Wenn nicht wir, wer dann? - Philipp Ruch - E-Book

Wenn nicht wir, wer dann? E-Book

Philipp Ruch

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Beschreibung

Humanisiert euch!

Flüchtlinge, die an Europas Grenzen sterben; eine Sicherheitspolitik, die auf massenhafter Datenausspähung beruht; deutsche Waffenlieferungen an autoritäre Regime – es gäbe reichlich Anlass, sich zu empören. Doch die Mehrheit unserer Gesellschaft versinkt in Lethargie und Zynismus. Wie lange schauen wir noch zu? Politik muss zurück in die Hände derer, die etwas ändern möchten. Philipp Ruch holt mit seinen öffentlichen Aktionen das politische Bewusstsein zurück ins tägliche Leben – gegen die Gleichgültigkeit, die unsere Gesellschaft um ihre lebenswerten Prinzipien bringt. Er zeigt, wie wir unser Leben wieder auf eine uneingeschränkte Menschlichkeit verpflichten können. Eine Streitschrift für alle, die jenseits von Parteipolitik oder Egozentrismus etwas bewirken wollen. Ein Aufruf zum Handeln!

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Seitenzahl: 312

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Zum Buch

Flüchtlinge, die an Europas Grenzen sterben; eine Sicherheitspolitik, die auf massenhafter Datenausspähung beruht; deutsche Waffenlieferungen an autoritäre Regime – es gäbe reichlich Anlass, sich zu empören. Doch die Mehrheit unserer Gesellschaft versinkt in Lethargie und Zynismus. Wie lange schauen wir noch zu? Politik muss zurück in die Hände derer, die etwas ändern möchten. Philipp Ruch holt mit seinen öffentlichen Aktionen das politische Bewusstsein zurück ins tägliche Leben – gegen die Gleichgültigkeit, die unsere Gesellschaft um ihre lebenswerten Prinzipien bringt. Er zeigt, wie wir unser Leben wieder auf eine uneingeschränkte Menschlichkeit verpflichten können. Eine Streitschrift für alle, die jenseits von Parteipolitik oder Egozentrismus etwas bewirken wollen. Ein Aufruf zum Handeln!

Zum Autor

Philipp Ruch, geboren 1981, Theatermacher und künstlerischer Leiter des Zentrums für Politische Schönheit, das er 2008 gründete und mit dem er sich in öffentlichen Aktionen gegen Genozide und für Flüchtlinge und Menschenrechte einsetzt. Die Arbeiten Philipp Ruchs verwischen dabei bewusst die Grenzen von Realität und Kunst. Philipp Ruch studierte politische Philosophie und Ideengeschichte mit abschließender Promotion bei Herfried Münkler und lebt in Berlin.

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Originalausgabe 11/2015

Copyright © 2015 by Ludwig Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Thomas Bertram

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie

Werbeagentur, Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN 978-3-641-16703-5V003

www.ludwig-verlag.de

Inhalt

Vorwort – Ein Zeitalter der politischen Schönheit

Prolog – Die Wirkmacht von Ideen

TEIL I

Wer sind wir?

Wie wir uns selbst sehen

Die gesunkenen Erkenntnisse

Die Blausäure der Individualität

Die Entzauberung des Menschen

Das Arkanum der Psychologie

Die Abgeschiedenheit des Menschen

Das Unbehagen in der Natur

Das Erdbeben der Schönheit

TEIL II

Nihilismus der Seele

Geistiger Nihilismus

Politisches Schwarzfahren

Der Kampf der Gegensätze

Wir müssen uns entscheiden

Die Suche im Inneren

Der Tempel des Unterbewusstseins

Was sind Gefühle?

TEIL III

Der Wert des Menschen

Handlungen als Interpreten der Gedanken

Kulturen als Kapseln

Die Wartehalle der Schwarzfahrer

Wirklichkeit als Vorstellung und Tendenz

Die Bestimmung des Menschen

Epilog – Der Herzschlag des Nihilismus

Vorwort – Ein Zeitalter der politischen Schönheit

Im Juni 2004 fischte ein ausrangiertes Handelsschiff 37 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer. Das Schiff war von einer Menschenrechtsorganisation eigens für den Zweck gechartert worden, Menschenleben zu retten. Nach der spektakulären Rettungsaktion schossen sich der italienische Staat, die deutschen Medien und die europäische Politik auf das Schiff ein. Es wurde von den italienischen Behörden beschlagnahmt und von der deutschen Öffentlichkeit verdammt und rettete keine einzige Menschenseele mehr. Es verging ein ganzes Jahrzehnt, bis die dramatische Lage der Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen erneut ins Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit rückte.

Der Mann, der vielleicht eine Art Seismograph des humanistischen Gewissens und Handelns in Deutschland ist, Rupert Neudeck, beobachtete und erkannte die dramatische Lage auf dem Mittelmeer bereits 2004. Mit seiner korrekten Einschätzung der politischen Lage kam er aber nicht an gegen das Dehydrieren, das Ertrinken, das Überfahrenwerden Hunderttausender Menschen, die sich eigentlich voller Hoffnung in ein neues Leben aufmachen. Inzwischen hält das Massensterben auf dem Mittelmeer schon über ein Jahrzehnt an. Aber auch jetzt, wo die Bilder der überfüllten Flüchtlingsschiffe sich ins kollektive Gedächtnis brennen, ist es die Verteidigungsministerin, die dem Hauptverantwortlichen für die Katastrophe, Thomas de Maizière, in den Rücken fällt, und nicht eine entschlossene deutsche Zivilgesellschaft. Während der Innenminister auf Grenzabschottung und harte Rückführung von »Zugängen«, wie er Flüchtlinge mit Vorliebe nennt, setzt, schickt Ursula von der Leyen das letzte Aufgebot der deutschen Marine, um Menschenleben zu retten – Kriegsschiffe werden zu Rettungsbooten, genau wie ein Jahr zuvor, als die italienische Marine sich kurzerhand der europäischen Humanität annahm und 150 000 Menschen das Leben rettete. Die italienische Marine hätte dafür den Friedensnobelpreis verdient.

Aber wo bleiben die Menschenrechtler, die gegen die militärische Grenzabschottung protestieren? Humanität heißt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Menschen nicht sterben zu lassen, alle politisch verfügbaren Ressourcen zu mobilisieren, um Menschenleben zu retten. Denn dafür sind sie letztlich da, die deutsche Marine, die Außenpolitik, der Menschenrechtsausschuss des Bundestages, die großen Menschenrechtsorganisationen.

