Paris wohl damit abfinden könnte, dass er von seinem Reiseziel enttäuscht ist, so könnte auch ich mich wahrscheinlich daran gewöhnen, dass mein Leben nicht immer aufregend ist und ich immer wieder an mir selbst zweifle. Was mich und die vom »Pari shōkōgun« Betroffenen jedoch quält, ist die Vorstellung, dass andere offensichtlich etwas sehen, fühlen und erleben, wozu wir nicht in der Lage scheinen! Da ist es ziemlich egal, ob sich nur eine Stadt oder gleich das ganze Leben weigert, sich in seiner ganzen Herrlichkeit zu zeigen.

Es gibt nur eines, was einen in dieser Lage trösten könnte: nämlich die Erkenntnis, dass es anderen nicht besser ergeht.

1SCHLUSS MIT DEM SCHLECHTEN GEWISSEN!

WENN FREIHEIT ZUM TERROR WIRD
In dem Moment, in dem du das Wort »Freiheit« oder »Demokratie« hörst, sieh dich vor, denn in einem wahrhaft freien Land müsste dir keiner sagen, dass du frei bist.
Jacque Fresco

Manchmal wünschte ich mir, es käme jemand und würde mich unterdrücken. Ein Mensch oder eine Gesellschaft, die mir verbieten würden, zu lernen, zu studieren, die Haare kurz oder lang zu tragen, Liebschaften zu haben oder Auto zu fahren. Ich würde mich gern fühlen wie eine Frau, die ihre Meinung für sich behalten muss, oder wie ein Mann, der Berufsverbot erhält; ich will wissen, wie es ist, wenn es verboten ist, Bücher zu lesen oder den Menschen zu heiraten, den man liebt. Kurzum: Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre, wenn die Menschen um mich herum mir verbieten würden, so zu leben, wie es mir entspricht.

Die einzige Freude in dem mir aufgezwungenen Leben wären die Treffen mit Leidensgenossen, die so wie ich an der Selbstentfaltung gehindert werden. Bei ihnen fühle ich mich zu Hause. Gemeinsam entwickeln wir Strategien, wie sich die Repressionen umgehen lassen. Mit viel Witz und Kreativität trotzen wir unseren Unterdrückern die wenigen köstlichen Freiheiten ab. Die heimliche Autofahrt, das auf dem Dachboden gelesene Buch, der Besuch eines illegalen Konzerts mit gesellschaftskritischen Songs – in solchen Stunden fühlen wir uns verwegen und lebendig.

Nach diesen erhebenden Momenten der Freiheit kehren wir gestärkt in unser normales Leben zurück. In ein Leben, mit dem wir unzufrieden sind, weil es nicht das selbst gewählte ist. Diese Unzufriedenheit, die in uns brodelt und kocht, ist das wertvollste Gefühl, das wir haben, denn es zeigt uns genau, wo die Rolle, die andere für uns vorgesehen haben, einfach nicht passt.

Unsere Helden sind die, die es geschafft haben, die, die sich nichts mehr verbieten lassen. Sie fahren als erste Frau in einem roten Jaguar durch die Stadt, sie studieren als erster Schwarzer an einer Eliteuniversität. Sie lehnen es ab, die Frau oder den Mann zu heiraten, die oder den ihre Familie für sie vorgesehen hat. Sie ziehen weg von den Eltern, sie leben mit ihrem Liebhaber oder ihrer Geliebten zusammen. Sie verlassen das Land und verdienen ihr eigenes Geld, sie rauchen auf der Straße, sagen, was sie denken, ziehen Hosen an und schlafen, mit wem sie wollen, und essen sogar Schweinefleisch.

Diese besonderen Menschen haben sich getraut, gegen den Willen der Familie ihren Traumberuf zu ergreifen. Sie haben sich von überkommenen Traditionen befreit und animieren diejenigen, die noch in ihnen gefangen sind, es ihnen gleichzutun. Dass sie von den Verteidigern der alten Ordnung abgelehnt werden, kann ihnen nichts mehr anhaben, im Gegenteil: Jede Ablehnung macht sie nur noch stärker, denn der Widerstand der anderen zeigt ihnen, dass sie auf dem richtigen Weg sind.

