Die Modeschöpferin - Katja Maybach - E-Book
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Die Modeschöpferin E-Book

Katja Maybach

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Beschreibung

Zwei gegensätzliche Schwestern und die aufregende Welt der Mode: ein hochspannender historischer Familien-Roman im Rom der 60er Jahre Rom im August 1961: Bis zur Erschöpfung arbeitet die berühmte Modeschöpferin Simonetta de Rosa mit ihrem Team an der neuen Kollektion, die im Herbst auf einer glamourösen Modenschau präsentiert werden soll. Da erreichen sie zwei Nachrichten, die alles infrage stellen, was sie sich aufgebaut hat: Ihre Schwester Chiara, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat, scheint eine Affäre mit dem Mann zu haben, den Simonetta liebt. Plant Chiara, die ebenfalls als Modedesignerin arbeitet, sich auf diese Weise an Simonetta zu rächen? Und ein amerikanisches Modehaus ist an zwei ihrer streng geheimen Entwürfe gelangt – wer aus ihrem Team, das ihr wie eine Familie ist, hat Simonetta derart betrogen, hat Modespionage betrieben, gar einen Mord begangen? Der Termin für die Modenschau rückt unerbittlich näher, und Simonetta braucht all ihre Kraft, um ihre Kollektion doch noch zu dem Mode-Wunder zu machen, das alle erwarten. Wem kann sie jetzt noch trauen? Katja Maybach hat selbst lange als Modedesignerin gearbeitet: Mit ihrem historischen Familien-Roman um die Schwestern und Modeschöpferinnen Simonetta de Rosa und Chiara Arisi im Rom der 60er-Jahre ist sie erneut tief in die Welt der Mode eingetaucht. Katja Maybach hat selbst lange als Modedesignerin gearbeitet: Mit ihrem historischen Familien-Roman um die Schwestern und Modeschöpferinnen Simonetta de Rosa und Chiara Arisi im Rom der 60er-Jahre ist sie erneut tief in die Welt der Mode eingetaucht.

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Katja Maybach

Die Modeschöpferin

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Bis zur Erschöpfung arbeitet die berühmte Modeschöpferin Simonetta de Rosa mit ihrem Team an der neuen Kollektion, die im Herbst des Jahres 1961 auf einer glamourösen Show präsentiert werden soll. Da erreichen sie zwei Nachrichten, die alles infrage stellen, was sie sich aufgebaut hat: Ihre Schwester, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat, scheint eine Affäre mit dem Mann zu haben, den Simonetta liebt. Und ein amerikanisches Modehaus ist an zwei ihrer streng geheimen Entwürfe gelangt. Wer aus ihrem Team, das ihr wie eine Familie ist, kann Simonetta derart hintergangen haben? Und wem gehört ihr Herz tatsächlich?

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Leseprobe »Schicksalszeit«

Rom 1961

Kapitel 1

Simonetta

Wann war sie jemals zu spät gekommen?

Luigi konnte sich nicht erinnern, dass es irgendwann einmal passiert war. Jeden Morgen kam sie in seine Bar, um ihren ersten Espresso des Tages zu trinken.

Simonetta de Rosa, die es geschafft hatte, sich innerhalb von elf Jahren gegen Paris und seine Modestars wie Coco Chanel, Balenciaga und Yves Saint Laurent durchzusetzen. Ihre Kreationen zierten die Cover der internationalen Modemagazine.

La Simonetta, wie die Römer sie liebevoll nannten. Durch sie war Rom Italiens Modestadt Nummer eins geworden und hatte Florenz in dem heimlichen, aber erbitterten Wettstreit um diesen Titel geschlagen. Rom war stolz auf seine Simonetta de Rosa.

 

Luigi wurde unruhig. Durch die Tür beobachtete er seine beiden Kellner, die die Tische auf dem Gehsteig vor der Bar aufstellten, die Stühle aufklappten, Kissen darauflegten und Aschenbecher mit Luigis Logo auf den Tischen platzierten. Auch Luigi hatte es geschafft. In den Jahren nach dem Krieg war es ihm gelungen, aus einer kleinen Kneipe die angesagteste Bar Roms zu machen. Er hatte sie eröffnet, als die Via Veneto noch eine unbekannte Straße gewesen war und die Fotografen noch nicht Paparazzi hießen.

Heute fuhren sie auf ihren knatternden Vespas oder in offenen Cabrios bei ihm vorbei, immer auf der Lauer, immer bereit, ein Foto zu schießen, das Geld und Anerkennung brachte, und unter den vielen unbekannten Filmsternchen, die sich ab Mittag hier vor Luigis Bar drängelten, einen wirklichen Star zu entdecken. Oder am späten Abend eine skandalöse Affäre aufzuspüren.

Jetzt kam Mario herein, sein ältester Kellner, und legte die drei wichtigsten Boulevardzeitungen auf den Tresen. Schweigend gab er Luigi mit dem Kopf einen Wink, einen Blick darauf zu werfen. Simonetta de Rosa auf allen Titelseiten – und direkt daneben ein Foto mit einer grellen Überschrift. Luigi erstarrte, als er sie überflog.

Genau in diesem Moment kam sie herein. Hastig ließ Luigi die Zeitungen unter dem Tresen verschwinden. Hatte Simonetta es bemerkt, kannte sie bereits die Titelstory, die heute die Boulevardpresse beherrschte? Kam sie deswegen zu spät?

Sie trug ein schmales weißes Kleid, um den Kopf hatte sie sich einen schwarzen Chiffonschal geschlungen. Mit dieser glamourösen Art, ein Tuch zu tragen, hatte sie vor einigen Jahren einen Trend gesetzt. Fast alle italienischen Filmstars trugen jetzt ein Tuch um den Kopf, es sah modisch und auch ein wenig dramatisch aus. Und es gab jeder Frau diesen gewissen Hauch Glamour.

Simonetta begrüßte Luigi und lehnte sich an die Theke, ohne sich auf einen der Hocker zu setzen. Dann drehte sie sich zur Seite und nickte wie an jedem Morgen dem Mann am hinteren Ecktisch zu, der immer bereits dort saß, wenn Simonetta kam. John Tailor, ein englischer Drehbuchautor, der nur bei Luigi schreiben konnte, nur hier seine Inspiration fand. Er verfasste Drehbücher für bekannte Regisseure und pendelte zwischen Luigis Bar und den Filmstudios in Cinecittà hin und her.

Als Luigi den Espresso vor Simonetta auf den Tresen stellte, versuchte er, seine Stimme unverfänglich klingen zu lassen.

»Vorsicht, der Espresso ist sehr heiß, Signora.«

Sie nickte, pustete ein paarmal und trank die Tasse schnell aus. Und schon wandte sie sich lächelnd wieder zum Gehen. »Ich bin spät dran«, erklärte sie noch, und: »Ciao, bello.« Sonst nichts, der Gruß klang wie immer.

Luigi holte die Zeitungen wieder unter dem Tresen hervor und legte sie für andere Gäste auf die Theke. Allmählich füllte sich die Bar, Geschäftsleute, Leute vom Film, alle kamen sie zu ihm. An den Tischen unter den Bäumen draußen auf dem Gehsteig würden gegen Mittag Touristen sitzen und sich neugierig umsehen, ob sie in dieser berühmten Bar vielleicht einen Filmstar entdeckten. Sie mischten sich unter die vielen jungen Leute, die sich dort in Szene setzten, wenn ein Paparazzo mit umgehängter Kamera vorbeifuhr. Und träumten davon, von Federico Fellini für seinen nächsten Film entdeckt zu werden.