Dieses Buch richtet sich nicht an jene Menschen, die, wie Rupert Neudeck oder Elias Bierdel, seit mehr als einem Jahrzehnt auf die Tragödie im Mittelmeer aufmerksam machen. Es richtet sich nicht an die Kassandras unserer Zeit, die seit 2004 rufen; Jean Ziegler, Harald Glöde, der unermüdlich einen kleinen Verein namens »Borderline Europe« leitet, Marily Stroux, die 2010 im griechischen Hinterland über Massengräber stolpert, in denen Hunderte ertrunkener Flüchtlinge verscharrt wurden, oder den Unternehmer Harald Höppner, der ein Schiff charterte, um Auswandernden das Leben zu retten.

Dieses Buch richtet sich vielmehr an all jene, die glauben, in dieser Welt nichts ausrichten zu können, die überzeugt davon sind, dass es auf sie nicht ankommt und dass sie keinen Unterschied machen. Dieses Buch ist aus unzähligen Gesprächen mit jungen Menschen, Landlust-Lesern und Bilderbuch-Biobauern hervorgegangen. Es sind mitunter Menschen, die aufs Land gezogen sind, weil sie glauben, dort glücklicher zu werden als in der städtischen Gesellschaft oder mit der Politik. Diese Menschen sind entmutigt, fühlen sich wertlos, sind manchmal verzweifelt. Sie versuchen, im Kleinen ihre Position in der Welt zu finden. Dieses Buch taucht ein in ihre Vorstellungswelt und schöpft aus einem ganzen Fundus von Gesprächen mit jenen, die im landläufigen Sinne als die Unpolitischen bezeichnet werden: Nichtwähler, Träumer, Verunsicherte, Politikverstoßene, Eskapisten.

Mit diesen Menschen habe ich nächtelang, wochenlang, teilweise jahrelang debattiert, sie beobachtet, ihre Aufzeichnungen gelesen und mich mit ihren Ideen und Ansichten beschäftigt. Diese Ideen stellen für einen politischen Philosophen eine Herausforderung dar, weil sie mit der Ideengeschichte oftmals unvereinbar sind – in der Regel handelt es sich um puren Eklektizismus. Aber kann man einem Menschen wirklich vorwerfen, dass seine intellektuelle Verarbeitung von Sigmund Freud oder Jean-Jacques Rousseau, von Thomas Hobbes oder Max Weber nicht der reinen Lehre entspricht? Im Laufe der Zeit amalgamieren sich Konzepte und Ansichten zu einer amorphen Masse, das ist unvermeidlich. Wir sind gezwungen, uns unsere Welt zurechtzulegen. Wir sind gezwungen, uns eine Vorstellung von der Welt und von uns selbst zu machen. Dass diese Vorstellungen mitunter nicht mit den großen Strängen der Ideengeschichte übereinstimmen, ist verständlich. Dennoch geht es um mehr.

Ich habe versucht, all jene Vorstellungen in dieses Buch zu legen, die mir als ursächlich für Unmut, Ohnmacht und Teilnahmslosigkeit erscheinen. Ich nenne sie toxische Ideen. Es gibt Vorstellungen, Gefühle und Anschauungen, die uns vergiften, weil sie uns voneinander trennen. Sie führen zu einer Zersprengung der Öffentlichkeit, die der Katastrophe auf dem Mittelmeer seelenruhig zusehen kann – und dort nichts mehr sieht. Wenige verstehen überhaupt, was diese Katastrophe mit uns zu tun hat. Was sie aus uns macht. Das Ausmaß an Gleichgültigkeit benötigt eine Toxikologie. Wenn dieses Buch an der Herstellung einer zeit- und ortlosen Öffentlichkeit – an dem, was mutige Denker einst als Menschheit bezeichneten – mitwirken kann, hat es sein Ziel schon erreicht. Mit Menschheit sind wir alle gemeint. Sie schlummert in jedem Einzelnen von uns. Aber sie ist ein politischer Fixstern, der seit zwei Jahrzehnten bedrohlich sinkt.

Das Blumenmeer nach dem Tod von Lady Di oder Michael Jackson, die Massenaufläufe bei königlichen Hochzeiten, mit Liveübertragungen auf allen Kanälen, der mediale Crash vor einer Klinik, in der Michael Schumacher liegt – diese medialen Ikonen unserer modernen Anteilnahme sind die passenden Kontrastfolien zur Teilnahmslosigkeit gegenüber den Mittelmeertoten. Die Bilder der Särge passen so gar nicht zu dem Bild, das wir von uns selbst haben. Sie verkörpern das Kollabieren unseres Anspruchs auf moralischen Fortschritt. Das gilt auch im umfassenderen Sinn.

Wurden wir schon einmal in Gruppen zusammengetrieben? Hatten wir schon einmal Angst, an Ort und Stelle vergewaltigt zu werden? Haben wir schon einmal unsere eigene Vernichtung gefürchtet? Das größte Infrastrukturprojekt unserer Zeit ist eine gigantische Schallmauer um Europa herum. Dieser Schallschutz ist mentaler Art und schützt uns davor, die Hilfeschreie weiter hören zu müssen. Wir wollen nicht zum Ort der Schreie und Leiden dieser Welt werden. Wir wollen selbst noch etwas zum Schreien und Leiden haben.

Waren wir schon einmal vollkommen rechtlos? Hat schon einmal jemand auf uns geschossen? Ist unsere Mutter schon einmal beinahe verhungert, weil sie uns durchfüttern wollte? Glaubten wir schon einmal, der Tod wäre die Erlösung? Dass Millionen Menschen auf ihren Sofas dahinschlummern, in Gedanken vielleicht bei nichts anderem als ihrer Reisekrankenversicherung, während die Fernsehnachrichten ihnen in drastischen Bildern zeigen, welches Inferno sich in Syrien abspielt, macht uns zu einer Zivilisation mit hässlichen Zügen. Ich will in so einem Land eigentlich nicht leben. Wie sollen wir der nächsten Generation erklären, dass wir die Mittel besaßen, Krieg, Hinrichtung, Vergewaltigung und Hunger zu stoppen, uns aber nicht dazu durchringen konnten, etwas zu tun?

