Schluss mit der Geduld - Philipp Ruch - E-Book
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Schluss mit der Geduld E-Book

Philipp Ruch

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Beschreibung

Warum sich nichts ändert, wenn wir nichts ändern

Rassismus, Fanatismus, Demokratiefeindlichkeit – es gibt reichlich und dringend Anlass, zu handeln. Doch viele meinen, nichts ausrichten zu können. Dabei kann jeder und jede etwas bewirken: Man kann gegen Rechtsradikalismus vorgehen. Man kann für den Klimaschutz kämpfen. Man kann die europäische Außenmauer einreißen. Man kann die Kinder in Syrien retten. WIR können das! Philipp Ruch zeigt, wie wir zum Glauben an die eigene Wirksamkeit zurückfinden, wie wir den Kampf ums Ganze auf den eigenen Alltag herunterbrechen können und welche konkreten Mittel in diesem Kampf tatsächlich die besten und wirkungsvollsten sind. Ein Buch gegen Unmenschlichkeit, Gleichgültigkeit, Ohnmacht und Entpolitisierung – ein leidenschaftlicher Aufruf zum Handeln!

Philipp Ruch, Gründer des »Zentrums für Politische Schönheit«, beschreibt vier unverzichtbare Schritte, wie wir eine freie und menschliche Gesellschaft verteidigen:

DENKE!

Die neue Bösartigkeit und warum Politikerinnen und Politiker dringend aus der vierten Gewalt (den Medien) verschwinden müssen – Eine Anleitung für Entschlossene, Übersicht ins gedankliche Chaos zu bringen.

KÄMPFE!

Die Strategie des Fascismus: Wie man mit inszeniertem Bürgerkrieg an die Macht gelangt – Warum es dringend nötig ist, dass wir uns für die Demokratie zur Wehr setzen, wie weit wir in diesem Kampf gehen müssen, und was die richtigen Mittel sind.

ÄCHTE!

Der uralte Traum des Appeasements: Wir kommen dem Feind entgegen und er lässt von seiner rechtsradikalen Position ab – Warum das nicht funktioniert, Ächtung die Grenze zwischen demokratischem und demokratiefeindlichem Diskurs zieht, und was wir tun müssen, bevor es zu spät ist.

HUMANISIERE!

Die Politik der Kälte, unsere persönliche Verantwortung und warum zukünftige Historikerinnen wenig Gnade mit uns haben werden – Wie die Macht der Fiktion eine Gesellschaft menschlicher machen und freie Kunst dort helfen kann, wo der Journalismus scheitert.

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Rassismus, Fanatismus, Demokratiefeindlichkeit – es gibt reichlich und dringend Anlass, zu handeln. Doch viele meinen, nichts ausrichten zu können. Dabei kann jeder und jede etwas bewirken: Man kann gegen Rechtsradikalismus vorgehen. Man kann für den Klimaschutz kämpfen. Man kann die europäische Außenmauer einreißen. Man kann die Kinder in Syrien retten. WIR können das! Philipp Ruch zeigt, wie wir zum Glauben an die eigene Wirksamkeit zurückfinden, wie wir den Kampf ums Ganze auf den eigenen Alltag herunterbrechen können und welche konkreten Mittel in diesem Kampf tatsächlich die besten und wirkungsvollsten sind. Ein Buch gegen Unmenschlichkeit, Gleichgültigkeit, Ohnmacht und Entpolitisierung – ein leidenschaftlicher Aufruf zum Handeln!

Philipp Ruch, geboren 1981, ist der Gründer und künstlerische Leiter des Zentrums für Politische Schönheit, mit dem er sich in spektakulären und radikalen Aktionen für Menschenrechte einsetzt. Seine Arbeiten verwischen dabei bewusst die Grenzen von Fiktion und Realität. Philipp Ruch studierte politische Philosophie und Ideengeschichte mit abschließender Promotion, und lebt in Berlin. Bei Ludwig erschien von ihm »Wenn nicht wir, wer dann?«.

PHILIPP RUCH

SCHLUSS

MIT DER GEDULD

Jeder kann etwas bewirken

Eine Anleitung für kompromisslose

Demokraten

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Der Autor greift bei dem Wort »Fascismus« durchgängig auf die Schreibweise in der Weltbühne von 1932 zurück.

Die Schreibweise von »AFD« ist ebenfalls so beabsichtigt.

Originalausgabe 08/2019

Copyright © 2019 by Ludwig Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Kerstin Lücker, Berlin

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-24698-3V004

www.Ludwig-Verlag.de

»Jetzt verlöschen die Lichter in ganz Europa.

Wir werden sie in unserem Leben nie wieder brennen sehen.«

Edward Grey am 4. August 1914

»Wenn man einen Abgrund zuschütten will, muss man seine Tiefe kennen.«

Konrad Heiden

R. gewidmet, die mit drei Jahren so überzeugt

und grunderschüttert das Böse fürchtet,

wie wir alle es fürchten müssten.

DENKE!

Über die neue Bösartigkeit und warum Politikerinnen und Politiker dringend aus der vierten Gewalt (den Medien) verschwinden müssen – Eine Anleitung für Entschlossene, Übersicht ins gedankliche Chaos zu bringen.

Die Welt als Chaos und Blödsinn

In der Weltbühne von 1932 findet sich ein Text von Wilhelm (William) Schlamm, der mich beeindruckt hat. Schlamm versucht, den Zeitungsmachern, Politikern und Intellektuellen die Unart auszureden, den Nationalsozialismus dauernd des Irrtums, der Lüge und der Inkonsequenz zu überführen. Lügenmärchen zu zerpflücken, richte nichts aus. Das würde, so formuliert es Schlamm, »an dem verwirrten Weltbild irgendeines arbeitslosen Franz Huber auch nicht den allerkleinsten Schnörkel gradebiegen«. Der Franz Huber, »der ja kein Privatgelehrter ist«, sei nicht interessiert an der Frage, ob der Nationalsozialismus wahr ist. Er weiß sogar, dass er nicht wahr ist. Schlamm geht es um die Arbeiter, die gegen ihre Interessen Hitler wählen. Wenn die Nationalsozialisten dann plötzlich offen die Interessen von Arbeitgebern vertreten, wissen das die Wähler längst. Weil für Hitlers Wähler Humanität eine Erfindung der Weisen von Zion ist, »erschüttert der Vorwurf des Streikbruchs wahrscheinlich nicht erheblicher, als den Kannibalen der des Kannibalismus erschüttern könnte«.