Abends drängelten sich hier die Stammgäste. Fotografen war dann der Zutritt verboten, die Prominenz wollte unter sich bleiben. Manchmal kam auch Simonetta noch einmal schnell vorbei, trank ein Glas ihres Lieblingsweißweins und hastete zurück in ihr nahe gelegenes Haute-Couture-Haus, in dem die teuersten und kostbarsten Luxusmodelle entstanden. Kleider und Kostüme, die nicht nur von den reichen und elegantesten Frauen der High Society getragen wurden, sondern auch die Mode beeinflussten. Modegeschichte schrieben, wie die Vogue es nannte.

»Und? Hast du es gelesen?« Mario band sich die lange weiße Schürze um und beobachtete seinen Chef scharf.

Luigi nickte nur. »Eine Katastrophe, wo ist das passiert?«

»Im Fontana di Trevi, der Paparazzo muss das Foto durchs Fenster des Lokals geschossen haben.«

*

»Simonetta wollte ein sattes Grün, und was ist das? Apfelgrün, ein hässliches Apfelgrün!«

Paolo, Simonettas Assistent, riss das halb fertige Kleid vom Ständer und hielt es Ettore vors Gesicht, sodass er zurückwich. Ettore war seit Jahren zuständig für Ablauf und Organisation der Kollektionen. Erschöpfung und Gereiztheit machten sich breit.

»Simonetta geht nicht ans Telefon!«

Antonia, die zweite Assistentin im Team, legte den Hörer auf und wandte sich an die anderen, die sie anstarrten und für einen Moment den falsch bestellten Stoff vergaßen. Sie alle waren müde, hatten die Grenze der Belastbarkeit überschritten, und das hatte sie empfindlich werden lassen. Nur Carla, die Chefdirektrice, behielt die Nerven. Sie war vierundsechzig Jahre alt und begleitete Simonetta seit Beginn ihrer Karriere. Sie besaß die große Begabung, Simonettas Ideen durch ihre Schnitte in die Realität umzusetzen. Das sei eine Kunst, betonte die Modeschöpferin. Sie brauche jemanden wie sie. Simonetta probierte an den Mannequins ihre Ideen aus, rutschte vor ihnen auf dem Boden herum, steckte den Stoff, drapierte, schnitt, steckte wieder. Carla stand dann ruhig und konzentriert dabei, um anschließend Simonettas Visionen und Ideen zu realisieren.

Manchmal klagte Simonetta über dieses Manko, nicht zeichnen zu können, den Beruf nicht gelernt zu haben. Dann aber befand Carla nur lakonisch, jeder wisse, dass auch Coco Chanels Kreationen auf diese Weise entstanden. »Du bist in guter Gesellschaft, nicht alle Modeschöpfer können so wunderbar zeichnen wie Balenciaga oder Hubert de Givenchy.«

Jetzt sah Carla mit großer Gelassenheit die Kollektionsteile auf dem Kleiderständer durch. Auf jedem Bügel hing der Schnitt, das halb fertige Teil, manches auch erst für eine Anprobe in Nessel gefertigt. An dem Schnitt steckte das Foto mit den Maßen des Mannequins, das bei der Modenschau das jeweilige Modell tragen würde.

»Heute sollte Modell Lucretia zur Anprobe fertig sein, und was haben wir? Nur diesen hässlichen grünen Fetzen.«

Paolo wollte sich nicht beruhigen. »Und du, Carla, was sagst du dazu?«

Carla zuckte mit den Schultern. »Warten wir ab, bis Simonetta kommt.«

»WENN sie kommt. Die Anprobe war für halb neun angesetzt, jetzt ist es fast zehn Uhr. Man kann Suzy nicht warten lassen. Sie ist ein Starmannequin, läuft bei Pierre Balmain und …«

»Paolo, das wissen wir.« Ungeduldig schnitt Carla ihm das Wort ab. »Wo steckt Suzy überhaupt?«

»Sie sitzt im Innenhof und raucht.«

»Ihre Maschine nach Paris geht erst um drei Uhr. Also, Paolo, noch kein Grund, durchzudrehen.«

June, eine junge Amerikanerin und verantwortlich für Accessoires, versuchte, ihn ein wenig zu provozieren. Die beiden mochten sich nicht. Der junge schöne Assistent von Simonetta mit den dunklen glatten Haaren und dem zarten Teint fand Junes Aufmachung grell und geschmacklos. Die Dreißigjährige hatte rot gefärbte Haare und war stets schwarz gekleidet. Ihre Fingernägel lackierte sie nach der neuesten Mode perlmuttgrün, und an den beiden Armgelenken klirrten silberne schmale Armreifen. Paolo verstand nicht, dass Simonetta sie bei allen Besprechungen dazubat. Nur widerstrebend und wenn er gut gelaunt war, gab Paolo zu, dass sie ein außergewöhnliches Gespür für Accessoires, Schmuck, Hüte und Schuhe besaß.

June saß auf der Kante des langen Tisches im Atelier, nachdem sie Berge von Skizzen und Stoffmuster zur Seite geschoben hatte. »Ich denke«, meinte sie in die Runde, »Simonetta wird vielleicht gar nicht kommen, nachdem sie die Schlagzeilen von heute gelesen hat.«

In stummer Beunruhigung sahen sie einander an.

Dann aber schüttelte Ettore den Kopf. »Simonetta hat es immer verstanden, ihr Privatleben und den Beruf zu trennen. Im Übrigen«, kam er auf Paolos Angriff zurück, »hat Simonetta den grünen Stoff gestern Nacht noch gesehen. Kein Wort davon, dass Carla ihn heute Morgen nicht zuschneiden und zur Anprobe richten soll.«

»Sie nimmt nur Rücksicht auf dich«, erklärte June, bevor sie in einen Apfel biss, ihr einziges Frühstück, wie alle wussten. »Du bist vergesslich geworden«, setzte sie mit der Gleichgültigkeit der Jugend hinzu.

Ettore wurde blass. In Junes Augen schien er offenbar nur ein alter Mann zu sein. Nicht mehr belastbar, stets nervös und fahrig. Jeder im Couture-Haus hatte es in den vergangenen Monaten bemerkt. Nur Simonetta sah über seine Fehler hinweg und gab ihm das Gefühl, alles sei in Ordnung.

Carla schob sich die Brille auf die Nase und sah ihn mit zugekniffenen Augen an. Er spürte, dass er beobachtet wurde, fuhr sich durch die Haare und wischte sich mit dem Einstecktuch des Anzugs den Schweiß von der Stirn, obwohl es in den großen, hohen Räumen angenehm kühl war.

»Wir haben vergangene Nacht bis vier Uhr durchgearbeitet und sind trotzdem heute Morgen pünktlich. Und wo bleibt sie?«

»Paolo, bitte. Warten wir es doch einfach ab«, versuchte Carla, den aufgeregten jungen Mann zu beruhigen. Doch es nützte nichts, Paolo überging Carlas Vorschlag.

»Simonetta scheint das Grün zu gefallen«, verteidigte sich Ettore, immer noch mit der Farbe beschäftigt. »Ihr wart doch alle Zeugen.«

»Ich habe nichts gesehen«, erklärte Paolo, »ich sehe nur, wie hässlich die Farbe ist.«

»Ich finde sie nicht schlecht. Sie ist modern, wirkt jung.«

June wippte mit ihren langen schlanken Beinen und suchte nach Zigaretten in ihrer Tasche, dem angesagten Dior-Beutel.

