Schloss Rauischholzhausen - Chris Nees - E-Book

Schloss Rauischholzhausen E-Book

Chris Nees

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Beschreibung

Schloss Rauischholzhausen, ab 1873 für Ferdinand Eduard von Stumm errichtet, ist hinsichtlich seiner Baugeschichte, der Bedeutung des Bauherren für die Konzeption, der Qualität von Bauformen, Material und handwerklicher Ausführung beispielhaft für den Schlossbau des Historismus. Bisher fehlte eine Gesamtdarstellung, die sich mit einer genauen Untersuchung der Geschichte des Anwesens, seiner Architektur und Ausstattung befasst. Das vorliegende Buch stellt die dafür wesentlichen Fakten vor und macht zugleich auf den besonderen Wert dieses architektonischen Kleinodes aufmerksam. Anhand zahlreicher überwiegend erstmals veröffentlichter Skizzen Stumms, Pläne der beauftragten Architekten sowie historischer und aktueller Fotografien wird die Baugeschichte des Schlosses vorgestellt. Der Bauherr, aus einer reichen Industriellendynastie stammend, war der Ideengeber, der mit großem Gespür für fachliche Begabung Architekten mit ganz unterschiedlichen Stilvorlieben engagierte und ihre Arbeit durch seine Vorgaben zu einer harmonischen Gesamtkonzeption führte. Mit dem Anwesen in Rauischholzhausen schuf er sich ein Umfeld, in dem er Vergangenheit und Gegenwart zu einem Gesamtkunstwerk vereinigte, wie es dem Lebensgefühl seiner Zeit entsprach.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Ferdinand Eduard von Stumm

Zur Familiengeschichte

Kindheit in Neunkirchen

Die Bedeutung des Bruders Carl

Stumms Reisen

Stumms diplomatische Laufbahn

Erhebung in den Freiherrenstand

Unfreiwilliges Ende der Karriere

Stumms Verhältnis zu Bismarck

Privat- und Familienleben

Zur Geschichte des Anwesens in Rauischholzhausen

Zu Stumms Persönlichkeit: Etablierung und Leben im Schloss

Die Sammlung Stumm

Zum Baustil des Schlosses

Historismus als Lebensgefühl

Das Aufgreifen von Gotik und Renaissance: Die Neugotik

August Reichensperger (1808–1895)

Die Neorenaissance

Lorenz Gedon (1844–1883)

Zur Baupraxis

Zweckmäßigkeit und Funktionalität

Wahrhaftigkeit

Materialgerechtigkeit

Baugeschichte des Schlosses

Villa oder Schloss?

Erste Baumaßnahmen: Schloss und Dorf als ganzheitlich gestalteter Raum

Die Bauarbeiten am Schloss von 1873 bis 1907: Carl Schäfer, 1873 bis Mitte 1874

Büro Mylius & Bluntschli, 1874 bis 1878

Aage von Kauffmann, 1883 bis 1884

Arbeiten von 1884 bis 1907

Vom Entwurf zum Plan – Beschreibung und Analyse der Grundrisse

Das „Sketch-Book“ Ferdinand Eduard von Stumms

Die Baupläne

Beschreibung und Analyse der Grundrisse Carl Schäfers: Das Kellergeschoss von 1873

Das Obergeschoss (1. Stock) von 1873

Analyse der Schäfergrundrisse

Beschreibung und Analyse der Grundrisse Alfred F. Bluntschlis

Bluntschlis erster Erdgeschossgrundriss, 1874 bis 1876

Bluntschlis zweiter Erdgeschossgrundriss von 1877

Bluntschlis erster Grundrissplan des 1. Stockes, 1874 bis 1876

Bluntschlis zweiter Grundrissplan des 1. Stockes von 1877

Vertikalschnitte / Konstruktionsschnitte

Beschreibung und Analyse der Grundrisse von August Dauber

Kellergeschoss

Erdgeschoss

Oberstock (1. Stock)

Dachstock (2. Stock)

Beschreibung und Analyse der Ansichten

Die Vorgaben Stumms und die Ansichten Schäfers

Die West- und Nordseite

Die Südseite

Die Ostseite

Schwerpunkte des Erstentwurfs von Schäfer

Die Fassaden Bluntschlis

Die Nordfassade

Die Südfassade

Kauffmanns Ostflügelerweiterung

Veränderungen an Westflügel und Nordfassade

Einzelaspekte der Schlossarchitektur

Das historistische Fachwerk

Die Schornsteinaufsätze des Daches: Kunsthistorische Einordnung

Schornsteinformen in Rauischholzhausen

Die Portale im Schlosshof

Raumprogramm und Raumgestaltung

Raumprogramm und seine Anordnung

Zur Raumgestaltung

Die Halle

Die Sammlung der 18 Schliffscheiben

Bibliothek und Treppenturm

Der Große Salon: Die Vorgaben im Skizzenbuch

Zu den Holzarbeiten

Der Große Salon mit Kamin

Die Gemälde im Großen Salon

Das Deckengemälde

Das Reiterbild über dem Kamin

Der Kleine Salon

Gustav Wertheimers „Venus Anadyomene“

Der Goldsalon

Der Intarsienfußboden

Bilder in den Vouten

Kamin, Türfüllungen, Schlosskästen

Erstes Speisezimmer – Empfangssalon

Das neue Speisezimmer

Weißer Saal – Gartensaal

Zimmer mit Stuckdecke

Die Architekten des Schlosses

Carl Schäfer (1844–1908)

Carl Schäfer als Forscher und Architekt

Büro Mylius & Bluntschli

Carl Jonas Mylius (1839–1883)

Alfred Friedrich Bluntschli (1842–1930)

Leben und Ausbildung

Bluntschli und die Renaissance

Aage Basse Gustav von Kauffmann (1852–1922)

August Dauber (1869–1957)

Zusammenfassung wesentlicher Aspekte

Literaturverzeichnis

Personenregister

Glossar

Abbildungsnachweis

KAPITEL 1

Einleitung

Das Dorf Rauischholzhausen mit seinem Schloss ist heute ein Ortsteil der Gemeinde Ebsdorfergrund im Kreis Marburg-Biedenkopf und hat etwa 1075 Einwohner.1 Ungefähr 12 km von Marburg entfernt gelegen, blickt der Ort auf eine lange Geschichte zurück. Er liegt in einem der hessischen Lössgebiete und gehörte seit der Bronzezeit, mit Amöneburg als Mittelpunkt, zu den Siedlungsschwerpunkten Oberhessens. Uralte wichtige Straßenzüge (Lange Hessen, Mardorfer Straße) führten durch das Amöneburger Becken und den Ebsdorfer Grund.2 Die Nähe der starken Festung Amöneburg, die ab dem 12. Jahrhundert zum Erzbistum Mainz gehörte, sowie die Präsenz der Landgrafen von Hessen in Marburg hatten im Laufe der Jahrhunderte immer wieder die Geschicke des Dorfes Holzhausen3 mit bestimmt. Die verschiedenen Lehenszugehörigkeiten innerhalb des Ortes waren über Jahrhunderte Anlass zu Auseinandersetzungen um Besitztümer und Rechte gewesen.4

Als Ferdinand Eduard von Stumm Mitte März 1873 das Gut der Rau von Holzhausen erwarb,5 waren diese unruhigen Zeiten lange vorüber. Das Dorf war dem Kreis Kirchhain zugeordnet und politisch nicht mehr von Interesse.6 Stumm wählte als Standort für sein Schloss die Anhöhe am Abhang des Rüfltales über dem südlichen Ortsrand von Holzhausen. Landschaftlich galt die Lage als nicht sonderlich attraktiv.7 Aber Stumm schuf hier in wenigen Jahren ein heute noch beeindruckendes Ensemble von Schloss und Park, das unter Aspekten der Landschaftsgestaltung auch das nähere Umfeld des Anwesens (Dorf, Straßen, Wälder) mit einbezog und veränderte.

