Schlussstein - Peter Gnas - E-Book

Schlussstein E-Book

Peter Gnas

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Rotberg sah auf in den blauen Himmel, an dem kaum eine Wolke zu sehen war. Die Sonne schien auf die verletzte Stadt herab. Dann glitt sein Blick nachdenklich über die Fassade des altehrwürdigen Rathauses. "Sieh dir mal die Bögen der Arkaden an. Sie sind gemauert. Es gibt antike Rundbögen, die tragen sich vollkommen ohne Mörtel. Die Last des eigenen Gewichts hält sie stabil. Ganz oben in der Mitte sitzt der Schlussstein. Hier hat er die Form eines Kopfes, innen in den Arkaden ist es ein einfacher Ziegelstein." Sabrina Hamm folgte seinem Blick, sie hatte sich die Details dieses Bauwerks noch nie so genau angesehen. "Die Baumeister haben das Wissen von Generation zu Generation weitergegeben und verfeinert. Die Gebäude sind quasi ein Abbild der sich entwickelnden Gesellschaft. Es gab immer wieder Rückschläge durch barbarische Zeiten und Herrscher – im Ganzen betrachtet, hat das Positive sich aber stets weiterentwickelt." Rotberg dachte einen Moment nach. Sabrina Hamm mochte ihn nicht unterbrechen. "Dieses schöne Rathaus ist ein Symbol für das, was gewachsen ist. Bremen als freie selbstständige Stadt. Nur in Freiheit kann eine Gesellschaft etwas so Schönes hervorbringen. Jede Begrenzung durch totalitäre Systeme bedeutet nicht nur Stillstand, sondern Rückschritt. Dein schönes Mobiltelefon zum Beispiel – es kann nur in einem Kopf entstehen, der frei ist. In einem Kopf, der sich darauf verlässt, dass die Gesellschaft ihn braucht, ihn trägt und fördert. Das ist wie mit diesem Bogen: Er trägt das, was über ihm ist und hält das zusammen, was unter ihm ist." In Bremen gab es eine Explosion in einem Kindergarten. Die Stadt ist geschockt über viele verletzte und getötete Kinder. Kriminalhauptkommissar Sebastian Rotberg und sein Team beginnen mit den Ermittlungen zu dem Unglück. Alle Hinweise auf Schuldige laufen jedoch ins Leere bis ein für das Geschehen Verantwortlicher einen Fehler begeht. Spuren führen von Bremen nach Hamburg und ins Ausland.

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Schlussstein

Kriminalroman von Peter Gnas

Peter M. Gnas ist 1955 in Bremen geboren und hat dort Kunst studiert. Seit Jahrzehnten arbeitet er selbstständig als Grafik-Designer und Texter in Stuttgart. Kreativität in Wort und Bild tragen ihn durch sein gesamtes Leben. Neben der zielgerichteten schöpferischen Tätigkeit im Marketing arbeitet er frei künstlerisch in Wort und Bild. Der Kriminalroman „SchlussStein

Impressum

Deutsche Erstveröffentlichung

© 2016 by Peter M. Gnas

Herstellung und Verlag: Peter M. Gnas

Umschlaggestaltung: Die Zeitgenossen GmbH, Stuttgart

Umschlagfotos: bb-doll(iStock) und 3D-Agentur (depositphotos)

Bremen, Montag 09. Februar 2009, 07.35 Uhr

“Was ist passiert? Oh Gott, was ist da los?“

RoseStein, die Leiterin der Kindertagesstätte im Erdbeerweg in Bremen, war nach einem gewaltigen Knall aus dem Büro gestürmt. Von dem Gang, der zu den Gruppenräumen führte, standen nur die letzten vier Meter vorihrem Zimmer – dahinter lagen Trümmer. Es brannte, jemand schrie, Kinder kreischten und weinten. RoseStein lief dorthin, wo nochvorwenigen Augenblicken ihre Schützlinge spielten. Sie sah in die Augen vonJessicaMolln, Erzieherin in der Gruppe Blau.

„Was ist passiert, Jessica?“

Sie schaute entsetzt ins Leere.

„Bitte kümmere dich um die Kleinen, ich rufe die Feuerwehr!“

Sie reagierte nicht. Sie drückte die Finger gegen die Ohren undmachte Bewegungen als bohre sie darin. RoseStein rannte in ihrBüro, sie griff zum Telefon: „Eins, eins, zwo!“ sprach sie beim Tippen der Nummer. Kein Ton „Mist, null vorwählen“, fluchte sie. Wieder nichts. Sie warf den schnurlosen Hörer auf den Schreibtisch und kramte in der Handtasche nach dem Mobiltelefon. „Eins, eins, zwo!“ Musste man die Ortsvorwahl wählen, überlegte sie, während sie lauschte. Ein Freizeichen – noch eines.

„Feuerwehr Bremen, Notrufzentrale“, meldete sich eine sachliche Männerstimme.

Rose Stein berichtete, was in den letzten zwei Minuten geschehen war. Nach dem Auflegen stürmte sie in die zerstörte Küche, die neben dem Büro von dem verbliebenen Flur abging. Niemand war zu sehen.

„Frau Specht? Frau Bülow?“ Keiner da. Sie eilte dorthin, wo sie versucht hatte mit JessicaMolln zu sprechen. Die standwenige Meter entfernt. Sie hatte die Hände in einer Geste des Entsetzens vor Mund und Nase gefaltet. JessicaMollnwar erstarrt – Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Von weitem hörte man Martinshörner, es mussten dutzende sein. Anwohner kamen. Einigestandenwie gebannt, andere begleiteten die Kinder aus den Trümmern. Nachbarn des Kindergartens nahmen die Kleinen in Empfang und brachten sie in das Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Anliegerstraße. Sämtliche Scheiben des Gebäudes waren zerborsten, im Vorgarten lagen Trümmerstücke. An mehreren Stellen war der Putz zerstört. Es sah aus wie nach einem Angriff in den Kampfgebieten dieser Welt.

Bremen, Montag 09. Februar 2009, 07.50 Uhr

Sebastian Rotberg, Erster Kriminalhauptkommissar aus der Polizeizentrale Bremen Vahr, war von der Notrufzentrale benachrichtigt worden. Rotberg deutete seiner Kollegin Sabrina Hamm mit einer Geste an, dass sie ihn begleiten solle. Während beide zu dem Einsatzwagen eilten, zogen Sie Ihre Jacken an.

„Was ist passiert?“, wollte sie wissen.

„Es gab eine Gasexplosion in einem Kindergarten im Erdbeerweg. Weißt du, wo der ist?“

Sabrina Hamm zuckte die Schultern. Im Auto angekommen fragten sie über Funk nach dem Weg.

Rotberg und Sabrina Hamm arbeiteten seit zwei Jahren zusammen. In den ersten Monaten hatte Rotberg Probleme damit, dass man seiner Abteilung noch eine Frau zugeteilt hatte. Er hatte gehofft, einen männlichen Mitarbeiter zu bekommen. Immerwieder versuchte er, sie bei der Verteilung wichtiger Aufgaben zu übergehen und ihr untergeordnete Arbeiten zu übertragen. Es hatte ihn insgeheim geärgert, dass sie keine Fehler machte und alles ohne Murren übersich ergehen ließ.

Die Kollegen sprachen ihn nach einigen Wochen an, dass er die feinen Spitzen ihr gegenüber lassen solle, das würde nur Ärger geben. Rotberg zürnte mit sich selbst, dass er sich anstellte wie ein Trottel. Jeder hatte es bemerkt.

Eines Abends klopfte sie an den Türrahmen von Rotbergs Büro, das die meistens offenstand. Er schaute auf.

„Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?“, fragte Sabrina Hamm vorsichtig.

Jetzt bloß nichts anmerken lassen und keine Macho-Allüren, dachte er und sah sie über die Lesebrille hinweg an.

„Ich wollte gern mit Ihnen sprechen“, sagte sie. Rotberg deutete mit einer jovialen Geste auf einen der beiden Stühle, die am kreisförmigen Teil des Schreibtisches standen. Er war bei der Arbeit sehr genau, sah man jedoch den Arbeitsplatz an, konnte man leicht den gegenteiligen Eindruck gewinnen. Er rollte mit dem Sessel an den Besprechungstisch und legte die Aktenstapel auf den Boden, die sich vor Sabrina Hamm auftürmten.

„Was kann ich für Sie tun, Frau Hamm?“

Jeden in der Abteilung redete er mit dem Vornamen an, alle duzten einander – sie sprach er weiterhin mit Frau Hamm an. Kein Wunder, dass es auffiel, dass er Probleme mit ihr hatte.

Sie sah einige Augenblicke auf einen unbestimmten Punkt auf dem Tisch. Sie wirkte nervös, das nahm er wahr. Er merkte einem Gegenüber alles an. Ihn zu belügen war ausgeschlossen. Deshalbahnte er, was gleich zur Sprache kommen würde.

„Herr Rotberg“, sie suchte nach den passenden Worten, „Sie trauen mir wenig zu, oder?“

„Wiekommen Sie den darauf?“ Ihm wurde unbehaglich.

Jetzt nurnicht unsicher oder rot werden. Früher errötete er leicht, das hatte im Laufe der Jahre mehrundmehr nachgelassen.