»Was gestern gesagt wurde«, erklärte Carla und sah in die Runde, »spielt heute Morgen keine Rolle mehr. Basta!«

Für einen Moment schwiegen alle, müde und abgekämpft. »Die Sache ist noch nicht ausgestanden«, murmelte Paolo mit einem Blick auf June. »Und rauchen ist hier im Atelier verboten.«

Er war selbst überrascht, dass June kommentarlos die Zigaretten zurück in die Tasche steckte. Plötzlich wurde die Tür von der rothaarigen Suzy aufgerissen.

»Die Signora ist da.« Sie blieb stehen, trat zur Seite und ließ Simonetta den Vortritt.

»Es tut mir leid, bitte entschuldigt, dass ich euch warten ließ.« Simonettas Stimme klang ruhig, während sie den schwarzen Chiffonschal löste und sich durch ihre dunklen kurzen Haare fuhr. »Aber ich habe schon seit sieben Uhr herumtelefoniert, ich wollte mit Alberto persönlich sprechen.«

Alberto war der Inhaber und Vorstandsvorsitzende von Alberto Bianchini Tessuti, des größten Stoffherstellers Italiens mit Firmensitz in Mailand.

»Er ist im Moment noch in seinem Haus auf Capri.«

Simonetta stellte ihre Handtasche unter den verstohlenen Blicken aller auf den Tisch. Hatte sie die Schlagzeilen von heute etwa noch nicht gesehen?

»Also, um es kurz zu machen, ein Praktikant seiner Firma ist gerade in Mailand auf dem Weg zum Bahnhof. Der Zug kommt heute Abend hier um 22 Uhr an. Der junge Mann wird von meinem Fahrer abgeholt und bringt uns den Stoff, den ich von Anfang an haben wollte. Du, Carla, kannst ihn dann zuschneiden und für morgen das Modell Lucretia zur Anprobe richten. Und dieses Teil«, sie zeigte mit dem Kopf auf das apfelgrüne Kleid, »bitte ganz schnell weghängen.«

»June meint, die Farbe wäre jung und modern.« Paolos Bemerkung blieb ungehört, als Suzy noch einmal betonte, um drei ginge ihr Flieger.

»Nina wird die Anproben übernehmen. Da sie die gleichen Maße hat wie du, ist das kein Problem. Du kommst dann zur großen Hauptprobe.«

Nina war das Hausmannequin, das den ganzen Tag für Anproben zur Verfügung stand.

»Damit ist ja wohl alles geklärt.« Simonetta nickte in die Runde und ging in ihr Arbeitszimmer, von allen nur das Allerheiligste genannt. Sie schloss die Tür hinter sich – das Zeichen, dass sie nicht gestört werden wollte.

Ihre Mannschaft warf sich vielsagende Blicke zu. Simonetta kannte die Schlagzeilen, da waren sie sich jetzt alle einig.

*

Als am späten Abend der neue Stoff gebracht wurde, riss Simonetta das Paket ungeduldig im Beisein von Carla und Ettore auf. Erleichtert nickten sie einander zu – der Stoffcoupon war genau in dem dunklen Grün, das sich Simonetta für ihr Modell Lucretia vorgestellt und auch bestellt hatte. Ein Kleid mit einer raffinierten Raffung an Schulter und unterhalb der Taille sollte es werden.

»Das wird mein bestes Kleid.«

Zum ersten Mal an diesem Tag wirkte Simonetta entspannt, als sie Ettore anlächelte. Ein Kleid, prädestiniert für die Vogue und Harper’s Bazaar als Cover der Septemberhefte, den wichtigsten Ausgaben des Jahres. Eine Schulter blieb frei, die sogenannte Dianaschulter. Diesen Ausschnitt hatte Simonettas Freundin Elsa Schiaparelli in den Dreißigerjahren erfunden, als sie in Paris eine der berühmtesten Modeschöpferinnen ihrer Zeit gewesen war.

Simonetta wartete noch, bis im Innenhof ein dunkler Lieferwagen einfuhr und Ettore, begleitet von zwei Sicherheitsleuten, eine riesige Hülle in den Fond des Wagens legte und dann stehen blieb, bis die beiden Wachmänner einstiegen und den Wagen starteten. Ettore sah zu Simonetta hoch, die oben am Fenster stand, und machte ihr das V-Zeichen. Alles lief nach Plan.

Der Wagen sollte heute noch das Brautkleid Modell Mariage aus der Kollektion in die Stickerei von Rosalia Manfredi bringen, deren Atelier in einem kleinen Ort in dem Gebiet von Frascati lag. Mitten in den Weinbergen entstanden die schönsten und teuersten Stickereien für Simonettas Haute-Couture-Kreationen.

Simonetta blieb noch am Fenster stehen, sah, wie im Innenhof die Lichter ausgingen, und wartete, bis Ettore zu ihr hochkam. »Rosalia wird mich zu Hause anrufen, wenn der Wagen bei ihr eingetroffen ist«, wandte sie sich an Ettore.

»Hast du Angst, es könnte etwas passieren?« Ettores Nervosität wuchs und blieb Simonetta nicht verborgen.

»Nein, nein, das ist nur Routine. Die Straßen nach Frascati sind nicht sehr befahren, und das Haus von Rosalia liegt etwas abseits, soweit ich weiß.«

»Hast du Angst, der Wagen wird überfallen?«

»Ich will einfach nur beruhigt sein, mehr nicht.«

Sie warf Ettore einen schnellen Blick zu. Sie hatte das Gefühl, er wollte sie aushorchen, schien selbst sehr besorgt.

»Nun ja, Ettore, wir wissen doch, dass Modespionage ein großes Thema ist. Sie ist ein einträgliches Geschäft geworden, also ist Vorsicht geboten, das ist alles.«

Ettore kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte. Also wechselte er das Thema. »Rosalia hat uns die Kalkulation geschickt, hast du sie gesehen? Mariage wird mit den 200 Metern Tüll und der aufwendigen Stickerei das teuerste Kleid, das du jemals entworfen hast, aber sicher auch das sensationellste.«

»Ja, es ist aufregend, und ich liebe es«, war Simonettas Antwort. »Und deswegen möchte ich von Anfang an kein Risiko eingehen.«

Sie sah Ettore an und wartete, doch er gab keine Antwort, sondern verabschiedete sich rasch. Nachdenklich sah Simonetta ihm nach. Was war los mit ihm? Sie konnte ihn nicht immer in Schutz nehmen. Als sie vor elf Jahren ihre Mannschaft zusammengestellt hatte, gehörte er dazu, genauso wie Carla. Die beiden hatten Simonettas Aufstieg, ihren Erfolg und auch Rückschläge miterlebt. Simonetta kannte Carlas Privatleben. Seit Jahren war sie glücklich verheiratet. Doch von Ettore wusste sie nichts. Stets elegant und teuer in Nadelstreifenanzüge gekleidet, kam er niemals ohne Krawatte zur Arbeit. Obwohl er sehr höflich war, blieb er ein Außenseiter. Für Simonetta war er stets ein zuverlässiger und erstklassiger Mitarbeiter gewesen, der ihr den Rücken frei hielt und darüber hinaus Atelier und Werbeabteilung bestens koordinierte.

Simonetta blieb noch stehen, sah weiterhin in den Innenhof, in dem die Lichter ausgingen und nur noch das plätschernde Wasser des Springbrunnens zu hören war. Sie wandte den Kopf und horchte auf die Schritte von Ettore, die auf der Marmortreppe langsam verhallten.

