Schicksalsstunden - Katja Maybach - E-Book
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Katja Maybach

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Beschreibung

Von der Ruhe vor dem Sturm: Teil 2 des historischen Familienromans »Die Chronik der Familie Laverne« erzählt vom Neuanfang und aufziehenden Wolken zwischen den Weltkriegen. 1930: Der 1. Weltkrieg ist überstanden, die Schwestern Luise und Victoria Laverne wagen einen Neuanfang, nachdem der Tod ihres geliebten Bruders Franz in der Schlacht an der Somme die Familie in eine tiefe Depression gestürzt hatte. Victoria geht gegen den Willen der Familie nach Berlin und feiert in der lebenshungrigen Hauptstadt erste Erfolge als Kostümbildnerin für Shows und Filme. Luise hingegen gelingt es, das Kurhotel Deutscher Kaiser nach dem schlimmen Brand allmählich aufzubauen, und ist endlich wieder verliebt – in einen jüdischen Architekten. Da immer mehr Angehörige der NSDAP in den Kurort kommen, um sich zu erholen, ist die Situation nicht einfach. Und plötzlich erscheint die sechzehnjährige Olga, Enkelin des Brandstifters, auf der Bildfläche. Sie will die Rachetat ihres Großvaters vollenden und die Familie Laverne zerstören... Für ihre opulente historische Familiensaga um drei Geschwister und ein elegantes Kurhotel vor dem Hintergrund der beiden Weltkriege hat sich Katja Maybach vom Schicksal ihrer eigenen Familie inspirieren lassen. Der erste Band der Familiengeschichte ist unter dem Titel »Schicksalszeit« erschienen und beginnt 1914 am Vorabend des 1. Weltkriegs.   Ebenfalls eng an ihre eigene Familiengeschichte angelehnt ist Katja Maybachs historische Familiensaga aus den letzten Jahren des 2. Weltkriegs und der Nachkriegszeit: - »Die Stunde unserer Mütter« (1940–1945) - »Die Zeit der Töchter« (50er Jahre)    

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Seitenzahl: 440

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Katja Maybach

Schicksalsstunden

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

1930: Der 1. Weltkrieg ist überstanden, die Schwestern Luise und Victoria Laverne wagen einen Neuanfang, nachdem der Tod ihres geliebten Bruders Franz in der Schlacht an der Somme die Familie in eine tiefe Depression gestürzt hatte. Victoria geht gegen den Willen der Familie nach Berlin und feiert in der lebenshungrigen Hauptstadt erste Erfolge als Kostümbildnerin für Shows und Filme. Luise hingegen gelingt es, das Kurhotel Deutscher Kaiser nach dem schlimmen Brand allmählich aufzubauen, und ist endlich wieder verliebt – in einen jüdischen Architekten. Da immer mehr Angehörige der NSDAP in den Kurort kommen, um sich zu erholen, ist die Situation nicht einfach. Und plötzlich erscheint die sechzehnjährige Olga, Enkelin des Brandstifters, auf der Bildfläche. Sie will die Rachetat ihres Großvaters vollenden und die Familie Laverne zerstören...

Inhaltsübersicht

ERSTER TEIL

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWEITER TEIL

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

ACHTUNDDREISSIG

NEUNUNDDREISSIG

VIERZIG

Leseprobe »Schicksalskinder«

ERSTER TEIL

EINS

Kurort Bad Lichtenberg

1930
Julian

Flirrend fielen die Sonnenstrahlen eines Frühsommertags durch die Blätter der Birken, die die Allee säumten und an deren Ende man die alte Villa der Familie Laverne erkennen konnte. Julian sah hinauf, ging ein paar Schritte den Weg hoch, blieb stehen, kehrte dann um. Er hatte am Telefon eine spätere Ankunftszeit angegeben, also erwartete ihn noch niemand, und genau das war es, was er gewollt hatte. Keine Freudentränen seiner Mutter Elisabeth, wenn sie ihn am Bahnhof vor allen Leuten in die Arme schloss, und auch keinen Schulterschlag seines Vaters Carl, der ihm versicherte, es sei ohne Bedeutung, dass er zweimal durchs Abitur gerasselt war, bevor er es mit größter Mühe beim dritten Anlauf geschafft hatte, während sein Zwillingsbruder Felix bereits seit drei Jahren in München studierte. Diese emotionalen Szenen konnten noch warten.

Sein Gepäck hatte er schon vorausgeschickt, und so lief er schnell zurück auf die Hauptstraße, sah hoch zum Grand Hotel Deutscher Kaiser, dessen alleinige Besitzerin seine Cousine Luise war. Sein Blick blieb an dem legendären Westflügel hängen, der in seiner früheren Schönheit neu erstrahlte. Nach zwölf Jahren Wiederaufbau waren am Tag zuvor das Gerüst und die Planen endlich entfernt worden. Nun gehe es mit einem berühmten Architekten an die Innenausstattung, hatte sein Vater ihm am Telefon erzählt. »Du weißt ja, vier Jahre nach dem Krieg haben wir den Ostflügel mit der Halle und einigen Räumen wieder eröffnen können, aber der Westflügel ist der große Teil des Hotels, der vor dem Krieg den internationalen Ruf eines Luxushotels begründet hat. Hoffen wir, dass wir bald wieder zu den berühmten Hotels in Europa gehören werden.«

Julian musste lächeln. Sein Vater Carl identifizierte sich immer noch mit dem Hotel, an dem er Anteile besessen, die er aber vor einigen Jahren an Luise abgegeben hatte.

Julian überquerte die Straße und ging direkt ins Kurhaus mit seinem gewölbten Glasdach. Nur wenige Gäste standen in der Wandelhalle um die Brunnen herum und tranken gelangweilt das Heilwasser aus Bechern. Nichts schien geblieben von der Eleganz der Vergangenheit, als ein Pianist nebenan im Restaurant Palmengarten am Flügel leichte Melodien gespielt und die Kurgäste in der Wandelhalle aus geschliffenen Gläsern das Wasser getrunken hatten, gereicht von Kellnern im Frack. Die Damen waren damals in ihren Kreationen der Pariser Couturiers durch die Halle flaniert und hatten angeregt den neuesten Gesellschaftsklatsch ausgetauscht. Doch das war Vergangenheit, damals, als das Hotel noch Grand Hotel hieß, bevor es während des Großen Kriegs in Deutscher Kaiser umbenannt worden war. Julian blieb unentschlossen stehen und sah hinüber ins Restaurant mit den vielen Palmen und dem plätschernden Springbrunnen.

Auch hier schien es wie früher und doch anders – war es die Stimmung, das Fehlen der eleganten Gäste, die das Flair dieses Kurorts bestimmt hatten?

Das Leben ist Veränderung – dies war der Lieblingssatz seines Vaters Carl, der bei Julian Unbehagen auslöste. Wie würde sich sein Leben nach den Jahren im Internat verändern, was erwartete sein Vater von ihm, was erwartete er selbst? Er hatte keine Ahnung. Zögernd wandte er sich ab und ging in den »Exotenraum«. In der Mitte erhob sich der gläserne Pavillon, und um ihn herum war ein kleiner Garten angelegt, in dem zwei Pfaue auf und ab stolzierten. Auch hier schien alles wie früher zu sein, die exotischen Vögel tummelten sich im Pavillon, zwitscherten, krächzten, stritten sich.

»Wenn du den blauen Papagei suchst – er ist gestorben.«

Überrascht drehte sich Julian um. Hinter ihm stand eine sehr junge Frau, deren graue Augen ihn forschend betrachteten.

»Kennen wir uns?« Julian war verlegen, weil sie ihn einfach duzte.

»Ich bin Olga«, betonte sie, während der Blick ihrer grauen Augen ihn nicht losließ.

»Tut mir leid, aber ich erinnere mich nicht an dich.«

»Du und dein Bruder, ihr wart die frechen Jungs, die mich immer geärgert haben. Am Bahnhof. Ihr wart beide Pfadfinder«, half sie ihm auf die Sprünge.

Langsam dämmerte es Julian. »Ja, jetzt erinnere ich mich!« Seine Verlegenheit löste sich in einem Lachen auf. »Aber ich erinnere mich auch, dass du angefangen hast, uns zu ärgern. Du hast uns provoziert, wir haben nur reagiert. Wir waren noch Kinder«, setzte er hinzu.