Bisher fehlte eine Gesamtdarstellung von Schloss Rauischholzhausen, die sich neben einer genaueren Untersuchung der Architektur mit der Ausstattung und der Geschichte des Schlosses befasst. Dies ist Gegenstand des vorliegenden Buches, das in etwas veränderter Form im Jahr 2005 als Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Justus-Liebig-Universität in Gießen vorgelegt wurde.

Neben kunsthistorischen Fragestellungen sind bei der Bearbeitung historische und gesellschaftliche Aspekte zu berücksichtigen. Was machte einen repräsentativen Wohnsitz im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aus? Die Wahl der Architekturformen, des Raumprogramms und der Innenausstattung erfolgte nicht beliebig. Neben einer Bestandsaufnahme ist zu klären, an welchen Vorbildern sich der Bauherr orientierte und weshalb. Welche Rolle spielte sein finanzieller Hintergrund und die familiäre Herkunft?Diese beiden Faktoren bestimmen zwei fellos das Ausmaßan „Prachtentfaltung“ in einem persönlichen Wohnumfeld. Mitglieder der Familie von Stumm gehörten zur gesellschaftlichen und politischen Elite des 19. Jahrhunderts. Wie wirkten sich aktuelle politische Konstellationen auf Ferdinand Eduard von Stumms Leben und Wohnen aus?

Die Baugeschichte des Schlosses und seine architektonische Prägung erfolgte nicht nur durch einen Architekten und in einer Bauphase. So soll zum einen soweit als möglich eine chronologische Baugeschichte von Schloss Holzhausen, zum anderen eine architekturhistorische Einordnung des Schlosskomplexes erstellt werden.

Unterlagen zum Schlossbau selbst, sowohl zum Außenbau als auch zur Innenraumgestaltung sind nur sehr lückenhaft erhalten. Es fanden sich bisher keine Aufträge oder Rechnungen. Pläne aus verschiedenen Bauphasen und von unterschiedlichen Architekten sind nur unvollständig überliefert. Von zentraler Bedeutung erwies sich in vieler Hinsicht die Auswertung eines Skizzenbuches von Ferdinand Eduard von Stumm („Sketch-Book“),8 die Hinweise auf die Rolle des Bauherrn für die Gesamtkonzeption gab.

Des weiteren sind die Fotoalben zu nennen: Im Universitätsarchiv Gießen befinden sich zwei großformatige Alben aus dem Besitz der Familie von Stumm. Im ersten sind Aufnahmen bis 1885 enthalten. Das zweite Album („25 Jahre Holzhausen. 1879–1904“) dokumentiert zusätzlich wichtige spätere Baumaßnahmen. Die frühesten Aufnahmen zeigen den Rohbau und den jungen Park ab 1875, die spätesten, nicht mehr datiert, müssen teilweise noch nach 1904 entstanden sein. Insgesamt geben die Fotos vor allem Aufschlüsse über die Baufortschritte, die Park- und Innenraumgestaltung sowie über die vorgenommenen Veränderungen im Haus.10

Die Tage- und Kalenderbücher von Ferdinand Eduard von Stumm und seiner Frau Pauline von Stumm befinden sich als Depositum der Familie im Universitätsarchiv Gießen. Es sind insgesamt 86 Bände, die einen Zeitraum zwischen 1860 und 1943 (mit Lücken) umfassen und in späteren Jahren teilweise auch in englisch, französisch oder spanisch geschrieben sind. Die Tagebücher Ferdinand Eduard von Stumms wurden für die Jahre 1874–1876, in denen bauentscheidende Fragen zu lösen waren, durchgesehen. Angaben zu Konzeption des Schlossbaus oder zu irgendwelchen Überlegungen im Zusammenhang mit dem Bau konnten in dem genannten Zeitraum nicht gefunden werden. In Bezug auf Holzhausen beschränkte sich Stumm auf allgemeine Bemerkungen und Klagen. Ein Grund dürfte in der Tatsache zu suchen sein, dass er vorwiegend im monatlichen Rückblick, oft ohne exakte Datierung schrieb. Es ging ihm vorrangig um Notierung von Fakten. Erschlossen werden können aus den Tagebüchern seine Aufenthalte in Holzhausen und ihre Dauer. Die Auswertung der Tagebücher seiner Frau Pauline von Stumm erwies sich als ergiebiger, allerdings entstanden sie erst nach ihrer Heirat im September 1879, als der wesentliche Teil des Schlosses bereits gebaut war. Aus Pauline von Stumms Aufzeichnungen sind genaue Daten zu entnehmen, vor allem aber konkrete Einzelheiten über Veränderungen am Schloss, Renovierungen, Besuche, Reisen und Familienleben.

Die in der Zentralbibliothek Zürich aufbewahrten Briefe sowie die Lebenserinnerungen von Alfred Friedrich Bluntschli, dem wichtigsten Architekten des Schlosses, erlauben eine genaue Datierung der Fertigstellung und enthalten Angaben über die am Bau beteiligten Architekten.

Informationen aus all diesen unterschiedlichen Quellen sind ausgewertet, um damit so weit als möglich die Baugeschichte des Schlosses zu rekonstruieren. Zudem war die Zuständigkeit der einzelnen Architekten für die verschiedenen Gebäudeteile zu klären und die Rolle des Bauherrn für die Konzeption zu untersuchen. Die bei Schloss Rauischholzhausen trotz aller überreichen Formvielfalt zu bewundernde harmonische Einheit des Gesamtkomplexes sollte begründet und in die zeitgenössische Architekturtheorie und Architekturgeschichte eingeordnet werden.

Für Teilaspekte dieser Untersuchung konnte auf einschlägige Vorarbeiten zu Rauischholzhausen zurückgegriffen werden. Genannt seien die ethnologische Arbeit von Gabriele Schlimmermann. Ausgehend von zahlreichen Erstaufschlüssen zeichnet sie die im Zusammenhang mit der Etablierung Stumms in Holzhausen entstandenen Konflikte mit der Gemeinde und einzelnen Personengruppen im Dorf nach. Ihre Arbeit enthält gerade für die Zeit bis 1892 Aspekte, die sich für das vorliegende Thema als fruchtbar erwiesen. Zu erwähnen sind auch die darin enthaltenen weiterführenden Hinweise auf das gesellschaftliche und finanzielle Umfeld der Familie Stumm. Eine Vorstellung von der sehr qualitätvollen Ausstattung des Schlosshofes, der Terrassen und des Parks mit alten und neuzeitlichen Aufsätzen, Gefäßen, Vasen, Postamenten, Konsolen und Skulpturen vermittelt der von Matthias Recke erstellte Bestandskatalog. Ein wesentlicher Teil der noch vor Ort erhaltenen Reste der berühmten Sammlung des Erbauers von Schloss Holzhausen wird in dieser Arbeit dokumentiert. Hermann Deuker gibt Hinweise zu Baugeschichte und Ausstattung des Schlosses. Seine Schilderungen zum Leben der Stumms im Schloss Holzhausen beruhen teilweise auf eigener Erinnerung. Für die Geschichte des Dorfes, das Ferdinand Eduard von Stumm als neuen Gutsherren begrüßte, ist das „Heimatbuch“ von Franz Kaiser auf Grund des dort zusammengetragenen Materials von Bedeutung.11 Auf monographische Arbeiten zu den von Stumm beauftragten Architekten, zum Komplex des Fachwerkbaus und der Architektur des Historismus allgemein konnte jeweils zurückgegriffen werden.12