Sie war allein. Im ersten Stock waren die Büroräume längst verlassen, und auch die zweite Etage, in der sich die Schneiderei und das Lager befanden, lag im Dunkeln. Niemand arbeitete mehr.

Doch dann hörte sie leise Schritte, und Carla schob sich rasch durch den Türspalt. »Alles ist fertig«, flüsterte sie, als würden sie belauscht, »das Taxi kommt, und bei mir zu Hause wartet Filippo bereits.«

Sie nickten sich verschwörerisch zu. Simonetta nahm ihr das Paket mit einem Stoffcoupon ab, während sie Carla einen Schlüssel überreichte. Die Direktrice holte unter Simonettas Zeichentisch ein Schnittmuster aus der Schublade. Der Schnitt war aus zartem, dünnem Seidenpapier gefertigt, nicht wie die anderen aus festem Karton. Auf dem Seidenpapier stand in großen Buchstaben der Name des Modells: Clara. Ein Kleid aus zarter dunkelblauer Spitze. Rosalias Cousinen erhielten den Auftrag, und niemand sollte vorläufig davon erfahren.

Simonettas Vorsicht war nicht unbegründet. Nicht nur die großen Modehäuser versuchten, einander auszuspionieren, die Macht der Billighersteller wuchs zudem immer mehr. Firmen, die über Nacht Schnitte kopierten, sie aus billigen Stoffen fertigten und auf den Markt brachten.

»Hätten wir Ettore nicht sagen sollen, dass wir ein weiteres Modell außer Haus geben?«, gab Carla zu bedenken.

»Nein, es ist besser so. Außerdem wissen wir noch nicht, wie Rosalias Cousinen arbeiten.«

Während der Fahrt im gläsernen Aufzug nach unten beobachteten sie den Sicherheitsbeamten, der jetzt in der dritten Etage stehen blieb, ihnen kurz zuwinkte und weiter nach oben ging. Unten im Erdgeschoss liefen sie am Nachtportier vorbei, der erklärte, das Taxi warte, und so verließen sie die Firma, während der Portier hinter ihnen die Eingangstür verschloss.

Simonetta überquerte mit Carla die belebte Via Veneto und wartete, bis sie auf dem Rücksitz des Taxis Platz genommen hatte. »Melde dich, wenn Filippo wieder zurück ist.«

Carla nickte. »Ja, ja natürlich.«

Simonetta sah dem Taxi nach, das sich geschickt in den abendlichen Verkehr einfädelte, und winkte Carla. Sie blieb noch stehen, als das Taxi längst verschwunden war.

Haute Couture war aufwendig, jede Naht musste für die perfekte Passform mit einem Band verstärkt werden, ein eingenähtes Bündchen sorgte für den tadellosen Sitz der Taille – und alles war Handarbeit. Das Atelier war ohnehin bereits vollkommen überlastet, Nachtarbeit keine Seltenheit. So musste Simonetta reagieren, auch wenn das Erstellen einiger Teile außer Haus ein hohes Risiko darstellte.

Vielleicht sollte sie doch eine billigere Variante, eine Prêt-à-porter-Kollektion herausbringen? Die Vorstellung reizte sie.

Aber sie musste erst den Erfolg ihres ersten Parfums abwarten. Ein Parfum, das mit Unsummen beworben und bekannt gemacht wurde. Ein Duft, den Simonetta mit dem berühmtesten französischen Parfumhersteller kreiert hatte. Seit einigen Jahren schon hatte sie daran gedacht, wie andere Modehäuser auch einen eigenen Duft auf den Markt zu bringen. Und nun war es bald so weit. Man konnte das Risiko nicht abschätzen, nicht voraussagen, ob der Duft nach Rosen und Sandelholz von den Kundinnen angenommen wurde.

Jetzt dachte sie an die vergangenen Stunden. Die Anprobe mit Nina, dem Hausmannequin, war am Nachmittag reibungslos gelaufen. Und doch quälten Simonetta Unruhe und Selbstzweifel wie vor jeder Präsentation.

In Gedanken versunken blieb sie noch stehen und sah über die Straße hinüber zu ihrem Couture-Haus, erbaut im neunzehnten Jahrhundert als Stadtpalazzo für einen römischen Adligen. Neben dem imposanten Eingang, gerahmt von zwei nackten männlichen Marmorstatuen, deutete nur ein kleines Schild mit den Initialen darauf hin, dass hier die berühmte Modeschöpferin ihr Domizil hatte. SdR. Mehr nicht. Ein paar Meter weiter befand sich der zweite Eingang zu den Räumen der Geschäftsführung und dem Sekretariat, darüber hinaus die Presse- und Werbeabteilung. Es war ungewöhnlich, dass sich ein Haute-Couture-Haus in der Via Veneto etabliert hatte, da die Modehäuser und Boutiquen eigentlich ihren Sitz rund um die Via Condotti hatten, dem Mittelpunkt der römischen Modeszene.

Es war ein warmer Sommerabend, die Tische vor den Cafés besetzt mit Römern und vielen Touristen, die dem Flair des Films La dolce vita in dieser Straße nachspüren wollten.

Simonetta zögerte, nach Hause zu gehen. Sie musste nur an der Bar von Luigi vorbei, dann zur Piazza Barberini und weiter in eine ruhige Nebenstraße. Hier wohnte sie im vierten Stock eines eleganten, modernen Hauses. Heute aber scheute sie vor der Stille der Wohnung zurück, in der sie die Gedanken an die Schlagzeilen einholen würden. In der Hektik und Anspannung des Tages hatte sie jeden Gedanken daran eisern verdrängt. Bevor sie heute Morgen Alberto Bianchini, dem Stofffabrikanten, nachtelefonierte, hatte sie die Zeitungen bereits rasch überflogen. In diesem ersten Moment hatte sie nicht gewusst, ob der Schmerz größer war, die Wut oder einfach nur die Enttäuschung über den Verrat.

Simonetta de Rosa (44) verlassen?

Auf dem großen Foto, das alle Blätter brachten, war Simonetta mit David Kane auf einer Vernissage im letzten Herbst zu sehen. David hatte den Arm um ihre Schulter gelegt, und sie lachte ihn an. Andere Zeitungen wiederum zeigten neben diesem Bild ein Foto von David und einer anderen Frau.

Der berühmte Modefotograf David Kane (40) in zärtlicher Umarmung mit einer jungen Frau. Wer ist sie?

Der Beginn einer neuen Liebe?

Nur eine Affäre?

Ist es aus zwischen Simonetta und David?

Simonetta wusste, dass die Paparazzi nun auf einer Fährte waren, um herauszufinden, wer diese junge Frau war, die den international bekannten Modefotografen so zärtlich umarmte. Und wegen dieser Frau hatte er die schöne, erfolgreiche Modeschöpferin Simonetta de Rosa ganz offensichtlich betrogen oder sogar verlassen.

Niemand kannte sie. Nur Simonetta. Diese andere Frau war sechs Jahre jünger als sie, ihr Name war Chiara Arisi. Und sie war Simonettas jüngere Schwester.

Kapitel 2

Chiara

Was machst du gerade, Chiara?«

»Ich zeichne. Du weißt ja, ein Neuanfang ist schwierig, vor allem hier in Rom. Der Stadt, in der es so außergewöhnliche Modeschöpfer gibt wie … die Fendi-Schwestern, Emilio Schuberth und …« Sie sprach nicht weiter, sondern klemmte sich nur den Hörer zwischen Wange und Schulter, während sie einige Zeichnungen sortierte.

»Ah ja? Du meinst sicher Simonetta de Rosa«, betonte die Contessa Elisabetta di Farini.