Früher belächelte ich derartige Zeugnisse mit einer Mischung aus Mitleid und Überlegenheit. Ich hielt die zusammengeschusterte Verschwörungstheorie für wahrheitsfeindlich und überkommen. Ich hielt unsere Öffentlichkeit für reifer und fortschrittlicher. Für waschechte Nazis war der Gedanke an Kosmopolitismus, Menschenrechte und Internationalität Teil einer jüdischen Weltverschwörung. Der hochmobile Jetset war »verjudet«. Der Gedanke an eine »Menschheit« sei von Juden in die Welt gesetzt worden, um die Kraft des »Volkes« zu schwächen. Die Juden waren an allem schuld. Sie steckten hinter der Niederlage des Ersten Weltkriegs und hinter der Globalisierung des Kommunismus (»Internationale«). Sie knebelten Deutschland mit dem Versailler Frieden. Hitler verweigerten sie jahrelang den legitimen Machtanspruch. Was den Nazis im Weg stand, wurde zur »unvölkischen« Sache. Selbst die Vernunft galt als Ausdruck einer »üblen westlerischen und jüdischen Eigenschaft.« Hitler greift Polen an oder Großbritannien erklärt Deutschland den Krieg. Wer steckt dahinter? Juden. Hitler fällt in der Sowjetunion ein und die Truppen stoßen auf Widerstände? Die Juden sind schuld! Es gibt praktisch nichts, woran »die Juden« nicht schuld waren.

Wer glaubt diesen Blödsinn? Wie kann eine hochgebildete und hoch spezialisierte, die bürgerlich-republikanische Öffentlichkeit, im zentralen Strom ihrer Debatten derart katastrophal verdummen? Politische Debatten sind keine Randdiskurse. Sie schleifen oder schärfen den Willen einer Nation.

Warum sah ich uns als weiter fortgeschritten? Weil wir Vernunft, Humanität und Anteilnahme mit anderen Menschen nicht verteufeln? Hitler, der den Hass auf alles schürt, was er »jüdisch« nennt, der Tag für Tag von Ariern, Volk und Kruppstahlmenschen faselt, dieser Hitler ist nicht einmal ein Deutscher. Hitler ist bis Februar 1932 ein Staatenloser – heute würden wir schreiben: ein Flüchtling.

Ein grausamer Witz der Geschichte, den die Ereignisse unserer eigenen Gegenwart nicht witziger machen. Hitler agitiert für ein Land, ein Volk, einen Nationalismus, dessen Pass er nicht besitzt. Der Pass wird Hitler auch nicht irgendwann entzogen. Er ist schlicht nie »Volksdeutscher«, bis ins 42. Lebensjahr nicht (auch wenn er sich selbst zur deutschen Minderheit in der österreich-ungarischen Monarchie rechnet). Es gibt bis dahin zahllose Versuche, Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft zu verleihen. Aber er besaß sie nicht. Er ist bis 1932 staatenlos Staatenloser und kämpft für eine große Geliebte, die ihn partout nicht einbürgern will.

Die Zeugnisse, die wir von Intellektuellen zur jüdischen Weltverschwörung besitzen, verharren eigentümlich an der Oberfläche. Was die missionierenden Hakenkreuzler an allen Straßenecken der Weimarer Republik gesagt und gerufen haben – es ist kaum dokumentiert. Die Intellektuellen sind schlicht weitergegangen. Dieses Weitergehen ist bereits der ganze Sinn. Genau um das Angewidertsein von einer politischen Idee geht es.

Die Theorie wird eher im Vorbeigehen unbeabsichtigt fotografiert. Wenige sind tiefer eingestiegen. Das war möglicherweise schon die beabsichtigte Giftwirkung auf die Zeitgenossen: Die Nichtüberzeugten machen an der Türschwelle kehrt. Die Überzeugten werden eingesogen. Als ich zum ersten Mal davon erfuhr, dachte ich, dass man das nicht ernst nehmen kann. Ich dachte: Was für ein unlesbarer Blödsinn!

Die Arroganz ist verflogen. Denn die Gewalt dieser Theorie kehrt zurück. Mit Blödsinn wird wieder Politik getrieben. Nicht im kleinen, im ganz großen Stil. Der größte Bullshit-Artist heißt Donald Trump. Allein in seiner bisherigen Amtszeit wurden ihm bislang 11 000 Lügen nachgewiesen. Wäre er nicht so mächtig, würde ihn keiner ernst nehmen. Er zieht mit dem Versprechen in den Wahlkampf, eine Mauer – ernsthaft: eine Mauer! – um die Vereinigten Staaten von Amerika, the land of the free, zu bauen. Könnte ich ins erste Jahrzehnt dieses Jahrtausends zurückreisen, um den Menschen davon zu erzählen, sie würden mich für verrückt halten.

Die AFD wird von Wissenschaftlern und sogar Professoren als Partei gegründet (heute handelt es sich um eine rechtsextreme Organisation). Als Partei tritt sie mit dem Kassenschlager an, die »D-Mark« wieder einzuführen. Entweder stimmt etwas mit der wissenschaftlichen Volkswirtschaftslehre nicht. Oder mit unserer Presse. Die Wiedereinführung der D-Mark hätte im Jahr 2013 selbst einen arbeitslosen Franz Huber nicht bei seinen politischen Leidenschaften packen können. Trotzdem wurde diese Forderung in den Medien teils behandelt, als handle es sich um eine ernst zu nehmende staatstragende Doktrin von tiefer Wahrheit.

Schriftsteller hätten sich das nicht schlechter ausdenken können. Da stehen Wirtschaftsprofessoren und Volksökonomen und blamieren sich in der Öffentlichkeit nicht damit, die D-Mark wieder einführen zu wollen. In den 1990er-Jahren hätte diese Wirtschaftsfeindlichkeit eine gute Begründung abgegeben, Vertreter einer solchen Position von der Universität zu werfen. Die D-Mark! Wessen tiefere politische Sehnsüchte bestanden im Jahre 2013 in der D-Mark?

Nehmen wir das für einen Moment ernst, dann klingt es, als wäre eine im deutschen Wirtschaftswunder tief verwurzelte Rentnerclique an der Hartherzigkeit des Pro-Europäers Helmut Kohl verzweifelt, der ihre alten Symbole nicht ernst nimmt. Ich erinnere mich nicht an einen einzigen Bürger, dessen aufrichtiges leidenschaftliches Bestreben 2013 darin bestand, die D-Mark zurückzubekommen. Aber wie viel Aufmerksamkeit erhielt die Forderung? Wie viel Zeit verloren wir mit diesem Blödsinn?