Sie hob die Schultern, ließ sie langsam wieder sinken, auf Julian wirkte es ein wenig überheblich. Mit der einen Hand zeigte sie hoch zu den Vögeln. »Dort, siehst du den roten Papagei? Der ist neu.«

»Aber soweit ich mich erinnere, war der blaue besonders schön.«

»Ja, das stimmt. Er war ein Hyazinth-Ara, eigentlich hätte er fünfzig Jahre alt werden können.« Tiefes Bedauern schwang in ihrer Stimme mit. »Und siehst du den gelben auf dem Baum dort hinten? Das ist ein Anodorhynchus.«

»Woher weißt du das alles?« Julian kam aus dem Staunen nicht heraus.

»Halt so, jeder weiß das«, erklärte sie, während sie die Augenbraue hochzog und ihn weiterhin ansah. Ihr Blick ließ ihn nicht los.

»Kommst du oft hierher?« Er biss sich auf die Lippen. Fiel ihm nichts Besseres ein?

War es leichter Spott, der in ihren grauen Augen aufblitzte? Er fühlte sich unbehaglich. Trotzdem blieb er stehen und beobachtete sie, wie sie in einer anmutigen Bewegung den Kopf nach oben wandte und offenbar fasziniert die Papageien beobachtete. Wie würde es sein, diesen zarten Hals zu küssen? Julian wurde bei dem Gedanken heiß, es machte ihn noch verlegener, und doch sah er sie weiterhin verstohlen an. Letztendlich hatte sie auf seine Frage noch nicht geantwortet.

Sie hatte ein schmales Gesicht mit auffallend hohen Wangenknochen, die blonden Haare waren streng nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden. Sie war nicht wirklich schön oder hübsch, doch diese großen grauen Augen, die sich ihm wieder kühl und abschätzend zuwandten, zogen Julian in ihren Bann. Er konnte nicht anders, er starrte sie weiterhin an.

Plötzlich lächelte sie. »Nun?«, fragte sie herausfordernd, »gefällt dir, was du siehst?«

Sie provozierte ihn, da sie seine Unsicherheit spürte, und das machte ihn wütend, aber auch wehrlos. »Ich habe mir überlegt, wie alt du bist.«

»Und? Was glaubst du?«

Ich weiß nicht.« Julian zog die Schultern hoch. Er kannte sich mit Mädchen nicht aus. »Vierzehn?«

»Du bist ja ziemlich ungeschickt«, meinte sie. »Nein, ich bin sechzehn.«

»Es tut mir leid«, murmelte Julian und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht flutete.

»Na ja, in zehn Jahren werde ich mich freuen, wenn man mich jünger einschätzt«, erklärte sie mit sehr erwachsener Arroganz, wie Julian fand.

Dann wandte sie sich zum Gehen. »Ach übrigens, um deine Frage zu beantworten: Ja, ich komme öfter hierher. Man sieht sich«, erklärte sie mit einer unbestimmten Handbewegung, und schon war sie weg.

Er wollte ihr nachlaufen, doch dann blieb er stehen.

Olga. Natürlich, wieso war ihm das nicht gleich eingefallen. Das war nicht nur das vierjährige Mädchen gewesen, das an den Bahnhof kam, ihn und seinen Zwillingsbruder Felix so lange provozierte, bis sie das Mädchen wiederum ärgerten, sondern sie war die Enkelin des Mannes, der das Hotel Deutscher Kaiser im November 1918 in Brand gesteckt hatte. Damals war Olgas Großvater noch am Morgen in das Gefängnis nach Karlsruhe gebracht worden. Es hieß, er beschimpfe die Wärter, stieße Flüche gegen die Familie Laverne aus, diese Verbrecher, denen man ihr Hab und Gut wegnehmen oder vernichten sollte. Seine kleine Enkelin war am Vormittag abgeholt und in ein Waisenhaus gebracht worden. Das war offenbar der Auslöser seiner furchtbaren Tat gewesen. Niemand wusste, was damals aus der Kleinen geworden war, es wurde nicht bekannt und interessierte auch niemanden. Jetzt aber schien sie zurück zu sein, vielleicht sogar überzeugt, ihr Großvater habe richtig gehandelt? War er Kommunist gewesen, oder hatte sich der Hass gezielt auf die Familie Laverne gerichtet? Nach einigem Zögern lief Julian ihr nach, sah sich um, doch das junge Mädchen war verschwunden.

Olga hatte seine Gedanken durcheinandergebracht, die Gelassenheit, die ruhige Freude, die er bei der Ankunft verspürt hatte, waren wie weggeblasen.

Aber dann wurde er abgelenkt. Voller Erstaunen beobachtete er, wie immer mehr Menschen in Richtung Deutscher Kaiser liefen, und plötzlich war er mittendrin. Er ließ sich treiben, sah sich um, bis er merkte, dass er in eine Demonstration geraten war. Vor dem Hotel hielten Menschen Schilder mit der Aufschrift hoch:

Wer Geld von unseren Feinden annimmt, ist ein Verräter

Amerikaner kaufen unser Land auf

Nieder mit denen, die ihr Geld annehmen

So skandierten sie gemeinsam im Chor.

Julian erschrak. Die Demonstration richtete sich gegen seine Cousine Luise, der es gelungen war, amerikanische Investoren für den Aufbau des Westflügels zu gewinnen.

Nieder mit den amerikanischen Investoren, nieder mit …

Aggression und Wut steigerten sich, die Leute drängten nach vorne, einige fielen hin, andere ballten die Fäuste, hoben sie in Richtung des Deutschen Kaisers. Jetzt rückte die Polizei an, einige Beamten sogar hoch zu Ross, sie verteilten sich und mahnten die Leute mit einem Sprachrohr, sich ruhig zu verhalten. In diesem Moment erschien Julians Cousine Luise mit Julians Vater Carl vor dem Hotel. Sie stieg auf ein Podest, das man hastig herbeigeholt hatte, hob die Hände, und als die lauten Rufe endlich in ein Gemurmel verebbten, bedankte sie sich für die eingekehrte Ruhe und schlug den Demonstranten vor, Fragen zu stellen, die sie und ihr Onkel Carl Laverne beantworten würden. Julian sah zu ihr hoch. Schon als Kind hatte er seine schöne Cousine bewundert, die bereits mit fünfundzwanzig Jahren die Leitung des Familienhotels übernommen hatte und bald darauf Direktorin wurde. Jetzt hatte sie die große Chance erkannt, mit amerikanischen Investoren aus dem Deutschen Kaiser ein europäisches Luxushotel entstehen zu lassen. Und diese Chance hatte sie ergriffen. Julian wartete noch einen kurzen Moment, drängelte sich dann aber durch die Menschen zurück bis zum Palmengarten.

»Wissen Sie, warum gegen Investoren demonstriert wird?«, wandte er sich an einen Kellner, der als Zuschauer neben ihm stand.

»Das sieht und hört man doch«, war die erstaunte Antwort des Kellners. »Gestern wurde das Gerüst um den Westflügel abgebaut, und erst jetzt erkennt man, was das für ein luxuriöser Palast geworden ist, alles finanziert von Ausländern. Plötzlich gehört dann der ganze Ort den Amerikanern oder den Russen. Wie man sagt, ist der Ostflügel vor acht Jahren mit russischem Geld renoviert worden.«

»So ein Unsinn, was erzählen die Leute da«, entrüstete sich Julian. »Mein Onkel Johannes Laverne hat die Wohnung seiner verstorbenen Schwester in Berlin verkauft, um diese große Renovierung am Hotel finanzieren zu können. Der Käufer war nur zufällig ein Russe.«

»Na ja, sag ich doch«, erklärte der Kellner ungerührt, wandte sich ab und ging zurück in den Palmengarten.

Julian schüttelte nur den Kopf, beobachtete dann wieder Luise, die laut in die Menge rief, sie freue sich auf die Fragen, könne aber vorab schon sagen, dass dieser Ort ohne Investitionen weiterhin nur ein verschlafener kleiner Kurflecken blieb, in den allmählich überhaupt keine Gäste mehr kommen würden, da sie lieber nach Baden-Baden führen. »Wollt ihr das?«, rief sie in die Menge.

Die Leute zögerten jetzt, zuckten mit den Schultern und sahen sich gegenseitig unsicher an.