Als Chiara am anderen Ende der Leitung schwieg, sprach sie weiter. »Chiara, ich weiß Bescheid, denn ich kaufe mir öfter eine italienische Tageszeitung, und da habe ich gelesen, was du so …«

»Tess.« Chiara unterbrach sie ungeduldig. »Können wir bitte über etwas anderes reden?«

Doch die Contessa ließ nicht locker. »Wo hast du ihn kennengelernt?«

»In Paris, wo sonst. Er hat Fotos von der Tasche Saint-Tropez gemacht, du weißt schon, das Modell aus Korb mit den Muscheln, das ich entworfen habe.«

»Ja, natürlich, jede Frau zwischen Capri und der Côte d’Azur trägt sie diesen Sommer.«

»Ja, genau. Ich war bei den Aufnahmen dabei. So haben wir uns kennengelernt. Noch was?« Chiara wurde langsam zapplig, schnaubte ungeduldig.

»Ach, Chiara, sei doch nicht gleich so aggressiv, ich habe doch nur gefragt.«

Jetzt lachte Chiara. »Ist schon gut, aber ich erzähle dir noch etwas, denn du platzt ja vor Neugierde. Dieser Fototermin fand vor sechs Wochen statt; ich war praktisch schon im Umzug von Paris hierher. Darum haben wir uns nur zweimal kurz gesehen.«

»Er hat dir nicht erzählt, dass er in Rom mit Simonetta de Rosa eine Beziehung hat?«

Chiara zögerte. Die Contessa hatte ihren wunden Punkt getroffen. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Er sprach von einer Frau, die in Rom lebt und mit der er seit vier Jahren eine Beziehung hat. Aber er hat ihren Namen nicht genannt.«

»Er hat dir verschwiegen, dass es die berühmte Simonetta de Rosa ist. Warum?«

»Mein Gott, Tess, ich weiß es nicht.« Chiara reagierte heftig, denn sie hatte ein schlechtes Gewissen. Sollte sie ihrer langjährigen Freundin nicht endlich sagen, dass Simonetta de Rosa ihre Schwester war?

»Aber«, fuhr sie rasch fort, »am letzten Abend vor seiner Abreise haben wir uns hier in Rom getroffen. Und das kurz nach meiner Ankunft.«

Chiara dachte an den Abend zurück. Sie war gerade angekommen, euphorisch und aufgeregt über den Umzug, den geplanten Neuanfang. Es war ein schönes Rendezvous gewesen, sie schienen beide so verliebt zu sein. Der Abend, als ein Paparazzo sie fotografierte.

»Er will mit ihr sprechen, wenn er aus Marokko zurück ist.«

»Was macht David Kane in Marokko?«

»Er ist mit einem ganzen Tross dorthin geflogen. Er fotografiert für ein amerikanisches Hochglanzmagazin.«

Chiara wartete ab, da am anderen Ende der Leitung Schweigen herrschte. Sie wollte sich schon verabschieden, als die Contessa die Frage aussprach, die sich Chiara täglich stellte.

»Bist du in ihn verliebt?«

»Tess, bitte!«

»Wieso, ich frage doch nur. Macht es Spaß, mit ihm zu schlafen? «

»Tess, hör auf! Bitte, wir kennen uns doch kaum.«

Die Contessa lachte amüsiert in den Hörer. »Ach, du bist so naiv. David soll ein fantastischer Liebhaber sein, probiere es aus, Darling, dann weißt du, wo du stehst.«

»Tess, bitte! Lass das.«

Wieder ließ die Contessa ihr dunkles rauchiges Lachen hören.

»Ist ja gut. Aber warum bist du aus Paris weggegangen, das weiß ich bis heute nicht«, klagte Contessa Elisabetta di Farini. »Als du vor fünfzehn Jahren in Paris aufgetaucht bist, hast du erklärt, du wolltest nie wieder zurück nach Rom. Und jetzt? Ich verstehe dich einfach nicht.« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. »Du hättest hier deine eigene Boutique aufmachen können. In Rom kennt dich niemand, und eine eigene Kollektion auf den Markt zu bringen ist ein schwer kalkulierbares Risiko. Hier in Paris wäre es einfacher, und«, fuhr sie rasch fort, »ich hätte dich finanzieren und dir viele wichtige Kontakte verschaffen können.«

»Genau das will ich nicht. Ich will endlich unabhängig sein, und ich will auch nicht mehr für andere Designer Taschen und Pullover entwerfen. Ich möchte mit meinem eigenen Label Erfolg haben.«

Nach einer Weile, in der beide nur schweigend den Hörer am Ohr hatten, flüsterte die Contessa: »Ich habe deinen Mut immer bewundert, Chiara. Jetzt beweist du ihn wieder. Du setzt dich in die Mitte der Luxuslabels, in die Via Condotti, zwischen Gucci, Fendi und die anderen großen Namen. Mit einer Kollektion, die niemand kennt.«

»Noch nicht«, betonte Chiara, »aber das wird sich bald ändern. Ich will mit meiner Mode Frauen ansprechen, die selbstständig sind und einen Beruf haben. Meine Kundin soll modern sein, nicht irgendeine Herzogin von Windsor oder die Frau eines Industriellen.«

»Da hast du dir ja einiges vorgenommen.«

»Willst du mir jetzt Angst einjagen?«

»Nein. Natürlich nicht. Aber Chiara, wie willst du das finanzieren?«

»Ich habe eisern gespart, ich kann gut rechnen und kalkulieren. Ich habe alles im Griff. Am 7. September wird hier, in der Via Condotti, meine Boutique eröffnet. Meine Modenschau ist aber bereits vorher, am 31. Juli. Dazu bist du natürlich herzlich eingeladen.«

»Und wo wohnst du überhaupt? Du weißt, ich habe auch noch eine Wohnung in Rom, die leer steht.«

Chiara überging das versteckte Angebot. »Unten im Haus ist die Boutique, im ersten Stock ein kleiner Vorführraum und das Büro, im zweiten Stock die Schneiderei, ebenfalls sehr klein. Ich wohne direkt im Nebenhaus, oben im Dachgeschoss. Die Wohnung ist günstig, und ich habe einen Durchgang zu meiner Firma.«

Chiara ahnte, dass ihre Freundin Elisabetta entsetzt sein würde darüber, wie sie jetzt lebte. Ein einziger Raum, ein Bad und eine winzige Küche, mehr nicht.

»Ich bin unabhängig, und ich weiß, was ich kann. Ich will, dass mein Neubeginn hier ein Erfolg wird. Die Handtaschen lasse ich in einer kleinen Manufaktur anfertigen. Die Aufträge für meine Prêt-à-porter-Kollektion gebe ich an Schneidereien auf dem Land. Ich habe alles gut vorbereitet.«

»Warum suchst du den Neuanfang in Rom? Ich kann es einfach nicht begreifen. Dafür gibt es doch sicher Gründe.«

Chiara musste unwillkürlich lächeln. Die Contessa hatte immer ein gutes Gespür für alles gehabt, was Chiara betraf. Aber sie wollte nicht erzählen, was sie nach Rom zurückbrachte. Noch nicht. »Rom«, erklärte sie, »ist im Moment die Hauptstadt der Mode, nicht nur der Filmindustrie … darum.« Chiara ahnte, dass sich die Contessa damit nicht zufriedengeben würde.