Was wird den Historikern am Ende des 21. Jahrhunderts an uns auffallen? Was werden sie in uns sehen? Sie werden eine Selbstbezogenheit in den reichen Nationen dieser Erde feststellen, die ihnen steinzeitlich vorkommen wird, eine Selbstbezogenheit, die so gar nicht zum kosmopolitischen Geist und den humanistischen Idealen passt, mit denen wir uns brüsten. Vermutlich werden uns die Historiker am Ende des 21. Jahrhunderts als »die Primitiven« titulieren: »Sie hörten die Hilfeschreie nicht, trotz weltumspannender Kommunikationskanäle. Sie fanden, dass sie das alles nichts anginge. Sie leisteten den Geflüchteten, den Verwundeten, den Traumatisierten, keine Gastfreundschaft. Sie sahen die Narben des Krieges nicht. Sie kümmerten sich um sich selbst.« – Wer nur sich selber liebt, missbraucht das Leben, meinte Shakespeare.

Ich bin aufgewachsen in einer Welt, die sich mehr oder weniger um Partys drehte. Die Gedanken gut gekleideter, aufgehübschter junger Menschen kreisten um nicht viel mehr als um die Frage, wohin man ab Donnerstag ausging. Wenn man sie gefragt hätte, was sie beruflich machen, hätten sie guten Gewissens antworten können: »Feiern!« Feiern war für die meisten eine professionelle Angelegenheit. Doch viele kamen schnell dahinter, dass es eigentlich nichts zu feiern gab. Dass das Scheinwerferlicht auf der Tanzfläche gegen die Wirklichkeit anstrahlte. Dass es Dinge gab, die unsere volle Kraft und Energie viel eher verdienten.

Unsere Zeit wäre geradezu prädestiniert, Menschen mit herausragenden moralischen Qualitäten hervorzubringen, Politikerinnen und Politiker, die ihr Handeln daran orientieren, was politisch, historisch und moralisch »schön« ist. Schaut man sich die Nachrichten an, wäre nichts dringender als Menschen, die Probleme ernsthaft anpackten. In Deutschland hätten wir die Mittel und die Sicherheit, uns ohne Gefährdung unseres Lebens für die Menschheit einzusetzen.

Aber gerade jetzt, wo der Kampf um Menschenrechte und Humanismus so einfach geworden ist, scheinen Politik und Öffentlichkeit jedes Interesse daran verloren zu haben. Die Geschwister Scholl wurden vom NS-Regime hingerichtet, nur weil sie sechs Flugblätter gegen Hitler verteilt hatten. Ossip Mandelstam kostete ein Gedicht gegen Stalin zunächst die Freiheit, später das Leben. Heute werden russische Dissidenten in Fahrstühlen exekutiert. Chinesische Oppositionelle vegetieren in Gefängniszellen dahin. Im Kongo verschleppt der Geheimdienst Menschenrechtler, die dann »versehentlich« sterben. In Deutschland hat sich derweil eine historische Sensation ereignet: Es ist schwierig geworden, für sechs Flugblätter, Bücher oder Gedichte verfolgt, verhaftet oder ermordet zu werden. Das wiedervereinigte Deutschland müsste und könnte ein Eldorado der Menschenrechtsbewegungen sein. Große Menschenrechtler könnten darum ringen, die Menschheit zu retten. Die Bundesrepublik hätte die Kraft, bewundernswerte Menschen hervorzubringen, die Großes im Sinn hätten und täten. Für die verfassungsmäßigen Rechte, die alle Aktivitäten rund um den Schutz der Menschheit garantieren, ist viel Blut geflossen. Während die Freiräume geschaffen und die Gesetze verabschiedet wurden, die Druckereien, öffentlichen Plätze und Zeitungen vorhanden sind, fehlt eigentlich nur noch eines: der Menschenrechtler selbst. Und zwar seit mehr als 25 Jahren.

Beim politisch-humanistischen Willen herrscht zurzeit Windstille. Unseren Politikern mangelt es an Visionen, sie sind von Ratlosigkeit gezeichnet. Sie wissen nicht, was zu tun ist. Merkels Schulterzucken ist die Pathosformel einer zielentleerten und stillgestellten Zeit. Was Politiker tun könnten, interessiert sie offenbar nicht. Viele scheinen das Wort »Schönheit« nicht einmal zu verstehen. Aber wenn man es gegen den Begriff »Politik« schlägt, erzeugt es den Funken einer Revolution.

In der politischen Wissenschaft werden jedes Jahr ganze Berge von Arbeiten über das Verhältnis von »Politik und Religion« geschrieben. Aber es gibt keine einzige Abhandlung zum Verhältnis von Politik und Schönheit. Wie kann es sein, dass der politische Einfluss des hinterletzten religiösen Spinners en détail aufgearbeitet wird, während uns über die politische Wirkung oder über den gesellschaftlichen Einfluss von Schönheit selbst elementare Erkenntnisse fehlen? Die Politik kennt das Wort Schönheit nicht mehr. Sie muss es lernen.

Politik wird als hässliches Geschäft wahrgenommen. Macht, Intrigen, Auftragsmorde, Korruption, Schmutzkampagnen. Wo soll da der Sauerstoff für Schönheit sein? Es geht nicht darum, schlechte Zustände schönzureden oder Politik zu »ästhetisieren«. Ich schließe sogar aus, dass Ästhetik überhaupt etwas mit Schönheit zu tun hat. Es geht um die grundsätzlichen Ziele. Wenig von dem, was wir heute politisch wollen, bietet Stoff für große Literatur. Oder kann man sich einen Pindar für Merkel und ihre »großen Ideen« – die Abwrackprämie, Autobahn-Maut und CDU-Wahlprogramm – vorstellen?

Manche zweifeln: Wären visionäre Lichtgestalten nicht gerade in der Politik gefährlich? Diese Sorge ist zynisch. Es ist viel gefährlicher, die höchsten politischen Ämter eines Landes mit Mittelmäßigen und Langweilern zu besetzen. Zwischen 30 und 60 Prozent der Wahlberechtigten gehen mittlerweile nicht mehr zu den Urnen. Was sagt das über diejenigen aus, die Politik betreiben? Es ist an der Zeit, diese Wahlenthaltung persönlich zu nehmen. Sollten Historiker eines Tages den politischen Willen unserer Zeit beurteilen, dürfte das einer Bankrotterklärung gleichkommen. Was wollen wir erreichen? Erreichen, nicht verwalten! Zukünftige Generationen werden staunend vor dem Rätsel stehen, was diese Zeit eigentlich wollte. Wir haben unser politisches Wollen den Zufällen der Geschichte überlassen. Aber wo bleiben unsere eigenen Antworten?