»Alle Hotels hier im Ort werden schließen müssen. Wir brauchen Geld, auch für den Aufbau unseres Barocktheaters. Und wo bekommen wir es her? Doch nur durch ausländische Investoren.«

Julian war stolz auf seine schöne Cousine und freute sich schon auf den Abend. Sie hatte versprochen, bei seinem Willkommensessen in der Villa dabei zu sein, denn Luise wohnte im Hotel in einer eigenen Suite. Nur schade, dass seine Cousine Victoria in Berlin lebte. Nach dem Krieg, kurz nachdem das Hotel in Flammen aufgegangen war, gab es diesen Bruch zwischen ihr und der Familie. Ihre Mutter Irene hatte geklagt, dass Victoria einfach nach Berlin gegangen sei, um sich zu amüsieren und nicht mit der Familie um den gefallenen Bruder Franz zu trauern, sie habe sie im Stich gelassen. Auch Luise war verletzt gewesen, dass die Schwester nach der Brandkatastrophe gegangen war.

Nach diesem Bruch gab es kein Zurück mehr, die Familie blieb zerstritten. Julian wartete noch, doch offenbar löste sich die Demonstration jetzt in friedlichen Diskussionen auf. So wandte er sich erleichtert ab. Dann aber sah er, dass sich eine kleine Gruppe herauslöste, die die Faust hob und skandierte: Rechte der Armen, Pflichten der Reichen! Johlend versuchten sie, weiterhin Unruhe zu stiften. Nehmt den Lavernes ihr Vermögen weg … Umverteilung des Eigentums! schrien sie jetzt.

Doch da trieben Polizisten die Leute energisch auseinander. Während er sich bereits abwandte, entdeckte Julian in dieser kleinen Gruppe Olga.

Er zögerte – sollte er auf sie zugehen, sie fragen, ob sie wirklich Kommunistin sei? Was hatte sie dazu gebracht? Doch dann riss er sich los und hatte es plötzlich sehr eilig, nach Hause zu kommen. Mit großen Schritten lief er die Birkenallee hoch.

ZWEI

Berlin

Zur gleichen Zeit
Victoria

In der ersten Dämmerung des Tags erloschen die grellen Leuchtreklamen der Cafés, Varietés, Tanzpaläste und Theater. Auf den Straßen tummelten sich die Nachtschwärmer, die in einem der vielen Cafés am Kurfürstendamm die durchfeierte Nacht mit einem letzten Glas ausklingen lassen wollten.

Victoria Laverne beeilte sich. Sie wollte nach Hause, nachdem sie sich wieder einmal hatte überreden lassen, die Nacht mit dem ganzen Ensemble durchzufeiern. Aber es gab einen Grund: Die Premiere in Teklas kleinem Tanzpalast war ein großer Erfolg gewesen, auch für sie, deren Kostümentwürfe ebenfalls sehr beklatscht wurden.

Sie ärgerte sich über sich selbst, da sie kein Ende hatte finden können und sich übermüdet von zu vielen Zigaretten und Alkohol erst in den Morgenstunden verabschiedet hatte. Aber es war nett gewesen, das musste sie zugeben.

Alle waren betrunken gewesen, fielen sich um den Hals, weinten oder lachten und erklärten Victoria, wie schade es sei, dass sie nicht mehr oben im Theater mit ihnen wohne, sie habe doch gewissermaßen zur Familie gehört. »Aber das ist doch Jahre her«, hatte sie protestiert. »Ja, schon«, seufzte der Choreograf, »aber es war so nett mit dir, du warst so naiv, als du vom Land zu uns gekommen bist.«

Naiv. Jetzt lachte Victoria, als sie unterwegs daran dachte.

Sie war nicht vom Land, sondern in einem eleganten Kurort aufgewachsen. Sie hatte zwei Männer geliebt, einer verließ sie, der andere beging während des Kriegs Selbstmord. Und ihr Bruder Franz war in den letzten Kriegstagen an der Westfront gefallen. Sie hatte also mehr erlebt als die meisten der Ensemble-Mitglieder. Alle hatten heute Nacht in Erinnerungen geschwelgt und auch gelacht, als sie immer wieder erzählten, wie Victoria damals mit zwei Koffern plötzlich im Theater gestanden und Tekla das junge Mädchen vergessen hatte, dem sie einen Vertrag als Kostümbildnerin angeboten hatte. Damals hatte Victoria noch keine Ahnung davon, dass Tekla viel versprach und noch weniger hielt. Aber Tekla, eine Frau der schnellen Entschlüsse, bot Victoria an, im Theater zu wohnen und ab sofort die Kostüme zu entwerfen. Victoria war außer sich vor Freude gewesen, denn da hatte sie noch nicht gewusst, dass sie ihre Entwürfe an einer kleinen alten Nähmaschine selbst herstellen musste. Doch Victoria blieb. Es gefiel ihr; sie hatte die Koffer ausgepackt und war in eine kleine Kammer im zweiten Stock des Theaters gezogen. Vier Jahre wohnte sie dort, zusammen mit Tekla und ihrem Mann, einigen Tänzerinnen, dem Choreografen, dem Bühnenbildner und auch mit Mario, dem Pianisten. Sie alle lebten in den oberen Räumen von Teklas kleinem Tanzpalast, aßen zusammen, probten zusammen, feierten zusammen, machten die Nächte in Berlin unsicher, und manche schliefen miteinander. Das tat Victoria mit Mario, dem Pianisten, er gefiel ihr, vielleicht auch nur, weil er gut Klavier spielen konnte? Es waren aufregende vier Jahre gewesen, die sie dort gelebt hatte, vielleicht bis jetzt ihre beste Zeit in Berlin. Man konnte nie wissen.

Aber dann hatte sie sich von Mario getrennt und war ausgezogen. Für sie kamen die Jahre, in denen sie als Kostümbildnerin bekannt und in den Kritiken gefeiert wurde. Sie gab immer ihr Bestes, und längst gab es im Theater ein Atelier, in dem zwei Schneiderinnen Victorias Entwürfe nähten.

Bevor sie jetzt vom Kurfürstendamm abbog, stellte sich ihr ein Mann in den Weg, murmelte ein paar Worte und griff in seine Tasche. Victoria war ihm schon oft begegnet, er war Schriftsteller, ließ sich von seinem Arzt Rezepte für Drogen gegen Schmerzen verschreiben, die er dann nachts auf dem Kurfürstendamm verkaufte.

»Ein bisschen Kokain gefällig?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Carl, du weißt doch, dass ich nichts nehme.« Sie lächelte ihn kurz an und beeilte sich, nach Hause zu kommen.

In der Pariser Straße stieg sie in den Aufzug und fuhr nach oben in ihre Wohnung. Rechts war der Eingang zu Sergej, dem Russen, links die Tür zu ihrer kleinen Wohnung. Sergej, dem in Berlin Bars und Restaurants gehörten, hatte vor acht Jahren diese Wohnung der Lavernes gekauft, die sich über die ganze dritte Etage zog. Doch Victorias Vater hatte durchgesetzt, dass ein kleiner Teil abgegrenzt und zu einer eigenen Wohnung umgebaut wurde. Anschließend durfte Victoria dann hier einziehen. Das hatte ihr Vater Johannes möglich gemacht. Und doch fand sie den Weg nicht mehr zurück zur Familie.

In der Wohnung schleuderte sie ihre hohen Schuhe von den schmerzenden Füßen, ging zum Fenster und öffnete es weit. Ein schöner Sommermorgen, noch ein wenig kühl, drang herein, verbunden mit dem Duft der blühenden Linden. Tief sog sie die Luft ein. Jetzt aber, nach dieser lauten und schrillen Nacht, dem frenetischen Beifall und den hektischen Proben der letzten Wochen, überfiel sie Stille. Kaum zu ertragen, obwohl Ruhe doch genau das gewesen war, wonach sich Victoria gesehnt hatte. Wollte sie keine Ruhe, brauchte sie die hektische Großstadt? War sie eine Berlinerin geworden?