„Verstehen Sie mich bitte richtig, ich tue meine Arbeit im Team ausgesprochen gern. Ich versuche alles gründlich und schnell zu erledigen. Ich hoffe, Ihnen ist das nicht entgangen.“

„Nein, natürlich nicht.“

“Die Aufgaben im Innendienst sindsehrinteressant – die Routinearbeiten eher eintönig. Jeder in der Abteilung erledigt solche Dinge. Ich bin leider diejenige, die nie draußen ist – an den Tatorten.“

Sie strich mit Daumen und Zeigefinger zweimal über den Naserücken. Das tat sie immer, wenn sie unsicher war. Sie hatte diese Geste bei vielen Menschen beobachtet. Andere riebensich ein Auge.

Rotberg riebsich ein Augeund starrte ins Leere. Er hatte sie von Anfang an gemocht. Schon bei der Auswahl der Kandidaten auf die Stelle war sie ihm sofort aufgefallen. Sie warnichtschön im eigentlichen Sinn. Die klugen, dunklen Augen, ihre etwas zu große Nase, der geschwungene Mund, ihr kurz geschnittenes, schwarzbraunes Haar ihre sportliche Figur entsprachen eigentlich nicht dem, was ihm an Frauen gefiel. Unddoch faszinierte sie ihn vom ersten Moment an. Sie hatte Vorfahren aus dem arabischen Raum. KonnteHamm ein Name von dort sein? Er hatte keine Ahnung. Sollte er danach fragen? Nein, das würdewie ein Vorbehalt wirken. Später erfuhr er, dass die Mutter einen Mann aus dem Iran geheiratet hatte. Nach der Scheidung hatte sie dafür gesorgt, dass die Tochter ihren deutschen Mädchennamen erhielt.

Er hatte schon im Bewerbungsgespräch gespürt, dass Sabrina Hamm für ihn mehr Bedeutung bekommen könnte. Weil er kein Argument gegen die Einstellung in seinTeam fand, gab er sich jovial und enthielt sich der Stimme. Natürlich sprangen alle jungen Kollegen sofort auf sie an. Es störte ihn – und er ärgerte sich darüber, dass es ihn störte. Deshalb hatte er ständig versucht räumlichen Abstand zu ihr zu halten.

Jetzt, da sie ihm gegenübersaß, spürte er, wieseine Burgmauern Risse bekamen. Er mochte sie – er hatte sie vom ersten Moment an gemocht.

„Sie liegen vollkommen richtig, Sie wurden zu wenig berücksichtigt. Ich war der Auffassung, dass ich Sie am Anfang vor der Wirklichkeit schützen sollte“, log er, „möglicherweise habe ich übertrieben.“

Sabrina Hamm wardamals von dem plötzlich veränderten Ton und dem milden Verhalten verdutzt. Skeptisch sah sie ihn an. Er bemerkte das. Dachte sie womöglich, dass er die späte Stunde zu zweit ausnutzen wolle? Bloß das nicht.

Rotberg hatte für jede Situation, die ihm über den Kopf zu wachsen drohte, dieselbe Strategie. Er stellteFragen. Nach der Familie und Interessen, nach Reisen undHobbys. Dahinter verbarg er Schüchternheit. Er konnte verebbende Gespräche beleben und manche unangenehme Stille füllen. Menschen sprachen gern von sich. Dass dieseStrategie perfekt zu dem Beruf des Kriminalpolizisten passte, war ein Glücksfall.

An jenem Abend lernte er viel über sie. Auch sie stellte ihm persönliche Fragen. Sie unterhielten sich lange, sie lachten und hörten interessiert zu. Er erfuhr, dass Sabrina Hamm eine lose Beziehung mit einem deutsch-türkischen Mann hatte. Die Verbindung sei nicht besonderstief, weil er ihr als Lebenspartner zu dominant sei. Es gab ihm einen Stich.

Er erzählte von seiner Frau und den bereits erwachsenen Kindern. Dabei wurde ihm bewusst, dass er dem Alter nach ihr Vater sein konnte.

Rotberg hatte einige Wochen gebraucht, die schöne Phantasie einer späten Liebschaft loszulassen. Er hatte sie beobachtet, wie sie auf Männer wirkte und es verstand, diese Wirkung einzusetzen. Sie achtete ihn aufrichtig. Ihr Bild von einem Mann an ihrer Seite sah völlig anderes aus. Rotberg spürte genau, wen sie schätzte, welche Menschen ihr nicht gefielen undwelcher Typ Mann sie faszinierte. SabrinaHamms Gegenwart belebte ihn undbliebimmer ein wenig prickelnd.

Jetzt saßen sie im Wagen, sie bugsierte ihn durch die verschiedenen Stadtteile Bremens bis zu dem betroffenen Kindergarten.

Rotberg musste das Auto abseits abstellen. Er konnte nichtnäher heranfahren, weil die Straße mit Trümmerteilen übersät war. Die Lüftung des Autos sog Rauchgeruch ins Wageninnere. Beide blieben einen Moment im Fahrzeug sitzen und ließen schweigend die bizarre Szene wirken. Menschen, die scheinbar ziellos umherliefen, Weinen, Schmerzlaute. Sie sahen den routinierten Tätigkeiten der Feuerwehr zu. Rund um das zerstörte Gebäude standen Krankenwagen und Notarztfahrzeuge. Es kamen laufend neue.

Die Polizei versuchte die Nachbarn, die zuerst geholfen hatten, mit diplomatischem Geschick von der Unglücksstelle fortzuschicken.

Sabrina Hamm holte tief Luft und fragte mit zugeschnürter Kehle: „Wollen wir?“ Ihr ging es nicht gut.

„Wir stehen hier mehr im Wege, als nützlich zu sein. Aber, wir müssen wohl!“

Auch Rotberg war mulmig zumute. In den langen Jahren der Berufstätigkeit betrat er viele Unglücksstellen. Zu Beginn der Laufbahn bei der Bereitschaftspolizei und später bei der Kriminalpolizei.

Er hatte verletzte und schockierte Menschen erlebt, hatte Bewusstlose undTotegesehen. Nach solchen Unglücken haftete der Geruch von Bränden, von verbranntem Fleisch und Blut in seiner Nase. Er hatte nächtelang wach gelegen und die verzweifelten Leute, die nach Angehörigen fragten, vor dem inneren Auge gesehen. Am Anfang richteten ihn die erfahrenen Kollegen auf. Manchmal trank er des Nachts zwei oder drei Schnäpse, damit er wieder einschlafen konnte. Ab und zu hatte es geholfen.

Am meisten hatte ihm zu schaffen gemacht, wenn er unvermittelt vor einem Totenoder Schwerstverletzten stand. Beim Öffnen einer Tür, beim Hochheben eines Trümmerteils oder Durchsuchen eines Gebüsches. Dann fuhr ihm der Schreck direkt in den Magen, das ein oder andere Malso heftig, dass er sich übergeben musste. Dafür hatte er sich geschämt. Trotz der Zusicherung einiger Kollegen, dass man sich dafür nicht schämen müsse, spürte er genau, dass es unter ihnen genügend Männer gab, die ihn für zu weich hielten. Später bei der Kriminalpolizei vermied er es, an solchen Plätzen voreilig jedes Stück Holz anzuheben. Das überließ er den Leuten von der Spurensicherung oder der Bereitschaftspolizei.

Je dichter sie dem zerstörten Gebäude kamen, desto schwieriger wurde das Gehen und umso intensiver waren die Eindrücke. Es gab kleine Ecken, in denen es brannte oder gebrannt hatte. Die Feuerwehr, die zuerst vor Ort war, hatte bereits die stärksten Brände gelöscht. Auf den Trümmern riefen erwachsene Personen verzweifelt Namen: Levi, Marie, Isabella, Oskar. Vermutlich Kindernamen. Er dachte an die eigene Enkeltochter Ella. Er hatte gestaunt, dass ein Kind von heute einen so traditionellen Namen trug. Ellahießen für ihn ältere Damen.

Rotberg bat Sabrina Hamm, die Forensik anzurufen. Im Augenblick beschäftigte sich die Feuerwehrnoch mit der Bergung. Sie würdenihre Experten auch bald vor Ort haben, um nach den Ursachen zu forschen. Während sie telefonierte, bedeutete er ihr, dass er zu dem Feuerwehrmann gehe. Dessen Gesicht erkannte er gleich, er hatte aber vergessen, wie er hieß.

Der begrüßte ihn mit einem festen Händedruck: „Moin, HerrRotberg!“

Mist, der Mann erinnerte sich an ihn – er musste fragen. „Tut mir leid, mir fällt nicht mehr ein, wie Sie heißen. Es ist schon ein Jahr her, oder?“

„Timm, Günter Timm!“

„Klar, richtig. HerrTimm“, sagte er, als sei es ihm gerade erst entfallen. „SindIhre Brandermittler bereitshier?“

„Nein“, wehrte der Feuerwehrmann ab, „wir suchen und bergen janoch. Es sollten jetzt bald Spürhunde eintreffen. Vermutlich gibt es einige verschüttete Personen.“

„Wissen Sie, ob es Tote gab?“

„Ja, wie viele kann ich im Moment nicht sagen und natürlich auch nicht, ob Menschen vermisst werden.“

„Gab es Kinder unter den Opfern?“

„Ja“, antwortete Timm knapp. „Leider.“

Sabrina Hamm trat zu ihnen. „Die Spurensicherung ist unterwegs“, sagte Sie an Rotberg gewandt. Sie gab dem Feuerwehrmann die Hand: „Herr Timm, oder?“

Der nickte.

„Sabrina“, bat Rotberg, „sei sogut, sorge dafür, dass alle Toten in die Gerichtsmedizin gebracht werden.“

„Ist veranlasst – es sind Fahrzeuge auf dem Weg.“

Rotberg fragte Timm, ob er eine Idee habe, was geschehen seinkonnte.