Alles, was sie tun, erregt Aufmerksamkeit. Ihr Handeln wird durch ihren Widerstand geadelt. Wenn sie Romane lesen, dann faulenzen sie nicht, sondern stillen ihren Hunger nach Bildung. Das selbst verdiente Geld ist ein Symbol für ihre Unabhängigkeit und kein Zeichen ihrer Gier. Ihre rasante Autofahrt durch die Stadt ist Rebellion und keine Umweltverschmutzung. Ihre vielen Liebschaften sind nicht Ausdruck ihrer Beziehungsunfähigkeit, sondern ihrer Lebenslust. Sie sind eben Vorreiter und keine Egoisten, und der Kampf um ihre eigene Freiheit ist ein Kampf für die Freiheit aller Unterdrückten dieser Welt.

Die Freiheit dagegen ist fad und kompliziert noch obendrein. Wie soll ich wissen, was ich wirklich will, wenn mir nichts verboten wird? Womit kann ich noch Aufmerksamkeit erregen, wenn alles erlaubt ist? So fiel der Musiker Rex Joswig, Gründer und Sänger der Underground-Band »Herbst in Peking«, aus der ehemaligen DDR nach dem Mauerfall in ein Loch. In den siebziger und achtziger Jahren war er berühmt, seine Konzerte immer gut besucht. Legendär war der Ausspruch, mit dem er jeden Auftritt seiner Band eröffnete: »Heute ist der Tag, an dem das System zusammenbricht. Feiern wir diesen Tag!«

Als die Mauer fiel, war das alles vorbei.

In einem Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Brand eins beschrieb er im Januar 2015, wie es war, als sich seine Rolle als Systemkritiker durch das Ende der DDR erübrigte: »Insofern wurde es mit der Selbstbestimmung im Westen für mich nicht einfacher. Der äußere Feind war weg, aber dafür verschwindest du hier einfach. Für jemanden, der wie ich gehört werden will, ist das schwer. In der DDR war ich eine coole Sau, im Westen nur einer von vielen.«

Es ergibt keinen Sinn zu rebellieren, wenn man frei ist; man würde sich lächerlich machen, wenn man es täte. Kaum bin ich frei, muss ich ganz allein entscheiden, was gut und richtig für mich ist. Doch plötzlich sind nicht nur die Mitstreiter verschwunden – auch das Gute und Richtige scheint es nicht mehr zu geben: Der Flug in die Freiheit vergrößert meinen CO2-Fußabdruck, das Schweineschnitzel stammt aus der Massentierhaltung, und mit meiner Karriere unterstütze ich ein Unternehmen, das mit seinen Geschäftsmethoden die Ärmsten der Armen noch ärmer macht. Die Eigentumswohnung, in der ich ein selbstbestimmtes Leben führen will, kann ich nur kaufen, wenn die ursprünglichen Mieter rausgeworfen werden. Es gehört zu einer der unangenehmsten Nebenwirkungen von Freiheit, dass ich plötzlich zum Täter werde, also mich schuldig mache, sobald ich anfange, meine Freiheit zu nutzen.

Warum verliert alles seinen Zauber, wenn ich es nicht gegen den Willen eines anderen tun kann?

Nicht umsonst schreibt Immanuel Kant von der Last der Freiheit, mit der so viele Menschen nicht umgehen können. Es ist anstrengend, selbst zu entscheiden, ob ich schon wieder das Auto nehmen oder lieber zu Fuß gehen soll. Ich muss selbst wissen, was besser ist: am Abend auf dem Sofa zu liegen und Romane zu lesen oder zu joggen. Ich muss es vor mir selbst verteidigen können, wenn ich keine Karriere mache – und das, obwohl mir der Moment nicht einfallen will, an dem ich mich dagegen entschieden hätte. Und immer bin ich mir dabei bewusst, dass das Leiden an diesen Entscheidungen zu den Luxussorgen auf dieser Welt gehört.

Alles, was ein freier Mensch tut oder lässt, bekommt eine Bedeutung, meistens eine schlechte: Freie Menschen werden selten bewundert, dafür aber oft kritisiert. Wer die Wahl hat, muss sich für alles, was er sagt und tut beziehungsweise verschweigt und unterlässt, rechtfertigen – und zwar viel mehr als ein Geknechteter vor seinem Herrn für sein Verlangen nach Freiheit.