Die Stadt hatte ihr vor elf Jahren die Arme weit geöffnet, und sie hatte sich hineingestürzt. Inzwischen kannte sie tout Berlin. Jede neue Show, jedes Theater, jeden kleinen Dealer, jeden Transvestiten. Doch sie kannte auch die andere Seite der Stadt: die Demonstrationen der Arbeitslosen, Aufmärsche der neuen Partei NSDAP, sie sah die Kriegsversehrten, die am Straßenrand kauerten und bettelten. Jedes Mal ergriff sie das schlechte Gewissen, wenn sie aus der glitzernden Welt des Theaters kam, wo Hysterien, Eifersucht und Intrigen herrschten, in der ein verstauchter Fuß der Solotänzerin eine Tragödie darstellte. Aber manchmal hatte sie das Gefühl, beim Anblick »der anderen Seite« der Stadt fast zu ersticken. Und doch blieb sie.

Sie sollte jetzt einfach schlafen, und so zog sie sich aus und warf sich einfach aufs Bett. Aber trotz ihrer bleiernen Müdigkeit fand sie keinen Schlaf.

Victoria spürte das Ziehen im Nacken, den pochenden Kopfschmerz, verursacht durch kalten Rauch und Erschöpfung. Sie befand sich in einem Zustand der Müdigkeit und gleichzeitig flirrender Wachheit. Sie schloss die Augen und atmete den Duft der blühenden Linden ein, deren Äste bis herauf in den dritten Stock reichten. Und schon war sie da, die Erinnerung an das Jahr 1914, an die Leichtigkeit dieses Sommers, in dem noch niemand wirklich an einen Krieg glauben wollte. Mit geschlossenen Augen sah sie sich wieder in der Wiese liegen, im hohen Gras zwischen blühenden Mohnblumen, Margeriten und Zittergras. Hier hatte sie mit Juri gelegen, hier hatte er sie zum ersten Mal geküsst und Zärtlichkeiten mit ihr ausgetauscht. Es waren Momente gewesen, in denen sie dachte, dieser Sommer würde nie zu Ende gehen. Sie war sechzehn Jahre jung, und das Leben hatte doch gerade erst angefangen, als der Krieg ausbrach und Juri ohne Abschied ging. Er, der am Flügel im Palmengarten für sie den Liebestraum von Liszt gespielt hatte. Er war zwanzig Jahre alt gewesen und auf dem Weg, ein großer Pianist zu werden. Nie mehr hatte ein Mann so wunderbar Klavier gespielt, nie mehr ihre Gefühle so sehr berührt wie Juri, der ohne Vorwarnung und ohne Abschied gegangen war.

Viele Jahre später hatte sie endlich begriffen: Er war einberufen worden, um für sein Vaterland zu kämpfen. Hatte er gegen Deutschland im Feld gestanden, war er sogar gefallen? Als im Oktober des Jahres 1917 die Nachricht um die Welt ging, in Russland gäbe es eine Revolution, die blutig niedergeschlagen wurde, kreisten ihre Gedanken nur um Juri. Lebte er noch? Sie hatte ihn geliebt, mit der ganzen Kraft ihrer unverbrauchten, gerade erwachten Gefühle, mit ihrer Sehnsucht, mit der Erkenntnis, das musste das Glück sein, über das Dichter und Schriftsteller schrieben, ein Glück, immer verbunden mit Sommer, den duftenden Wiesen, den hügeligen Weinbergen.

Und da spürte sie, dass sie weinte und von schmerzhaftem Heimweh erfasst wurde. Auch jetzt war Sommer, jetzt standen sicher die Birken entlang der Allee in frischem Grün. Und wenn man hochsah, erkannte man zwischen den Bäumen die alte Villa mit ihrem Türmchen und dem Park und … ja, den Erinnerungen an ihren Bruder Franz und an Luise. An die verlorene Kindheit, als sie zu dritt hinunterliefen zur Kurhalle, um sich die Vögel im gläsernen Pavillon anzusehen. Sie hatten gelacht, und Franz, der Älteste von ihnen, hatte sie die drei Musketiere genannt, da er diesen Roman gerade gelesen hatte. Das Leben damals war sorglos gewesen, jeder Tag barg eine neue Aufregung in sich, und sie alle freuten sich auf die Zukunft.

Das Gefühl des Heimwehs wuchs und wurde zur brennenden Sehnsucht.

Doch als sie nach zwölf Stunden bleiernem Schlaf langsam die Augen öffnete, war diese Stimmung schwächer geworden, verlor sich mit jedem Atemzug mehr. Sie hatte hier in Berlin einen Vertrag zu erfüllen.

Aber dann traf sie die Entscheidung: Am 7. September würde sie den Weg nach Hause finden, um sich zu versöhnen. Das Leben ging so schnell vorbei, und die Zeit, die sie bereits mit der Familie im Streit lag, war einfach zu lang.

Am 7. September stellte sich ihr Onkel Carl zur Wahl zum Oberbürgermeister des Kurorts. War das nicht ein Grund, endlich die Spannungen beizulegen? Ihre Familie kam ihr nicht entgegen, also sollte sie jeden falschen Stolz vergessen, selbst die Initiative ergreifen und am 7. September nach Hause fahren. Sie kam der Familie entgegen, signalisierte, es sei Zeit für eine endgültige Versöhnung. Manchmal schrieben Luise und sie sich kurze Briefe, aber niemand aus der Familie hatte Victoria jemals besucht. Und sie war ebenso wenig nach Hause gefahren. Letztendlich hatten sie ihr nicht wirklich verziehen, dass sie damals nach Berlin gegangen war, ohne Rücksicht auf die Katastrophe, in der sich die Familie befand. Sie sei egoistisch, denke nur an sich – waren das nicht die Worte ihrer Mutter gewesen? Aber das Heimweh wuchs und wurde zum festen Bestandteil ihrer Gefühle.

Drei Tage später fand die Vorbesprechung für die nächste Show statt. Sie saßen bei Tekla in der Küche, dem größten Raum in ihrer Wohnung. Teklas Ehemann saß am Tisch, Unterlagen vor sich ausgebreitet und wie immer mit sorgenvollem Stirnrunzeln, wenn seine Frau von wichtigen finanziellen Investitionen sprach. Um den Tisch herum saßen der Choreograf, der Bühnenbildner und auch ein neuer Bühnenautor. Er sei berühmt und koste viel, also müsse Victoria an der Ausstattung sparen.

»Die Tänzerinnen sind ja sowieso fast nackt«, erklärte der Autor, »ich verstehe nicht, warum die Ausstattung so teuer sein soll. Die Geschichte, die dahintersteckt, ist das Wichtige.«

Bevor es zu einer hitzigen Diskussion kam, griff Tekla ein. Sie sah auf die Uhr, stellte fest, es sei spät und die Vorbesprechung zu Ende. Jeder solle sich Gedanken machen, wie die neue Show aussehen könnte – eine Show, die alles übertreffen sollte, was bis jetzt gezeigt wurde. Zusammenarbeit sei gefragt.

Als sich auch Victoria erhob, bat Tekla sie, noch zu bleiben. »Vergiss den Termin nicht, Schätzchen«, rief sie Maja noch nach, der jüngsten und hübschesten Tänzerin, die gelangweilt bei der Besprechung dabeigesessen hatte.

Sicher ging es um Einsparungen. Wieder würde Victoria tagelang durch die kleinen Läden laufen, in die Damen der Gesellschaft ihre getragenen Abendkleider brachten. Manche rochen nach Parfüm und Schweiß, doch auch die Entdeckungen eines Lanvin Abendkleids konnte Victoria nach so vielen Jahren kaum mehr begeistern. So wartete sie unlustig auf das, was Tekla zu sagen hatte.

»Heute Abend gehen wir zu einer Einladung ins Adlon. Hier gibt es eine Wohltätigkeitssoirée für arme Künstler, der berühmte Chirurg Professor Dr. Bruckner hat den Vorsitz.«

Tekla sah Victoria erwartungsvoll an, doch die zuckte nur mit den Schultern. »Und?«

»Die Einladung hat uns ein Freund von mir verschafft, und wir treffen dort einen Herrn Gustav Bohrmann, einen reichen Provinzler, der bei uns investieren will. Er stellt Büromaterial her, Klammern und Stifte. Er war einmal in unserem Theater, die Tänzerinnen gefielen ihm besonders gut. Er hat eine Schwäche für ganz junge Frauen.«

Wieder sah Tekla Victoria an, doch Victoria blieb verhalten.

»Und deswegen soll ich mitkommen?«, fragte sie schließlich.