„Möglicherweise eine Gasexplosion“, antwortete der, „wir haben bisher keine Pläne des Kindergartens eingesehen. Die Leiterin hat uns gezeigt, wo die Küche stand und wo die Heizanlage. Es wurde mit Gas gekocht und geheizt. Der Haupthahn ins Gebäude wurde von unseren Männern freigelegt. Gott sei Dank ist er funktionsfähig. Die Stadtwerke sind verständigt – ein Trupp sollte unterwegs sein, um die Hauptleitung zu schließen.“

„Wir wollen die Kindergartenleitung sprechen, wissen Sie, wo sie ist?“

Timm schüttelte den Kopf: „Sie ist ins Krankenhaus gebracht worden – sie war äußerlich nichtverletzt, hatte aber einen Zusammenbruch, nachdem sie begriff, was geschehen war.“

Rotberg, Sabrina Hamm, Timmund der stellvertretende Einsatzleiter der Feuerwehr besprachen das gemeinsame Vorgehen. Es wurdenweitere Kollegen der Kriminalpolizei angefordert. Beamte in Uniform und in Zivil sprachen mit den umstehenden Menschen. Sie nahmen Personalien von denen auf, die im Moment nicht in der Lage waren zu sprechen. Erstarrt schauten die Augenzeugen, wenn ein Sarg an ihnen vorbeigetragen wurde. Sie versuchten einen Blick auf die zu werfen, die verletzt in einen Krankentransporter getragen wurden.

Die Eltern, die ihr Kindnochnicht gefunden hatten, probierten immerwieder in die Ruinenlandschaft zu gelangen. Polizei, Feuerwehrund die mittlerweile eingetroffenen Krisenhelfer bemühten sich Väter, Mütter und Großeltern fernzuhalten. Niemand wollte riskieren, dass ein Angehöriger sein schwerverletztes odergartotesKind in den Trümmern entdeckte.

Innerhalb einer Stunde war die Szene mit unzähligen Helfern gefüllt. Die ersten Suchhunde trafen ein undmachtensich sofort an die Arbeit. Feuerwehrund Technisches Hilfswerk hatten schweres Gerät herangeschafft. Von den Rändern der Unglücksstelle her, versuchte man größere Gesteinsbrocken beiseitezuschaffen. Dort, wo ein Hund anschlug, wurden mit einem Schwerlastkran aus sicherer Entfernung Steine angehoben.

„Es muss jemand mit den Journalisten reden“, meinte Rotberg. „Ist der Pressesprecher schonhier?“

SabrinaHamm verneinte.

„Sei sogutund sprich du mit ihnen“. Er wollte sichselbstnicht in der Zeitung oder im Fernsehen sehen. SabrinaHamm kannte das bereits. Es warnicht Koketterie – er mochte es einfachnicht. Sie hatte damit keine Probleme. Sie ließ sich gern fotografieren und gefiel sicheigentlichimmer auf Bildern. Sie fand ihre Nase zwar ein wenig zu groß, hatte aber gelernt, dass sie beim männlichen Geschlecht vielleichtgeradedeshalbgut ankam.

Sie klopfte den Staub von der Hose und ging auf die Gruppe Journalisten zu. Die grellgelbe Sicherheitsweste mit dem Aufdruck machte sie als Polizistin kenntlich. Die Reporter richteten sofort Kameras und Mikrofone auf sie.

„Guten Tag, meine Damen und Herren“, sagte sie in die versammelte Runde. Alle brannten darauf, etwas von dem zu erfahren, was sie nur aus der Ferne beobachten konnten. „Ich bin SabrinaHamm, ermittelnde Beamte bei der Kriminalpolizei Bremen. Der Pressesprecher kommt später, ich stehe ihnen für erste Antworten zur Verfügung. Es ist leidernoch nicht viel, was wir wissen.“

Alle Medienvertreter redeten gleichzeitig. Sie machte eine abwehrende Geste mit beiden Händen.

„Die Feuerwehr geht im Augenblick von einer Gasexplosion aus. Sie sehen mich erschüttert. Leider mussten wir ToteundSchwerverletzte bergen. Bis jetzt sind es etwa dreißig Verletzte und ebenso vieleTote – leider überwiegend Kinder“, sagte Sabrina Hamm mit gesenkter Stimme: „Wir versuchen in Erfahrung zu bringen, wieviele Menschen sich zum Zeitpunkt des Unglücks im Gebäude aufhielten.“

Die Presse hatte versucht mit den Angehörigen der Opfer zu sprechen, was die Polizei jedoch verhinderte. In einem abgesperrten Areal standen Zelte des Technischen Hilfswerks, dort konnten Angehörige betreut werden, ohne dass sie von Kameras beobachtet wurden. Immerwieder spielten sich dramatische Szenen ab, wenn Eltern glaubten, das eigene Kindentdeckt zu haben. Die Journalisten brauchten solche Bilder. Ein Teil in SabrinaHamm verstand das gut. Dennoch appellierte Sie an das Gewissen der Medienvertreter. Sie sah, dass nichtalle unter ihnen hartgesottene Profis waren. In vielen Gesichtern bemerkte sie Erschütterung und Anteilnahme. Manch einer musste spürbar um Fassung ringen.

Nach einer Viertelstunde verabschiedete sichSabrinaHamm von dem kleinen Pulk. Sie suchte Rotbergund fand ihn im Trümmerfeld inmitten einer Gruppe von Forensikern in ihren weißen Overalls. Die Leute starrten auf eine Stelle in den Trümmern. Sie fürchtete, dass es dort etwas Unangenehmes zu sehen gab und überlegte, ob sie sich den Anblick ersparen sollte. Jetzt war sie aber darauf eingestellt, wieRotberg es ihr als Tipp gegeben hatte.Sie ging entschlossen auf die Kollegen zu.

„Was gibt’s?“, fragte sie.

„Hier scheint der Explosionsherd zu sein“, antwortete er. „Ein Hund hatte Witterung aufgenommen. Nachdem der Kran ein heruntergestürztes Teil der Decke hochgehoben hatte, wurde die starkverbrannte Leiche einer erwachsenen Person entdeckt – wahrscheinlich eine Frau. Ein Experte der Feuerwehr hat die Stelle untersucht und gemeint, dass dies höchstwahrscheinlich das Zentrum sei. Frag’ mich bitte nicht, woran der das erkennt.“

„An der verbranntenFrau!“, spekulierte Sabrina Hamm.

„Möglich“, meinte er.

Bevor man Stein um Stein beiseite räumte, erfassten die Spezialisten der Kripo den Abschnitt mit dem Drei-D-Scanner. Mit jeder Schicht, die abgetragen wurde, gab es einen weiteren Scan. Man fror einen Tatort quasi ein. Der Computer rechnete später aus Einzelscans eine komplette räumliche Situation zusammen. Selbstkleine Teile, die am Ort eines Verbrechens oder an einer Unfallstelle möglicherweise übersehen wurden, ließen sich nachträglich nochmals genauer betrachten. Man konnte analysieren, wie die Dinge im Raum verteilt warenund Rückschlüsse auf die Ereignis-Reihenfolge ziehen.

Rotberg fiel es anfangs schwer, dieseTechnik zu nutzen. Er hatte nicht sofort die Vorteile erkannt. Dabeiwar ihm durchaus bewusst, wie viele Probleme er hatte, anhand von Tatortfotos das Gesamtbild der Umgebung im Kopf zusammenzusetzen. Genauso widerstrebte es ihm zunächst, vor Ort einen weißen Overall zu tragen. Jeder Polizist sah gleich aus.

Die jüngeren Kollegen waren aufgeschlossener. Sie brachten ihm neue Methoden mit Begeisterung näher. Mittlerweile war er ein routinierter Nutzer aller Möglichkeiten. Er ging zwar nach wie vor lieber an die echten Tatorte – um auf gute Ideen zu kommen, wie er es nannte. Es faszinierte ihn aber, wieviele Bausteine heute zur Verfügung standen, um eine Tat nachzuvollziehen und eine Beweiskette lückenlos zu schließen.

Jetzt sollten sie diesen Platz besser den Experten überlassen. Wenn es irgendeinennochsokleinen Hinweis gab, würden sie ihn finden.

Sabrina Hamm und Rotberg beschlossen in Erfahrung zu bringen, in welche Krankenhäuser die Verletzten gebracht worden waren. Es handelte sich um drei: Klinikum Links der Weser, Mitte und Bremen-Ost. Er rief vier Kriminalbeamte hinzu. Harald Wesselmann, mit dem er seitfast zwanzig Jahren eng zusammenarbeitete. Sven Grabert, ein jüngerer Beamter, der einigen Kollegen wegen seiner an Pedanterie grenzenden Genauigkeit auf die Nerven ging. Von der starkenSeitedieses Verhaltens hatte aber manche Arbeit profitiert. CarolaMenge, eine überaus kommunikative Beamtin und der wortkarge RalfKöster – ein ideales Duo. In vielen Befragungen von Zeugen oder Verdächtigen führte die Mischung zu erfreulichen Ergebnissen. Die Zeitgenossen, die bei CarolaMenges sprudelndem Charakter dichtmachten, knickten bei Kösters mürrischem Schweigen ein. Man konnte, wenn man ihn nicht kannte, unmöglich hinter seine Fassade sehen. Das schüchterte viele Menschen ein, ohne dass ein gereiztes Wort fiel.