»Sei mir nicht böse, Tess, aber ich muss weitermachen. Tut mir leid und bis bald.«

»Ciao, Bambina, und nenn mich nicht immer Tess.«

»Ist gut, Tess, salut.«

Chiara legte auf. Sie hatte versucht, am Telefon selbstbewusst und sorglos zu wirken. Doch Selbstzweifel verunsicherten sie. War es wirklich die richtige Entscheidung, als unbekannte Designerin hier in Rom einen Neuanfang zu wagen? Und würden ihre Ersparnisse reichen?

Sie sah sich in ihrer Wohnung um. Überall standen noch die Kartons herum, Skizzen lagen auf dem Teppich, dem Esstisch, dem Sofa, das nachts zu ihrem Bett wurde.

Dann setzte sie sich auf den Boden und lehnte sich an den einzigen Sessel, den sie aus Paris mitgebracht hatte. Sie war zurück. »Ich bin zurück. Hier in Rom«, sagte sie laut vor sich hin. Tief atmete sie durch. »Rom … Rom …« Ihre Stimme wurde mit jedem Mal lauter. »Rom … Rom …«, rief sie laut. Und ja, es klang richtig.

Sie dachte an die Contessa, die sie vor fünfzehn Jahren kennengelernt hatte, als sie nach Paris gekommen war. Chiara hatte sich in eine Modenschau bei Guy Laroche als Zuschauerin eingeschmuggelt. Dort saß sie zwischen eleganten Frauen, die allesamt in Cocktailkleider des »Meisters« gekleidet waren, wie sie den Designer nannten. Chiara trug ein altes Guy-Laroche-Kostüm, das ihr eine Bekannte geschenkt hatte. Vielleicht wurde sie deswegen eingelassen. Während der Präsentation stellte sie die Lacktasche auf ihren Schoß, ihr erstes Modell, das sie entworfen und auch selbst angefertigt hatte. Und genau diese Tasche stach der Contessa di Farini ins Auge. So eine wolle sie unbedingt auch haben; wo habe sie nur diese Tasche gekauft? So war ihre Freundschaft entstanden. Eine Beziehung zu einer Frau, die ihr die Türen zu den Modehäusern geöffnet hatte. Und so entwarf Chiara seit diesem Zeitpunkt Taschen und Pullover für zwei große Pariser Labels.

Sie hatte der Contessa viel zu verdanken, und wie zahlte sie ihr die Zuneigung und den Einsatz zurück? Indem sie ihr nicht einmal von ihrer Schwester erzählte, von Simonetta de Rosa? Auch nicht, dass sie beide seit genau dreiundzwanzig Jahren keinen Kontakt mehr hatten? Es sei sehr kompliziert, könnte sie Tess erklären. Auch, dass Simonetta der Grund war, hierher zurückzukommen. Simonetta, die eine Beziehung mit David Kane führte, dem Mann, in den sich Chiara verliebt hatte. Oder doch nicht?

Kapitel 3

Simonetta

Donna sotto le stelle …

So nannten die Medien die Modenschau der berühmtesten Designer Italiens, vorgeführt von Starmannequins auf der Spanischen Treppe in Rom.

Jene warme Nacht unter dem südlichen Sternenhimmel war das große gesellschaftliche Ereignis des Jahres und fand jedes Jahr Ende Juli statt. In fünf Wochen war es wieder so weit. Simonettas Beitrag zu dieser großen Show der Alta Moda waren Abend- und Cocktailkleider, darunter auch ihr Modell Lucretia, das Kleid, das bei ihrer eigenen Modenschau als Abschluss geplant war. Simonettas großes Defilee in ihrem Modehaus fand einige Tage vor der Alta Moda-Schau statt. Die Veranstalter dieses großen Events auf der Spanischen Treppe hatten sich als krönenden Abschluss für Simonettas Hochzeitskleid Mariage entschieden. Es könnte einen weiteren Triumph für sie bedeuten.

Simonetta war nervös, mehr als sonst. Sie fieberte dem Tag entgegen, an dem sie Mariage endlich sehen würde, doch Rosalia hatte ihr erklärt, das Kleid könne erst vier Tage vor ihrer Präsentation abgeholt werden. Eine heiße Nachmittagssonne brannte auf die Spanische Treppe herunter, auf deren oberster Stufe Simonetta saß. Sie liebte die Sonne, die Hitze, sie liebte Rom. Nie mehr wollte sie von hier weg. Sie brauchte die Atmosphäre, die Architektur, die vielen Denkmäler und Zeugen vergangener Jahrhunderte. Und sie liebte die Eleganz der Menschen, die hier lebten, ihre Lebensfreude, die Lebendigkeit, die warmen Abende. Zwölf Jahre hatte sie in New York verbracht, und es war kaum ein Tag vergangen, an dem sie sich nicht in diese Stadt zurückgesehnt hatte.

Es war die Stadt, der ihre Sehnsucht galt – nicht den Eltern, nicht dem Zuhause, in dem sie aufgewachsen war.

Nach dem Tod ihres Mannes Matteo de Rosa im Jahr 1950 kam sie aus New York nach Rom zurück. Damals noch eine Stadt, die stark vom Krieg und der Zerstörung gezeichnet war.

Trotzdem wagte sie es, einen kleinen Modesalon zu eröffnen. Sie wollte den Frauen in Rom nach den Jahren voller Entbehrungen das Bewusstsein zurückgeben, attraktiv zu sein, sich wieder als Frauen zu fühlen. Vielleicht nur mit einer Bluse, einem Rock oder einem Hut von Simonetta.

Das war der Beginn ihrer beispiellosen Karriere. Rom liebte sie, und sie liebte Rom, die Stadt, die ihr den großen Erfolg ermöglichte. Hier hatte sie auch vor vier Jahren bei Fotoaufnahmen den Engländer David Kane kennengelernt. Er war mit zwei Redakteurinnen der Zeitschrift Elle gekommen, um die Modelle durchzusprechen, die er für die französische Ausgabe des Magazins fotografieren sollte. Simonetta war nicht auf der Suche nach einer Beziehung gewesen, und doch ließ sie sich auf ihn ein.

Nach Jahren des Alleinseins war es eine Verliebtheit, die Leichtigkeit besaß und auf einer Unverbindlichkeit und dem gegenseitigen Verständnis zweier erfolgreicher Menschen basierte. Beide waren glücklich, wenn sie zusammen sein konnten, aber es schmerzte nicht, wenn jeder wieder beruflich den eigenen Weg ging. David Kane, der gut aussehende Modefotograf, der in Paris und London lebte und rund um die Welt Fotos für die Hochglanzmagazine der Modebranche machte. Und sie, Simonetta de Rosa, die erfolgreiche Modeschöpferin, deren Kollektionen gefeiert und von berühmten Kundinnen in New York, Paris sowie an der Côte d’Azur getragen wurden. Filmstars bevorzugten Simonettas Kreationen, wenn sie auf internationale Bälle und Veranstaltungen gingen, etwa zur Bambi-Verleihung in Deutschland – Anlässe, die prädestiniert waren für Schlagzeilen in den Boulevardblättern.

Simonetta traf David in New York, als er ihre Abendkleider auf dem Times Square fotografierte, und in Paris, als er noch vor Morgengrauen auf den Champs-Elysées seine besten Bilder schoss.

Er war ein Besessener in seinem Metier, so, wie sie es in ihrem war, und genau das schuf die große Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Wenn er nach Rom kam, gingen sie selten aus. Sie blieben die meiste Zeit in ihrer Wohnung, verbrachten intensive Stunden der Liebe, der Verbundenheit, des gegenseitigen Respekts, der Kreativität des anderen.