Was werden die Archivare über uns im Jahr 2099 herausrücken? Läuft unser ganzes politisches Wollen auf die Inzahlungnahme alter Autos hinaus? Dieser Politik ist der Sinn für Größe, Kraft und Schönheit abhanden gekommen. Wir leben in einer Trockenphase der Weltgeschichte. Es gilt, sie mit Schönheit zu tränken.

Die meisten Politiker sind so eingespannt in ihre Welt, dass sie nicht dazu kommen, sich den wirklich wichtigen Fragen zu stellen. Was will ich erreichen? Wofür will ich einmal stehen? Welches ist die größte Tat, mit der mein Name einst verbunden werden soll? Mangelnde Zeit frisst oft, was uns wichtig ist und uns am Herzen liegt. Doch die Zeit für dieses Nachdenken müssen wir uns nehmen. Es gilt, Ideen wachzurütteln. Und sie müssen von strahlender Schönheit sein.

In demokratischen Systemen ist das Politische ein Kampf der Worte. Denken wir an Parlamentsdebatten, Ansprachen und Wahlkämpfe. Wenn Politik aber ein Kampf der Worte ist, dann ist sie letztlich das Geschäft der Poesie und Schönheit. Von nichts ist die politische Gegenwart heute weiter entfernt: Die Sprache, die unsere Politiker sprechen, ist mutlos, uninspirierend und leer. Es ist viel die Rede von unpolitischen Bürgern. Aber dass Menschen nur politisch werden können, wenn Politik etwas in ihnen weckt, liegt auf der Hand. Ohne das Gefühl, Teil von etwas Bedeutsamen zu sein, gehen Menschen nicht wählen. Bürger politisiert man mit Mut, Wagnissen und Visionen. Politik ist ein Epos, das überzeugen muss.

Den politischen Zielsetzungen der großen Parteien fehlt es spürbar an Größe, Visionen, Mut und Schönheit. Die Abwesenheit an Schönheit und Seelengröße bei jenen, die man der Bevölkerung als Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers präsentiert, machen mich sprachlos. Wenn die Wahlbeteiligung auf neue historische Tiefstände fällt, liegt ein Schlüssel zur Erklärung in der politischen Blindheit für das Schöne. Man kann Menschen nicht für dumm verkaufen. Das Kanzleramt beinhaltet den wichtigsten Job im drittmächtigsten Land der Welt. Wer denkt da ernsthaft an Angela Merkel, die beim ersten Mal eher unabsichtlich gewählt wurde und dann von ihrem Koalitionspartner mit weiterem uninspirierenden Personal als alternativlos zementiert wurde. Wofür genau will Merkel in die Geschichtsbücher eingehen? Wofür steht ihre Regierung? Merkel wird gerne als die mächtigste Frau der Welt bezeichnet. Was weiß sie mit dieser Macht anzufangen? Was hat sie aus diesem Land gemacht? Offenbar versteht sie es, den Status quo zu bewahren. Aber für die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts hat sie nur ein Schulterzucken übrig.

Ich traue der deutschen Bevölkerung eine absichtsvolle Politik zu. An der Person Merkel sind aber beim besten Willen keine Absichten zu erkennen. Da ist jemand zufällig in ein Amt gerutscht, statt von den Deutschen gezielt hineingewählt worden zu sein. Das Problem ist, dass Merkel das missversteht und glaubt, das Volk habe sie gemeint. Merkels Nominierung ist eine Metapher für die Orientierungslosigkeit Deutschlands im Jahr 2005. Damit sich diese Ratlosigkeit nicht fortsetzt, damit das Volk in einer Wahl überhaupt die Möglichkeit bekommt, Absichten zu bekunden, brauchen wir Entwürfe für das, was politisch schön wäre.

Wer im Zedler, einem der frühesten Lexika der Aufklärung, den Eintrag »Wort« nachschlägt, kann sich nur die Augen reiben, wie akribisch dort die Macht der Worte dargelegt ist. Das Problem scheint zu sein, dass wir heute noch in den faustischen Oppositionsbegriffen von Welt und Buch denken. Worte, Kunst und Vorstellungen scheinen zu einer Bücherwelt zu gehören, der grundsätzlich jeder Einfluss auf die »Welt« abgesprochen wird. Ich kenne eine Menge Leute, die ernsthaft glauben, Bücher würden sie von der Welt und vom Leben trennen – und nicht sie ihnen näherbringen. Dieselben Menschen, die den Kopf darüber schütteln, wie man meinen konnte, die Welt sei eine Scheibe, erliegen heute viel gravierenderen Wahrnehmungsstörungen.

Die Romantiker mögen sich durch Tatenlosigkeit auszeichnen – viele schöne Bücher, nicht eine einzige schöne Tat. Wir können uns an der Schönheit sattsehen und ihre Wirkung durch Genuss abfedern. Aber keine schöne Tat kommt uns veraltet oder zu oft vor, wie Jean Paul schrieb. Und über den »moralischen Zauber und Genuss« herrscht keine Zeit. Heute ist klar, dass die junge Generation für ihre Opposition gegen die alte ein großes Schlagwort braucht. Alle großen Schlagwörter wurden aus einer Ahnung geboren. Alle großen Manifeste, die ganze Jahrhunderte angeführt haben, begannen mit einer Ahnung. Schönheit ist eine dieser Ahnungen, die niet- und nagelfest gemacht werden kann.

Dafür müssen wir aber bereit sein, uns von dem zu trennen, was uns hässlich macht. Darunter fallen toxische Vorstellungen ebenso wie korrupte Waffenfabriken. Deutschland besitzt heute die drittgrößte Rüstungsindustrie weltweit. Das ist eine Beleidigung unserer politischen Intelligenz. Wie der Export von Waffen in die totalitärsten Regime dieser Welt mit der deutschen Geschichte zu vereinbaren ist, hat noch kein Politiker plausibel darlegen können. Die kommerzielle Produktion von Waffen auf deutschem Staatsgebiet muss endlich gesetzlich verboten und unter Strafe gestellt werden. Es gibt Dinge, die dürfen nichts mit Märkten, Umsätzen und Gewinnen zu tun haben. Warum sollte eines der reichsten Länder der Welt Geld mit der Vernichtung von Menschenleben verdienen? Warum sitzen deutsche Ingenieure an ihren Schreibtischen und ersinnen immer perfidere »Spitzentechnologie« zur Tötung von Menschen?