Aus diesen Gründen, so vermutet Kant, suchen eigentlich freie Menschen lieber die Unmündigkeit, als die Möglichkeiten der Freiheit zu nutzen. Sie machen es anderen leicht, sie zu manipulieren und zu unterdrücken. Ich wünsche mir natürlich nicht ernsthaft, dass man mich in meiner Freiheit beschneidet, nur damit ich spüre, wo es für mich hingehen könnte. Ich will mir nicht vorschreiben lassen, wie ich mich zu kleiden, zu ernähren, zu sprechen und zu leben habe. Als Bürgerin eines demokratischen Staates werde ich mit der Herausforderung der Freiheit fertig. Ich bin bereit, mein Leben in die eigenen Hände zu nehmen und mich mit der anspruchsvollen Aufgabe der Selbstwerdung auseinanderzusetzen.

Wir haben also das seltene Privileg, aus unserem Leben zu machen, was wir wollen. Wir sind umgeben von Menschen, die uns erlauben, ganz wir selbst zu sein, ja die uns geradezu beknien, endlich unseren eigenen Weg zu gehen! Es vergeht keine Stunde am Tag, in der man uns nicht daran erinnert, wie kostbar unser Leben ist und dass es keine wichtigere Aufgabe für uns gibt, als unsere einzigartige Persönlichkeit zur Entfaltung zu bringen.

Und wir können heute alles sein – eine wunderschöne Astronautin, eine fußballbegeisterte Ballerina, ein Superstar, so erzählt es uns zum Beispiel eine junge Frau im neuen Werbespot von Gillette Venus für Damenrasierer. Die Frau springt mit ihren glatt rasierten Beinen in einem 10-Millionen-Dollar-Loft herum und hält kämpferische Reden. Dass sich Frauen in keine Schublade zwängen lassen sollen und dass sie allen, die das versuchen, die Stirn bieten müssen. Steh auf, fordert sie, benutze deinen Kopf, dein Herz, deine Stimme, um diese Schublade zu verlassen und zu zeigen, was du kannst. Während sie das sagt, sieht man junge, perfekt gestylte Frauen auf teure Motorräder steigen, auf Dachterrassen Schlagzeug spielen und in Boutiquen glitzernde Kleider und Schuhe anprobieren. Beim Anblick dieser reichen Erbinnen frage ich mich allerdings, wer überhaupt die Macht hat, sie zu etwas zu zwingen. Das jedoch wird nicht thematisiert. Wichtig ist: Wir könnten eine dieser Frauen sein, wenn wir uns noch heute entschließen, unser wahres Potenzial auszuschöpfen. Natürlich mit perfekt rasierten Beinen!

Entwickle deine einzigartige Persönlichkeit – aber immer schön mit rasierten Beinen!Gillette Venus »Use Your And« Werbeclip 2015

»Du bist, was du dir vorstellst zu sein«, mahnt mich ein Graffiti, an dem ich jeden Morgen im Halbschlaf auf dem Weg zur Arbeit vorbeigehe. In der Zeitschrift, die ich in der U-Bahn durchblättere, lese ich, dass man erfolgreicher wird, wenn man mehr auf seine innere Stimme hört. Checke ich in der Frühstückspause meine Mails oder meine Facebook-Seite, dann habe ich schon mindestens ein halbes Dutzend Posts bekommen, in denen ich aufgefordert werde, meinen Träumen zu folgen und ein »Das haben wir schon immer so gemacht« nicht zu akzeptieren. In der Büroküche läuft im Hintergrund ein Radiointerview, in dem eine Frau behauptet, dass sie ihre Lebenszeit nicht mehr damit verschwendet, hinter dem Geld herzurennen. Ihr Tipp für die Hörer: mehr eigene Prioritäten setzen und für die eigenen Wünsche und Bedürfnisse kämpfen. Nach der Arbeit kaufe ich noch schnell im Supermarkt ein, und während ich in der Schlange vor der Kasse warte, fällt mein Blick auf eine Werbetafel, auf der steht: »Nimm dir Zeit, du selbst zu sein.«

Warum wird eigentlich von allen Seiten meine Selbstentfaltung gefordert – wer könnte daran ein besonderes Interesse haben außer mir selbst? Ein Mensch, der mich völlig selbstlos an meine wichtigste Lebensaufgabe erinnert, müsste doch jemand sein, der ein ganz intimes und inniges Verhältnis zu mir hat. Doch die meisten Menschen, die mich zur Selbstentfaltung auffordern, kennen mich gar nicht – offensichtlich sind es völlig Fremde, die das größte Interesse an meiner Selbstwerdung haben.