Bei den Recherchen zur Arbeit wurde ich von vielen Seiten mit Interesse und Freundlichkeit unterstützt. Bernd Becker und seine Mitarbeiterinnen vom Liegenschaftsamt der Universität Gießen stellten mir ihre Unterlagen unbürokratisch zur Verfügung. Ingrid Binot (Rauischholzhausen) half bei der Datierung und gab wichtige Hinweise zu alten Fotografien, Dr. Mareike Bückling (Liebieghaus Frankfurt) half bei der kunsthistorischen Einordnung der Bacchusbüste; Else Deuker (Rauischholzhausen) ermöglichte mir den Einblick in das Archiv ihres verstorbenen Mannes Hermann Deuker; Dr. Eva-Marie Felschow und Thorsten Dette (Universitätsarchiv Gießen) machten mir Archivunterlagen zu Schloss Holzhausen zugänglich; Annemarie Fritz (Landesamt für Denkmalpflege Marburg) unterstützte mich bei meinen Recherchen; Hartwig Goerss (Rauischholzhausen) konnte mir auf Grund seiner langen Beschäftigung mit dem Besitz Stumm interessante Hinweise geben; Andreas Gehlert (Frankfurt) danke ich für seine Hinweise zum Reiterbild im Großen Salon; Maja B. Häderli (Deutsches Kunsthistorisches Institut Florenz) half mit Auskünften; Ruth Häusler (Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich) suchte für mich die entsprechenden Unterlagen im Familienarchiv Bluntschli; Karl Henkel und Klaus Ried (Rauischholzhausen) danke ich ebenso wie Architekt Gustav Jung (Bad Nauheim), der mich bei Fragen zu den Bauplänen beriet; Daniel Kelterbaum (Geologisches Institut Marburg) klärte die für die Fundamentierung wesentlichen geologischen Fakten; Gabriele Schlimmermann stellte mir Auszüge aus den Tagebüchern Pauline von Stumms zur Verfügung; Marianne Senft (Darmstadt) half bei Transkriptionen; Katharina Thiersch, (Oberkonservatorin Marburg) informierte mich über durchgeführte Restaurierungen im Schloss; Holzbildhauer Bernhard Vogeler (Düdelsheim) bestimmte die verwendeten Holzarten und Handwerkstechniken; Gartenarchitektin Barbara Vogt (Frankfurt) wies mich auf Besonderheiten der Siesmayerschen Parkanlage in Rauischholzhausen hin.

Prof. Dr. Heinrich Zankl (Geologisches Institut Marburg) war so freundlich, mir die noch im Schloss befindlichen Marmorsorten zu bestimmen. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.

Dr. Matthias Recke vom Institut für Klassische Archäologie (Altertumswissenschaften) Gießen machte nach meinen Angaben den größten Teil der Aufnahmen, Reproduktionen und das erste Layout des Buches.

Abschließend zwei Hinweise zur verwendeten Terminologie im Zusammenhang mit Schloss und Familie. Für das Schloss finden sich in der Vergangenheit drei Namen. Die Familie von Stumm sprach nachweislich stets von Schloss Holzhausen, auch noch als der Ort 1934 im Zusammenhang mit der Gebietsreform den Namen Rauischholzhausen erhielt.13 Zeitweise war später der offizielle Name Schloss Neu-Potsdam in Gebrauch, nach dem zum Schloss gehörenden Ortsteil Neu-Potsdam. In der Arbeit wird im direkten Zusammenhang mit der Familie von Stumm der Name Schloss Holzhausen bevorzugt, in anderem auch der heutige Name verwandt.

Obwohl die Erhebung Ferdinand Eduard Stumms in den Adelsstand erst 1888 erfolgte, wird hier weitgehend die spätere Form des Namens, also „von Stumm“ gebraucht, da ein rein chronologischer Aufbau der Arbeit inhaltlich nicht möglich und sinnvoll war.

1 Angaben des Statistischen Landesamtes vom 31.12.2004 (Auskunft Bürgerbüro Ebsdorfergrund).

2 Demandt 1980, S. 23.

3 Bei der Gebietsreform 1934 erhielt das Dorf den Namen Rauischholzhausen.

4 Ausführlich dargestellt bei Kaiser o.J. (1975).

5 Nach dem Brief Grimms an Stumm vom 15. 3. 1873 hatte der Kaufbrief zu diesem Zeitpunkt bereits seine gerichtliche Bestätigung erhalten. In: Der Park Rauischholzhausen 1986, S. 85.

6 Nach der Statistik von 1850 hatte das Dorf 105 Häuser, 654 Einwohner, davon 110 Kinder und 81 Juden in 12 Familien. Im Dorf wohnten unter anderem ein Arzt, ein Lehrer, 10 Viehhändler und ein Handwerker. Es gab 32 Pferde, 11 Fohlen, 22 Ochsen, 118 Kühe, 44 Rinder, 140 Schweine und 400 Schafe. Kaiser o.J. (1975), S. 117.

7 Siesmayer 1892, S. 29.

Entscheidend für die Rekonstruktion der Baugeschichte des Schlosses waren die (vor allem für die Frühphase) in großer Zahl erhaltenen Briefe des Notars Dr. Carl Grimm und des Obergärtners Karl Hormel an Ferdinand Eduard von Stumm sowie ein zusammenfassender Bericht Hormels über diesen Zeitraum für Pauline von Stumm aus dem Jahr 1926. Diese Unterlagen wurden 1983 von Nikolaus von Stumm der Universität Gießen leihweise zur Verfügung gestellt und sind in Transkription zugänglich.9 Die hierin enthaltenen Hinweise konnten ergänzt werden mit Hilfe des „Baedeker’s Holzhausen“, einer humoristischen Beschreibung des Anwesens durch Ferdinand Karl von Stumm und seine Geschwister. Er umfasst mit zwei Nachträgen die Zeit von 1899 bis 1907. Die Pläne des Architekten August Dauber, die als einzige die Grundrisse des Schlosses vollständig wiedergeben, erlaubten, die Abfolgen der Baugeschichte genauer zu bestimmen.

8 Depositum aus Privatbesitz, Universitätsarchiv Gießen.

9 Der Park Rauischholzhausen 1986.

10 Fotoalbum „Holzhausen 1885“ (betr. die Erbauung von Rauischholzhausen), Universitätsarchiv Gießen Slg. Nr. 37. Fotoalbum „Holzhausen nach 25 Jahren – 1879–1904“, Slg. Nr. 38. Im Landesamtes für Denkmalpflege Marburg befinden sich drei kleinere Alben aus dem Besitz eines ehemaligen Bediensteten (Familie Flühe, Rauischholzhausen). Neben den auch in den großen Alben vertretenen Aufnahmen enthalten sie Bilder von Räumen aus dem 1. und 2. Stockwerk sowie aus dem Ostflügel (Kinderbau).

11 Schlimmermann 1996, Recke 1995 und 1997, Deuker 1986, Kaiser o.J. (1975).

12 Schuchard 1979 zu Carl Schäfer; Altmann 2000 zu Alfred Friedrich Bluntschli; Bachmeier 1988 zu Lorenz Gedon; Imhof 1996 zum historistischen Fachwerk; Wagner-Rieger/Krause (Hg.) 1975, zum Schlossbau der Zeit; Brönner 1987 zur Villa.

13 So im Tagebuch Pauline von Stumm, 4. 9. 1938.

KAPITEL 2

Ferdinand Eduard von Stumm

Zur Familiengeschichte

Ferdinand Eduard Stumm wurde am 12. Juli 1843 in Neunkirchen als drittes von acht Kindern geboren.14 Seine Familie gehörte zu den bekanntesten deutschen Eisenindustriellen. Sowohl durch seinen Vater, Carl Friedrich Stumm (1798–1848), als auch durch seine Mutter, Marie Louise Böcking (1813–1864), war er mit den wichtigsten Industriellenfamilien des deutschen Südwestens verwandtschaftlich verbunden.15

Abb. 1

Ferdinand Eduard von Stumm, Fotografie (o.J.)