Die Formel von den Deutschen als Volk der Dichter und Denker stammt von Wolfgang Menzel. Menzel schrieb 1836: »Die Deutschen thun nicht viel, aber sie schreiben desto mehr. […] Das sinnige deutsche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und zum Schreiben hat es immer Zeit. […] Was wir in der einen Hand haben mögen, in der anderen Hand haben wir immer ein Buch.« In 179 Jahren hat sich doch einiges getan. Statt der Bücher halten die Menschen heute Smartphones in der Hand, und statt zu dichten und zu denken, produzieren und exportieren sie Waffen. Wer in einem der zahllosen Kriegsgebiete dieser Welt nachfragt, wofür »Made in Germany« steht, erhält nicht die Antwort BMW oder Mercedes, sondern: G3. Das G3 ist das weltweit meistverkaufte Gewehr nach der Kalaschnikow. Wir sind maßgeblich an der Weiterentwicklung, der Herstellung und dem Export von Tötungstechnologie beteiligt. Wer weiß, was all die Rüstungsingenieure in der Energiewende erreicht hätten?

Ahnen wir, was uns in den kommenden Jahrzehnten bevorsteht? Was geschieht, wenn es noch in unserer Generation zu den Ereignissen kommt, die ich als die »Großen Katastrophen« bezeichne? Was wissen wir von den großen Völkermorden, die uns in Asien und Afrika erwarten? Wir leben im Anbruch des genozidalsten Jahrhunderts der Weltgeschichte. Welche Regierungsstelle im Land der Holocausttäter befasst sich mit der Verhinderung der neuen Völkermorde? Wurden angesichts der Massentötungen in Syrien Sonderstäbe im Kanzleramt eingerichtet? Hat man versucht, auch nur ein einziges Menschenleben aus dem Kriegsgebiet zu retten? An welcher Stelle ist Merkel gegen die Vernichtung von mindestens 200 000 Menschen eingeschritten und hat die Bevölkerung aufgerüttelt? Die Frage der Menschenrechte ist eine Frage des Einsatzes der eigenen Rechte zum Schutz der Rechtlosen und Entrechteten. Sonst haben wir diese Rechte nicht verdient. Die eigenen Rechte verkörpern ein überhistorisches Gewissen. Wie können wir glauben, diese Rechte zu verdienen, wenn wir nicht alles in unserer Macht Stehende tun, damit sie allen gewährt werden? Wir brauchen Widerstand im Namen der Humanität Europas. Wir müssen uns schützend vor die Untaten unserer Politiker stellen.

Als die Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing vor mehr als einem Vierteljahrhundert Afghanistan bereiste, geriet sie an die Frontlinie eines erbitterten, asymmetrischen Krieges, eines Krieges, in dem modernste Hightech- gegen Steinzeitwaffen standen. In Peschawar stieß Lessing auf einen Kommandanten der Mudschahedin, der klagte: »Wir schreien um Hilfe, doch der Wind weht unsere Worte fort.«

Dieser Satz hat seit über 25 Jahren nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Es scheint, als erreichten den Westen Hilfeschreie nicht mehr. Die universale Auffassung von Verbrechen war, dass sie jeder Mensch unter jedem Himmel hört. Die neue Wirklichkeit scheint zu sein: Es hört sie keiner unter keinem Himmel. Als zählten Hilferufe nicht. Als würden Worte auf dem Transportweg zwischen den neuen Genoziden und unserer Wohlstandswelt vom Winde verweht.

Man muss es so hart ausdrücken: Es ist unser Wegschauen, das Menschen rechtlos macht. Der 5. Juni 2009 ist ein Tag, den ich nie vergessen werde. Angela Merkel besucht an der Seite von US-Präsident Barack Obama das Konzentrationslager Buchenwald. Neben den beiden »Mächtigen« der Welt wandelt einer der einflussreichsten Überlebenden des Holocaust: Elie Wiesel. Wiesel gründete inmitten des Völkermords in Bosnien-Herzegowina das Washingtoner Holocaust Museum. Und als im Frühjahr 1993 die versammelte Weltgemeinschaft anmarschierte (darunter Bill Clinton, Al Gore und Roman Herzog), schmetterte er den Politikern ins Gesicht, dass es keinen Sinn habe, hier zu sitzen und an das Blutbad der Nazis zu erinnern, wenn auf dem Balkan ein ebensolches neues Blutbad tobe. Er flehte den US-Präsidenten vor aller Augen sichtlich bewegt an: »Bitte stoppen Sie das Blutbad in diesem Land!« Das ist Elie Wiesel. Als Merkel am 5. Juni 2009 mit Obama aus dem Konzentrationslager Buchenwald tritt, darf auf der anschließenden Pressekonferenz auch Wiesel ein paar Worte sagen. Merkel wirkte während der Worte Wiesels auf eine panische Weise orientierungslos, als ginge sie das alles nichts an. Sie dürfte bis heute nicht verstanden haben, was dieser komische Kauz eigentlich wollte.

Für unsere Zeit ist die Abwesenheit großer Visionen charakteristisch. Große Visionen als erstes Anzeichen für die Notwendigkeit einer psychiatrischen Einweisung zu sehen, wie es ein ehemaliger Bundeskanzler unter großem Beifall der Intellektuellen einst tat, beschreibt bereits einen Gutteil unserer geistigen Verfassung. Merkel versprüht nicht den Charme einer Frau, die die Menschheit leidenschaftlich in eine bessere Zeit steuern wird. Auch die EU fällt mehr durch bürokratische Kleinkriege, umstrittene Wirtschaftsförderungen und eine brutale Flüchtlingspolitik auf als durch Haltung, Anstand und Großzügigkeit. Die Bürger danken es mit niedriger Wahlbeteiligung und an Hass grenzenden Ressentiments. Die Macht von Visionen wird notorisch unterschätzt. Visionen und Ziele geben Kraft und schützen davor zu fallen. Wer sich einer Vision verschreibt, für den wird die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Welt obsolet. Eine beispiellose Visions- und Ziellosigkeit hält unser Zeitalter im Würgegriff oder besser: hat die Zeit ausgerenkt. Es kommt darauf an, sie wieder einzurenken. Visionen und Ziele verleihen die dazu notwendige Kraft.