»Ach Schätzchen.« Tekla sah Victoria mitleidig an. »Du bist bereits zweiunddreißig, und ich sagte doch gerade, Bohrmann hat ein Faible für sehr junge Frauen und natürlich sehr attraktive.«

Jung. Attraktiv. Ach so. Victoria wusste im Moment nicht, sollte sie verletzt sein oder einfach nur lachen. »Warum willst du mich dann mitnehmen?«

»Damit du ihn überzeugen kannst, wie teuer eine Ausstattung sein muss, um erfolgreich zu sein. Er meint nämlich ebenfalls, die Mädchen tanzen fast nackt, das könne nicht viel kosten, er vertritt die gleiche Meinung wie unser neuer Autor.«

Wütend sprang Victoria auf. »Weißt du, Tekla, Ich habe es wirklich satt. Immer muss ich meine Entwürfe verteidigen, immer hängt es an mir, einzusparen. Gerade weil die Mädchen wenig bekleidet sind, ist es teuer. Warum versteht das niemand?«

»Schätzchen, ich … wir«, sie deutete mit dem Kopf auf ihren Mann Hugo, der sein Gesicht mit der starken Brille kurz hob und mehrmals nickte, »verstehen dich, verstehen, dass die Ausstattung sehr kostenintensiv sein muss. Aber wenn kein Geld da ist …« Mit einem Seufzer hob sie die Hände und ließ sie wieder fallen. »Also«, fing sie erneut an, da Victoria stumm blieb, »ich nehme Maja mit. Sie ist die Jüngste und auch die Schönste, und wie wir wissen, ist sie bei reichen Männern sehr entgegenkommend.«

Entgegenkommend bedeutete, sie ließ sich jederzeit mit einem Mann ein, er musste nur reich genug sein.

»Also, bitte sei um acht Uhr vor dem Adlon. Und zieh dir was Hübsches an und geh zum Friseur.«

»Dafür habe ich kein Geld, ich muss sparen, wo es nur geht«, konterte Victoria und warf die Tür hinter sich zu.

Als sie nach Hause kam, überlegte sie, ob sie Tekla nicht anrufen könnte, sie habe plötzlich eine starke Erkältung bekommen. Doch dann kam sie sich kindisch vor, und so stand sie pünktlich um acht Uhr vor dem berühmten Hotel. Als sie auf Tekla zuging, erschrak sie fast. Sie kannte Tekla sonst nur im Umfeld des Theaters, doch hier vor dem Adlon zog sie Blicke auf sich, die nicht schmeichelhaft waren. Tekla war nicht mehr jung, nicht mehr schlank, war blondiert und hatte sich jetzt in ein schwarzes Paillettenkleid gezwängt, das ihr Victoria vor Jahren entworfen hatte, als sie es noch hatte tragen können. Damals hatte es ihr wirklich gut gestanden, aber heute war der tiefe Ausschnitt für eine Sechzigjährige nicht mehr passend. Victoria empfand fast Mitleid mit Tekla, die so ungünstig aussah und nicht hinnehmen wollte, dass sie nicht mehr jung war.

Auch Maja erregte Aufsehen, sie trug trotz des warmen Abends einen weißen voluminösen Fuchspelzmantel. »Sie sieht traumhaft aus«, flüsterte Tekla Victoria zu, als sie ihren skeptischen Blick auffing. »Sie wird diesem Provinzler gefallen, und nur das zählt, egal, wie du aussiehst, Schätzchen«, fügte sie noch geringschätzig hinzu. »Das ist nicht gerade vorteilhaft, aber wie gesagt, das ist egal. Hauptsache, du kannst ihn überzeugen.«

Victoria lachte amüsiert. Sie trug eine schwarze weite Hose und die passende, eng anliegende Jacke dazu, beides hatte sie sich vor einiger Zeit genäht. Ihre Haare hatte sie sich selbst kurz geschnitten. Das Wichtigste war, dass sie sich wohlfühlte.

»Kommt, auf in den Kampf«, forderte Tekla ihre beiden Begleiterinnen auf.

Sie mussten nicht lange suchen; Gustav Bohrmann erwartete sie ungeduldig an der Garderobe. Er war gut einen Kopf kleiner als Victoria, seine füllige Figur wurde durch einen sehr gut geschnittenen Smoking kaschiert, das Haar war schütter, und die Farbe seines Gesichts konnte den hohen Blutdruck nicht verbergen. An der rechten Hand trug er einen auffälligen, großen Ring. Für Victoria erfüllte er das Klischee eines reichen Unternehmers aus der Provinz. Fehlt nur noch der Kaiser-Wilhelm-Bart, schoss es ihr durch den Kopf.

Während Tekla Bohrmann überschwänglich begrüßte, als würden sie sich schon Jahrzehnte kennen, stellte sie ihre beiden Begleiterinnen vor. Maja hatte sofort verstanden, worum es ging, sie lächelte wie angeknipst, ließ den weißen Pelz ein wenig über die Schulter gleiten und gab so einen schnellen Blick auf ihre Brüste frei, kaum verdeckt durch ein fast durchsichtiges Chiffonkleid. Gott sei Dank habe ich diesen geschmacklosen Fetzen nicht entworfen, dachte Victoria, bevor auch sie den »Provinzler« freundlich, aber kühl begrüßte.

Im Festsaal des Hotels drängelten sich bereits die Gäste um das Büfett, Kellner boten auf silbernen Tabletts Champagner an. Tekla und Maja griffen sofort nach einem Glas, und auch Herr Bohrmann trank, prostete den Damen zu und lächelte Victoria an. Konnte es sein, dass er sie mit Interesse wahrnahm? Sie musste sich irren. Victoria wandte das Gesicht ab und sah zu dem Flügel hinüber, an dem ein Pianist für die musikalische Untermalung des Abends sorgte. Er spielte ganz gut, stellte sie fest.

Da spürte sie, wie Gustav Bohrmann ganz leicht mit der Hand über ihre Hüfte strich, doch als sie sich ihm zuwandte, sprach er mit Tekla. Ein Versehen, mehr nicht. Während er sich unterhielt, beobachtete Victoria ihn. Tekla lächelte, nickte, schien gefesselt von seinen Worten zu sein und schob dabei Maja immer ein wenig näher in sein Blickfeld. Maja, die bewundernde Blicke vieler männlicher Gäste auf sich zog, sah hinreißend verführerisch aus, und ihr Lächeln und der Blick ihrer Augen versprachen Herrn Bohrmann schöne Stunden in ihren Armen.

Sie ist ein Talent, sie kann jeden Mann verführen, dachte Victoria beeindruckt, aber war das nun gut oder eher nicht? Sie lächelte über ihre eigene Überlegung, sie selbst hatte noch nie versucht, einem Mann wissentlich zu gefallen. Sie gefiel, überzeugte, wenn sie sprach, oder eben auch nicht. Und dem Einen, dem Einzigen, den sie geliebt hatte, dem hatte sie gefallen, ohne kokette Mätzchen, ohne eine perfekte Schönheit zu sein. Jetzt aber hatte sie Hunger und griff sich ein Lachsbrötchen von dem Tablett eines vorbeilaufenden Kellners. Wieder stand Herr Bohrmann ganz nahe bei ihr, so nahe, dass sie seinen Atem am Hals spürte. »Ich mag Frauen, die gern essen, es bedeutet, dass sie sinnlich sind.«

Blöder Kerl. Victoria gab vor, diese Bemerkung nicht gehört zu haben, doch Tekla warf ihr einen warnenden Blick zu. Er bedeutete, sei bloß nett zu ihm, wir brauchen sein Geld. Sie erkannte auch das Erstaunen in ihrem Blick und eine gewisse Ratlosigkeit. Es konnte doch nicht sein, dass dieser dicke Mann kein Gefallen an der bildschönen Maja fand, sondern sich offensichtlich um Victoria bemühte, um sie, der man im Theater als Frau kaum Beachtung schenkte, außer vielleicht vor Jahren Mario. Victoria war nur die Kostümbildnerin, die bei Anproben vor den Tänzerinnen auf dem Boden kniete und Säume absteckte, Perlen aufnähte und irgendein Kleid trug. Doch Tekla musste zugeben, heute sah Victoria irgendwie anders aus, extravagant sogar. Einige Blicke blieben an ihr hängen, einer schmalen großen Frau mit kurz geschnittenen rötlichen Haaren, denen man nicht ansah, dass sie sich an diesem Nachmittag vor den Spiegel gestellt und sie selbst geschnitten hatte. Sie hatte einfach Lust dazu gehabt. Ohne Schmuck, ohne sichtliches Make-up, ohne ihre Sommersprossen zu überschminken, stand sie hier und biss mit großem Appetit in ihr Lachsbrötchen.