Rotberg teilte die Gruppe ein: „Du Ralf, fährst mit Carola ins Krankenhaus Links der Weser, Harald und Sven fahren zum Klinikum Mitte. Sabrina und ich machen uns auf den Weg nach Bremen-Ost. Wir nehmen dort alle Namen und Daten der eingelieferten Personen auf. Falls ihr die Erlaubnis der Ärzte bekommt, solltet ihr die ansprechbaren Zeugen befragen.“

Er hob den Zeigefinger und sah mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde: „Aber auf jeden Fallimmer das Klinikpersonal um ein Okay bitten. Nicht wahr, Carola.“

Er zwinkerte ihr im Gehen zu. Sie verdrehte mit gespielter Genervtheit die Augen.

Bremen, Montag 09. Februar 2009, 11.35 Uhr

Nachdem das Eis zwischen ihnen gebrochen war, versuchte Rotberg ständig mit Sabrina Hamm zu arbeiten. Das Klima im Team hatte sichdadurch deutlich verbessert. WennRotberg mit einem anderen Kollegen zu Einsätzen fuhr, tat er es aufgrund von dessen Kompetenz vor Ort.

Wesselmann nahm er mit, wenn er sichergehen wollte, dass er gedanklich richtig lag. Der war im gleichen Alter und sah die Welt wie er. Manchmal genügte ein flüchtiger Blick zu ihm, dannwussten beide, was der andere dachte. Wesselmannwarvielleicht das, was man einen Freund nennt. Rotberg konnte im Grunde nicht sagen, ob er wirklicheFreunde hatte. Wieso viele Männer, tat er sich schwer damit. Ging er mit ihm ein Bier trinken, fühlte er sicheinfachwohl, auchwenn sie wenigodernur Bedeutungsloses redeten. Das warwahrscheinlich das, was er als Männerfreundschaft verstand.

Mit SabrinaHamm verhielt es sich ähnlich unddennoch völlig ungleich. Nachdem er die Phase der Abwehr dieses erotischen Flirrens, das er in ihrer Gegenwart spürte, eingeordnet hatte, gab er sich einer kurzen väterlichen Phase hin. Dann ließ er auch das. Es fühltesichgut an, mit ihr durch die Straßen zu gehen. Er nahm wahr, wie sie gleichermaßen auf Männerund auf Frauen wirkte. Die Menschen versuchten immerwieder einzuordnen, wie er mit ihr in Beziehung stand. Es gab seinem Ego einen gewissenKick, wenn man ihm zutraute, ihr Lebensgefährte sein.

Er warsicher, dass Sabrina Hamm das ebenso wahrnahm. Er bezweifelte allerdings, dass sie einen Kickdabei spürte, dass ein grauhaariger Kerl als ihr Partner wahrgenommen werden könnte. Er würdeaberniemals mit ihr darüber sprechen.

Am Anfang hatte er seinerFrauwenigvon der neuen Mitarbeiterin erzählt. Jutta hatte aber feine Antennen. Immer, wennKollegen in der Abteilung eingestellt wurden, sprach er ihr über sie. Es warseine Art die Person in den Alltag zu integrieren. Jutta hörte zu und half ihm, das Bild über den Mitarbeiter abzurunden, richtig einzuordnen undso Widerstände aufzugeben.

Juttawar sofort misstrauisch, als er zunächst nichtüberdieseFrau redete – wenn, dann ausschließlich abfällig. Und plötzlich schwärmte er ihr tagelang von SabrinaHammsStärken vor. Irgendwann fragte sie ihn auf den Kopf zu, ob er etwas mit ihr habe.

Rotberg fühlte sich ertappt. Er errötete und spürte, wie seine Wangen heiß wurden. Vor dem inneren Auge sah er seine Ohren rot leuchten. Jemehr er versuchte dieses Gefühl zu verbergen, desto stärker wurde es. Ihm half nur die Flucht nach vorn. Er erzählte Juttaallesüber die Kollegin, er gestand ihr, dass sie ihm auf Anhieb gefallen hatte und er sich das nicht eingestehen wollte.

Jutta hatte das geahnt – dafür liebte er sie. Sie war der Heimathafen, es gab keinen zweiten Menschen auf der Welt, den er mehr brauchte. Wenn sie sagte, dass er seineFreundschaften pflegen solle, war er verwundert. Sie waralleFreundschaft, die er anstrebte. Die Erotik hatte im Laufe der Zeit abgenommen, andere Dinge des Lebens gewannen an Bedeutung. Das Haus. Die Sorge um die Kinder und die Liebe zu ihnen. Die Ausbildung der beiden. Schließlich zog Fabian zuerst aus, zwei Jahre später Nadine. Sie mussten wiederneu lernen, alsPaar miteinander auszukommen.

Dann stand plötzlich Sabrina Hamm vor ihm. Es hatte ihn erwischt wie ein Schmiedehammer. Er durchlebte und durchlitt die Gefühle einer unerfüllten Leidenschaft. Er hatte versucht, es zu unterdrücken. Aber Erotik ist ein mächtiger Begleiter. Schon mancher brave Ehemann hatte Hals über Kopf das bisherige Leben hingeworfen. Für einige flüchtige Wochen viel riskiert undalles verloren, was ihm bis dahin Stabilität gab. Im Extremfall konnte daraus ein Fall für seine Mordkommission werden.

Bei aller Scham Jutta gegenüber überwog die Erleichterung. Zunächst zögerte er, dann sprudelte es aus ihm heraus. Sie blieben nach dem Essen sitzen. Er hatte eine Flasche Wein geöffnet, die sie im Laufe des Abends leerten. Er vertrug kaumnoch Alkohol. Beim zweiten Glas war er nicht mehr vollständig Herr seiner Zunge. Schließlich gingen sie ins Bett. Sie ließen das Geschirr mit den mittlerweile angetrockneten Speiseresten auf dem Tisch stehen. Es würde am anderen Morgen in der ganzen Wohnung danach riechen. Er versprach ihr, früher aufzustehen, alles wegzuräumen und den Frühstückstisch zu decken. Sie lagen nebeneinander. Jutta rollte sich zu ihm hinüber. Die Erleichterung darüber undder Weinließen ihn schnell einschlafen.

Sabrina Hamm undRotberg erreichten das Krankenhaus Bremen-Ost. Er hoffte, dass es ihnen gelingen würde, mit einer Mitarbeiterin des Kindergartens zu sprechen. Die verletzten Kinderlagen im Klinikum Mitte. Eine der vorrangigsten Aufgaben Wesselmannswürde es sein, sie und die Eltern zusammenzubringen.

Rotberg hatte Glück, in der Klinik lag RoseStein, die Leiterin der Kindertagesstätte undRainerWenzel, einer der ganzwenigen männlichen Erzieher. Es gab Menschen, die warf so ein Unglück lebenslang aus der Bahn. Zu denen gehörten diese beiden, laut Auskunft der Ärzte nicht. RoseSteinwar eine Frau, die das Ereignis mit einer psychologischen Aufarbeitung gut bewältigen würde. Nach Rücksprache mit dem Stationsarzt wollte Rotbergabernoch einen Tag warten, bevor sie mit ihr sprachen.

RainerWenzelwar ein ausgeglichen wirkender Mann von Mitte vierzig. Einer dieser stabilen Charaktere, die ausreichend psychische Ressourcen besaßen, um solch eine extreme Situation zu verarbeiten. Harmonische Kindheit, Eltern, die ihn die Liebe zu sichselbst gelehrt und ihm die Fähigkeit zum Lösen von Problemen mitgegeben hatten.

Er wardurch herumfliegende Teile am Kopf getroffen worden, das rechte Bein war gebrochen undetliche Prellungen färbten den Körper an vielen Stellen blau. Er war traurig über das, was sich ereignet hatte, beweinte aber nicht das eigene Unglück, er vergoss bittere Tränen um seine Schützlinge. Einige Kinder um ihn herum hatten geschrien, andere waren bewusstlos oder womöglich tot. Durch die Explosion hörte er einen Pfeifton, er nahm alles gedämpft wahr.

Nach Rücksprache mit dem Stationsarzt führte man die beiden Polizisten zu ihm ins Zimmer. Rotberg sah ihn weinen und fragte er, ob sie am nächsten Tag wiederkommen sollten.

Wenzel schüttelte den Kopf, er schnäuzte die Nase: „Geht schon“, meinte er und deutete mit den Händen auf die Stühle.

Sie nahmen zunächst die Personalien auf. „Wir haben Fragen zum Hergang“, fuhr er fort.

„Ob ich da viel helfen kann, weiß ich allerdings nicht. Es gab einen Knall und eine gewaltige Druckwelle. Dann brach alles zusammen. Das Nächste, was ich spürte, waren Schmerzen. Von meiner Stirn lief mir Blut in die Augen. Bewegen war unmöglich.“

„Das, was sich im Moment der Explosion abgespielt hat, können Sie kaumwissen. Was uns hauptsächlich interessiert ist das, was zum Unglück geführt hat.“ Rotberg sah ihn an.

„Gas?“, fragte Wenzel.

„Genau das meine ich“, antwortete Rotberg. „Wir denken auch an eine Gasexplosion. Die Küche und die Heizanlage wurden damit befeuert.“

„Sie wollen wissen, ob ich einen Gasgeruch wahrnahm?“

Die beiden Polizisten nickten gleichzeitig.