Beide hatten das Talent, sich immer wieder in ihre Arbeit zurückzuziehen. Es gab Bereiche in ihrem Innern, die dem anderen verschlossen blieben, und beide akzeptierten das. Funktionierte ihre Beziehung deshalb so gut?

Er hatte es auch verstanden, dass sie vor seiner Abreise nach Marokko keine Zeit mehr für ihn hatte. Aber genau an diesem Abend traf er sich mit einer anderen Frau, einer jüngeren, einer, die so völlig anders war als sie. Chiara, ihre Schwester. Wie lange kannten sie sich schon? Seit wann verheimlichte David ihr diese neue Beziehung, oder war es nur eine Affäre?

War nun alles vorbei? Sie war sich ihrer Verbindung so sicher gewesen. Ihr gegenseitiges Vertrauen, das Gefühl einer Zusammengehörigkeit, würde es ab sofort nicht mehr geben. Hatte er sich in Chiara verliebt, da er sich bereits so öffentlich mit ihr zeigte? Und wusste er, dass Simonetta die Schwester der Frau war, mit der er ausging?

Hatte Chiara es ihm erzählt? Hatte sie über die Familie gesprochen? Ihm anvertraut, was Simonetta ihm verschwieg?

 

Sie erhob sich. Stufe für Stufe ging sie die hohe Treppe hinunter. Heute war Blumenmarkt, und sie blieb stehen, sah auf die Frauen, die unter großen Schirmen die Blumen und sich selbst vor der stechenden Hitze schützten. Manche riefen Simonetta ein »Come stai?« zu, und Simonetta winkte ihnen, nickte und antwortete mit einem »Bene, grazie!«.

Sie kaufte ihre Blumen gern bei ihnen ein, sie liebte diesen Platz vor der Spanischen Treppe und die Via Condotti. Oft kam sie hierher.

Es war früher Nachmittag, und so schlenderte sie über den Platz, blieb wieder stehen. Das Foto von David und Chiara ließ ihr keine Ruhe. Sie hatte versucht, David im Hotel Mamounia in Marrakesch zu erreichen, doch dort hieß es nur, Monsieur Kane sei mit der Crew bereits abgereist. Hatte er Chiara angerufen, mit ihr gesprochen? Und da waren sie wieder, die Gedanken an ihre Schwester, sie ließen sie nicht mehr los.

Seit der Titelstory über Simonettas Freund Kane und die andere Frau lauerten ihr die Paparazzi vor ihrem Couture-Haus auf. Die Reporter riefen an und baten um eine Stellungnahme, die ihre Pressestelle verweigerte.

Die Journalisten waren jedoch erfolgreich gewesen, sie hatten herausgefunden, dass die junge Frau, die David Kane so zärtlich umarmte, Chiara Arisi hieß. Sie hatten auch herausgefunden, dass sie in Paris Taschendesignerin gewesen war und manchmal zusammen mit der Contessa di Farini und deren Freunden fotografiert wurde. Stets eine lachende, fröhliche junge Frau. Auch Simonetta kannte diese Fotos und Berichte in Frauenzeitschriften über »Die Frau, die hinter den berühmten Taschen steht«. Jetzt war sie also nach Rom gekommen. Diese Details gingen durch die gesamte Boulevardpresse in Rom und auch Paris.

Doch eines hatten sie nicht herausgefunden: dass die beiden Frauen, die mit David Kane eine Beziehung führten, Schwestern waren. War es nur eine Frage der Zeit, bis diese Story durch alle Zeitungen ging, vielleicht irgendeiner der Reporter ganz besonders intensive Nachforschungen anstellte und dabei auf die Familie Arisi stieß und auf die Kindheit der beiden Schwestern?

*

Eine Stunde später stand Simonetta auf der Piazza Santa Maria.

An der Spanischen Treppe war sie kurz entschlossen in letzter Sekunde auf den Bus aufgesprungen, der über den Tiber bis nach Trastevere fuhr. Und nun stand sie hier in der glühenden Sonne. Sie sah zur Kirche Santa Maria hoch. Vor vielen Jahren hatte sie den romantischen Wunsch gehegt, in einem weißen Kleid in dieser Kirche zu heiraten. Es war anders gekommen. Galt deshalb bei jeder Kollektion ihre besondere Liebe dem Entwurf des Hochzeitskleides – weil sie selbst nie eines getragen hatte? Mit jedem Jahr wurde dieses eine Kleid aufwendiger, teurer, extravaganter.

Als Simonetta Matteo de Rosa in der Nähe der Piazza kennenlernte, war sie einundzwanzig gewesen und Matteo bereits vierundvierzig. Sie kam vom Markt, und ihr war das Einkaufsnetz gerissen. Tomaten und Zucchini rollten über den Platz. Er stand ein paar Schritte von ihr entfernt, lief auf sie zu und bot ihr seine Hilfe an.

Matteo, wie sehr vermisse ich dich noch immer. Matteo, der Mann, den sie ohne Kompromisse geliebt und mit dem sie im Mai 1938 Italien verlassen hatte.

*

8. Mai 1938

 

Marcello Arisi wollte sich die Ankunft des deutschen Führers und die Fahrt seines verehrten Benito Mussolini durch die Straßen Roms nicht entgehen lassen. Seine Frau und die Töchter blieben zu Hause; Iphigenia sollte auf sie aufpassen, vor allem auf Simonetta. Irgendjemand hatte seine Tochter mit einem Mann gesehen, zu dem sie in einen Mercedes gestiegen war. Das hatte ihr eine harte Bestrafung eingebracht, eine Bestrafung für eine Sünde, die Simonetta noch nicht begangen hatte.

Iphigenia bereitete in der Küche den Nudelteig vor, während Simonetta im Mädchenzimmer hastig ein paar Sachen in eine große Tasche stopfte.

»Du willst weg?« Chiara saß auf ihrem Bett und beobachtete misstrauisch ihre ältere Schwester.

Simonetta verschloss die Tasche, richtete sich auf und wandte sich Chiara zu. Sie nickte. »Ja, Chiara, ich gehe, aber ich komme auch wieder, versprochen«, setzte sie hastig hinzu. Tränen stiegen ihr in die Augen. Heute war es so weit. Heute, da ihr Vater nicht zu Hause war, ging sie. Ihre Mutter konnte sie nicht daran hindern.

»Wohin? Zu diesem Mann, den du nicht treffen darfst? Vater wird dich wieder schlagen, wenn du zurückkommst.«

»Sie wird nicht zurückkommen.«

Ihre Mutter stand in der offenen Tür, die Mädchen hatten sie nicht kommen hören. Iphigenia lehnte in ihrer geblümten Kittelschürze mit verschränkten Armen am Türpfosten. »Und es ist richtig, dass sie geht.«

Ihre Stimme klang hart, und als sich Simonetta nach kurzem Zögern an ihr vorbeidrückte, wich sie nicht zurück.

»Wenn du gehst, brauchst du gar nicht mehr wiederkommen«, erklärte Iphigenia.

»Ich hasse dich, Simonetta, ich hasse dich für alle Zeiten …« Es war ihre Schwester, die ihr diese Worte nachschrie.

Chiara folgte ihr, rannte durch den Innenhof bis vor zur Straße.

Ich hasse dich, ich hasse dich …, rief sie, schrie sie ihrer Schwester nach.

Worte, die Simonetta nie vergaß.