Selbst wenn wir unterstellen, dass die D-Mark in der Seele von Millionen von Menschen eine Sehnsucht geweckt hätte, wäre es Aufgabe einer kritischen Öffentlichkeit, nicht das zu liefern, was gefällt. Die Unterstellung, dass aufgeklärte Bürger sich an so etwas laben wollen, ist bereits eine Form der Verachtung. Wenn Menschen derartige Artikel anklicken (und so die sogenannten »Klickwunder« erzeugen), dann aus Hysterielust – um ein Pendant für die Angstlust zu finden. Das ist keine Zustimmung.

D-Mark-Blödsinn als ernst zu nehmende Kritik aufzuwerten und neben legitime Kritik am (gescheiterten) Ausbau der Internet-, Mobilfunk- und Streckennetze zu stellen, ist keine Unabsichtlichkeit. Es wäre wichtig, zwischen relevant und überflüssig zu trennen. Und auf das Überflüssige mit Verachtung zu reagieren. Bernhard Pörksen bezeichnet die Klickwunder als »psychologisches Äquivalent zur Fettleibigkeit«. Eine politisch informierte Öffentlichkeit kommt dadurch nicht zustande.

Trumps Mauer, die D-Mark und der Brexit. Vor fünf Jahren wären wir zusammengezuckt beim Ausblick auf die Gegenwart. Der erste gesellschaftsfähig gewordene Rechtsextreme im deutschsprachigen Raum, Jörg Haider, lancierte seine Karriere mit dem Versprechen, Kärnten tschetschenenfrei zu machen. Tschetschenenfrei! Wie viele Tschetschenen leben in Kärnten? Gab es da nicht mal dieses »judenfrei«? Das erste Wort, das als »Unwort des Jahres« in die Annalen einging, hieß: »ausländerfrei«. Die Neonazis, die Hoyerswerda tagelang in einen Hexenkessel des Ausländerhasses verwandelten, gaben als Begründung für ihre Taten an, dort »die erste ausländerfreie Stadt« schaffen zu wollen. Mit Erfolg: Die Landesregierung evakuierte alle, die auch nur für Ausländer hätten gehalten werden können, aus der Stadt.

Der Blödsinn, der im Ton des Staatstragenden referiert wird, ist auch nicht »rechtspopulistisch«. Er ist überflüssig. Nicht, dass das Überflüssige nicht ungemein interessant oder angsteinflößend sein kann. Aber Hypes und Klicks machen nichts relevant. Es bleibt banal, nationalistisch (D-Mark) oder rassistisch (tschetschenenfrei). Es ist genau das, worüber wir nicht auch noch eine politische Diskussion brauchen. Aber alle diskutieren fleißig euphorisiert darüber. Wir brauchen engagierte Programmmacher, die entgegnen: »Sie wollen die D-Mark zurück? Melden Sie sich, wenn Sie unser Publikum nicht mehr verulken wollen!«

Als die Welt den Exekutionen der Menschen in Sarajevo zusah, fand ein Reporter seinen Weg in den Zoo. Die Tiere saßen zwischen den Fronten und verhungerten. Auf den Fernsehbildern sah man heruntergehungerte Löwen und Bären, die aus Fell und Rippen bestanden. Der Ton des Aufschreis, den die Tiere seinerzeit fanden, bewog den Schriftsteller Meir Shalev zu einem Artikel. Unter der Überschrift »Wenn die Bosnier Wale wären« schreibt er: »Wer sich daran erinnert, wie vor einigen Jahren ein Wal, der im Eis Alaskas festsaß, mithilfe eines Eisbrechers und für Millionen von Dollars befreit wurde, kann sich kaum des Verdachts erwehren, dass Wale ganz einfach gelernt haben, wie man einen Dummen findet.«

Auch die Bosnier seien Säugetiere. Sie seien auch vom Aussterben bedroht. »Als Präsident in Bosnien würde ich sämtliche Fernsehjournalisten aus Sarajevo hinauswerfen und die Mitarbeiter von ›Survival‹ einladen, damit sie einen Kulturfilm über mein Volk drehen.« Ein Film über Paarungs- und Territorialverhalten, Nestbau, Kultur.

Wir verlieren Zeit. Viel Zeit. Es klafft wieder ein Abgrund zwischen Zukunft und Gegenwart. Es handelt sich bei der Produktion des Blödsinns um einen Akt politischer Destabilisierung. Manche erachten den Meinungsstreit über nebensächliche Themen als sinnvoll. Für mich ist er eine Vernichtung von Stabilität bis wir allmählich fallen.

Der Takt, den die Nachrichten vorgeben, erklingt von rechts. Kevin Kühnerts Vorschläge sind nur der spiegelbildliche Versuch. Ein One-Hit-Wonder. Es wäre ja ganz erfrischend, das andere Lager Woche für Woche denselben Blödsinn in die Debatte einschießen zu sehen: »Enteignet die Reichen!« – »Zwei Wohnungen pro Mensch als Eigentum!« Geschähe dies öfter, würden Leitartikler laut über die Gefährlichkeit des neuen »Linksrucks« nachdenken. Wenn Tumulte vor den Villen der Spitzenverdiener ausbrechen oder die ersten gated communities von der Polizei geräumt werden müssen, würden die Ersten über die »Sorgen« der Bevölkerung vor zu viel gesellschaftlicher Ungerechtigkeit schreiben. Es scheint das eiserne Gesetz unserer Tage zu sein: Wer jagt, hat recht. Die Opfer müssen schuldig sein.

Ob der Blödsinn von links oder rechts kommt, ändert nichts daran, dass wir Zeit verlieren. Dass wir den Kampf um die Zukunft verlieren. Wie lange können wir uns mit Blödsinn chloroformieren? Vor Jahren dachte ich, es könne nicht lange anhalten. Die Halbwertszeit der großen Kassenschlager ist peinlich kurz. Der Schlachtruf nach der D-Mark liegt völlig vergessen in seinem wohlverdienten Grab. Die Umstände waren gegen den Talkshow-Ohrwurm. Wäre die AFD erst im Heute auf die Idee mit der D-Mark gekommen, lebten wir morgen in einem Land ohne Euro. Auf jeden Hit folgt ein neuer. Im Zeitalter des politischen Blödsinns gilt: Je absurder oder abseitiger, desto besser! Gemessen daran ist die AFD eigentlich ziemlich erfolglos. Sie greift kaum je zum absurdesten Quatsch und reitet noch viel zu oft die Wellen des medial Angesagten.