Die Eisenhütte Stumm wurde 1715 durch Johann Nikolaus Stumm gegründet. Er besaß die Mühle zu Hammer-Birkenfeld im Hunsrück. Das dort vorkommende Eisenerz, der Waldreichtum der Gegend und das reichlich vorhandene Wasser schufen gute Voraussetzungen für die Anlage eines Waffen- und Eisenhammers. Durch den frühzeitigen Erwerb von Holz- und Erzkonzessionen sowie überlegte Beteiligungen bzw. Kauf- und Neuanlagen von weiteren Hütten und Hämmern wuchs das Familienunternehmen kontinuierlich. Hinzu kam das Stumm’sche Prinzip, das Werk nur an männliche Nachkommen zu vererben, die Töchter wurden bei ihrer Heirat ausbezahlt und hatten dann mit dem Familienvermögen nichts mehr zu tun.16 Die männlichen Nachkommen verwalteten den Familienbesitz jeweils gemeinsam. Den Enkeln des Unternehmensgründers, drei Brüdern, gelang es 1806, ihre Eisenhütten vom Hunsrück auf das Saarland auszudehnen. Sie erwarben, gemeinsam mit der Halberger Hütte und der Fischbacher Hütte, das Neunkirchener Eisenwerk und gründeten die offene Handelsgesellschaft „Gebrüder Stumm“, ein Name, den die Firma mehr als ein Jahrhundert führte.

Friedrich Philipp Stumm (1751–1835), der Großvater Ferdinand Eduard von Stumms, lebte seit 1802 in Saarbrücken. Die Familie bewohnte das ehemalige barocke Mandelsche Palais am Ludwigsplatz.17 Bezeichnenderweise waren die Stumms schon zu dieser Zeit politisch engagiert. In den Befreiungskriegen 1814/15 wurde das Haus Stumm in Saarbrücken zum Zentrum der nationalen Erhebung im Saarland. Blücher, Gneisenau und andere Generäle waren Gäste des Hauses auf dem Marsch nach Frankreich.18

Friedrich Philipp Stumm teilte in seinem Testament den Besitz. Sein Sohn, der Vater des Erbauers von Schloss Holzhausen, Carl Friedrich Stumm, erhielt die Hütten im Saarland. Sein Schwiegersohn, Heinrich Böcking, erbte den Besitz im Hunsrück. Carl Friedrich Stumm war mit Marie Louise Böcking verheiratet (Abb. 3, 4). Ihre Familie gehörte zu den bedeutendsten deutschen Handelsfamilien, war im Bankgeschäft und in der Aachener Tuchfabrikation tätig. Die Heiraten der zahlreichen Böckingkinder verbanden diese Familie mit „fast sämtlichen südwestlichen Industriellen- und Handelsgeschlechtern.“19 Die Stumms selbst waren mit der pfälzischen Eisenindustriellenfamilie Gienanth verwandt. Drei von acht Urgroßeltern des Erbauers von Schloss Holzhausen führten Eisenhütten.

Die Begeisterung und das Verständnis für Kunst, die bei Ferdinand Eduard von Stumm zur Anlage seiner großen Sammlung führte, kann auch als ein Familienerbe angesehen werden. Aus den Nebenlinien der Stumms und Böckings stammten im 18. Jahrhundert ein Goldschmied, der Architekt Christian Ludwig Hautt (1726–1806) und der Orgelbauer Johann Michael Stumm (1683–1774). Seine Familie gehörte zu den berühmtesten Orgelbauern Südwestdeutschlands.20 Ein Bruder von Stumms Großvater war der Düsseldorfer Landschaftsmaler Adolph Böcking (geb. 1782 in Trarbach, verstorben in Amerika).21

Abb. 2

Herrenhaus in Neunkirchen

Kindheit in Neunkirchen

Carl Friedrich Stumm zog von Saarbrücken, wo er in den „ eindrucksvollen Barockbauten am Ludwigsplatz“22 bei seinen Eltern gewohnt hatte, nach Neunkirchen. Dort erbaute er sich zwischen 1834 und 1839,23 wie es in dieser Zeit die Industriellen häufig taten, sein Haus in unmittelbarer Nähe zum Eisenhüttenwerk (Abb. 2–4). Die ersten Industriellenvillen entstanden, fast analog zu den antiken Villen, in der Nähe der eigenen Produktionsstätten. Vom Haus konnte und wollte man auf die Fabrik blicken.24

Das Geburtshaus von Ferdinand Eduard Stumm lag „inmitten rauchender Essen und dröhnenden Maschinenhallen. Eine Hochofengruppe [stand] wie ein Wachturm, nur durch die Straße getrennt, vor diesem Herrenhaus.“25 Die Hüttenarbeiter nannten es „Emm Stumm sei Schleßje.“26 Hinter dem Herrenhaus legte Carl Friedrich Stumm später einen großen Park an. Ähnlich wie sein Sohn Ferdinand Eduard fast vierzig Jahre danach seinen Park in Holzhausen anfangs plante, war es ein Landschaftsgarten im Stil Fürst Pücklers. Er ließ zunächst nur einheimische Bäume pflanzen, belebte den Park mit Gartenarchitekturen und errichtete auf einer Insel im Hammerweiher 1845 ein Denkmal für seine Familie. „Den Vorfahren in Liebe und Dankbarkeit geweiht vom Sohn und Neffen Carl Friedrich Stumm“. Zusätzlich wurden die im Besitz der Familie befindlichen Industrieanlagen aufgezählt.27 Stolz auf die Leistungen der Familie, Selbstbewusstsein und Repräsentationsbedürfnis des Großbürgers Stumm zeigten sich auch in der, damals bei zahlreichen Schlossneubauten zu beobachtenden Sitte, sich im eigenen Park eine Kapelle und ein Familienbegräbnis anzulegen. Die Familie bewohnte das Herrenhaus in Neunkirchen von 1839/40 bis 1880/81. Danach zog der älteste Sohn, Carl Ferdinand Stumm, in das neu erbaute Schloss Halberg.28 Das Oberhaupt der Familie und Leiter der Stummwerke bezog also knapp zwei Jahre nach dem sein Bruder Ferdinand Eduard Schloss Holzhausen bezogen hatte, ebenfalls ein neues Schloss.

Abb. 3–4

Louis Krevel, Porträts der Eltern Carl Friedrich Stumm (1836) und Marie Louise Stumm (1835). Öl/Lw., 102 x 80,5 cm.

Im Hintergrund sind das noch im Bau befindliche Herrenhaus und Teile der Fabrikanlagen von Neunkirchen zu sehen.

Abb. 5

Ferdinand Eduard von Stumm, Gipsmodell der Büste Adolf von Hildebrand, vor 1910

Die Jugend der acht Kinder von Carl Friedrich Stumm dürfte einschneidend verändert worden sein durch den Freitod des Vaters am 24. Februar 1848. Die Gründe dafür sind strittig. Einmal werden große finanzielle Schwierigkeiten des Werks in Neunkirchen genannt. Diese hätten als Hauptgrund den zu umständlichen Transport des Erzes gehabt. Die Eisenproduktion der Stummwerke sei dadurch teurer als in verkehrsgünstiger gelegenen Betrieben gewesen. Die Bemühungen, einen Anschluss des Werkes in Neunkirchen an die Eisenbahnlinie zu erreichen, waren zunächst nicht erfolgreich, das investierte Vermögen schien verloren.29 Andere sehen die Lage des Werkes zu diesem Zeitpunkt als saniert an und machen persönliche Gründe für den Freitod verantwortlich.30 Die so wichtige Anbindung Neunkirchens an die Eisenbahnlinie wurde kurz nach dem Tod Carl Friedrich Stumms beschlossen.31 Diese verbesserte Transportmöglichkeit schuf die Basis für die unter Carl Ferdinand Stumm-Halberg einsetzende gewaltige Expansion der Werke „Gebr. Stumm“.