Der Erzieher schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, natürlich nicht! Dannhätte ich doch sofort reagiert!“

„Jedes Unglück hat in der Regel mehrere Faktoren, die zusammentreffen müssen, menschliches Versagen gehört zu den häufigsten.“ Rotberg sah ihn an: „Gibt es irgendetwas, das Ihnen vor der Explosion aufgefallen ist? Haben Sie von einer anderen Person von solch einem Vorfall erfahren? Ich meine zum Beispiel einen Ausfall der Heizung oder das es kein warmes Wasser gab. Waretwas Ungewöhnliches aus der Küche zu hören? Gab es kurz vorher eine Reparatur an der Heizanlage?“

Wenzel überlegte. „Nein, nicht, dass ich wüsste! Das ist auchkein Thema in den Teambesprechungen. Wennetwaskaputt ist, wenden wir uns an FrauStein, die kümmert sich darum.“ Er sah sie fragend an.

„FrauStein ist im Moment nicht ansprechbar, wir befragen sie morgen“, meinte Sabrina Hamm. „WäreIhnen ein Handwerker im Hausaufgefallen?“

„Wenn er laut ist, ja. Oder, wenn ich ihn zufällig im Gebäude herumlaufen sehe. Bei Arbeiten, die in unmittelbarer Nähe der Gruppenräume stattfinden, gehen wir mit den Kindern in den Garten.“ Er maß dem keine große Bedeutung bei.

Rotberg hakte nach: „Ist Ihnen ein Handwerkeraufgefallen?“

„Im Bereich der Heizung ...“, Wenzel überlegte.

Er strich mit der Hand über den Mund und wandte sich zum Fenster. Der Himmel war tiefblau. Als ob sie das Unglück verhöhne, schien die Sonne so strahlend, wie man sie eigentlichnur an einem glücklichen Tag wahrnahm. Dieser Gedanke streifte sein Unterbewusstsein. Er ließ die vergangene Zeit vor dem inneren Auge ablaufen.

„Ja, vor zwei Monaten wurde die Heizanlage gewartet“, er zog die Stirn kraus. „Eine Woche später wardann noch mal ein Monteur da, ein ganz dicker. Ich sah ihn zufällig auf dem Gang und fragte ihn im Vorübergehen, ob etwaskaputt sei. Er murmelte nur vor sich hin. Ich maß dem aberkeine Bedeutung bei. Es funktionierte ja alles.“

„War der zweite Techniker derselbe wie der erste?“, wollte Rotberg wissen.

„Keine Ahnung“, Wenzel zuckte mit den Schultern. „Ich habe den ersten nicht gesehen. Wir sollten an dem Tag bloß für einige Minuten die Heizkörper runterstellen.“

„Kennen Sie die Firma, die die Wartungen durchführt?“, fragte Sabrina Hamm.

„Nein, da müssen Sie auf FrauSteinwarten!“ er hob bedauernd beide Hände.

„Haben Sie mit jemandem über den erneuten Handwerkerbesuch gesprochen?“

„Nein.“

„Tja“, Rotberg atmete aus. Er sah fragend zu seiner Kollegin, „das war’s für heute, oder?“

Sie bestätigte mit einem Nicken.

„Herr Wenzel, vielen Dank. Wir versuchen morgen mit Ihrer Chefin zu sprechen, sie liegt zwei Stockwerke höher. Wenn sich aus dem Gespräch neue Fragen an Sie ergeben, würden wir gern wieder vorbeikommen.“ Rotberg stand auf.

„Klar“, der Erzieher streckte ihnen die Hand entgegen. „Ist noch jemand von der Kindertagesstätte hier im Haus?“

Sabrina Hamm tippte auf ihr Smartphone: „Eine Frau Ewers. Sie ist schwer verletzt undnicht ansprechbar.“

„Ach du liebe Zeit“, Wenzel wirkte besorgt: „Können Sie etwas über ihren Zustand sagen?“

„Nichts Genaues, nur dass es ernst ist.“

„Bitte seien Sie sogutundhalten Sie mich auf dem Laufenden“, bat er.

Rotberg reichte ihm eine Visitenkarte: „Versprochen! Wenn Ihnen etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an. Erholen Sie sich, Herr Wenzel.“

Die beiden verließen das Krankenzimmer. Sie hatten keine Lust aufs Büro und Berichteschreiben. Sie beschlossen, nochmals zu der Unglücksstelle zu fahren.

Bremen, Montag 09. Februar 2009, 16.40 Uhr

Mittlerweile hatte sich der Tag dem frühen Abend gebeugt. Ein schneeloser Wintertag, jetzt wurde es recht kühl. Sabrina Hamm saß neben ihm im Auto, sie tippteeinige Notizen in ihr Smartphone. Wieso viele der jüngeren Leute hatte sie eine große Fingerfertigkeit im Umgang mit diesen Dingern. Er störte sie nicht beim Tippen. Ab und zu stellte sie eine Frage über das soeben geführte Gespräch mit Wenzel, dann schrieb sie weiter. Sie nutze solche Fahrten, um wenigstensschoneiniges für den Bericht erledigt zu haben.

Rotberg sah, dass die meisten Menschen so einen Apparat benutzten. SelbstWesselmann hatte sichbereitseinen zugelegt. Er tippteund strich ständig darauf herum. In manchen Besprechungen warRotberg genervt darüber, dass jeder mit seinemTelefon befasst war. Sicher, es warpraktisch, wenn man malschnell ins Internet gehen konnte, um etwas nachzuschauen. Er hatte aberoft den Eindruck, dass die Mitarbeiter nicht bei der Sache waren.

Jutta Rotberg arbeitete bei einem großen Automobilhersteller im Büro. Auch von ihren Kollegen besaßen die meisten ein Smartphone. Sie hatte überlegt, ob sie ihrem Mann so ein Gerät zum Geburtstag schenken sollte. Weil es rechtteuer ist, hatte sie ihn lieber vorher gefragt. Er hatte abgewehrt. Das brauche er nicht. Da sei er nurwieder tagelang damit beschäftigt, alle Funktionen für herauszufinden. Sie beschloss, Weihnachten abzuwarten. Da kamen die Kinder zu Besuch, ihr Sohn Fabian würde ihm das dannso einrichten, dass er zurechtkam.

Nach einer Stunde Fahrtzeit durch den Feierabendverkehr erreichten Sie die Unglücksstelle. Mittlerweile lag die Szene im Scheinwerferlicht. Sie wirkte in ihrerinselhaften Helligkeit so gespenstisch, wie sie auch tatsächlich war. Vor Ort standennochmehr Kameras und Journalisten. Viel schweres Räumungsgerät wartete auf den Einsatz. Es herrschte eine professionelle Atmosphäre. Die meisten Anwohner warennach Hause gegangen. Es gab jedoch eine Menge Menschen, die sich auf den Weg gemachthatten, um ihre Neugierde zu befriedigen. Von allen Seiten drängten sie heran. Aberdurch die Kollegen von der Bereitschaft war das Gebiet weiträumig abgesperrt worden.

Im Zentrum der Ruine arbeitete immernoch eine Gruppe weiß gekleideter Polizisten. Der Scanner nahm gerade ein weiteres virtuelles Abbild der Szene.

„Na, da sind sie wohl tatsächlich zum Herd der Explosion durchgedrungen“, meinte Sabrina Hamm.

*

„Bitte was?“, Rotberg sah den Kollegen von der Spurensicherung fassungslos an. „Sag’, dass das nicht wahr ist!“ Er wartete auf eine Reaktion. „Ihr habtwirklich einen Zünder gefunden?“

Der Angesprochene ging an die Kiste, in die er die Fundstücke verstaut hatte. Er holte zwei verschlossene Plastiktüten heraus und hielt sie Rotberg vor die Nase. Die Tüten baumelten unter seinen Fingern. Rotberg sah die kleinen Metallteile an. Er musste die Brille abnehmen, um alles besser zu erkennen.

„Ist das eine Batterie?“

Der Forensiker nickte: „Wir müssen das natürlich noch untersuchen. Zuerst wollen wir dieses Stück des Ruinenfeldes komplett auswerten und später im Labor analysieren und rekonstruieren. Beim Bergen nehmen wir immerwieder für einen Moment einen leichten Marzipangeruch wahr.“

„Marzipan?“, fragte SabrinaHamm.

„Sie meinen Plastiksprengstoff?“, fasste Rotberg nach.

Der Kollege wiegte den Kopf: „Aber bitte mit aller Vorsicht. Ich möchte erst sichergehen.“

Rotbergblickte in Leere. „Eine Bombe in einem Kindergarten?“ Er sprach jedes Wort einzeln, soals gehörten sie nicht zu demselben Satz und er versuchen würde einen Sinn darin zu finden. „HierhabenKinder gespielt – Kinder! Drei oder vier Jahre alt!“

SabrinaHamm sah fassungslos zu den Anwesenden: „Was für ein mieses Schwein tut dennsoetwas?“

Rotberg sah ihr in die Augen. „Okay“, sagte er in die Runde, „nichts davon geht an die Öffentlichkeit, bevor Klarheit herrscht. Wie lange brauchen Sie?“, frage er die Leute der Spurensicherung.

„Morgen Mittag bin ich fertig. Wir werdenwahrscheinlichnochzwei Stunden graben. Dannfahren wir ins Labor und legen eine Nachtschicht ein.“

„Gut“, Rotberg wandte sich anSabrinaHamm gewandt: „Wir fahrendochnochmal ins Klinikum Ost, um mit der Kindergartenleiterin zu sprechen. Ich will von ihr hören, wer in der letzten Zeit Zugang zum Kindergarten hatte. Jetzt ist eine andere Situation da!“

Er setzte das Blaulicht aufs Dach und fuhr mit hohem Tempo los. Er bat SabrinaHamm, den Pressesprecher anzurufen, um ihn zu absoluter Verschwiegenheit zu verdonnern. Danachsollte sie das große Gedeck für zwanzig Uhr zusammenrufen – so nannte er es, wenn er alle Kollegen zu einer Gesamtbesprechung sehen wollte.