 

Viva Il Duce … Heil … Überall wehten die blau-gelben Fahnen des Faschismus, die grün-weißen des Königs und dazwischen die Fahnen des Dritten Reiches, rot mit schwarzem Hakenkreuz. Blumen schmückten den Weg, den Benito Mussolini mit seinem Gast, dem deutschen Reichskanzler Adolf Hitler, in offener Kutsche stehend und salutierend entlangfuhr.

Viva Il Duce … Heil … Heil dem Führer … Viva …

Die Menschen, die sich auf den Straßen drängten, um ihrem Duce zuzujubeln, sangen die Hymne des Faschismus, und dazwischen hörte man die Nationalhymne des Deutschen Reiches.

Viva Il Duce …

Viva Il Duce …

Sie war gerannt, gehetzt, gestolpert, sie hatte sich durch die Menschenmassen gedrängt, geboxt, sie sah sich um, in Panik, in irrationaler Angst, dass plötzlich ihr Vater hinter ihr stehen könnte, mit eiserner Faust nach ihr greifen und ihr einen Schlag versetzen könnte, so, wie sie es gewohnt war. Doch dazu kam es nicht, ihr Vater, eine allgegenwärtige Figur der Angst, hatte sie nicht aufgehalten. Und dann stand sie außer Atem vor Matteo, der ungeduldig vor seiner Haustür auf sie wartete, erblickte den dunklen Wagen, der abfahrtbereit am Straßenrand stand.

Schweigend hatte er sie an sich gezogen. »Ich werde dich nie wieder loslassen«, hatte er geflüstert. So verharrten sie, bis er sich langsam löste. »Ich hatte solche Angst, du würdest nicht kommen oder hättest es dir anders überlegt, Simonetta. Wenn du jetzt bei mir bleibst, wird sich dein ganzes Leben verändern.«

Simonetta strahlte. »Natürlich, wo auch immer wir leben werden, ich gehe mit dir.«

Sie wusste noch nicht, dass es New York sein würde.

Ich hasse dich, ich werde dich immer hassen …

Es waren Worte einer hilflosen Fünfzehnjährigen, die sich verraten gefühlt hatte. Allein gelassen, verlassen von dem einzigen Menschen, den sie liebte. Ausgeliefert dem gewalttätigen Vater und einer gefühllosen Mutter.

Die Schwester aber war gegangen. Weil sie geliebt hatte und weil sie damals dachte, sie könne leicht zurückkommen.

Ihre Briefe aus New York blieben unbeantwortet.

Seit sie nach Rom zurückgekehrt war, wusste sie, dass Chiara in Paris lebte, dass sie erfolgreich war und es ihr gut ging, das zumindest sagten die Fotos in den Zeitungen aus. Eine junge, erfolgreiche, fröhliche Frau.

War sie selbst feige, dass sie den Kontakt zu Chiara nicht suchte? Nein, sie spürte, sie sollte es ihrer Schwester überlassen, auf sie zuzugehen.

Da Chiara es nicht tat, schien der tiefe Riss, der tiefe Bruch zwischen ihr und der Schwester noch nicht verheilt zu sein.

Und Simonetta wollte warten. Aber plötzlich schien alles anders, jetzt, da Chiara mit David eine Beziehung eingegangen war.

Langsam ging Simonetta weiter und sah sich um.

Trastevere hatte sich verändert. Von dem einstigen Arbeiterviertel war nicht mehr viel zu sehen. Die Gegend zeigte sich von einer bunten, aufregenden Seite, Cafés, kleine Ristoranti in den Straßen, in denen früher die alten Frauen auf Stühlen vor ihren Häusern saßen, sich über die Straße hinweg lautstark unterhielten oder stritten, während sie Bohnen putzten oder strickten und herrenlose Katzen um ihre schwarz bestrumpften Beine strichen. Simonettas Blick wandte sich nach oben. Damals hingen hier quer über den engen Straßen Wäscheleinen, auf denen Bettlaken, Kissenbezüge, lange Unterhosen, geblümte Röcke baumelten.

Sie lief weiter, bis sie schließlich vor einem Haus stehen blieb. Da war sie noch, die Toreinfahrt, durch die sie als Kind stets gerannt war, um von der Schule nicht zu spät nach Hause zu kommen, sich der Schläge mit dem Rohrstock wohl bewusst, die ihr sonst am Abend als Strafe bevorstünden.

Hier hatte sich nichts verändert. Langsam ging sie durch die Einfahrt, ihre Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster, dann stand sie am Eingang zum Innenhof, wo die Nachmittagssonne die Blätter der Platanen in der Hitze leicht zittern ließ, wo die Katzen sich in der Sonne räkelten, träge ihre Köpfe hoben und verschlafene Blicke auf die Frau richteten, die dort stand. An der hinteren Seite des Hofes zog sich eine Reihe niedriger Häuser entlang, und eines von ihnen gehörte den Arisis.

Simonetta starrte auf die alte Frau, die vor ihrer Haustür auf einem Wäscheständer Handtücher aufhängte, sich zum Korb hinunterbeugte und ein paar Klammern herausholte. Aufrecht, bekleidet nur mit einer geblümten Kittelschürze, stand sie da, strich sich die grauen Haare zurück, die sich aus dem Knoten gelöst hatten.

Als Iphigenia Arisi den Blick spürte, drehte sie sich um, doch der Innenhof war leer, und in der Toreinfahrt stand niemand.

 

Sie hatte es nicht gekonnt. Selbst nach so vielen Jahren war Simonetta nicht fähig gewesen, auf ihre Mutter zuzugehen und sie um ein Gespräch zu bitten.

Ein paar Häuser weiter lehnte sie sich gegen die Mauer, die sich in ihrem Rücken kühl anfühlte. Langsam rutschte sie an ihr entlang, bis sie auf dem Boden kauerte. Sie bemerkte die erstaunten Blicke der Passanten nicht, die sich nach der eleganten Frau umdrehten, das Gesicht versteckt hinter einer großen Sonnenbrille und einem schwarzen Sonnenhut. Sie blieb einfach sitzen, ballte die Fäuste und presste die Lippen zusammen. Dort im Innenhof stand die Frau, die mit angesehen, die es geduldet hatte, dass ihre Töchter gedemütigt und geschlagen wurden und dass ihr Mann es als seine Aufgabe ansah, den Willen der Töchter zu brechen.

Frauen müssen gehorchen lernen.

Mehrmals war sie seit ihrer Rückkehr nach Rom schon hier gewesen, war durch den Hof gegangen, hatte geklopft und gerufen. Doch es war immer still geblieben.

Dann kam ein Brief des Anwalts Bellini. Er zeige an, dass Signora Iphigenia Arisi ihn mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragt habe. Avvocato Bellini forderte Simonetta im Namen seiner Mandantin auf, keinen weiteren Versuch einer Kontaktaufnahme zu unternehmen. Die Signora habe vor Jahren ihre Pflicht als Mutter erfüllt und mit diesem Teil ihres Lebens abgeschlossen.

Trotzdem war sie heute spontan hierhergekommen und hatte sie gesehen, hatte diese alte Frau gesehen, Iphigenia Arisi – ihre Mutter.

Eine harte Frau, die ihre Entscheidung getroffen hatte. Simonetta ahnte, sie würde sie niemals revidieren.

Langsam zog sich Simonetta wieder hoch, winkte einem Taxi und fuhr zurück zur Spanischen Treppe, doch dann überlegte sie es sich anders und fuhr weiter in die Via Veneto zu Luigi. Sie brauchte jetzt die vielen Leute, ihr Lachen, ein Glas Weißwein und einen Teller Pasta, den Luigi für sie in der Küche selbst zubereiten würde.

Kapitel 4

Simonetta

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