»Ich mag es, wie Sie aussehen, so aufregend, so anders als alle Frauen hier. Hätten Sie Lust, Fräulein Laverne, mit mir danach noch auszugehen?«

Genau in diesem Moment hörte der Pianist zu spielen auf, erhob sich und verschwand unauffällig hinter einem Vorhang. Victoria legte den Zeigefinger an die Lippen und gab Gustav Bohrmann das Zeichen, es gehe jetzt offenbar los.

Er verstand. »Jetzt kommt der offizielle Teil«, erklärte er. »Ich habe schon großzügig gespendet«, erzählte er Victoria, »ich liebe Künstler, ich habe ein großes Faible für sie.«

»Vor allem sollten sie jung und hübsch sein.« Victoria biss sich auf die Lippen, sie hatte sich diese Bemerkung einfach nicht verkneifen können.

Doch Gustav Bohrmann lachte, schien es mit Humor zu nehmen, denn er folgte ihr weiterhin auf Schritt und Tritt, obwohl sie sich während der Reden der beiden Vorstandsmitglieder des Vereins Freunde der Künstler immer weiter entfernte. Endlich schien dieser Teil der Veranstaltung zu Ende, doch da trat der berühmte Chirurg Professor Doktor Bruckner neben den Flügel und wartete, bis die Gäste einen erwartungsvollen Kreis um ihn bildeten. Er bedankte sich für das zahlreiche Kommen, erklärte, als Höhepunkt des Abends habe er einen berühmten Pianisten überreden können, ein kurzes Konzert zu geben.

Während der Arzt einen russischen Pianisten empfing, hatte sich Victoria auf die Toilette geflüchtet, in der Hoffnung, Gustav Bohrmann hätte verstanden, dass nicht sie es war, die Tekla begleitete, um ihm zu gefallen, sondern Maja.

»Heißen Sie mit mir den russischen Pianisten Juri Petkov willkommen. In seinem Heimatland ist er berühmt und wird es sicher auch bald in unserer Kulturnation Deutschland sein.«

Victoria hörte im Waschraum nur den Beifall aufbrausen, die kleine Rede des Professors hatte sie durch die geschlossene Tür nicht verstanden. Kurz fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare, wartete, bis der Beifall langsam verklang und es still wurde. Sie setzte sich auf einen der kleinen Sessel und probierte die verschiedenen silbernen Bürsten aus, hob eine Flasche mit Parfüm, roch daran, griff nach einer duftenden Handcreme. Erst als draußen Klaviermusik aufrauschte, wandte sie elektrisiert den Kopf zur Tür. Tschaikowsky. Und nur einer konnte die erste Sinfonie so spielen, nur ein Einziger. Er konnte es nicht sein. Victoria blieb sitzen, sie wollte nicht aufstehen, nicht enttäuscht werden. Du darfst nichts erwarten, schärfte sie sich ein. Er ist es nicht, er kann es nicht sein, und doch …

Ihre Hände waren eiskalt, fast schien es, als versage ihr Atem, als drehe sich die Welt rückwärts.

Draußen hatten die Gäste einen großen Kreis um den Flügel gebildet, absolute Stille herrschte, gebannt hörten die Menschen zu. Leute, die nur unwillig zur Seite traten, als Victoria sich rücksichtslos nach vorne schob. Dann stand sie in der ersten Reihe.

Es war Juri. Juri Petkov. Ihr Juri.

Ihr Herz schlug gegen die Rippen, ihr Atem ließ sich kaum beruhigen, sie stand einfach nur da, spürte auch nicht, wie sich Gustav Bohrmann durch die Gäste drückte und jetzt neben ihr stand, ganz nahe, und sein Schenkel sich an den ihren drückte, seine Hand ihre Taille umfasste.

Juri Petkov. Sommer 1914. Juri … du bist einfach verschwunden, aber du lebst, du spielst hier Tschaikowsky, so wunderbar, wie nur du spielen kannst. Juri … sieh mich an …

Als spüre er ihre Bitte, wandte er das Gesicht den Leuten zu, suchte, bis sein Blick verharrte, auf Victoria ruhte. Sie sah sein Erstaunen, seine Frage, doch dann spielte er weiter. Wusste er, wer hier stand, oder hatte er sie nicht erkannt? Glaubte er, es sei nur irgendeine Frau, die ihn anstarrte und die er irgendwo schon einmal gesehen hatte? Hatte er sie vergessen? Tiefe Enttäuschung erfasste Victoria. War dieser Sommer nur für sie so unvergesslich gewesen, für sie, die damals Sechzehnjährige, die ihn bedingungslos liebte, gegen jede Konvention, kompromisslos, verfangen in den Momenten, in denen sie sich liebten? In all den Jahren danach hatte kein Mann ihre Gefühle so berühren können wie er.

Juri Petkov hob die Hände von den Tasten, die Gäste wussten nicht, sollten sie jetzt applaudieren, war das Konzert zu Ende? Doch dann fing er wieder an zu spielen. Leise und zart begann er. Juri spielte den Liebestraum von Liszt.

Und da wusste Victoria, er hatte sie erkannt, er erinnerte sich an sie, an den ersten Moment im Palmengarten, als er für sie gespielt hatte. Nur für sie.

Juri, ich habe dich so geliebt, immer gesucht, nie in einem anderen Mann gefunden, was ich bei dir empfand. Es war ihr egal, was die Leute dachten, was dieser Gustav Bohrmann dachte. Sie löste sich aus der Reihe und ging vor zum Flügel, sie stand da und sah Juri nur an.

Und er hob das Gesicht und lächelte sie an. In seinen Augen sah sie das Erkennen und die Erinnerung an den Sommer 1914.

DREI

Berlin

Clara

Es tut mir leid, Fräulein Weinberg, aber Ihr Fototermin mit Herrn Hitler übernimmt Ihr Kollege, Erich Flößer.«

Während Claras Vorgesetzter in der Redaktion das sagte, blätterte er nervös in einem Ordner und sah sie nicht an. Clara presste die Lippen zusammen, um nicht zu schreien oder zu weinen oder beides gleichzeitig. »Das ist bereits der fünfte Termin, der für mich abgesagt wurde. Und wie Sie wissen, Herr Brand, habe ich mich gerade auf diesen Termin mit Herrn Hitler gut vorbereitet. Man sagt, er studiere die Fotoposen mit einem sehr bekannten Opernsänger ein und lasse sich auch genau beraten, was Posen betrifft.«

»Das sind Gerüchte, mehr nicht.« Eine abfällige Handbewegung begleitete Herrn Brands Aussage, während er sich bereits erhob.

Clara aber blieb noch sitzen. »Bitte, Herr Brand, sagen Sie mir, warum meine Termine an Kollegen weitergegeben werden.« Claras Stimme klang ruhig und bestimmt. »Habe ich versagt, sind meine Fotos bei den Interviews zu ungenau, zu schlecht, was ist es?«

Brand warf ihr einen unbehaglichen Blick zu, setzte sich auf die Kante des Schreibtischs, griff sich einen Stift und spielte damit. Eine Pause entstand, bevor er weitersprach. »Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen …«

»Natürlich, ja«, unterbrach sie ihn sofort.

»Es ist Ihr Name.«

Clara atmete durch. Es traf sie, aber hatte sie es nicht irgendwie geahnt? »Es ist nicht der Name, sondern der Mensch, der dahintersteckt, ist es nicht so?« Sie hatte sich jetzt erhoben, stand aufrecht vor Brand, der rasch aufsprang.

»Ja«, gab er dann zu, »es tut mir persönlich sehr leid, denn Sie haben immer hervorragende Arbeit geleistet, aber Herr Hitler hat abgelehnt, von Ihnen fotografiert zu werden, da Sie …«

»Sprechen Sie es doch endlich aus«, rief Clara wütend und tief verletzt. »Weil ich Jüdin bin, nicht wahr? Aber ich bin doch Deutsche, ich wurde evangelisch getauft und bin im Wedding aufgewachsen.«

Brand seufzte und hob die Hände. »Ich bedaure das wirklich sehr, aber der Auftrag erging an uns über das Pressebüro der NSDAP, und die lehnen Sie nun mal ab. Da kann ich gar nichts machen, der Kunde ist König, wie man zu sagen pflegt.«

Clara lief ein paar Mal hin und her, blieb stehen und wandte sich ihm wieder zu. »Bedeutet es, dass ich auch in Zukunft keine wirklich wichtigen Aufträge mehr bekomme?«

»Das dürfen Sie nicht so eng sehen, es bleiben immer noch private Fotos, Ehepaare, Hochzeiten, Babyfotos …« Hier stockte Brand und suchte seine Jackentasche nervös nach Zigaretten ab.