Die geistige Armut der Seele und der Wunsch nach einer leidenschaftlichen Zukunft treiben junge Europäer seit Neuestem in die Arme politischer Fundamentalisten. Deutschland, Europa und dem Westen den Rücken kehrend, kämpfen sie im Wüstensand für eine neue Gesellschaftsordnung und opfern dafür bereitwillig ihr Leben. Mit dem Primat der Leidenschaftlichkeit glauben diese Fanatiker wenigstens an etwas. Glauben, um des Glaubens willen. Fühlen, um des Fühlens willen. Nicht öffentlicher Alkoholkonsum oder die Freizügigkeit unserer Gesellschaft ist es, was diese jungen Männer abstößt. Es ist im Kern die politische Visionslosigkeit. Die Gleichgültigkeit, mit der wir unsere eigenen Ideale »vertreten«. Die Widersprüche zwischen den Grundsätzen unserer Verfassung und der Realität derer, die diese Verfassung leben und Menschen unabhängig von ihrer Herkunft gleich gut behandeln sollen, sind himmelschreiend.

Da ist das Schicksal Ali Rezas. Die Saat seiner Frage genügt, um Sturm zu ernten. Reza flüchtete aus einem Land, in dem auch deutsche Panzer nicht für Sicherheit sorgen konnten. Reza wurde in Deutschland als Erstes eingesperrt. Er hatte niemanden umgebracht und auch nichts geraubt. Sein Verbrechen war es, deutschen Boden betreten zu haben. Jede Zeit hat ihre humanistische Schlüsselfrage. Um 1500 war es die Bergung des antiken Denkens. Um 1700 war es die Verhinderung von Chaos, Krieg und Anarchie. Im vergangenen Jahrhundert war es der Kampf gegen den Nationalsozialismus. Ali Reza gelang es in einem Interview, unserer Menschlichkeit mit wenigen Worten den Spiegel vorzuhalten: »Warum ist jemand auf der Welt, wenn es nirgendwo einen Platz für ihn gibt?«

Ist es wahr, dass es in Deutschland keinen Platz für Reza gibt? Könnten nicht, wenn wir wollten, Millionen Rezas in Deutschland Platz finden? Braucht Deutschland in den nächsten Jahrzehnten nicht Millionen Rezas, um nicht zu schrumpfen? Gewollt zu werden von einem Land, das nicht das eigene Heimatland ist, ist ein hohes, ein nobles und schönes politisches Ziel. Gewollt zu sein ist politisch zweierlei: die oberste Raison unserer parlamentarischen Demokratie und der erste Leitsatz all unserer humanistischen Ansprüche. Wenn wir Flüchtlinge einsperren und wie Kriminelle behandeln, haben wir die einfachsten mitmenschlichen Motive nicht verstanden. Dann müssen wir alle Humanität erst wieder erlernen. Wir leben in einer Zeit, die nicht will und selbst nicht einmal weiß, warum sie nicht will. Warum will Deutschland nicht? Es lohnt sich, auf Plakatflächen großflächig das Gesicht von Ali Reza zu zeigen, der die Passanten befragt: »Warum ist jemand auf der Welt, wenn es keinen Platz für ihn gibt?«

Jede konternde Antwort besteht aus den Mächten des Geizes, der Niedertracht, der Kleinlichkeit und der Angst. Alles Mächte, für die wir uns schämen müssten, hätten sie uns wirklich im Griff. »Warum wollt ihr mich nicht? Was habt ihr gegen mich, dass ihr euch hinter Bürokraten, hinter Regelungen und Gesetzen versteckt, die alle dazu führen, dass ich eingesperrt werde, meine besten Jahre hinter Gittern verbringe und der einzige Unterschied zum 20. Jahrhundert darin besteht, dass ich nicht hungern muss und dass ihr mich nicht wirklich töten wollt.«

Wie human ist die Vorstellung, dass in einem Land kein Platz für Menschen ist? Die Wirtschaft brummt, die obersten Arbeitgeberverbände klagen über Lehrstellen- und Fachkräftemangel, und die deutsche Bundesregierung wirbt mit einem Millionenetat in Fernost für Pflegekräfte, die den Betrieb der deutschen Altersheime sichern sollen. Gleichzeitig versuchen Zehntausende syrischer Ärzte und Krankenpfleger auf mörderischen Wegen nach Deutschland zu gelangen. Diese moralische Schizophrenie werde ich niemals verstehen. Wir sind es, die in Wirklichkeit an Ali Reza zugrunde gehen. Nicht so schnell, dass wir es gleich merken würden. Es ist ein schleichender Verfall. Zuerst kippt die Produktivität, dann die Innovation, dann das BIP und schließlich die Rentenkasse, dann kippen die Altersheime, die Klärwerke. Deutschland schrumpft jährlich um 300 000 Menschen. Wahrscheinlich ist die Einwohnerzahl längst unter die magische 80-Millionen-Grenze gefallen. Aber für Ali Reza bleibt kein Platz. Warum genau kein Platz ist, wenn ganze Landstriche verfallen, darüber wird nirgends diskutiert. Rezas Frage stellt unser Lügengebilde bloß. Vor dieser Frage wird sich unser Zeitalter einst rechtfertigen müssen: Warum wollten wir ihn nicht?

Wir leben in einer Zeit, der der Glaube an das eigene Tun abhanden gekommen ist. Es ist die Zeit der großen Verwalter. Politik wird verwaltet. Wohlstand wird verwaltet. Flüchtlinge werden verwaltet. Wir, mit einer so bedeutenden wie einzigartigen Vergangenheit, stehen vor dem Abgrund. Unsere Epoche ist gezeichnet vom Gefühl der Machtlosigkeit, sei es im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine, auf Ebola oder weil wir in der Telefon-Hotline nie jemanden erreichen, der uns hilft. Mit einer seltsamen Hoffnung auf die Kräfte der Wirtschaft und der Unterhaltungsindustrie scheinen wir das Ende der Geschichte einzuläuten. Dass das höchste Bruttoinlandsprodukt der deutschen Geschichte und der berauschendste Freizeitpark den gefühlten Mangel an Handlungsfähigkeit ersetzen können, ist jedoch unwahrscheinlich. Folgerichtig prognostizieren die Zukunftsforscher eine Konjunktur der Religion. Nach all den freiheitlichen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte wäre das ein bombastischer Rückschritt.