Wie jede Form von Blödsinn hatte die Wiederauferstehung der D-Mark eine radikale Schwester, die bis heute aus eher unerklärlichen Gründen als anregende Meinung gilt: »Tod der EU!«. Im Inneren des europäischen Parlaments sitzt nun tatsächlich eine ganze Fraktion, die es als ihre Aufgabe betrachtet, das System von innen zu stürzen. Diese Politiker werden aus den Mitteln der Europäischen Union finanziert. Darin offenbart sich der Konstruktionsfehler der EU. Nehmen wir einmal an, die AFD Sachsen käme auf den Gedanken, die Abspaltung Sachsens vom Bund zu fordern.

Wenn die kleinen Höckes lautstark rufen: »Tod dem Bund!«, dann ist das gesetzlich schlicht verboten. Auf diese Idee finden gleich eine ganze Reihe von Paragraphen des Strafgesetzbuches Anwendung. Die Agitation, die in der Bundesrepublik verboten ist – die Abspaltung eines Bundeslandes von der Bundesrepublik –, ist innerhalb der Europäischen Union vollkommen legal. Jeder Idiot (es sind tatsächlich meist Männer, Frauenfeinde und Idioten) kann die Auflösung des europäischen Bundes fordern. Er kann dafür noch EU-Abgeordnetengehälter kassieren, einen ganzen Stab von Mitarbeitern bezahlen und sämtliche Kräfte darauf konzentrieren, die EU abzuschaffen.

Man weiß gar nicht, wem die größeren Idioten angehören: der EU oder ihren Feinden. Goebbels wusste diese Dummheit einer schwachen Demokratie auszunutzen. Der Untergang der EU ist eben nicht nur die Forderung brauner Scheinbürger. Viele zu Unrecht als »Konservative« titulierte Denker tummeln sich unter ihnen. Die britischen Thinktanks sind bereits dazu übergegangen, die Erzählung der EU umzuschreiben. Sie predigen gerade ihre neueste Erkenntnis – die EU sei nie ein Friedensprojekt gewesen. So wird der Friede, den wir geerbt haben, in der europäischen Erde begraben.

Die neue jüdische Weltverschwörung

Der Rassismus frisst sich durch Deutschland. Mittlerweile ist aus dem ganzen Blödsinn eine neue Schlüsselerzählung mutiert. Sie hat das Potenzial, dieselbe Blutspur in der Geschichte zu hinterlassen wie die »Protokolle von Zion«. Sie ist genauso dreist, genauso wahnsinnig, genauso absurd und gefährlich. Die Erzählung hat sogar denselben Effekt: Die Gegner machen auf dem Türabsatz kehrt. Die Anhänger verbreiten sie weiter, nur diesmal nicht an Straßenecken, sondern auf YouTube, Twitter, Facebook und Wikipedia.

Sie ist derart präsent, dass sie selbst führende Politiker anfällt und in eine Auseinandersetzung zwingt. Robert Habeck berichtet in seinem neuen Buch über diesen verstörenden Wahn. Es geht um das Wahnbild eines Deutschlands als »Regimedeutschland«, das, wie Habeck treffend bemerkt, »dem Nordkoreas, der Sowjetunion oder Nazideutschlands gleicht. In dem man nicht sagen darf, was man denkt.« Es geht um die Behauptung, dass die gegenwärtige Bundesrepublik in Wirklichkeit eine Diktatur sei. Eine Meinungsdiktatur.

Die Begriffe, die für diese Erzählung benutzt werden, sind interessanterweise mit den Termini identisch, die die Bundesrepublik siebzig Jahre lang für den Nationalsozialismus benutzt hat. Die Bundesregierung als »Unterdrückerregime«. Ein System ohne echte Meinungsfreiheit. Die demokratischen Parteien sind »Kartellparteien« und die Grünen die wahren »Nazis«. Ich hielt diese Versatzstücke zu lange für ein Stück kommunikativer Anarchie. Ich dachte, die Begriffe verkörperten ein einziges Grundrauschen des Blödsinns, der weder zusammenpasst noch zusammengehört. Weder ideengeschichtlich noch politisch. Die Erzählung könnte aber stringenter nicht sein.

Was ist die Schlüsselerzählung? In den Worten der dahinterliegenden Weltanschauung vorgetragen: In Deutschland herrsche ein »Unrechtsregime«, das die Meinungsfreiheit unterdrückt, um den »Bevölkerungsaustausch« zu organisieren, und zwar mit der »Migrationswaffe«. In Deutschland vollziehe sich schleichend ein »Völkermord« an der einheimischen Bevölkerung. Es geht ums Verschwinden. Es geht um das eigene Verschwinden. Wer sich nicht wehrt, wird ausgelöscht.

Klingt kurios. In Jahrzehnten wird man wieder nur überlegen lächeln über so viel Wahn. Aber diese Reaktion führte einst in den Abgrund. Die Beschreibung ist zwar nicht nur ein Spiegelbild der Beschreibung der Nazis aus Sicht der erfolgreichen Bundesrepublik. Viele der Begriffe (wie »Lügenpresse«) stammen aus der Beschreibung der Weimarer Demokratie durch die Nazis. NS-Rhetorik vermischt sich mit dem Unmut über die Siegergeschichtsschreibung. Aber die Verhältnisse kehren sich um. Demokratie wird zu Fascismus, das Totalitäre zur Moderne und die Wahrheit erneut zur »unvölkischen Sache«.

Das ist keine Erzählung der medialen Unterwelt. Keine Handvoll Irre haben sich die »Theorie« versehentlich zusammengegoogelt. Prominente wie der Sänger Xavier Naidoo haben sich schon vor Jahren zu ihr bekannt. Naidoo stellt sich im Herbst 2014 vor den Bundestag, um die Gesinnungsdiktatur dieses Staates zu beklagen. Der Sänger wurde gefragt, warum er das tut. Er rechtfertigte sich damit, dass er auch auf die rechtsextreme NPD zugehen wolle. Mit Rechten reden – avant la lettre.

Warum stellt sich ein prominenter Sänger ins Rampenlicht einer staatsfeindlichen Veranstaltung mit kaum mehr als fünfzig Teilnehmern? Floss Geld für diesen Auftritt? Das ist nicht ganz abwegig. Wie viele Menschen sind gewöhnlich auf seinen Konzerten? Es gibt Diktaturen wie die russische, die heute schon Vorteile aus dem Grad an Staatsfeindlichkeit, Demokratieverachtung und politischer Destabilisierung schlagen. Der Kernerzählung ist es gelungen, in die Mitte der Gesellschaft einzubrechen. Sie ist seit geraumer Zeit keine »abseitige Meinung« mehr. Prominente erzählen sie. Pegida brüllt sie völlig enthemmt in die Fernsehkameras. Die Führung der AFD käut sie wieder. Städte wie Dresden, Kandel und Chemnitz wurden von ihr symbolisch und politisch in Schutt und Asche gelegt.