Nachdem sie die Anrufe erledigt hatte, versuchte er zusammenzufassen: „Mit was haben wir es zu tun? Mit einem Verrückten? Einem Terroranschlag?“

„Terror, würde ich sagen“, antwortete sie.

„Gegen wen oder für wen?“

„Islamisten?“ Sie sah in fragend von der Seite an.

Auf die kam man heutzutage zuerst. Rotberg war Profi genug, um nicht sofort dem nächstliegenden Impuls zu folgen und alle anderen Varianten zu vernachlässigen.

„Wenn es religiöse Fanatiker sind, was wollen die? Wer kann sonst dahinterstecken?“

„Nazis? Linksradikale?“ Sabrina Hamm klopfte die naheliegenden Möglichkeiten ab.

„Falls es Islamistenseinsollten, könnte es mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan zusammenhängen“, spekulierte er. Wenn es Nazisoder Kommunisten sind, welche aktuellen Themen liegen da in der Luft? Und warum töten die Kinder?“

„Um ihre Entschlossenheit zu unterstreichen.“

„Das haben sie wahrlich getan, wer auchimmer dahintersteckt.“

Beide schwiegen einen Moment. Rotberg raste dabei konzentriert durch den abebbenden Berufsverkehr. Sie würden die Klinik jetzt schnell erreichen. Mit dem Martinshorn gewinnt man viel Zeit, falls man sie braucht.

„Es könnte ebenso gut ein Erpresser sein“, spekulierte Sabrina Hamm. „Oderdoch ein Verrückter?“

„Verrücktwar der Täter auf jeden Fall“, antwortete er. „Und wenn er das nicht ist, ist er kaltblütig. Mehr als alle Kunden, die wir bisher betreuen mussten.“

„Ein Soziopath!“

„Soziopath?“, fragte Rotberg.

„Das sindoft hochintelligente Menschen. Sie habenkein Mitgefühl. Sie wissen, dass andere Leute emphatisch sein können, manchmal ahmen sie dieses Verhalten nach. Sie haben gelernt, dass es gesellschaftlich angebracht ist, solche Regungen zu zeigen. Ein Soziopath ist oft ein knallharter Karriere- und Machtmensch. Sie kennen keine Skrupel. Sie sehen ausschließlich sichund die persönlichen Ziele. Vom sozialen Leben sind sie isoliert, häufig führen sie parallele sexuelle Beziehungen. Übertriebenes Karriereverhalten wird gesellschaftlich nicht geschätzt, ist aberauchnicht verboten, solange man im Rahmen der Gesetze bleibt. Man erkennt sie meistens erst, wenn sie diese Grenze überschreiten. Sie sindnicht therapierbar. Sie vermissen keine Empathie und empfinden sichselbstals völlig normal.“ Sabrina Hamm sah mit leicht zusammengekniffenen Augen nach vorn durch die Windschutzscheibe, soals lese sie dort in einem Lexikon.

„Oha“, sagte Rotberg, „woher hast du denn das?“

„Psychologieseminar“, antwortete sie knapp. „Ich bin bisher aberkeinem begegnet. Weder beruflich noch privat.“

„Unabhängig davon, welcheMotive hinter der Tat stecken, mit so einem haben wir es doch auf jedem Fall zu tun, was meinst du?“

„Nichtunbedingt“, widersprach sie, „es kann auch ein fanatisierter Tätersein. Mit politischen oder religiösen Motiven. Fanatiker sind, wenn sie nichtallein agieren, meistens Instrumente einer Organisation. Die Soziopathen in diesem Zusammenhang sinddann eher die Auftraggeber.“

„Das ist beeindruckend. Bitte kümmere dich darum, dass wir nachher im großen Gedeck einen Psychologen haben. Bei der Schwere des Fallssollte die Polizeispitze ebenfalls mit am Tisch sitzen“, sagte Rotberg.

„Den Polizeirat?“

„Den“, meinte er, „den Polizeipräsidenten und wenn möglich, den Innensenator. Genau genommen brauchen wir auch das BKA, aber das kann ja in der Zwischenzeit die Polizeileitung organisieren.“

„Da bekomme ich langsam Herzklopfen“, antwortete SabrinaHamm. Sie legte die Hand auf die Brust.

„Kein Grund zur Nervosität“, beschwichtigte Rotberg sie, „ Politiker sind ebenfalls nur Menschen. Stell’ sie dir einfach im knittrigen Pyjama vor, wie sie nachts zum Pinkeln gehen.“ Er zwinkerte ihr einen flüchtigen verschmitzten Blick zu.

Sie lächelte und begann zu telefonieren. In der Zwischenzeit hatten Sie die Klinik erreicht. SabrinaHamm telefonierte noch im Fahrstuhl. Auf der Station angekommen, drängteRotberg – er müsse sofort den zuständigen Stationsarzt sprechen. Eigentlichwar er stetsfreundlich, wenn er etwas erreichen wollte, konnte er seinem Auftreten jedoch den Nachdruck verleihen, der einen Widerspruch nicht zuließ. Die Schwester griff umgehend zum Telefon.

Zwei Minuten später kam ein Arzt mit großen Schritten auf sie zu. Rotberg ersparte ihm Details, ließaber keinen Zweifel daran, dass er FrauStein auf jeden Fall unverzüglich befragen musste. Der Doktor wirkte unsicher – er warnochsehrjung.

„Gut“, sagte er, „ich möchte vorher kurzallein zu ihr hinein.“

„Klar“, gab Rotberg knapp zurück, „wir warten vor der Tür.“

Der Arzt ging voran. Er trat ins Krankenzimmer und schloss die Tür. Die beiden Beamten hörten, dass gesprochen wurde. Nach kurzer Zeit ließ er sie hinein. Im Zimmer lag eine weitere Patientin. Rotberg stellte sich der Dame vor und fragte, ob sie mit FrauStein eine Viertelstunde ungestört reden könnten.

„Natürlich“, antwortete sie, „ich ziehe mir nuretwas über.“

„Vielen Dank.“ Rotberg wartete, bis sie den Raum verlassen hatte. Er rückte zwei Stühle neben das Bett: „FrauStein, wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist Sebastian Rotberg, das ist SabrinaHamm. Wir sind von der Kriminalpolizei und untersuchen ...“, er überlegte, wie er sich ausdrücken sollte, „wir beleuchten die heutigen Ereignisse an der Kindertagesstätte. Wir haben vorhin bereits mit Ihrem Mitarbeiter, Herrn ...“, er sah hilfesuchend zu SabrinaHamm.

„... Wenzel“, ergänzte sie.

„... mit HerrnWenzel gesprochen. Bei dem Gespräch ergaben sichjedochAspekte, die einer genaueren Betrachtung bedürfen. Glauben Sie, dass Sie uns dabei unterstützen können? Wir fassen uns so kurz wie möglich.“

Rose Stein errötete vor Anspannung. Sie atmete hastig und legte beide Hände auf die Brust. „NeueAspekte?“, fragte sie besorgt.

„Machen Sie sich bitte keine Gedanken. Wir brauchen bloß einige Antworten auf drei bis vier Fragen.“ Sobestimmt, wieRotbergeben vor der Schwester und dem Arzt aufgetreten war, sofreundlichund einfühlsam war er jetzt ihr gegenüber. „Da wir heute Abend mit unserer Arbeit ein paar Schritte weiterkommen wollen, dachten wir, dass wir sie vielleicht doch noch befragen könnten.“

„Natürlich“, antwortete Frau Stein, „es ist wahrscheinlichwichtig, dass man die Ursache des Unglücks schnell herausfindet.“

„Ich freue mich, dass Sie es so sehen.“ er machte eine Pause. „HerrWenzelhat uns gesagt, dass die Heizanlage der Tagesstätte vor kurzem gewartet wurde. Ist Ihnen die Firma, die das durchführt, bekannt?“

„Ja, natürlich. Es ist FirmaSchreiber – Schreiber GmbH oder KG – ich bin nichtsicher.“

„Aus Bremen?“, fragte Sabrina Hamm.

„Ja, aus Sebaldsbrück.“

„HerrWenzel sagte uns, dass zweimal jemand von der Heizungsfirma da war. Hatten Sie den Handwerker nochmals beauftragt? Waretwasdefekt?“ wollte Rotberg wissen.

„Zweimal?“ RoseStein überlegte. „Nein, nureinmalunddefektwarauchnichts. Sind Sie sicher, dass HerrWenzel die Firmanochmal in unserem Haus gesehenhat?“

„Nein, gesehenhat er einen Mitarbeiter nur bei dem zweiten Besuch und hatte ihn gefragt, ob etwaskaputt sei. Beim ersten Termin hatte man ihn nur gebeten, vorübergehend die Heizkörper runter zu regeln.“

„Ja, richtig“, bestätigte RoseStein, „das machen die immerso bei der Wartung.“

„Wann war das?“

„Vor zwei Monaten?“ Sie ließ den Satz wie eine Frage im Raum schweben. „Auswendig kann ich Ihnen das nicht sagen. Mein Büro ist jaweitgehend unbeschädigt, Sie können das gern nachschlagen.“

„Das tun wir“, versicherte Rotberg. „Was ist mit einem zweiten Besuch der Firma?“

„Davon weiß ich nichts. Wenn es ein Anderer wusste, hat es mir niemand erzählt. Ich habeauchkeineweitereRechnung bekommen.“

„Könnte es sein, dass in der Rechnung des Installateurs bereits eine Position enthalten war, die erst bestellt und später eingebaut werdensollte?“

„Nein, das ist unüblich. Ich hätte das bei der Wartung ja unterschreiben müssen.“ Sie dachte nocheinmal nach. „Nein!“, sagte Sie entschieden mit einem kurzen Kopfschütteln.