Die Ausrede »Man kann nichts tun« ist Symptom dieser Lage und Lüge zugleich. Wer sich einmal einsetzt, macht in der Regel die Erfahrung, dass er oder sie etwas bewegen kann. Diesen Weg geht auch das Zentrum für Politische Schönheit. Wo die Politik versagt, ist es die heilige Pflicht von Künstlern, Dichtern und Denkern, einzuspringen und das politische Vermächtnis dieser Zeit zu retten und das zu betreiben, was man im scharfen Kontrast zu Meinungsbildung politische »Sehnsuchtsbildung« nennen muss. Wir wollen nicht »Interessen«, »Meinungen« oder einen blindgefassten »Willen« ins Zentrum der Politik stellen, sondern Hoffnungen, Träume, Visionen. Es gilt, die verschütteten Ideale zu bergen, die vergrabenen Sehnsüchte, die unterdrückten Wünsche und verbrannten Hoffnungen.

Im Mai 2009 verübten wir vom Zentrum für Politische Schönheit auf Pferden einen Thesen-Anschlag am Hauptportal des Deutschen Bundestages. Eine These lautete: »Menschen werden nicht nur von Ursachen, sondern auch von Zielen bewegt. Schönheit, Größe und Vollkommenheit sind Ziele.« Eine andere: »Hoffnungen sind nicht dazu da, aufgegeben zu werden.« Hoffnungen sind ein gewaltiger Rohstoff. So bewirbt das Zentrum für Politische Schönheit in den Strukturfonds der EU-Außengrenzen, der eigentlich Helikopter, Überwachungskameras und Kriegsmarine anschafft, seit 2009 eine Steinbrücke, die von Afrika nach Europa reichen soll. Ein Architekturbüro hat die Pläne für dieses Jahrhundertwerk der Humanität längst entworfen, damit niemand mehr auf dem Weg nach Europa (oder Afrika) ertrinken muss. Als wir als Ad-hoc-Maßnahme 1 000 fest verankerte Rettungsinseln auf dem Mittelmeer vorschlugen (»Seerosen für Afrika«), wurden wir gefragt, wem damit geholfen sei, wenn im Mittelmeer 1 000 Rettungsinseln schwappten. Unsere Antwort: »36 000 Menschen im Jahr. Fast einer halben Million pro Jahrzehnt. Gesetzt den Fall, dass die Flüchtlingswellen nicht zunehmen, wovon nur wenige ausgehen.« Das war 2009. Damals bauten wir in kleinen »technischen Abteilungen« Farbbomben und färbten deutsche Schwimm- und Freibäder rot, um auf das blutdurchtränkte Mittelmeer hinzuweisen. Wir wollten den Sarkophag, den man schützend über den Atomreaktor von Tschernobyl errichtet hat, über den drei größten Rüstungsfabriken Deutschlands errichten, damit keine tödlichen »Produkte« mehr den Fabriken entweichen. Was wir brauchen, ist eine mutige Politik. Wir wollen Deutschland die Hoffnung zurückgeben, die es mit Merkel, Kauder, Altmeier und all den anderen Spießgesellen verloren hat.

Aktionskunst versucht sich immer an der Rettung der Gesellschaft. Das Material des Bildhauers ist der Stein. Das Material des Aktionskünstlers ist die Gesellschaft. Wir wollen niemanden töten und keine Mauer wiedererrichten. Wir planen politische Unternehmungen, die der Nachwelt als Akte strahlender Schönheit, als Wohltaten der Menschheit erscheinen. Wir versuchen eine Epoche der politischen Schönheit, Größe und Poesie durchzusetzen. Manchmal entstehen historische Umbrüche aus Staubwirbeln. Manche behaupten, dass das Zentrum für Politische Schönheit diesen Wind sät.

Das Zentrum ist eine Ideen-, Gefühls- und Handlungsschmiede für Menschen, die anstreben, Schönes und Großes zu tun. Es betreibt seit Jahren eine parallele deutsche Außenpolitik. Momentan planen wir, in all die Länder zu reisen, die Merkel besuchen will. Wir landen dann jeweils eine Stunde vor ihr, um Deutschland ordentlich zu repräsentieren. Falls vom Buffet etwas übrig bleibt, darf die Kanzlerin sich gerne bedienen. 2010 präsentierten wir im Namen von 6 000 Überlebenden des Genozids von Srebrenica ein Mahnmal gegen die Vereinten Nationen: die Säulen der Schande, hinter denen sich ganz Bosnien-Herzegowina versammelte. 2011 entlarvten wir das völlige Fehlen ethischer Grundsätze bei der Deutschen Bank. Ihr Pressesprecher geriet mit der Aussage auf unser Diktiergerät, dass die Menschen in Somalia selbst schuld seien, wenn sie sich die hohen Brotpreise nicht leisten könnten. Die Bank wollte klagen, aber das sorgte nur dafür, dass sich die herzlose Aussage millionenfach im Internet verbreitete. Entsetzlicher war aber eigentlich eine Aussage des Pressesprechers von Merkel, der behauptete, die Bundeskanzlerin könne akut nichts zum Hunger von über einer Milliarde Menschen sagen, weil es dafür »jetzt keinen Anlass gibt«. Danach gefragt, was er sich unter einem Anlass vorstelle, meinte er: eine Konferenz oder eine Tagung.

2012 sorgte das Zentrum für Politische Schönheit dafür, dass die verschwiegenen Waffenhändler des Leopard-II-Panzers bundesweit bekannt wurden. Der von der deutschen Regierung forcierte Deal mit Saudi-Arabien, mitten im Arabischen Frühling, platzte schließlich. Im vergangenen Jahr haben wir für die Bundesregierung ein komplettes Hilfsprogramm entwickelt – die »Kindertransporthilfe des Bundes«. Nach dem Vorbild der britischen Kindertransporte im Zweiten Weltkrieg, bei denen deutsch-jüdische Kinder aus Deutschland gerettet wurden, suchten wir im Auftrag der Bundesfamilienministerin deutsche Pflegefamilien, die bereit waren, syrische Kinder aufzunehmen. Wir wollten wenigstens ein Prozent der Kinder aus der Krisenregion retten, was 55 000 Pflegefamilien entsprach. Wir wurden überwältigt von einer Welle der Hilfsbereitschaft, und allein in den ersten 48 Stunden meldeten sich über 1 000 Familien an. Der Druck auf die Regierung wuchs, und sie musste uns, statt vor Gericht zu ziehen, ins Kanzleramt einladen.