Die radikalen Partikel der Erzählung

Zwei Wortsplitter der Schlüsselerzählung stecken bis heute im Fleisch unserer Debatten und lassen sie ausbluten. Der erste Begriff ist der des »Volksverräters«. Unsere Eliten sollten sich keine Illusionen machen, wie sehr sie von der rechtsextremen Gehirnwäsche als wandelnde Zielscheibe völkischer Rache gemeint sind. Die Regierung ist der Haufen »Volksverräter«. Man will sie jagen, bis die Bundeskanzlerin an einem Galgen hängt. Seinerzeit schrie Hitler in die Weimarer Demokratie: »Wir stürzen euch auf alle Fälle.« Diese Losung lautet heute zeitgemäß: »Merkel muss weg!« Die Erzählung kennt nur zwei Feindbilder: Eliten und Flüchtlinge. Erstere sorgen durch letztere für den Austausch des Volkes. Das Volk tritt in Konkurrenz mit den Schutzbedürftigen.

Der zweite Begriff betrifft die vierte Gewalt, ist genauso machtkritisch und lautet »Lügenpresse«. Dahinter steht die Vorstellung, die »Systempresse« stecke mit der Regierung (in den Augen der Rechten vor allem in Person der Bundeskanzlerin, die als »Merkelhure« beschimpft wird) unter einer Decke. Die Medien, so lautet der Vorwurf, erfüllten nicht ihre Aufgabe als vierte, machtkontrollierende Gewalt, sondern verbreiteten nichts als machtgefällige Propaganda. Statt frei zu sein, dienten sie sich den Mächtigen an, um den geplanten Bevölkerungsmord an den Eingeborenen zu vertuschen. Nachrichten über Angriffe auf blonde Frauen würden von der »Systempresse« zurückgehalten. Allein daran sehe man, wie die »Lügenpresse« von den Mächtigen manipuliert und zensiert werde.

Es ist ehrenwert, dass Journalisten sich von dem Angriff getroffen fühlen. Aber der Begriff »Lügenpresse« entfaltet im demokratischen Spektrum ein weit mächtigeres Eigenleben als in den rechten Echobunkern. Es ist schon obsessiv, wie mit der ständigen Wiederholung eines Begriffs versucht wird, seine Macht zu bannen. Ein Kampfbegriff des Fascismus, der in der medialen Dauerschleife läuft. Es gibt kaum einen Moderator, der nicht mehrmals im Jahr den Begriff unreflektiert wiederholt, verstärkt und so in der Debatte hält. Die offene Gesellschaft als Diesseits brauner Gedanken. Es ist wichtig, die Versatzstücke der rechtsextremen Gehirnwäsche gar nicht erst zu verbreiten. Der Begriff »Lügenpresse« kann noch so abgelehnt werden. Die rechte Waffengattung tritt ihren Siegeszug dennoch an.

Denn Wörter sind das Besteck des Denkens. Die demokratiefeindlichen Schlüsselbegriffe müssen erst in einen demokratischen Diskurs übersetzt werden. Der Politikwissenschaftler Johannes Hillje rät deshalb, der Öffentlichkeit nicht nur fact-checking, sondern auch frame-checking anzubieten. Wer über »Lügenpresse« nachdenken wolle, solle zu Wörtern wie »Medienbashing« greifen. Statt den Vorwurf der »Systempresse« an das Publikum weiterzureichen, müssten die Begriffe erst pointiert und in ihrer Demokratiefeindlichkeit akzentuiert werden. »Lügenpresse« könne mit »Medienbeleidigung« viel besser übersetzt werden. Die Presse ist weder »Volksfeind« noch ein Feind der Demokratie. Die Presse ist die vierte Gewalt, ohne die eine offene Gesellschaft zusammenbricht.

Der Vorwurf der »Lügenpresse« ist nicht das Beiwerk einer Verschwörungstheorie, sondern ihr Zentrum. Die Behauptung, die Macher zensierten Nachrichten und berichteten systemkonform, dient als Beweis für die Behauptung, bei der Bundesregierung handle es sich um ein »Unterdrückerregime«. Die Presse, so die rechte Propaganda, schweige zum Genozid an den Deutschen. Sie bilde ein »Schweigekartell«. Die Journalisten begingen damit Hochverrat am deutschen Volk. Sie müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Genau das passiert dann auch regelmäßig bei Aufmärschen in Chemnitz oder Dresden, weil die vierte Gewalt praktischerweise zur Berichterstattung vor Ort ist.

Als Gegenwehr werden oft seitenlange Interviews mit den demokratiescheuen Hitler-Bewunderern abgedruckt, um zu beweisen, dass man gerade keine »Systempresse« ist. Die rechte Szene ist ganz verunsichert, weil sie nicht mehr ausgeleuchtet, sondern interviewt wird. Um nicht »abgehoben« und »korrupt« zu erscheinen und um möglichst alle Menschen (von der NPD) zu erreichen, werden die »Vordenker« und Vorsprecher der harten Rechten (die sich selbst »Andersdenkende« nennen) in die Talkshows eingeladen.

Georg Diez beobachtet, der Journalismus auf dem Gesellschaftssofa sei »als Ganzes nach rechts gerutscht, damit es nicht so auffällt«. Manche Medienhäuser wirken schutzlos im Umgang mit der neuen Pressefeindlichkeit. Die Strategie, publizistische Meinungsfreiheit durch das Veröffentlichen von Rassismus zu beweisen, ist keine sonderlich gute Idee. So akklimatisiert sich eine Gesellschaft erst an den Fascismus.