Rotberg sah Rose Stein an. Sie war eine attraktive Frau von etwa fünfzig Jahren. Vielleicht sah sie jünger aus, als sie war. Kein Ehering – das musste nichts bedeuten. Eine diszipliniert wirkende Frau. Die Arbeit wird ein wichtiger Teil ihres Lebens sein. Wenn sie so klar antwortete, würde es stimmen.

Für diese Gedankenkette brauchte Rotbergwenigerals eine Sekunde. Er warimmerwieder erstaunt, wieschnell das menschliche Gehirn eine Momentaufnahme machte, sie bewertete undmeistensrichtig lag. Soschnell kommt das Denken nicht hinterher.

„Könnte Herr Wenzel einen anderen Handwerker gesehen haben? Einen Elektriker oder einen Tischler, den Sie beauftragten?“, fragte SabrinaHamm.

„Nein, es gab keinenweiteren Auftrag.“

„Sie sinddoch ein städtischer Kindergarten, wäre es denkbar, dass die übergeordnete Behörde jemanden bestellt hat?“, hakte SabrinaHamm nach.

„Das gibt’s natürlich“, meinte Frau Stein, „aber in der Regel bekomme ich vorher Bescheid. Es ist auch möglich, dass es irgendwie untergegangen ist. Ich habeallerdingsauch von keinen bevorstehenden Sanierungs- oder Umbauarbeiten gehört. Das geht eigentlichimmerseinen geregelten Gang.“

„Gibt es“, Rotberg korrigierte sich, „gab es in Ihrem Haus eine Videoüberwachung?“

RoseSteinblickte ihn skeptisch an. „Wieso fragen sie das? Stimmtetwasnicht?“

Rotberg überlegte, wie er sich ausdrücken sollte. Er tippte mit dem Zeigefinger in einer abwesenden Geste auf die Unterlippe. „Natürlichstimmtetwasnicht, Frau Stein. Wenn alles gestimmt hätte, wäre es nicht zu dieserTragödie gekommen.“

RoseStein hatte die Berichterstattung von ihrem Bett aus im Fernsehen verfolgt. Es war eine Tragödie. Undnatürlich hatte der Polizist recht, wärealles normal gewesen, wäre es nicht geschehen. Vielleicht hatte die Stadtverwaltung doch jemanden beauftragt ohne sie zu informieren oderschlimmernoch, sie hatte es übersehen.

„Nein, es gibt keine Videoüberwachung. Jedenfallsnichtso eine, die etwas aufzeichnet. Wir haben am Tor und an der Eingangstür eine Kamera mit der wir sehen können, wer draußen klingelt. Da die Tür und das Tor tagsüber meistensoffensind, spielt das aberkeine Rolle.“ Sie überlegte kurz und zog die Augenbrauen leicht zusammen.

Rotberg merkte an ihrem nachdenklichen Blick, dass sie etwas sagen wollte. Er bemerkte, wie Trauer und Furcht ihr Gesicht besetzten.

„Es ist natürlich möglich, dass die Stadt einen Handwerker geschickt hat. Es ist auchdenkbar, dass man vergessen hat, mich darüber zu informieren.“ Sie machte eine Pause: „Und es kann sein, dass ich eine E-Mail erhielt und sie gedankenlos wegklickte, ohne sie gelesen zu haben. Das ist mir ab und zu passiert.“

Sie grübelte und rieb sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand die Stirn. RotbergundSabrinaHamm warteten ab. Er dachte, dass es wahrscheinlich Zeit sei, aufzuhören.

„Wenn ich etwasübersehenhabe, dann weiß ich im Augenblick nicht, was ich anderes getan hätte. Ich hätte einem angemeldeten Handwerker gezeigt, was er tun soll. Ich hätteauch in diesem Fall sichernicht neben ihm gestanden, um die Arbeit zu kontrollieren.“ Sie sah mit unsicherem Blick zuerst RotbergunddannSabrinaHamm in die Augen.

„FrauStein“, unterbrach er in einem positiven Ton ihre Gedankenkette, „darum geht es auchnicht. Fragen stellen, ist ein Teil unseres Berufes. Ich lebe ebenfalls ständig in der Angst, etwas zu übersehenund einer Person zu schaden. Wir wollten in Ihnen keine Schuldgefühle auszulösen.“

Er stand auf und sah seine Kollegin an: „Gehen wir?“

Er reichte Rose Stein die Handund legte in einer fürsorglichen Geste die andere Hand auf die ihre. „FrauStein, versuchen Sie bitte zu schlafen, vielleicht lassen Sie sich ein Schlafmittel geben. Ich lege Ihnen meine Visitenkarte auf den Nachtschrank. Wenn Ihnenetwas einfällt, melden Sie sicheinfach, okay? Möglicherweise schauen wir nochmal herein oder wir besuchen Sie zu Hause.“

„Ach, eine Kleinigkeit möchte ich nochwissen“, sagte Sabrina Hamm, „Ihr Mitarbeiter sagte, dass der Handwerker, den er gesehen hat, auffallendkorpulentwar. War der, mit dem Sie zu tunhatten, korpulent?“

„Nein“, Rose Stein lächelte, „das war ein ganzjunger drahtiger Mann. Kein Gramm Fett.“

„Gut, danke – das war’s!“

Bremen, Montag 09. Februar 2009, 18.05 Uhr

Auf der Fahrt zum Präsidium suchteSabrinaHamm im Internet nach dem Installationsbetrieb. Sie rief dort an. „Mist, Anrufbeantworter!“ Auf der Internetseite des Betriebes fand Sie den vollen Namen des Inhabers und eine Mobilnummer. Sie wählte – beim zweiten Klingelton meldete sich eine ältere Frauenstimme.

„Frau Schreiber? Sind Sie und Ihr Mann Besitzer des InstallationsbetriebsSchreiber in Sebaldsbrück?“ SabrinaHammlauschte. „Könnte ich Ihren Sohn sprechen?“ Pause. „Okay, vielen Dank.“

Man muss ihr nichts sagen, sie erledigt alles Wichtige sofort, dachte Rotberg. Das mochte er. Sie nahm die beschriebenen Zettel aus der Jackentasche und studierte die Notizen von soeben.

„Herr JonasSchreiber?“, sie hörte zu und stellte sich vor. Dann fragte sie, ob er bei dem Kindergarten die Wartung durchgeführt habe. JonasSchreiber kannte den Vorgang, er hatte die Arbeiten aber nichtselbst erledigt – die Rechnung hatte er persönlich geschrieben. Wann es jedoch genau war, musste er erst im Betrieb nachschauen. Sie seien seines Wissens nureinmal vor Ort gewesen. Er sagte, dass er über der Firma wohne und gleich nachsehen würde.

Rotberg sah sie fragend an: „Und?“

„Er sieht in den Unterlagen nach und ruft zurück.“

Beide blieben stumm undsahen auf die Straße. Draußen war es mittlerweile Abend geworden. Der Verkehr lief ruhig. Mit ihr wortlos im Auto zu sitzen strengte nicht an. Es gab Menschen, da hatte man das Gefühl, dass man pausenlos Konversation betreiben müsse, nur um keine Beklemmung aufkommen zu lassen. Es hatte mit Vertrautheit zu tun, wenn man gemeinsames Schweigen aushalten konnte.

Ihr Telefon klingelte. Sie lauschte. „Prima, vielen Dank, Herr Schreiber. Und entschuldigen Sie bitte die Störung.“

„Er hat in den Unterlagen nachgesehen – der Handwerker warnureinmal für die Wartung da. Ohne Folgereparatur. Die Mutter hatte parallel bei dem Gesellen angerufen und sicherheitshalber nachgefragt.“

„Ein aufgeweckter Installateur. Ich glaube, den muss ich mir notieren, falls ich einen Klempner brauche.“ Rotberg lächelte.

„Bei der Stadt erreichen wir wahrscheinlich heute niemanden mehr. Ich kann’s jamal probieren.“ Sabrina Hamm suchte im Internet nach dem Anschluss. „Anrufbeantworter“, sagte sie mit einem Schulterzucken.

Rotberg dachte, dass so ein Wischtelefon – das warseinBegriff für Smartphones – nicht so übel sei. Er wollte mit seinem Sohn darüber sprechen, was für ihn das Richtige wäre. Jutta hatte jaauchschon daran gedacht, ihm eines zu schenken. Er scheute jedoch die Lernerei für neue technische Geräte. Sein Telefon klingelte in der Jackentasche.

„Rotberg!“ Er lauschte. „Was? Ist was passiert? Wir kommen direkt dort hin.“

„Wir sollen zum Innensenator fahren. Die ganze Mannschaft ist unterwegs, inklusive Polizeipräsident.“

„Das klingt bedeutend. Haben sie dir was gesagt?“, fragte Sabrina Hamm.