Über Kindheit und Jugend Ferdinand Eduard Stumms und seiner Geschwister ist, mit Ausnahme des später sehr berühmt gewordenen ältesten Bruders Carl, wenig bekannt. Ferdinand Eduard Stumm war beim Tod des Vaters vier, das jüngste Kind etwas über zwei Jahre alt. Es ist anzunehmen, dass er zunächst ähnlich wie sein ältester Bruder von Gouvernanten und Hauslehrern unterrichtet wurde. Die Biographie seines Bruders Carl Stumm-Halberg nennt u. a. Alberts aus Neunkirchen und den Hauslehrer Hodler aus Neuwied.32 Letzterer dürfte für Ferdinand und seine jüngeren Geschwister eine besondere Rolle gespielt haben, denn ihre Mutter, Marie Louise Stumm, geborene Böcking, verheiratete sich um 1850 in zweiter Ehe mit Hodler.

Die Bedeutung des Bruders Carl

Die Leitung der Firma übernahm nach dem Tod des Vaters für zehn Jahre der Onkel Carl Böcking als Vormund der Erben. Carl Ferdinand von Stumm-Halberg trat 1858 mit 22 Jahren in die Firma „Gebr. Stumm“ ein. Zunehmend übernahm er auch die Verantwortung für seine jüngeren Geschwister. Ferdinand Eduard von Stumm legte 1861 sein Abitur in Trier ab.33 Von ihm und seinem Bruder Hugo (Ramholz) wurde ein Eintritt in die Firmenleitung erwartet. Von Ferdinand Eduard wünschte sein älterer Bruder eine Ausbildung als „Bergmann“ und schrieb ihm noch während der Schulzeit 1860, das Werk biete „vollkommen Platz für uns drei.“34 Der zweitälteste Bruder, Friedrich Adolf, hatte wohl bereits damals gesundheitliche bzw. nervliche Probleme.35 Jedenfalls hielt ihn Carl F. von Stumm-Halberg schon zu dieser Zeit für nicht geeignet, in die Leitung des Familienbetriebes einzutreten. Alle seine Brüder entschieden sich jedoch gegen den Eintritt in ihr Werk und für eine militärische Laufbahn. Die Leitung des Unternehmens, einer offenen Handelsgesellschaft, überließen sie dem ältesten Bruder, der ab 1870 alleiniger Geschäftsführer war. Ab 1888 wurde die Firma in eine Kommanditgesellschaft mit persönlicher Haftung Carl Ferdinand von Stumm-Halbergs überführt, der das Werk zusammen mit einem Direktor leitete.36

Ferdinand Eduard von Stumm trat am 5. November 1861 als Avantageur in das 8. Husarenregiment der preußischen Armee ein, wurde am 15. Januar 1863 zum Königlichen Sekonde-Lieutenant ernannt und nahm 1864 am Krieg gegen Dänemark teil. 1865 bat er gegen den Widerstand seines älteren Bruders Carl – „Du rennst […] in dein Unglück“ – um Abschied vom Militär und ging auf eine längere Reise nach Italien, den Nahen Osten bis nach Beirut.37 Sein Bruder hatte ihm die Absolvierung einer Kriegsschule zur Vorbereitung für die höhere Militärlaufbahn vorgeschlagen.38 Ferdinand Eduard kehrte nach seiner Reise 1866 in den aktiven Militärdienst zurück und nahm am Krieg gegen Österreich und seine süddeutschen Verbündeten teil. In der Schlacht bei Kissingen gegen die Bayern soll er sich besondere Verdienste erworben haben.39

Danach schied er wieder aus dem aktiven Militärdienst aus und wurde am 31. Januar 1867 an die Gesandtschaft nach Florenz attachiert. Dabei sind die Angaben des Auswärtigen Amtes in Bonn so zu interpretieren, dass der Aufenthalt in Florenz lediglich ein Genesungs- und Nachurlaub war.40 Worauf diese Vergünstigungen zurückzuführen sind, kann nur vermutet werden. Vielleicht sind es die von Deuker erwähnten „Lorbeeren“ im 1866er Krieg oder, was wahrscheinlicher scheint, die guten Beziehungen seines Bruders Carl F. von Stumm-Halberg nach Berlin und vor allem zu Bismarck.

Stumm-Halberg war in seinem Heimatkreis Ottweiler seit 1865 politisch zunehmend von Einfluss. Der Kreis galt, im Gegensatz zum übrigen Saarland, als sehr preußenfreundlich, was in Berlin auf Stumm zurückgeführt wurde.41 Auch hatte er im Mai 1866 zweimal mit Bismarck als eine Art Sprecher der Saarbevölkerung in der Frage des Verkaufs der Saarbrücker Kohlegruben durch den in finanziellen Schwierigkeiten (der Krieg mit Österreich stand bevor) stehenden preußischen Staat verhandelt. Da die Übernahme durch französische Interessenten vorgesehen war, wurden im Saarland die Verkaufsabsichten der Regierung in Berlin fast allgemein abgelehnt. Man befürchtete eine allmähliche Einverleibung des Gebietes durch Frankreich. Bei seiner ersten Unterredung am 8. Mai 1866 hatte Carl F. von Stumm-Halberg von Bismarck die Zusicherung einer nochmaligen Konsultation vor der abschließenden Entscheidung erhalten. Die Frage des Grubenverkaufes durch den Staat wurde ein Schwerpunkt des Stumm-Halberg’schen Wahlkampfes als Reichstagsabgeordneter für die Konservativen im Sommer 1866. Nach der Entlassung von Bismarcks Nachfolger Caprivi und der Ernennung Hohenlohe-Schillingsfürsts zum Reichskanzler im Oktober 1894 wurde sein Einfluß auf den Kaiser so groß, dass man in Berlin von der Ära Stumm sprach.42

Stumms Reisen

Auch wenn er die Reise in den Nahen Osten gegen den Willen seines Bruders unternommen hatte, so war im 19. Jahrhundert das Reisen kein Ausbruch sondern ein „Zugehörigkeitsmerkmal der gesellschaftlichen Elite, das es erlaubte, sich nicht nur von den ungebildeten unteren Klassen, sondern auch von den lediglich äußerlich aufgestiegenen Neureichen zu unterscheiden.“43 Reisen war keine Flucht aus dem Alltag, sondern zeigte Erfolg, Geschmack, Bildung.44 Sie diente nicht zur Erholung und wurde bereits im 18. Jahrhundert vielfach als qualifizierende Vorbereitung für eine Anstellung im öffentlichen oder diplomatischen Dienst angesehen.45 Ferdinand Eduard von Stumms Reisen erwuchsen aus dieser Tradition, und sogar sein vielbeschäftigter Bruder Carl F. von Stumm-Halberg nahm sich immer wieder Zeit für längere Reisen. Sein Bruder Hugo von Stumm (Ramholz) war zeitweise Forschungsreisender und veröffentlichte unter anderem ein Buch über seinen Besuch in der Oase Chiwa in Usbekistan.46

Größere Reisen unternahm Stumm im Herbst 1863 nach Italien; von Oktober 1865 bis Februar 1866 reiste er von Italien nach Ägypten, besuchte die Sinai-Halbinsel und den Suez-Kanal. Von April bis Mai 1866 hielt er sich in Konstantinopel und Tiflis auf, von August 1873 bis Januar 1874 bereiste er die Neue Welt und war unter anderem in New Port und Havanna. Von Mai bis Juni 1884 besuchte er Spanien. Außerdem unternahm er eine dreimonatige Reise ins östliche Mittelmeer.47 Wie ab Mitte des Jahrhunderts zunehmend üblich, schrieb Stumm recht ausführliche Reisenotizen, was seine hinterlassenen Tagebücher belegen. Allgemein nutzte man sie, um Erinnerungsstützen für Berichte im Freundeskreis zu haben. Vielfach bildeten sie auch die Grundlage für Bücher oder Memoiren. So veröffentlichte Ferdinand Eduard von Stumm im Juli 1868, einen Monat nach seiner Rückkehr, ein Buch über seine Teilnahme an der englischen Expedition gegen König Theodoros von Abessinien, das in einem Reprint vorliegt.48 Einleitend schrieb er darin sehr bescheiden: „Dem Drängen von Verwandten und Freunden nachgebend, habe ich diese kleine Schrift als einen Auszug meiner während der Englischen Expedition in Abyssinien geführten Tagebücher niedergeschrieben, [und er befürchtete,] daß die Darstellung nur für diejenigen von Werth sein dürfte, die sich für den Verfasser selbst interessieren. “49