Natürlich kann ich nicht jede Aufforderung zur Selbstwerdung, die mir im Laufe eines Tages begegnet, ernst nehmen. Dennoch weiß ich, dass ich auf diese eine entscheidende Frage eine Antwort finden muss: Wie würde das Leben aussehen, das wirklich zu mir passt? Und was würde es bedeuten, wenn ich noch heute beschließe, endlich für meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu kämpfen? All das frage ich mich, während ich zu Hause erschöpft die Einkäufe auspacke und anschließend die dreckige Wäsche in die Waschmaschine stopfe. Wer zahlt meine Miete, wenn ich mir heute Abend und auch gleich noch die nächsten Tage Zeit für mich nehme? Dabei könnte ich diese Zeit brauchen, um endlich einmal in Ruhe darüber nachzudenken, was meine eigenen Prioritäten sind.

An manchen Tagen spüre ich diese wundervolle Aufbruchsstimmung. An solchen Tagen wäre ich bereit, aufzustehen und mich vorbehaltlos zu mir selbst zu bekennen. Aber wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich nicht weiß, wie das eigentlich aussehen soll, dieses ganze »Man-selbst-Sein« und »Auf-seine-innere-Stimme-Hören«. Eines ist klar: So, wie ich es mache, macht man es nicht. Statt jeden Morgen zur Arbeit zu gehen und am Abend abgekämpft vor dem Fernseher zu sitzen, sollte ich endlich den Mut haben, meine Träume in Angriff zu nehmen. Ständig plagt mich ein schlechtes Gewissen, weil ich es nicht tue. Es hebt auch nicht meine Laune, wenn mir Freunde und Kollegen Beispiele zusenden, wie es aussehen kann, wenn man seinen eigenen Weg geht und aus seinem Leben ein Abenteuer macht. Trotzdem schaue ich sie alle an, die Zeitungsartikel und YouTube-Filme, in denen diese leuchtenden Vorbilder porträtiert werden.

Da gibt es einen Mann, der mit seinem Hund durch seine Stadt geht und dokumentiert, was er dabei erlebt, ein anderer komponiert Landschaften mit einer alten Schreibmaschine. Ein Unternehmer verschenkt eines Tages sein ganzes Geld und sagt, dass er sich noch nie so glücklich gefühlt hat, eine Frau lebt ganz allein ein Jahr in der Wildnis, ein Mann ohne Arme und Beine wird zum berühmtesten Schlagzeuger seines Landes. Ein Neunzigjähriger läuft bei einem Marathon mit, eine Frau schreibt mit einhundert Jahren ihr erstes Buch und wird zur Bestsellerautorin, ein Querschnittsgelähmter reist in einem Spezialrollstuhl um die ganze Welt, ein Arzt kündigt seinen Job, geht nach Afrika und rettet dort Tausende Menschenleben, ein Teenager geht shoppen und filmt seine Einkäufe, und nur eine Woche später leitet er sein eigenes Modeimperium. Ein Fleisch essender Moppel wird zum Veggi-Fitness-Guru, ein Todgeweihter erklärt uns, wie schön das Leben ist, eine Frau nimmt 300 Kilogramm in nur zwei Wochen ab, eine andere hat seit fünfzehn Jahren nichts gegessen und lebt immer noch, ein Ehepaar stirbt nach achtzig Jahren Ehe gemeinsam in ihrem Bett, ein fünfzigjähriger Lehrer fällt auf den Kopf, wacht auf und ist plötzlich ein musikalisches Genie – und ICH? WAS MACHE ICH AUS MEINEM LEBEN?!

Wer jetzt nicht seinen eigenen Weg geht, hat verschissen!

Neben diesen Abenteuern sieht mein Leben ziemlich armselig aus. Ich bekomme das Gefühl, das, was ich selbst erlebe, sei banal und langweilig. Mein Verdacht, nicht alles zu wissen, was ich wissen müsste, um ein Leben zu führen, das überhaupt wert ist, gelebt zu werden, wird immer stärker. Gerne würde ich erfahren, wie ich aus meiner fremdbestimmten Existenz aussteigen kann. Was muss ich tun, damit ich endlich das Gefühl habe, dass es losgeht mit dem echten, wilden Leben?

Menschen, die bereits im Besitz dieses kostbaren Wissens sind, sind bereit, ihr Wissen mit mir zu teilen. Sie können Antworten geben, wo ich nur Fragen habe, sie sind die Verfasser der Botschaften, Ratschläge und Ermahnungen, die mir auf Schritt und Tritt begegnen. Sie arbeiten nicht mehr, sie verwirklichen sich selbst, sie haben sich nicht mit ihren Schwächen arrangiert, sie sind sich selbst ihr bester Freund, sie ärgern sich nicht mit ihrem Partner herum, sie lieben. Sie ergreifen ihre Möglichkeiten und schauen mit Mut und Zuversicht in ihre leuchtende Zukunft. Sie wollen auch mich begleiten in MEIN Leben, machen mir allerdings auch klar, dass es noch viel zu tun gibt, bis ich in den Kreis der Freien und Selbstbestimmten aufgenommen werden kann.