Die Erosion von Charakter und Haltung, der Verlust eines klaren Bekenntnisses zur Menschlichkeit treiben Carl von Ossietzky 1932 um. Die redaktionelle Bereitschaft, auf fascistische Ideen überhaupt einzugehen, hält er schon für die Kernschmelze der vierten Gewalt. Ossietzky notiert: »Das ist das Erschütternde an dem gegenwärtigen Zustand: nicht der Fascismus siegt, die Andern passen sich ihm an.«

Die geistige Selbstvergiftung der Republik ist heute in vollem Gang. Diejenigen, die sich mit Stil und Habitus über das hysterische Gekreische ereifern, sind die größten Hysteriker. Was ist der kritische Journalismus wert, wenn ein vierseitiges Interview mit der destabilisierenden Figur des Jahres 2018, dem Chef des Inlandsgeheimdienstes, unkritisch, streckenweise nur noch gefällig gerät? Der Chef des Inlandgeheimdienstes hatte die bürgerkriegstreibenden Grenzdeutschen aus Chemnitz kleingeredet. Für Menschenjagden gäbe es keine Beweise. Hunderte Journalisten wurden in Chemnitz angegriffen. Die Pogromstimmung – dieser gefährlich-fiebrige Zustand – war gut zu hören auf den verwackelten Aufnahmen. Die Einsatzleitung der Polizei berichtete von Männern, die mit Stahlstangen in ein jüdisches Restaurant einfallen. Warum führt das Interview mit dem Leugner nicht ein Journalist, der in Chemnitz bespuckt wurde? Warum führt es nicht die investigative Journalistin, die zum Terror des NSU recherchierte und über die Verbindungen zwischen Verfassungsschutz und Rechtsextremismus bestens informiert ist? Warum führt das Interview ein Ahnungsloser, der sich als harmloser neurechter Dandy inszeniert, stets auf Etikette bemüht, aber dann doch nur tut, was rechte Fundamentalisten halt so tun – für ein bisschen Aufregung an den Staatsfundamenten rütteln, »Nazis rein« rufen und stets recht haben. Diejenigen, die ganztags darüber dozieren, was sich geziemt, brechen selbst mit allen Regeln des Anstands.

Die offene Gesellschaft steht auf dem Spiel. Der Verfassungsschutz, dem ironischerweise im Land die Aufgabe zukommt, die Verfassung zu schützen, ist durch seine Verbindungen mit dem Terror des NSU über die berüchtigten V-Männer und die Mitgründung des »Hannibal«-Netzwerks (durch einen Mitarbeiter eines Landesverfassungsschutzes) an der Gefährdung der Verfassung mindestens beteiligt. Der Inlandgeheimdienst operiert verdeckt gegen die offene Gesellschaft, wird erwischt und schreddert die Akten. Ansonsten geschieht nichts. Da es keine wirksame parlamentarische Kontrolle des Verfassungsschutzes gibt, wären der Präsident oder das Kanzleramt gefragt. Letzteres hat den Hinterbliebenen als eine Art Gag die schonungslose Aufklärung des NSU versprochen.

Diese Verbindung führt zu der großen Einsicht der Intellektuellen Mely Kiyak, dass der Fascismus noch immer von den herrschenden Eliten gerechtfertigt wird. Nicht das Volk, die Wahlen oder die Finanziers verschaffen dem Fascismus Legitimität, sondern die Regierenden: »Es ist nun einmal so: der Fascismus wurde in allen Ländern dieser Erde, auch und vor allem in Deutschland, nicht durch den pöbelnden Mob eingeläutet, sondern durch die Eliten, die den Rassismus der Bevölkerung legitimieren und ihn im öffentlichen Denken, Sprechen und Handeln institutionell und systematisch verankern.«

Das Andocken staatlicher Akteure an den molekularen Bürgerkrieg katapultiert den Rechtsextremismus in andere Sphären. Wohin das führt, zeigt eine Formulierung von Ruth Andreas-Friedrich an Weihnachten 1941: »Es dürfte keine Weihnachtsbäume geben, solange Menschen auf der Welt sind, die den ganzen Tag weinen müssen. In acht Tagen beginnt das vierte Kriegsjahr. Das zehnte Jahr unseres staatlichen Antisemitismus.« Die dünnen Formen davon erleben wir bereits. Der Rassismus wird staatlich. Wir befinden uns im Kampf gegen demokratiefeindliche Bestrebungen. Und diese sitzen teilweise schon in den Institutionen. Das fascistische Gift träufelt in die Mitte der Republik. Die Republik ist wieder in Gefahr.

Der Mut zur Lüge

Begriffe verändern nicht nur die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. Sie schaffen auch Notwendigkeiten. Sie erzeugen manchmal Handlungsnot. Worte ziehen sich ihre Taten magnetisch an. Mit Verrätern der »Lügenpresse« muss abgerechnet werden. Gegen das »Unrechtsregime« ist ebenfalls längst etwas in Gang gekommen. In leiser Form zeigen das der Rentner aus Heilbronn, der auf offener Straße ohne Hemmungen auf Minderjährige einsticht, oder der 50-jährige Fahrer, der sein Auto in Bottrop in die Fußgängermenge steuert, »um Ausländer zu töten«. In der salienten Form sind das die Tausenden von Hooligans in Chemnitz, die »Vereinigung Freital« oder das »Hannibal«-Netzwerk, das zum Schutz des deutschen Volkes am »Tag X« geheime Waffenlager anlegt und beim zuständigen Finanzamt als gemeinnützig gilt. Oder die Terrorgruppe »Revolution Chemnitz«, die sich Waffen beschafft, um am Jahrestag der Deutschen Einheit, gemäß Chatprotokollen, einen »Wendepunkt« in der deutschen Geschichte herbeizuführen. Es ist eine Zeit leicht entflammbarer Konflikte.

Wie gefährlich ist der Rechtsextremismus? Der Forscher Daniel Köhler sammelt seit Jahren Daten aus offiziellen Statistiken, Zeitungsberichten und Gerichtsakten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass es seit 1971 in der Bundesrepublik 229 Morde, 12 Entführungen, 174 bewaffnete Überfälle, 123 Sprengstoffanschläge, 2 173 Brandanschläge mit rechtsextremen Motiven gab. Köhler mag aufgrund der Datenlage nur noch von Rechtsterrorismus sprechen. Das Bundesinnenministerium ließ für den Zeitraum von 1990 bis 2011 Tausende nicht aufgeklärter Tötungsfälle überprüfen und sagt, dass bei mindestens 849 Morden der Anfangsverdacht des Rechtsextremismus im Raum steht. Die tatsächlichen Zahlen dürften also weit höher liegen.

Bis zum 2. Juni 2019 lebten wir im Stadium der stolpernden Taten. Seit Thilo Sarrazins Buchveröffentlichung im Sommer 2010 sah sich der Rechtsextremismus in Deutschland mächtig im Aufwind und – wichtiger noch – als gesellschaftsfähig. Es fehlte nur die eine Tat, um den Staat offen anzugreifen. Eine Tat wie die Ermordung des Politikers Walter Lübcke.