Stumms diplomatische Laufbahn

Nach der Rückkehr aus Abessinien entschied sich Ferdinand Eduard von Stumm für den Eintritt in den diplomatischen Dienst.50 Auch hierbei ebnete ihm der ältere Bruder mit seinen Beziehungen zu Bismarck den Weg. Er stellte für ihn ein Immediatgesuch in Berlin. Die Vorlage an König Wilhelm vom 23. Oktober 1868 empfiehlt eine Ablehnung des Gesuches, da Stumm nicht die vorgeschriebenen Qualifikationen erfülle (3 Jahre Studium und 3 Jahre Arbeit bei Justiz oder Verwaltung), allenfalls eine Attachierung als Militärangehöriger in Florenz für ein Jahr sei denkbar.

Am 27. Oktober 1868 ergeht durch Königliche Kabinetts-Order die Attachierung auf ein Jahr an die Botschaft in Florenz mit der Eröffnung, „daß er wegen der mangelnden hierzu vorschriftsmäßig erforderlichen Vorbedingungen zur diplomatischen Laufbahn nicht zugelassen werden könne.“ Am 20. Mai 1869 wird das Gesuch um Zulassung zur diplomatischen Laufbahn erneuert. „Der Rtg.-Abgeordnete Stumm setzt sich für Leutenant Stumm ein“ heißt es am 1. September 1869 im Bericht.

Bereits am 3. Januar 1869 hatte Carl F. von Stumm-Halberg seinem Bruder die Zustimmung Bismarcks für eine einjährige Probezeit im Auswärtigen Amt in Berlin mitgeteilt. In dem Brief schrieb er: „ dich kennen lernen und danach beurteilen […] ob du für die Diplomatie passest. Anders nehme er überhaupt keine jungen Leute für die Diplomatie mehr. Auf Examen und dergl. lege er nicht den mindesten Wert, ebenso wenig auf Adel. Find sich später, dass derselbe wünschenswert sei, so könne einem solchen Mangel ja mit Leichtigkeit abgeholfen werden.“51 Die Bedenken der Vorlage vom Oktober 1868 hinsichtlich der fehlenden Qualifikationen Stumms wurden Dank der Intervention des Bruders bei Bismarck gegenstandslos. Ferdinand Eduard von Stumm kam am 1. September 1869 als Attaché nach Berlin ins Auswärtige Amt, nahm dann am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 teil und wurde in dessen Verlauf zum Premierleutnant ernannt.

Nach Kriegsende arbeitete er ab dem 20. Juni 1871 für fünf Monate als Attaché an der Mission in Paris. Hier war sein unmittelbarer Vorgesetzter Graf von Waldersee. Dieser beurteilte Stumm in seinen „Denkwürdigkeiten“ als unter dem ihm zugeteilten Personal besonders positiv hervorragend: „Der Attaché Leutnant Stumm, angenehm und sehr fleißig, bekam eine Menge laufender Geschäfte, wie Reklamationen, Klagen, Korrespondenz mit den Truppen usw.“52 Am 28. November 1871 wurde Ferdinand Eduard von Stumm beurlaubt, um sich auf das diplomatische Examen vorzubereiten, das er bereits am 15. Februar 1872 mit Erfolg ablegte, angesichts der üblichen Vorbereitungszeit von 6 Jahren ist dies eine bemerkenswerte Leisung.

Er wurde daraufhin 16 Jahre lang an verschiedenen Botschaften beschäftigt. Im August 1874 schrieb er in sein Tagebuch: „Am 15. Mai war ich der Gesandtschaft in Bern zugestellt worden. […] So war ich nun bald in Holzhausen, bald in Paris, bald im Berner Oberland […] und fing gerade an mich in diesen Verhältnissen wohl zu fühlen, als ich eine telegraphische Anrufung erhielt auf München [zum?] Geschäftsträger zu ziehen.“53 Im November 1874 heißt es: „ Vor einigen Tagen erhielt ich den Befehl aus Berlin zu einer sechswöchigen Vertretung […] auf Brüssel zu gehen. Kaum 14 Tage hier, muß der Koffer wieder gepackt werden.“54 Am 15. November 1874 schrieb er in Brüssel: „Ich bin nun in diesem Jahr auf meinem 4. Posten u. zum 3.mal mache ich die Antrittsbesuche mit ihren […] Fragen durch.“55

1872 war er Legationssekretär in der Vertretung am Heiligen Stuhl in Rom; am 23. April 1873 wurde er Legationssekretär in Washington; am 17. April 1874 Legationssekretär in Bern; am 10. Juli 1874 Legationssekretär in München. Am 4. November 1874 wurde er für 6 Wochen als Vertretung nach Brüssel geschickt (chargé d’ affaires); ab 3. April 1876 war er zunächst 2. Sekretär in Paris, ab 6. August 1878 arbeitete er dort als Legationsrat. Am 11. November 1879 kam er als 1. Sekretär

Abb. 6–7

Salvador Martinez Cubells, Ferdinand Eduard von Stumm und seine Frau Pauline, Freiin von Hoffmann, 1890, Öl/Holz, je 61 x 41 cm

(Botschaftsrat) nach Petersburg, am 19. März 1881 nach London. Dort sprach ihm Kaiser Wilhelm I. am 20. April 1882 für die Berichte über die irische Frage seine Anerkennung aus („eine ebenso interessante wie klare Darstellung“). Am 25. Oktober 1882 wurde er Gesandter in Darmstadt, ging aber erst am 8. Januar 1883 von London aus dorthin. 1885 übernahm er teilweise auch die Vertretung in Karlsruhe. Durch seine Arbeit in Darmstadt hat Stumm einer dort noch heute bekannten Episode der Geschichte Hessen-Darmstadts die entscheidende Wendung gegeben (Affaire Großherzog Ludwig IV. – Madame Kolemine).56 Zum 8. Mai 1885 schickte man ihn zunächst kommissarisch als Gesandten in a.o. Mission nach Kopenhagen. Die Ernennung zum offiziellen Gesandten erfolgte dann am 20. Oktober 1885.

Am 8. Mai 1887 gelangte er zunächst als Gesandter und ab 17. März 1888 als Botschafter in Madrid zum Höhepunkt und 1892 hier auch zum Abschluss seiner diplomatischen Laufbahn. Das Doppelporträt (Abb. 6, 7) entstand in dieser Zeit. Es zeigt Stumm in der Uniform eines Majors des 8. Husarenregimentes mit Orden geschmückt (u.a. dem russischen St.-Wladimirs-Orden und dem Großkreuz des dänischen Daneborgordens).