EGAL, WIE MEIN LEBEN AUSSIEHT – ICH MUSS ES ÄNDERN!

Ich weiß, was die Benachteiligten dieser Welt nicht wissen: Eine Freiheit, die man nicht nutzt, macht unglücklicher als eine, die man nie hatte. Doch es ist nie zu spät, sich die Freiheit zu nehmen, seinen eigenen Weg zu gehen. Mutige Menschen machen es mir vor. Zum Beispiel der ehemalige Unternehmensberater Tim Schlenzig: Er entdeckte eines Tages, dass ihn seine Arbeit nicht mehr befriedigt, und kaum war ihm dies bewusst geworden, kündigte er seinen Job, um sich von nun an den wirklich wichtigen Dingen zuzuwenden. Das war der Wendepunkt in seinem Leben. Nun berichtet er auf seiner Website www.mymonk.de von diesem Sinneswandel und von seinem neuen Leben. Sein Ziel ist, dass immer mehr Menschen genau wie er auf ihre innere Stimme hören.

Viele Menschen klicken auf seine Website, abonnieren seine Newsletter und erstehen seine E-Books. Hier bekommen sie Anregungen, wie sie sich Stück für Stück dem Leben annähern, von dem sie träumen.

Tim Schlenzig lebt also heute davon, dass er Ratschläge erteilt, wie man all das bekommt, was es in meinem Leben nicht gibt. Eine Arbeit, die Spaß macht und in der ich Erfüllung finde, dazu Geld in ausreichender Menge, viel Zeit für Beziehungen zu besonderen Menschen und Muße für Sport und andere Aktivitäten und natürlich für die Freunde in der ganzen Welt, die mich schätzen, weil ich ein so wunderbares Leben führe.

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Wie herrlich wäre es, auf der anderen Seite zu stehen. Sich endlich gewiss zu sein, dass man in jedem Moment seines Lebens das Richtige tut. Ich stelle mir vor, wie Tim Schlenzig sich nach der Morgenmeditation an den Schreibtisch setzt und sich Gedanken darüber macht, was ihm wirklich wichtig ist – allerdings nur, wenn ihm danach ist. Wenn er spürt, dass es ihm an diesem Tag mehr Spaß machen würde, einen Spaziergang in der Natur zu machen, so fährt er in den Wald. Braucht er Anregung, greift er zum Telefon und ruft einen seiner interessanten Freunde an, geht mit ihm Kaffee trinken und postet dann, welche interessanten Gedanken ihm und seinem Freund an diesem Nachmittag gekommen sind, und dafür erhält er wieder viele Likes und Dankesmails. Es könnte so einfach sein. Ich hasse Tim Schlenzig.

Ich wünschte, ich würde ihn erkennen, diesen Moment, an dem es Zeit ist, alles hinzuwerfen. Dann würde auch ich ein Vorbild sein und auf Mallorca oder Fuerteventura Kurse geben – in meiner eigenen Villa, versteht sich. Die Leute würden herbeiströmen, um zu hören, was ich zu sagen habe. An lauen Sommerabenden würde ich mit meinen Kursteilnehmern an meinem Privatstrand sitzen und dem Rauschen des Meeres lauschen, und ich würde erklären, dass es nichts weiter braucht als diese einfachen Freuden, um glücklich zu sein. Ich könnte dann mit Fug und Recht behaupten, dass für mich Arbeit und Genuss eins sind und dass es ein Fehler sei, wenn dem nicht so ist – so, wie es sich für mich in Wirklichkeit leider anfühlt.

Jedes Mal, wenn ich von den entscheidenden Wendepunkten im Leben anderer höre, klingt für mich alles so einfach und logisch. Da gibt es die Frau, die mit ihrem Job unzufrieden war und sich nach Feierabend in ihrem Blog über ihren Chef beschwerte. Und weil sie das so lustig tat, hatte sie bald Tausende Leser und lebt heute von den Werbeeinnahmen ihrer Website. Ein Mann wurde reich, weil er seine Katze filmte und dazu von seiner übergroßen Liebe zu diesem Tier sprach. Es muss also kein außergewöhnliches Projekt sein, mit dem sich Menschen aus ihrem unbedeutenden Dasein befreien, sogar das Naheliegende kann alles ändern – wenn ich nur wüsste, was das sein könnte! Das Dümmste, was ich jedenfalls tun kann, ist, einfach so weiterzumachen wie bisher – so die einhellige Meinung der anderen.