Dieser Anschlag auf den Staat trägt eine doppelte Botschaft. Die erste lautet: Der Staat ist verwundbar. Er ist schwach und illegitim, denn er kann nicht einmal seine eigenen Repräsentanten schützen. Aber es gibt noch eine zweite Botschaft. Ich hadere oft mit Menschen, deren Ängste sie tatsächlich dazu verleiten, sich bei Politik nicht einzumischen. Ich habe mehrfach erlebt, wie selbst Prominente oder Menschen, deren Ruf durch politisches Engagement nicht zu erschüttern wäre, in dem Moment verschwunden sind, in dem wir Unterstützung gebraucht hätten. Die Ängste sind genau in der Strategie der Rechten begründet, Menschen zu eliminieren. Es geht darum, normale Menschen durch die Tötungsmöglichkeit einzuschüchtern. Dies war eine der effektivsten Strategien des Nationalsozialismus, wie wir noch sehen werden. Die Zivilgesellschaft soll weich werden. An Boden verlieren. Wir sollen im Morast unserer Ängste vor Politik untergehen. Dadurch wird rechte Lufthoheit erst garantiert. Je unpolitischer eine Öffentlichkeit ist, desto besser.

Die ersten Wochen nach der Hinrichtung des Regierungspräsidenten von Kassel, der ersten Hinrichtung eines Politikers durch Rechtsextreme seit 1945, schaltete das politische Berlin auf Stand-by statt auf Entsetzen, und zwar trotz deutlicher Indizien und dröhnender Feierlaune der rechtsextremen Szene. Als die Verwicklungen in den modernen Rechtsextremismus zutage traten, äußerten sich Regierung und Unionspolitiker nur zögerlich. Die Kanzlerin sprach von einer »bedrückenden Nachricht«. Zur Erinnerung: Steinmeier hatte einen vermeintlichen Angriff auf einen Politiker der AFD im Januar desselben Jahres noch unmittelbar als »Angriff auf unseren Rechtsstaat« bezeichnet. Der Fall wurde in sämtlichen Medien empört durchgekaut.

Es waren ehemalige CDU-Politikerinnen wie Erika Steinbach und der millionenfach verlegte Verschwörungstheoretiker Akif Pirinçci, die die Mordphantasien an Walter Lübcke förmlich provozierten. Im ersten Brennpunkt, den die ARD zwei Wochen nach dem Attentat sendete, verstieg sich ein »Rechtsexperte« zu der Formulierung, dass der mutmaßliche Täter »ein Zeichen gegen eine aus seiner Sicht verfehlte Flüchtlingspolitik setzen« wollte.

Dadurch, dass selbst seriöse Medien rechtsextremes Gedankengut als legitimierbare Meinung darstellen oder die Buzzwords des Wahns vom »Volkstod« wiedergeben (und sei es noch so kritisch), werden potenzielle Attentäter erst in dem Eindruck bestärkt, ihre Gewaltphantasien könnten plausibel oder gesellschaftsfähig sein. Dass es an der einen Tat fehle, um die Macht über die Köpfe zu erlangen. Der »Wendepunkt«. Die Erzählung fordert einen Messias, einen Wohltäter, der das Volk befreit (es sind nicht nur niedere Triebe, die ein Narrativ weckt; es appelliert auch an die höhere Ordnung).

Es gibt drei Eigenschaften, die diese Sturmwörter erfolgreich machen. Die erste: Komplexitätsreduktion. Die Wirklichkeit ist verstörend. Eine Erzählung wie »Die Juden sind schuld!« hilft durch den Tag. Das Narrativ vom »Bevölkerungsaustausch«, so kurios es klingt, spendet der modernen Gesellschaft die wertvollste Ressource: Orientierung. Was soll ich glauben? Die Sehnsucht nach einer Erklärung ist so groß wie die Komplexität der modernen Welt. Der Glaube an eine Theorie kann die Suche nach Wahrheit beenden. Franz Huber fehlt die Zeit zum Studium der Philosophie.

Die zweite Eigenschaft ist die Reaktionsbereitschaft der Begriffe. »Volksverräter«, »deutsche Opfer«, »Regimedeutschland« sind hochgradig reaktionsbereit. Oder kurz: sie knallen! Sie breiten sich nicht nur schnell aus. Sie sind adaptier-, eskalier- und detonierbar. Eine mögliche Konsequenz: Anschläge. Von Wissen gänzlich ungetrübt, handelt es sich um Worte, die in Form von Schlüsselreizen gewünschte Handlungen auslösen können. Intellektuell unbeschwerte Zeitgenossen brüllen aus der Menge nicht mehr nur den Hass, sondern sie gehen zum Schlagstock über. Wie Erich Kästner es 1932 ausdrückt: »Die Seele kocht, und die Vernunft erfriert.«

Als Künstler lässt sich dabei die Kraft der Fiktion, die Macht der Phantasie, nicht übersehen. Das ist, was die Schlüsselerzählung im Kern ist, ein starkes Stück Fiktion. Sie ist nicht nur wahrhaft unglaublich. Sie ist ein vollkommen an den Haaren herbeigezogenes Machwerk. Ein Phantasma, das von Hunderten kleineren Fiktionen bestätigt wird. Die Geschichte ist wortwörtlich toll – ein Tollhaus aus Phantasie. Den Grundmauern des »Bevölkerungsaustauschs« sieht man an, dass nicht einmal die Erbauer an Statik geglaubt haben.

Über die Demokratiefeindlichkeit dieser Vorstellung dürfen wir uns keine Illusionen machen. Weil wir allzu große Toleranz bei der Unterscheidung zwischen »noch« konservativ und »schon« rechtsextrem gewohnt sind, fällt vielen nicht auf, was eine verfassungsfeindliche politische Idee diesseits der Einführung des Nationalsozialismus ist. Der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent hält die Vorstellung einer homogenen Bevölkerung als »vom Grundgesetz nicht gedeckt«. Unsere Verfassung kennt kein Abstammungsrecht: »Das bedeutet, die Annahme, es gäbe einen Bevölkerungsaustausch, es gäbe eine sogenannte Überfremdung durch Menschen nicht deutscher Abstammung, ist im Grunde in sich schon verfassungswidrig […]. Insofern ist auch die AFD-Propaganda über Bevölkerungsaustausch verfassungswidrig und rechtsradikal.«

Wenn ich mir die Kommentare durchlese, mit denen die Problemdeutschen ihrem privaten »Volkszorn« auf Facebook frönen, wenn ich der Kaskade der allmählichen Verfertigung der Gefühle beim Posten zusehe, dem Wahn und der Paranoia, reagiere ich wie alle Beobachter. Amüsiert, betroffen und angewidert. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus: Wer glaubt das?Wer glaubt so etwas? Da ist einerseits der Respekt vor der Macht der Fiktion, aber da ist auch ein tiefer Ekel über das groteske Ausmaß an Dummheit und Wahrheitsverachtung.