Erhebung in den Freiherrenstand

In die Zeit des Aufenthaltes in Madrid fiel die Erhebung der vier Brüder Stumm in den Freiherrenstand.57 Sie wurde von Kaiser Friedrich III., der am 9. März 1888 an die Regierung gekommen war, am 28. Mai 1888 vollzogen. Als Begründung für die Erhebung in den erblichen Freiherrenstand wurde die Thronbesteigung von Friedrich III. genannt. Dabei erhielten die vier Brüder den Freiherrentitel in der Primogenitur, d.h. nur der älteste Sohn erbte ihn, die übrigen Kinder durften sich „von Stumm“ nennen. Heute ist der Freiherrentitel der Linie Stumm-Holzhausen adelsrechtlich erloschen, da der Titel Freiherr adelsrechtlich an ein Fideikomissvermögen gebunden ist. Die Gründung des Fideikomiss wurde, anders als in Schloss Ramholz, in Holzhausen nicht vollzogen. So bestand für den Erben des Erbauers, Ferdinand Karl von Stumm, auch die Möglichkeit, den Besitz in Holzhausen ab 1938 zu verkaufen.58

Bismarck hatte sich mit der Nobilitierung der Stummbrüder einverstanden erklärt, aber dem Kaiser empfohlen, die Betreffenden vorher nicht zu konsultieren. Carl F. von Stumm-Halberg habe bei einer früheren Anfrage sich ablehnend geäußert.59 Die Reserviertheit des Industriellen Carl F. Stumm-Halberg entsprach einer Haltung, die Nipperdey allgemein als nicht ungewöhnlich für diese Zeit beurteilt.60

Die Frage, inwieweit Ferdinand Eduard von Stumm dies ebenso sah, wäre vielleicht an Hand seiner Aufzeichnungen zu klären. Für seinen Bruder Hugo von Stumm (Ramholz) jedenfalls war die Erhebung in den Adelsstand ein angestrebtes Ziel.61 Ferdinand Eduard von Stumm könnte wegen seiner beruflichen Tätigkeit im gehobenen diplomatischen Dienst, wo Nichtadlige damals noch eine Minderheit bildeten, eine Nobilitierung als von Vorteil empfunden haben. Die Tatsache aber, dass er die Begründung eines Fideikomiss für seinen Besitz in Holzhausen nicht mit der gleichen Zielstrebigkeit verfolgte, wie sein Bruder Hugo in Ramholz62 und wie die der Separation seines Gutes Holzhausen, ist als ein weniger stark ausgeprägtes Interesse an dem dauerhaften Besitz des Freiherrentitels in der Linie Stumm-Holzhausen zu sehen.63 Ferdinand Eduard von Stumm erwarb später noch den Herrensitz Gut Rohlstorf bei Bad Segeberg, den sein zweiter Sohn Herbert übernahm. Das Schloss Grafen-aschau bei Murnau wurde von seiner Frau Pauline von Stumm aus ihrem Privatvermögen erworben. Es diente ihr nach 1925 als Witwensitz.64

Unfreiwilliges Ende der Karriere

Der Tod Kaiser Friedrichs III. am 15. Juni 1888 hatte für Carl F. von Stumm-Halberg weniger weitreichende Konsequenzen als für seinen Bruder Ferdinand Eduard von Stumm. Beide waren überzeugte Bismarckanhänger. Carl F. von Stumm-Halberg hatte in Berlin stets eng mit Bismarck zusammengearbeitet. Bismarck gab ihm den Beinamen „König Stumm“. Aber auch der neue Kaiser, Wilhelm II., schätzte Stumm-Halberg und zeichnete ihn aus.65 Das Verhältnis zwischen Carl F. von Stumm-Halberg und dem Kaiser wurde zunehmend herzlicher, obwohl letzterer von den weiter bestehenden guten Beziehungen Stumms zu dem am 20. März 1890 entlassenen Bismarck wusste. Stumm-Halberg hoffte zunächst, Bismarck werde der Politik nicht auf Dauer fernbleiben. Das gute Verhältnis, sowohl zu Wilhelm II. als auch zu Bismarck, versuchte Carl F. von Stumm-Halberg zu nutzen, um an einer Versöhnung zwischen beiden zu arbeiten, die er aus politischen Gründen für nötig hielt. Die Versuche misslangen, da Bismarck sich weigerte, die Bedingungen des Kaisers, er solle den ersten Schritt tun, zu akzeptieren. Der Konflikt eskalierte, als der im Juni 1892 in Wien zur Hochzeit seines Sohnes Herbert von Bismarck weilende ehemalige Reichskanzler sich durch Interventionen Berlins u.a. am Wiener Hof brüskiert fühlte. Der Reichskanzler Caprivi hatte den deutschen Botschafter in Wien in einer Depesche angewiesen, den Kontakt mit der Familie Bismarck in Wien zu meiden und keine Einladung zur Hochzeit anzunehmen. Am 12. Juni hatte Wilhelm II. in einem Schreiben sogar den Kaiser Franz Joseph ersucht, Bismarck nicht in Audienz zu empfangen. Bismarck griff daraufhin in Wien die deutsche Regierung vor der Presse scharf an und löste damit eine ungeheure Welle von Sympathiebezeugungen in Wien und Deutschland aus.

Carl F. von Stumm-Halberg, der politisch besonnene Staatsmann und Industrielle, wusste mit der neuen Situation umzugehen. Er verurteilte das Verhalten Bismarcks und seine öffentlichen Angriffe, weil sie die Autorität des Kaisers und der Regierung schwächten und stellte sich voll auf die Seite des Kaisers.66 Nach 1894 wurde er zu seinem wichtigsten Ratgeber, den er als paternalistisch denkender und handelnder Industrieller auf einem antisozialdemokratischen Kurs zu halten versuchte. Man bezeichnete diesen Abschnitt der Regierung Wilhelms II. auch als die Ära Stumm.67 Bereits 1897 kam es allerdings zu einer zunehmenden Entfremdung.68

Ferdinand Eduard von Stumm, der eher unpolitische Diplomat, wurde, wie Hellwig schrieb: „ unmittelbares Opfer.“69 Er war natürlich über die Versöhnungsbemühungen seines Bruders Carl F. von Stumm-Halberg informiert. Noch vor dem mit dem Kaiser vereinbarten Versöhnungsversuch bei Bismarck hatte Stumm-Halberg seinen Bruder für fast vier Wochen in Madrid besucht (April bis Mai 1892). In Berlin gab es jedoch starke Kräfte, die gegen eine Aussöhnung zwischen Kaiser und Bismarck arbeiteten. Dazu gehörte vor allem Friedrich von Holstein, Vortragender Rat im Auswärtigen Amt. Zwischen ihm und Ferdinand Eduard von Stumm bestand schon länger ein sehr gespanntes Verhältnis, da Stumm noch von Bismarck auf den Posten in Madrid berufen worden war und Holstein ihn als eingefleischten Bismarckianer kannte.70 Bei einer Versöhnung zwischen Bismarck und dem Kaiser befürchtete man in Berlin eine Ablösung des Bismarcknachfolgers Caprivi und natürlich auch Holsteins, der als besonderer Bismarckgegner bekannt war. Im Auswärtigen Amt ging zudem das Gerücht um, der Staatssekretär Marschall von Bieberstein werde dann ebenfalls abgelöst und durch Ferdinand Eduard von Stumm ersetzt.71

Von Seiten des Auswärtigen Amtes in Berlin hatte man schon früh begonnen, zweifellos mit Wissen des Reichskanzlers Caprivi, die deutsche Botschaft in Madrid von wichtigen Informationen abzuschneiden. Der Botschaftsrat Freiherr von Eckardstein, für mehrere Monate im Sommer 1891 in Madrid attachiert, berichtet in seinen Lebenserinnerungen, man habe in dieser Zeit nur selten aus Berlin Informationen zugestellt bekommen, die andere Botschaften erhalten hätten. Keine irgendwie interessanten Berichte seien nach Madrid gekommen.72 Dabei galt Ferdinand Eduard von Stumm „als einer der fähigsten deutschen Diplomaten.“73 Im Auswärtigen Amt in Berlin sahen das Marschall und Holstein aus den oben genannten Gründen verständlicherweise anders.