Gute Politik sollte künstlerisch sein. Es gibt in diesem Land viele politische Künstler, aber keinen einzigen künstlerischen Politiker. Weil Akte politischer Schönheit so selten sind, versucht das Zentrum für Politische Schönheit, diese Handlungen aus den Flussläufen der Geschichte zu bergen. Kunst kann gesellschaftliche Konflikte nicht nur zur Detonation bringen. Sie kann auch mit ihrer Lösung experimentieren. Denk- und Handlungsverbote können im Medium des Theaters aufgelöst werden, um die höchste Form der Kunst in Szene zu setzen: gute – und schöne – Politik.

Aber das, was wir wirklich erreichen wollten, eine Agenda mutiger politischer Taten, haben wir längst nicht geschafft. Als wir zum Ersten Europäischen Mauerfall aufriefen, wurde das Gorki-Theater in Berlin von der Bundespolizei umstellt. Helikopter kreisten über dem Haus mit seiner wundervollen Intendantin und versuchten die Vorstellung zu beenden. Die Zeitungen titelten: »Die Außengrenzen der EU werden am Gorki-Theater in Berlin verteidigt.« Rund 100 Aktivisten gelang zwar der Ausbruch aus der Umkesselung, aber die EU-Außengrenze konnten sie, mit Bolzenschneidern ausgerüstet, aufgrund eines massiven europaweiten Polizeiaufgebots nicht abbauen. Dafür misslang allerdings auch das Ansinnen der Bundesregierung, den 25. Jahrestag des deutschen Mauerfalls als gegenwartsvergessenes Oktoberfestgedenken zu veranstalten. Die weißen Gedenkkreuze am Verlauf der ehemaligen Berliner Mauer flüchteten aus dem Hochsicherheitstrakt des Regierungsviertels an die EU-Außengrenzen – in einem Akt der Solidarität zu den neuen Mauertoten.

Die Künste sind die Impulsgeber einer Nation. Auf den Künsten ruht eine Gesellschaft. Realität ist die Zukunft. Und Zukunft ist formbar. Es gibt zwischen Politik und Kunst keine Trennung, die aufrechtzuerhalten wäre. Die Parteien haben zwar alles – vom Postboten bis zur Fraktionsvizevizechefin –, aber was ihnen ganz offensichtlich fehlt, ist die Freiheit, über den historischen Sinn unseres politischen Wollens nachzudenken. Das ist nicht weiter schlimm. Man muss es nur erkennen. Die Kunst kann die Politik aus dieser aussichtslosen Lage, in die sie sich selbst manövriert hat, befreien – eine historische Chance. Wir leben in einer arbeitsteiligen Gesellschaft: Die Politik kümmert sich um das Alltägliche, politische Kunst um den Rohstoff, aus dem unsere Zukunft gemacht ist: Hoffnungen, Ansprüche und Ambitionen.

Das Zentrum für Politische Schönheit ist gedacht als Maximalbastion gegen die Kleingeistigkeit (mikropsychia) und Selbstbezogenheit unserer Zeit. Die Grundfrage lautet immer: Was ist das Größte, Schönste, Wirkmächtigste, das wir tun könnten? Jemand hat geschrieben, der Mythos lege das Geschehen als Tun aus. In diesem Sinne führen wir Politik radikal in ihren Handlungschancen vor. Wir wollen die Wirklichkeit zeigen, die sein könnte, gerade nach den ideologischen Großkatastrophen des 20. Jahrhunderts.

Elie Wiesel sagte, im 20. Jahrhundert habe es nur drei Sorten von Menschen gegeben: die Killer, die Opfer und die Danebensteher (bystanders). Bis heute haben viele den Sinn der künstlerischen Entscheidung, sich ausschließlich mit Massensterben zu beschäftigen, nicht vollends verstanden. Es ist die Dunkelheit, die Erkenntnisse erleichtert. Die dunkelsten Stunden der Menschheit zeigen am deutlichsten, was politisch schön war oder ist. Die von den Tätern angerichtete Finsternis schluckt die Danebensteher und lässt jene Handlungen aufblitzen und funkeln, die moralisch und politisch schön sind.

Es gibt auch andere hoffnungsvolle Aktionen in Deutschland, dennoch bleiben es Einzelfälle. Was ist zu tun in einer Zeit, in der sich Menschen ohne Aufgabe sehen? Dass gerade jüngere Menschen daran zerbrechen, bleibt als Kollateralschaden viel zu unbeachtet. Kein Politiker oder Denker unserer Zeit verhandelt dieses Problem in einer Weise, die einen wirklichen Ausweg bietet. Vielleicht kann dieses Buch ein Anfang sein, den mühsamen Weg zu beschreiten. Es soll die Problematik, die uns an den Scheideweg von Zukunft und Bedeutungslosigkeit gebracht hat, aufrollen und jene humanistischen Überzeugungen aufzeigen, aus denen Akte politischer Schönheit geboren werden können. Es geht um nicht weniger als die letzte verbliebene Utopie, die das ideologische Schlachtfeld des 20. Jahrhunderts uns hinterlassen hat: die Mitmenschlichkeit.

Prolog – Die Wirkmacht von Ideen

Wenn wir zurückdenken, werden wir uns alle an einen Augenblick erinnern, in dem eine Idee unser Leben veränderte. Wir kennen den Schub, der uns durchströmt, wenn wir erkennen, dass es sich bei dem, was wir hören, lesen oder uns ausdenken, um einen genialen Einfall handelt. Voller Tatendrang gehen wir in die Welt hinaus, mit der Gewissheit dieser Idee im Kopf. Aber wie lange liegt das zurück? Der Glaube fehlt uns, wir seien Teil einer bedeutsamen Zeit. Wir haben das Empfinden dafür verloren, etwas Beispielloses gehe in unserer Zeit vor sich und werde die Welt verändern. Mit dem Scheitern der Großideologien des 20. Jahrhunderts ist auch die Erwartung ausgebrannt, eine Idee könne das Leben der Menschheit beflügeln.

Seitdem die Großideologen untergegangen sind, liegt die Sicht frei auf den Hintergrund: Millionen orientierungslose Menschen. Die Anspannung, mit der Menschen einmal ihrer Zukunft entgegenfieberten, fließt heute in die Einrichtung von Wohnzimmern. Die Sehnsucht nach der Zukunft kauft heute schwedische Einrichtungshäuser leer. Die westlichen Demokratien schaffen einen unfassbaren materiellen Reichtum. Wir erleben einen nie da gewesenen Aufschwung: Von 1970 bis 2015 hat sich das deutsche Bruttoinlandsprodukt von 500 Milliarden Euro auf 3 000 Milliarden versechsfacht