Es fühlt sich komisch an, für ein Angestelltengehalt zu arbeiten, wenn man weiß, dass sich ein Vermögen scheffeln lässt, indem man seine Katze filmt.

Natürlich sagt mir kein Lebensberater, Facebook-Freund, Glückscoach oder Ratgeber-Guru, was ich machen soll. Denn das kann ja nur ich selber wissen. Ich könnte Fotomodell oder sogar Popstar sein und das Gefühl haben, mich im falschen Leben zu befinden, und genauso gut könnte ich als Straßenreiniger völlig im Einklang mit mir selbst die Straßen meiner Stadt fegen. Was ich brauche, ist ein klarer Blick dafür, was mir entspricht und was nicht. Leider scheint mir irgendetwas diesen klaren Blick zu verstellen; ich weiß noch nicht einmal, ob ich kurz davor bin, es herauszufinden, oder ob ich an dem Punkt, an dem ich heute stehe, von meinem eigentlichen Lebensziel noch weit entfernt bin.

Doch auch wenn ich den nächsten Schritt noch nicht erkennen kann, will ich aktiv werden. Ich will wissen, was meine wahre Bestimmung ist, warum ich auf der Welt bin und welches Ziel im Leben sich zu verfolgen lohnt. Deswegen sauge ich die unzähligen Botschaften derer, die offensichtlich bereits das Leben führen, das sie schon immer führen wollten, in mich auf. Ich durchdenke und überprüfe sie in der Hoffnung, irgendwann auf die Botschaft zu treffen, hinter der sich der entscheidende Anstoß, mein Leben zu ändern, verbirgt. Dabei werde ich emotional hin- und hergeworfen. Kaum hat mich die eine Botschaft in Hochstimmung versetzt, werde ich von der nächsten wieder völlig desillusioniert. Manchmal meint man es offensichtlich gut mit mir, und ich werde aufgefordert, an mich und meine Ideen zu glauben, denn dann sei mir auch der finanzielle Erfolg sicher. Keine halbe Stunde später trifft mich unvorbereitet die Mahnung, dass das größte Unglück meines Lebens meine Gier sei. Es gibt offensichtlich keine einzige Lebensweisheit, zu der sich nicht auch eine finden ließe, die genau das Gegenteil besagt, und so werde ich immer verwirrter.

In einem sind sich die Berater, Facebook-Freunde, Glückscoachs und Ratgeber-Schreiber jedoch einig: Ich selbst bin es, die sich in ihrer Freiheit beschneidet und ihr Leben kleiner und ärmer macht. Durch meine Ängste und Bedenken bin ich längst blind geworden für meine eigene Wahrheit; das ist der Grund dafür, warum ich sie nicht erkennen kann. Selbst wenn man mir noch so viele Hinweise darauf gibt!

Ich bin bereit, diese Tatsache anzuerkennen und mich mit meinen Blockaden und Widerständen auseinanderzusetzen, um den klaren Blick für das Wesentliche wiederzugewinnen. Ich bin sogar innerlich darauf vorbereitet, mich der Erkenntnis zu stellen, dass alles, was ich bisher verfolgt habe, meinem wahren Lebensziel nicht förderlich war.

Im Internet erhalten Links mit der Überschrift »Warum die meisten deiner Ziele sinnlos sind« oder »Die 4 Stufen der Entfremdung« Millionenklicks. Das heißt, ich bin nicht allein auf der Suche nach dem wahren Leben. Und weil ich davon ausgehen muss, dass ich mich schon seit Jahren oder Jahrzehnten einer großen Selbsttäuschung hingebe, könnte jede Diagnose über mein Leben und meine Persönlichkeit zutreffen.

Es ist, als stünde immerfort alles auf dem Prüfstand, und bei jedem weiteren Schritt, den ich tun will, geht es um alles. Mir kommt es so vor, als habe sich Immanuel Kants kategorischer Imperativ von »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« zu »Bedenke in jedem Moment deines Lebens, dass die Entscheidung, die du jetzt triffst, dich den Rest deines Lebens glücklich machen muss« gewandelt.

Ende der Leseprobe