Ferdinand Eduard von Stumm litt an einem Augenleiden, das sich in Madrid gerade nach der Abreise seines Bruders im Mai 1892 zunehmend verschlechterte. Bereits im April hatte er deshalb bereits einen kürzeren Urlaub nehmen müssen. Am 6. Juni 1892 bat er erneut um einen längeren Urlaub bis Oktober, da ein Sommeraufenthalt in Madrid seine Beschwerden unerträglich verschlimmert hätte.

Der Zeitpunkt war aus dienstlicher Sicht ungünstig, da in Madrid gerade Verhandlungen über einen deutsch-spanischen Handelsvertrag liefen. In Berlin wusste man die günstige Situation unverzüglich zu nutzen. Dr. Franz Fischer, Justizrat, Journalist und enger Vertrauter sowohl Caprivis als auch Holsteins, schrieb am 18. Juni 1892 an den Zeitungsverleger Neven Du Mont in Köln: „ Streng vertraulich und nur zur persönlichen Kenntnis: Der Botschafter Freiherr von Stumm gilt seit langer Zeit als ein sehr unfähiger Beamter. Dieser Tage bat er trotz der schwebenden Handelsvertragsverhandlungen, die er zudem recht schlecht geführt hatte, um Urlaub bis mindestens Ende Oktober. Der Reichskanzler hat ihm aber geschrieben, das wäre zur Zeit untunlich, wolle er so lange von Madrid ferne bleiben, dann wäre es besser, wenn er sich zur Disposition stellen lasse. Heute soll nun das Dispositionsgesuch telegraphisch eingetroffen sein; doch habe ich noch nichts Zuverlässiges erfahren, aber für schleunige Meldung gesorgt.“74 Ferdinand Eduard von Stumm hatte die Reaktion in Berlin wohl in gewissem Umfang vorausgeahnt und in seinem Urlaubsgesuch geschrieben, er würde auch mit jeder anderen Entscheidung einverstanden sein. Er hatte dabei an eine Versetzung gedacht, nicht aber an seine Entlassung aus dem diplomatischen Dienst, was die bereits drei Tage später, am 12. Juni geschriebene Antwort des Reichskanzlers Caprivi bedeutete. Dieser riet ihm, sich zur Disposition stellen zu lassen. Stumm blieb nichts anderes übrig und beantragte am 15. Juni 1892 seine Abberufung von Madrid und seine Freistellung zur Disposition. Der Antrag wurde umgehend angenommen (22. Juni 1892). Man versetzte ihn in den einstweiligen Ruhestand mit der Begründung „Augenleiden“ und ernannte ihn zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem Prädikat Excellenz. Waldersee kommentierte den Vorgang so: „Da nun Holstein seinen Intimus Radolin gut versorgen wollte und wußte, daß der Kaiser diesem sehr wohl geneigt ist, so mußte Stumm den Abschied nehmen und Radowitz, ohne eine Ahnung davon, daß er versetzt werden sollte, nach Madrid.“75

Unter Bühlow wurde nochmals eine Berufung Ferdinand Eduard von Stumms als Botschafter nach St. Petersburg erwogen. Bernhard Fürst von Bülow (1849–1919), von 1900–1909 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident, hatte einen ehemaligen Botschafter in St. Petersburg um seinen Rat für die Neubesetzung des Postens befragt. Dieser antwortete: „Mit Eurer Exzellenz halte ich Baron Stumm für den Geeignetsten; er hatte eine gute Stellung in Petersburg, verstand es vortrefflich, mit den gros-bonnets der Ministerien laufenden Geschäften nachzuhelfen; dabei stand er mit den femmes huppées auf gutem Fuß. Die Baronin Stumm ist elegant, klug, reich, der Frau von Montebello mindestens gewachsen. Ich fürchte aber, Baron Stumm würde den Posten nicht annehmen; einer der Faktoren seines Ausscheidens ist noch nicht beseitigt, außerdem ist seine Gesundheit nicht gut. Er ist ruhelos – aber wer dann?“ Der hindernde Faktor war wohl der noch im Amt sich befindende Holstein, das geht aus einer späteren Anmerkung Bülows zum Brief hervor. Unter Bethmann-Hollweg stand später eine Berufung nach London zur Diskussion.76

Nach dem Tod seines Bruders Carl F. von Stumm-Halberg 1901 übernahm Ferdinand Eduard von Stumm bis 1920 den Aufsichtsratsvorsitz der „Gebr. Stumm“ in Neunkirchen. Die Firmenleitung selbst legte die Familie in die Hände von Generaldirektoren. Keiner der Mitbesitzer oder Erben konnte diese Aufgabe übernehmen.77 1925 soll Ferdinand Eduard von Stumm sogar als Kandidat für die Wahl zum Reichspräsidenten vorgeschlagen worden sein, was sein Tod am 10. Mai 1925 in Locarno (Schweiz) verhinderte.78 Beigesetzt wurde Ferdinand Eduard von Stumm auf Rohlstorf, wo sein Sohn Herbert von Stumm lebte.

Abb. 8

Bismarckbrunnen von Adolf von Hildebrand, 1901

Stumms Verhältnis zu Bismarck

In der britischen Presse, „Standard“ und „Daily Herald“, wurde nach Stumms Zurdispositionstellung berichtet, der Deutsche Botschafter in Madrid sei seines Postens enthoben worden, weil er mit seinem Bruder Versuche zur Aussöhnung zwischen dem Kaiser und Bismarck unternommen hätte.79 Ferdinand Eduard von Stumm schrieb daher am 1. Juli 1892 vor seiner schnellen Abreise aus Madrid nochmals an Caprivi, um Aufklärung darüber zu erhalten, ob die Berichte der gewöhnlich als gut informiert geltenden britischen Presse zuträfen und legte die Unmöglichkeit dar, dass er fern von Berlin in diese Aussöhnungsbemühungen eingeschaltet gewesen sein könne. Caprivi antwortete höflich und sah natürlich keinen Zusammenhang zwischen Stumms zur Dispositionstellung und den in der britischen Presse hergestellten Verbindungen zum Fall Bismarck.80

Stumms Reaktion machte seine Beurteilung der Gründe und auch seine Verärgerung über diese Behandlung sehr deutlich. Im Gegensatz zu seinem Bruder Carl F. von Stumm-Halberg, der sich von Bismarck distanzierte, reiste er unverzüglich aus Madrid ab, um den ehemaligen Reichskanzler ab Kissingen noch auf dem letzten Teil seiner umjubelten „Großdeutschen Rundfahrt“, zu der seine Anhänger die Rückreise Bismarcks von Wien nach Friedrichsruh ausgestaltet hatten, zu begleiten.81

Abb. 9

Bismarckrelief vom Brunnen Bronze, 67 x 45 cm

Am 12. Dezember 1892 schrieb Ferdinand von Stumm an seinen Bruder Carl von Stumm-Halberg: „Meinen Augen geht’s jetzt besser, dahingegen habe ich Gesichtsschmerzen und werde von einem Zahnarzt jämmerlich gebohrt und malträtiert. Von meinem Zahn trenne ich mich schwerer und mit größerem Widerstreben als vom K[aiserlichen] Dienst …. Du bleibst Dir konsequent: Was die R[egierung] tut, ist gut getan; auf die Länge ist das gewiß auch das Beste und richtigste, denn die Leute, die beginnen würden, wenn keine Regierung mehr da wäre, würden gewiß noch viel schlimmer.“82

Ferdinand Eduard von Stumm blieb ein Anhänger Bismarcks auch noch über dessen Tod (1898) hinaus (Abb. 8, 9). Häufig besuchte er ihn in Friedrichsruh. Anlässlich des 100. Geburtstages von Bismarck 1915 schrieb Stumm einen Aufsatz für den Erinnerungsband.83 Der Beitrag ist nicht nur interessant durch seinen Inhalt. Er vermittelt, lässt man den für