Clara hatte verstanden, die Agentur arbeitete eng mit den Tageszeitungen zusammen und geriet durch die Mitarbeit einer Jüdin offenbar in Schwierigkeiten. Eine Fotografin, gerade noch gut genug für die unwichtigen kleinen Aufträge, für die Nebenher-Aufträge.

Sie schwieg und sah zu, wie Brand nervös an seiner Zigarette zog. Dann stellte sie die Frage, die ihren ganzen Mut erforderte. »Wie sieht meine Zukunft aus?« Sie gab ihrer Stimme einen festen Klang, wollte nicht bittend oder ängstlich klingen. Aber hatte Brand durch seine Aussage nicht bereits laut und deutlich zu verstehen gegeben, was sie hier in der Agentur erwartete? Sie würde immer weniger und nur unbedeutende Aufträge übernehmen können und dadurch auch immer weniger Geld verdienen. Schon jetzt musste sie sehr sparen, um sich und ihren Sohn Maxim durchzubringen. Sie räusperte sich, da ihre Stimme belegt klang und fast versagte. »Sie wissen, Herr Brand, dass ich für mein Können mit mehreren sehr wichtigen Preisen ausgezeichnet worden bin.«

»Fräulein Weinberg.« Seine Stimme wurde ungeduldiger. »Wir wissen doch beide, dass das Jahre her ist. Die Zeiten haben sich in jeder Hinsicht geändert, und sehr gute Fotos von einst sind heute bereits ›Geschichte‹, im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre Fotos wurden nach dem Krieg als Zeitdokumente geehrt, vor allem die Fotos mit diesem …«

»Franz, Franz Laverne.«

»Na, wie auch immer. Damals interessant, wie er diesen unterirdischen Schacht konzipiert hat und bauen ließ. Vorbild für viele andere Gräben wie den Bismarck-Schacht an der Westfront.« Brands Ungeduld wuchs. »Für diese Fotos, auch für Ihre Bilder der Berliner Hinterhöfe vor dem Krieg, haben Sie viel Bewunderung erhalten und Preise eingeheimst. Aber noch mal, die Zeiten haben sich geändert und …«

»Inwiefern?«, unterbrach Clara ihn heftig. »Weil jetzt Juden aus ihren Berufen gedrängt werden? Weil sie das Land verlassen und möglichst ihr Eigentum dem Staat übergeben sollen?«

»Fräulein Weinberg, was reden Sie denn da? Das sind doch nur infame Lügen. Es geht im Moment doch nur darum, dass die Führungsleute der NSDAP Sie ablehnen, ich gehe davon aus, dass sie für diesen Auftrag einen männlichen Fotografen bevorzugen.«

»Wir arbeiten so lange miteinander, und jetzt lassen Sie mich einfach fallen.«

»Das ist doch Unsinn«, rief Brand ihr nach, als sie sich abwandte und die Tür bereits geöffnet hatte.

Langsam drehte sich Clara noch einmal um. »Nun, dann bitte ich Sie, legen Sie mir meine Termine für Hochzeits- und Babyfotos auf den Schreibtisch. Ich jedenfalls gehe jetzt.«

»Mache ich, und ach ja, übrigens, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

Doch das hörte Clara nicht mehr, sie hatte die Eingangstür der Agentur bereits fest hinter sich zugezogen.

Clara hatte schon seit Monaten das Gefühl, in der Presseagentur immer mehr zur Seite gedrängt zu werden. Wenn sie morgens die Redaktion betrat, verstummten die Mitarbeiter verlegen, begrüßten sie rasch und wandten sich dann ihren Aufträgen zu. Wann hatte sie das letzte Mal an einer Konferenz teilgenommen? Sie hatte das Gefühl, dass sich ein Netz immer enger um sie zuzog, ihr den Atem nahm, und das Netz trug den Namen NSDAP. Es sei nicht mehr die Partei der Arbeiter und kleinen Leute, hatte Brand ihr vor ein paar Tagen erklärt. »Intellektuelle und der Mittelstand wählen sie, sie wollen eine ethnisch saubere Gesellschaft haben. Keine Kriminalität, keine Volksverhetzung, ein ruhiges, gesundes Bürgertum.«

Clara versuchte die Angst, die sich ihrer bemächtigte, zu ignorieren. Die größer wurde, ihr den Atem nahm, die Luft abdrückte. Aber sie durfte nicht verzweifeln, noch hatte sie diese Stelle, und noch verdiente sie Geld. Sie lief jetzt schneller und kam außer Atem bei der Konditorei Kranzler an. Als sie ihren Sohn Maxim entdeckte, der unruhig auf der Straße auf und ab lief, einen kleinen Strauß Vergissmeinnicht in den Händen, kamen ihr die Tränen, vor Liebe, vor Angst auch, dass dem Elfjährigen eine ungewisse Zukunft bevorstand. Sie musste ihn schützen, ihn bewahren vor Gewalt, Aggressionen und Übergriffen. Sie wusste, dass er in der Schule ausgegrenzt wurde, es schmerzte sie zutiefst, als er berichtete, sein Deutschlehrer Dr. Huber habe ihn als Judenbengel bezeichnet. Voller Wut war sie in die Sprechstunde zu Dr. Huber gestürmt, der aber hatte nur gelacht und erklärt, das sei doch im Grunde nur eine verbale Rangelei gewesen, ein wenig Spaß. Doch beide wussten, das entsprach nicht der Wahrheit. Clara bekam Angst – wann würde eine solche Bemerkung nicht als kleiner Scherz abgetan, mit einem Achselzucken übergangen werden, sondern ernst gemeint sein. Ernst und bedrohlich.

Sie umarmte ihren Sohn, lachte, freute sich über den kleinen Strauß, den sie trocknen und als Erinnerung auf ihrer Kommode in eine kleine Vase stellen würde. Im Lachen versuchte sie, ihre Tränen, ihre Angst zu unterdrücken. Maxim hatte bereits einen Tisch reservieren lassen, und wie so oft staunte Clara über die Selbstständigkeit ihres Sohns.

»Ich lade dich ein«, erklärte Maxim strahlend.

Clara ahnte, er hatte sein Taschengeld gespart, um ihr heute einen schönen Nachmittag zu bereiten, ihr, der geliebten Mutter, eine Freude zu machen. Sie bestellte sich einen Wiener Eiskaffee und erzählte, den habe sie mit seinem Vater Franz hier immer getrunken.

»Du musst auch Kuchen essen«, drängte Maxim sie, und so bestellte sie sich einen Rhabarberkuchen mit ganz viel Sahne. Sie hatte keinen Hunger, aber sie wusste, sie hätte Maxim enttäuscht, wenn sie sagen würde, sie könne keinen Bissen hinunterbringen, die Kehle sei ihr wie zugeschnürt. Als der Kuchen gebracht wurde und auch Maxim mit großem Appetit ein Stück aß, beobachtete sie ihn lächelnd. Er war groß für sein Alter, ein wenig zu dünn, seine Haut sah gesund aus, und mit den blonden Haaren, den blauen Augen glich er seinem Vater Franz. Niemals hätte sie gedacht, dass es eine so große Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn geben könnte. Auch sein Lächeln erinnerte sie an Franz, und das versetzte ihr manchmal einen kleinen Stich, doch dann empfand sie nur Freude, und diese Freude gab ihr Kraft, weiterzuarbeiten. Während sie aßen und sie Maxim versicherte, wie gut der Rhabarberkuchen schmecken würde, sah sie sich um. Viele Jahre war sie nicht mehr hierhergekommen, aber Maxim hatte gedacht, es mache ihr besondere Freude, hier an dem Ort zu sitzen, an dem sie sich mit seinem Vater getroffen hatte. Die Zeit war vergangen, doch die Angst, die sie damals um Franz verspürt hatte, schien heute noch gegenwärtig. Er war an die Front gefahren aus innerem Drängen, sein Vaterland zu verteidigen. Und heute, so viele Jahre später, verspürte sie wieder Angst. Jetzt um den Sohn, doch es war ein Gefühl, das nicht greifbar schien. Es legte sich um ihr Herz.