Das ist die dritte, vielleicht wichtigste Eigenschaft, die den Erfolg einer neuen Legende mit den sehr alten Qualitäten der »jüdischen Weltverschwörung« ausmacht. Keiner setzt sich mit ihr ernsthaft auseinander. Das war beim Original genauso. Man kann die Theorie vom »Bevölkerungsaustausch« verlachen. Aber eine intellektuelle Auseinandersetzung scheint unmöglich. Und das ist das eigentliche Ziel. Je jämmerlicher, je erbärmlicher die These, desto besser. Und wenn es sich um den dritten Aufguss einer Idee handelt.

Wir sehen darin ein Zeichen der Unbildung. Aber unsere eigene Geringschätzung wird uns auffressen. Hitler gab zu, dass sein Vater den scharfen Antisemitismus seines Sohnes nur als »Zeichen von Unbildung« verachtete. Er wusste, dass der Antisemitismus rückwärtsgewandt und die ihm zugrunde liegenden Behauptungen glatt gelogen waren. Aber die Frage nach dem Wahrheitsgehalt einer Erzählung macht uns blind für das, was sie auslöst. Mit der obskursten Lüge wird das wertvolle Gut Zugehörigkeit gestiftet. Die Erzählung stiftet eine Gemeinschaft. Das Narrativ vom Volkstod stellt Zusammenhalt her. Es vergemeinschaftet die Gläubigen in der denkbar extremsten Form der Identität, die überhaupt vorstellbar ist. Und zwar diejenige, an die man schlicht nicht glauben kann: Die Lüge selbst.

Wir sollten uns von den verzogenen Fratzen und der Primitivität aus Chemnitz nicht blenden lassen. Alle kennen den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie. Darum geht es. Es geht um die Einebnung des Denkens, die Umkehrung, die Unwahrheit. Es geht um den größtmöglichen Bullshit: die Lüge an sich. Genau genommen bedeutet das Motto einer deutschen Partei ja genau das Gegenteil: Mut zur Lüge und nicht Mut zur Wahrheit. Aber weshalb?

Begriffe wie »Volksverräter« und »Systempresse« fungieren als Zugangscodes. Es geht nicht um den Wahrheitsgehalt der Wörter. Es geht um das Gegenteil: die größtmögliche Unbeirrbarkeit, die Wahrheitsresistenz. Es geht darum, den politischen Raum einzunehmen, unter dem Banner der Lüge, die als Ausweis eigenen Schlagstockdenkens dient. Ohne die absolute Überzeugung lässt sich eine Verfassung nicht stürzen, die Demokratie nicht zerstören. Nichts schweißt demokratiefeindliche Gleichgesinnte so effektiv zusammen wie eine Lüge. Das ist die geschätzteste Eigenschaft, dass sie alle Wahrheitsinteressierten fernhält. In weiter Ferne. In zu weiter Entfernung, um noch etwas vom Sturm zu erkennen oder mitzubekommen.

Wir müssen lernen, die Ideen nicht im Maßstab von wahr und falsch zu betrachten. Wir müssen lernen, auf etwas anderes zu achten: die politische Kraft, die die Lüge entfaltet. Die Schlagworte »Unrechtsregime«, »Merkelhure«, »Rapefugees« sind verbale Hakenkreuzfahnen. Es sind die Erkennungsmarken der Gläubigen untereinander, die sich gegenseitig ihrer Glaubensgemeinschaft versichern.

Konrad Heiden, der den Aufstieg des Nationalsozialismus aus nächster Nähe erlebt, berichtet, wie die Menschen sich von Hitler abwenden, weil sie »anderswo genug Reden gehört« haben. Sie brauchen den Nationalsozialismus nicht, um Reden zu hören. Wofür sie ihn brauchen, nennt Heiden die »innere Transpiration«. Das Gefühl, Teil einer »zusammengeschweißten Willensgemeinschaft, Glaubensgemeinschaft und nötigenfalls Tatgemeinschaft« zu sein. In den Sälen, die Hitler füllt, seien keine Zuhörer gewesen, »sondern nur noch Mitwirkende«. Eine Lüge nicht nur zu schlucken, sondern auf ihr den Passierschein für eine Tatgemeinschaft zu drucken, erfordert viel. Die Zuhörer schauen sich an, bemerken, dass sie trotz der schreiend komischsten Überzeugungen von einem einzigen Willen beseelt sind.

Der Ausfluss der Einheit aus Willen, Glauben und Tat lässt sich auf den Straßen von Chemnitz begutachten. Björn Höcke forderte immer wieder eine »Tat-Elite«, die die Straße besetzt (dazu muss man wissen, dass sich die SS selbst als »Tat-Elite« bezeichnete, worauf Höcke anspielt). Was wollten die Menschen in Chemnitz? Sie wollten ganz altmodisch die Herrschaft über die »Straße«. Der Staat soll den Gewaltbereiten die Straße überlassen. Sie wollen jagen. Es ist wieder an der Zeit, Menschen zu jagen. Wir werden es noch erleben.

Was die mediale Verunsicherung nicht ist

Manche sehen im Informationskrieg das große Problem unserer Zeit. Im Kampf um die Wahrheit werde sie zum ersten Opfer. Und tatsächlich, es gibt tausend Versuche, sie zu manipulieren. Fake news (wo sind die true news?), »alternative Fakten« (ein schönes Synonym für Lügen), die Gründung eines ganzen Umfrageinstituts (»INSA«), scheinbar auch um den Rechten gemäße Resultate zu ventilieren. Aber der Wahrheitskrieg ist kein neues Phänomen. Es gibt ihn seit Erfindung des Buchdrucks. Auch das botgesteuerte Mitteilungsgeballere, das Journalisten gezielt ins Visier nimmt, um ihnen vorzugaukeln, dass es sich bei »Merkel muss weg!« um eine Mehrheitsmeinung handle, halte ich für eher lustig. Natürlich ist der Online-Redakteur kaum zu beneiden, wenn er bezahlte Propaganda von fake accounts ausmisten muss. Der Datenwissenschaftler Simon Hegelich untersuchte den Schlachtruf »Merkel muss weg!« auf Twitter und kam auf 390 Nennungen täglich. Bei fünf Millionen aktiven TwitterAccounts klingt diese Zahl nicht danach, dass die Online-Redaktionen schwere Krisen durchgemacht hätten auf der Suche nach dem, was wahr ist.