Während sie beide aßen, sah sie sich immer wieder um, sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Fast musste sie lachen, auch dieses Gefühl hatte sie sich von damals bewahrt. Die Erinnerung an dieses Café war nicht nur von angenehmer Wehmut getragen, sondern auch von Schmerz und Verzweiflung. Als sie zum ersten Mal von Franz schwanger gewesen war, hatte eine junge Frau sie die Treppe hinuntergestoßen, und sie hatte das Kind verloren.

Sie spürte, wie ihr Sohn sie genau beobachtete, und so lachte sie und unterhielt sich mit ihm, zeigte ihm, wie sehr sie diesen Nachmittag genoss. Nichts sollte sein Leben trüben, nichts sollte ihm jemals passieren. Franz, dachte sie, ich werde auf deinen Sohn aufpassen, ihn immer beschützen, sein Glück soll über dem meinen stehen. Fast war es ein Gelübde, das sie hier an diesem sonnigen Nachmittag ablegte.

»Warum weinst du denn?« Erschrocken sah Maxim sie an.

»Ach nein, ja, doch«, widersprach sie sich, »ich habe an deinen Vater gedacht und wie sehr wir uns geliebt haben.«

»Ihr hättet geheiratet, wenn er nicht gefallen wäre, oder?« Tief betroffen und ängstlich sah Maxim seine Mutter an. Mit den Augen seines Vaters, so tiefblau, wach und forschend.

»Ja, natürlich.« Ihre Stimme klang bestimmt und ließ keine Zweifel offen. »Wir haben uns so sehr geliebt, und ich weine jetzt, weil ich diese Liebe erleben durfte, weil sie mich glücklich gemacht hat und ich dich bekommen habe.« Sie griff nach Maxims Hand und drückte sie fest.

Bei ihren Worten verschwand die Unsicherheit aus Maxims Gesicht, und auch er lächelte wieder, doch sie lebten zu eng miteinander, als dass er nicht spüren würde, dass sie nicht glücklich war. Aber er stellte keine weiteren Fragen. Als sie den Kuchen gegessen hatten, schlug Clara vor, nach Hause zu gehen, sie habe eine Flasche Sekt gekauft, und er dürfe mit ihr anstoßen.

Maxim tat überrascht, obwohl er den Sekt gesehen hatte, den sie in Eiswasser auf den kleinen, kühlen Nordbalkon gestellt hatte, auf den nie die Sonne schien. Aber auch er hatte eine Überraschung geplant und für seine Mutter ein Essen vorbereitet, teuren Schinken und knuspriges Weißbrot gekauft, dazu noch Landbutter und französischen Käse. Er hatte für einen alten Nachbarn Einkäufe erledigt und das Geld gespart, um seiner Mutter diesen Tag schön zu gestalten und sie glücklich zu sehen. So konnte er es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Als Clara bezahlen wollte, bestand Maxim darauf, die Rechnung zu übernehmen. Sie ging zur Toilette, und er erzählte der Kellnerin, heute zahle er, denn seine Mutter habe Geburtstag. Als Clara an den Tisch zurückkam, standen die Kellner und die Kellnerin dort, sangen ein Lied und gratulierten Clara. Und da bedankte sich Clara unter Tränen, küsste Maxim und sagte ihm, das sei sicher der schönste Geburtstag in ihrem Leben und sie müsse bereits wieder weinen.

Doch da widersprach Maxim, nein, das dürfe sie nicht sagen. Denn es kämen noch viele Geburtstage, an denen er für sie Überraschungen bereithalten würde, viele, viele Jahre.

Er hätte das nicht sagen sollen, denn Clara war abergläubisch und erschrak. Doch sie lächelte. »Ja, natürlich, Maxim, und das wird wunderbar werden.«

Als sie sich durch die Tische drängelten und auf der Straße kurz zurückblickten, da auch Gäste an anderen Tischen Clara jetzt lachend alles Gute zum Geburtstag zuriefen, kamen ihr wieder die Tränen. Wussten diese Leute, dass sie Juden waren? Wären sie auch so freundlich, wenn sie die Wahrheit kennen würden?

Doch dann winkte sie ihnen lachend zu und rief ein Dankeschön, und dann legte sie den Arm um Maxims Schultern, und sie gingen nach Hause.

Während des Essens schwieg Maxim lange, dann aber legte er das Stück Weißbrot ab, mit dem er gekrümelt hatte, und sah seine Mutter fest an. »Wenn ihr heiraten wolltet, was ist dann mit seiner Familie, kennst du sie nicht? Wie haben sie reagiert, als ich auf die Welt kam? Oder leben sie nicht mehr? Wieso, ich meine …« Er hielt inne, da er die Ablehnung seiner Mutter spürte und ihr Gesicht sich verschloss. Maxim war elf Jahre alt, und Clara war sich bewusst, dass sie irgendwann reden musste. Bis jetzt hatte er wenig Interesse gezeigt, es waren sie beide, die zählten, die sich hatten, die zueinander gehörten, Maxim schien niemanden zu vermissen. Einmal hatte er nach dem Namen der Familie gefragt, aufmerksam zugehört, es dann aber offenbar für nicht wichtig erachtet. In der Schule gab es drei Mitschüler, deren Väter auch gefallen waren, bevor die Söhne auf die Welt kamen, bei zwei von ihnen waren die Mütter auch erst verlobt gewesen, und die Schule akzeptierte die Söhne unserer Helden des Vaterlands, ohne sie zu diskriminieren.

»Aber wäre es für dich nicht wichtig, zur Familie zu gehören?«

»Für mich?« Clara schüttelte langsam den Kopf.

»Wenn es für dich nicht wichtig ist, dann ist es das für mich auch nicht«, erklärte Maxim in bestimmtem Ton und stellte keine weiteren Fragen.

 

In dieser Nacht fand Clara nicht in den Schlaf. Irgendwann würde Maxim anfangen zu fragen, vielleicht wissen wollen, warum sie sich nach seiner Geburt nicht an die Eltern seines Vaters gewandt hatte. Er konnte das einfordern, letztendlich war es seine Familie, nicht ihre. Doch ihre Angst, dass diese mächtige reiche Familie käme und ihr durch das Reichsjugendamt den Sohn wegnehmen ließ, hatte sie die vergangenen Jahre beherrscht. Aber würde er ihr später nicht Vorwürfe machen, ihr vorhalten, er habe ein Recht auf Information, ein Recht auf die Familie, die bis jetzt so gar nichts von ihm wusste?

War sie egoistisch gewesen, als sie jahrelang geschwiegen hatte?

Gerade im letzten Jahr hatte sich Maxim verändert, sah Franz immer ähnlicher, heute konnte er den Vater nicht mehr verleugnen. Doch für Franz’ Mutter war die wahre Verlobte eine andere gewesen: Gerda von Bitten. Das hatte ihr Franz erzählt. Seine Mutter wolle einfach nicht einsehen, dass Gerda nur eine Affäre und niemals seine Verlobte gewesen war. »Diese Frau hat es verstanden, meine Mutter so für sich einzunehmen, dass sie von ihr in die Familie aufgenommen worden ist.« Franz wollte es endlich richtigstellen, wenn er von der Front nach Hause fuhr. Aber dazu war es nicht mehr gekommen, er fiel, ein paar Tage bevor die Verhandlungen für einen Waffenstillstand begannen. Und sie, Clara, war für die Familie eine Unbekannte, vielleicht sogar die Frau, die sich in die Beziehung von Franz und Gerda gedrängt hatte, ihn mit einer Schwangerschaft erpressen wollte. Sie würden ihr den Sohn wegnehmen, und je mehr Clara daran dachte, desto stärker war sie davon überzeugt.

VIER

Ostpreußen

Anfang August 1930
Felix

Felix stand im Gang des Personenzugs am offenen Fenster und beugte sich weit hinaus, der Fahrtwind blies ihm ins Gesicht und fuhr durch seine Haare. Staunend nahm er die vorbeiziehende Landschaft in sich auf. Nur Weite, wogende Kornfelder, Wiesen, gelbe Rapsfelder und darüber ein strahlend blauer Himmel.