„Ich habe kein gutes Gefühl“, sagte er mit einem vagen Tonfall. Er spürte, wie sein Herz bis zum Hals klopfte. „Hoffentlich ist nicht nochetwas geschehen.“

Der Innensenat befandsich in einer schmucken Stadtvilla an der Contrescarpe, der Straße, die entlang des historischen Wallgrabens lief. Der Parkplatz warvoller Autos – ungewöhnlich zu dieser Tageszeit. Das Haus war hell beleuchtet. Ein Kamerateam von Radio Bremen lud das Equipment für eine Übertragung aus.

„Da ist bestimmt was durchgesickert“, meinte Rotberg grüblerisch.

„Das kann ohne Bedeutung sein“, antwortete SabrinaHamm. „Der Senator ist oberster Dienstherr der Polizei und zuständig.“

„Na, wir werdengleich mehr wissen.“ Er hatte deutliche Zweifel in der Stimme.

*

Als beide in das große Besprechungszimmer kamen, lief Wesselmann auf sie zu. „Es ist öffentlich!“, flüsterte er halblaut.

„Was?“, fragte Rotberg. Er begriff nicht.

„Der Täter hatsich bei Radio Bremen gemeldet und gesagt, dass er eine Bombe gelegt hat!“

„Wie bitte? Und?“, Rotberg sah Wesselmann fragend in die Augen. „Weiter!“

„Mehr weiß ich auchnicht.“

Herbert Franke, der Innensenator kam mit ernstem Gesicht auf Rotberg zu. „Guten Abend Herr Hauptkommissar, wir sind jetzt komplett und können beginnen.“

„Verzeihung“, sagte Rotberg, „wir habennicht gewusst ...“

„... konnten Sie ja nicht“, unterbrach ihn der Senator.

Er gab SabrinaHamm die Hand und stellte sich vor: „Franke.“

„SabrinaHamm.“

„Wollen wir?“, der Senator sah in die Runde. Er bat, Platz zu nehmen.

Auf dem Tisch standen Getränke undGläser, auf Tellern lagen verpackte Schokoladenriegel. Vor jedem Sitzplatz befandensich Block und Kugelschreiber. Rotberg merkte jetzt, wie ihm der Magen knurrte – er würde gleich einige Süßigkeiten essen.

SenatorFranke klopfte mit dem Stift an seinGlas. Sofort wurde es still. „Meine Damen, meineHerren“, er sah in die Runde, „ich weiß nicht, was Sie bereitswissen. Ich denke, dass ich den größten Wissensstand besitze. Ich schlage vor, dass ich zunächst berichte, damit alle auf demselben Standsind. Wir befinden uns noch unter dem Eindruck der Explosion vom Vormittag. Ich konnte mir mit Bürgermeister Cleve vor Ort ein Bild machen. Er wird später zu uns stoßen.“

Franke deutete auf zwei Männer, die rechts von ihm saßen. „Ich möchte Ihnen, falls Sie die Herrennicht kennen, die Kollegen vom Bundeskriminalamt vorstellen. Neben mir sitzt Jan Hofeld, daneben ...“, er sah auf seinen Block, „... Jonas Schellenberg. Da es sich um einen terroristischen Vorfall handelt, bin ich überzeugt, dass es sinnvoll ist, wenn wir kooperieren. Ich will mich zunächst bei allen bedanken, die heute im Erdbeerweg mitgearbeitet habenund die grauenvollen Szenen ertragen mussten. Ich kann Ihnen versichern, dass auch wir erschüttert sind.“

Der Senator trank einen Schluck Wasser. „Wir wissen, dass die Spezialisten an einer Stelle Hinweise entdeckt haben, die auf Sprengstoff schließen lassen. Ich bin darüber umgehend informiert worden. Ich konnte nicht fassen, dass es Menschen gibt, die einen Bombenanschlag auf eine Kindertagesstätte verüben. Wie auch Ihnen, fielen Polizeipräsident von Berghausen und mir in unserem Telefonat sofort die üblichen Kandidaten ein: Islamisten oder politisch Radikale.“

Franke machte eine Geste zu einem Mitarbeiter, der zu dem Laptop ging, das auf einem Sideboard stand.

„Vor etwa einer Stunde rief mich Claus Bergmeister, der Chefredakteur von RadioBremen, an und spielte mir die Aufnahme vor, die wir gleichhören.“

Der Senator nickte zu dem Mann am Computer. Der startete die Audiodatei. Es war die Stimme eines Mitarbeiters vom Sender sowie die des Anrufers. Dessen Stimme klang technisch verzerrt. Er hatte offenbar Angst davor, identifiziert zu werden.

„RadioBremen, Dieter Hensell.“

„GutenAbend, spreche ich mit einem Redakteur, der über die Explosion am Kindergarten berichtet?“

„Im Prinzip schon. Worum geht es?“

„Ich habe eine wichtige Mitteilung. Hören Sie genau zu. Ich möchte, dass Sie das heute Abend in den Tagesthemen senden.“

„Schau’n mermal.“ Man konnte dem Tonfall des Redakteurs anhören, dass er den Anrufer nicht sonderlich voll nahm.

„Sie sollten mich ernst nehmen, guter Mann“, die Stimme bekam Nachdruck.

„Also, legen Sie los. Ich lasse immer ein Bandgerät mitlaufen – das ist Ihnen recht, oder?“

„Ich bitte sogar darum. Ich weiß nicht, ob man am Explosionsort schonetwasgefundenhat, das auf eine Bombe schließen lässt. Ich habeheute den ganzen Tag über die Nachrichtensendungen im Radio und im Fernsehen verfolgt. Entweder hat die Polizei nochnichts entdeckt oder sie hatetwasgefunden, aber keine Pressemitteilung herausgegeben. Wieauchimmer. Wir haben Sprengladungen im Kindergarten Erdbeerweg deponiert und sie heute Morgen um halb acht per Fernzündung zur Explosion gebracht.“

Der Redakteur unterbrach ihn: „Sie wollen mich auf den Arm nehmen, oder? Komisch ist das nicht.“

Der Anrufer hob die Stimme und wurde energisch: „Halten Sie bitte den Mund und hören Sie mir zu.“

„Alsoweiter“, der Journalist klang genervt.

„Die Explosion wurde mit Plastiksprengstoff herbeigeführt. Um einen möglichst großenSchaden anzurichten, wurden an zwei StellenBomben platziert. Eine bei der Gastherme und die andere dort, wo die Gasleitung in die Küche führt. Wir haben die Bomben bewusst an diesenStellen positioniert, um die Schäden zu maximieren.“

„Ich weiß nicht, was Sie mit Ihrem Telefonat bezwecken. Ich habeaber keine große Lust ...“

Der Anrufer unterbrach in schroff: „Ich hatte gesagt, dass Sie den Mund haltensollen!“ Er machte eine kurze Pause. Erkundigen Sie sich bei der Polizei, ob sie Hinweise auf Sprengstoff gefunden hat. Wenn nicht, werden die Experten anhand meiner Angaben schnelletwas entdecken.“

„Wissen Sie eigentlich, wie es am Explosionsort aussieht? Das wird nichtsoeinfachsein, dort etwas zu finden.“

„Natürlich werden die etwas aufspüren.“

Die Stimme klang kalt und berechnend. Rotberg musste an das Gespräch mit Sabrina Hamm denken. Ein Soziopath? Er sah sie an – sie ahntewohl, woran er dachte.

„Jetzt nehmen wir mal an, dass es stimmt, was Sie behaupten. Was ist Ihr Ziel? Gibt es politische Forderungen? Sind Sie Deutscher?“

Der Anrufer lachte gekünstelt: „Sie meinen, ob ich Islamist bin. Nein.“

„Wenn es sich heute tatsächlich um einen Anschlag gehandelt hatund Sie wirklich dahinter stecken, müssen Sie dochZielehaben.“

„Lassen Sie die Konjunktive. Erstens war es eine Bombenexplosion. Zweitens wurde sie durch uns ausgelöst.“

„Wer ist wir?“

„Verdammt nochmal, Sie hören zu, ich rede! Natürlich haben wir ein Ziel – ein einziges, ganz banales Ziel. Wir wollen Geld! VielGeld!“

„Wieviel?“

„Einhundert Millionen Euro.“

Es entstand eine Pause. Der Redakteur überlegte wohl, wie es weitergehen kann.

„Wer soll die Summe bezahlen?“

„Ist mir völlig egal. Sie? Die Stadt? Die Republik? Der amerikanische Präsident? Vollkommen gleichgültig“.

„Ihren Namen verraten Sie mir nicht zufällig, oder?“

Der Anrufer lachte rau.

„Wie geht es jetzt weiter?“

„Sie spielen der Polizei das Band vor. Hat die bisher nichts gefunden, wird Sie, da bin ich ganzsicher, aufgrund unseres Telefonats zum Erfolg kommen. Bis zu den Tagesthemen ist janoch Zeit. Ich möchte, dass die entscheidenden Passagen dieses Gesprächs gesendet werden. Sonst bleibt es ungemütlich.“

„Zünden Sie dann eine weitere Bombe?“

„Wie sagten Sie und Franz Beckenbauer: Schau’n mermal!“

Es knackste in der Leitung. Der Redakteur fragte in die unterbrochene Verbindung: „Hallo?“

Das Telefonatwar beendet. In den Gesichtern am Tisch warbereits während der Wiedergabe jede denkbare Emotion abzulesen: Skepsis, Überraschung, Ungläubigkeit, Entsetzen. Jetzt herrschte Schweigen. Was konnte man sagen?

Rotberg hob die Hand und redete sofort los: „Wir waren bis eben unterwegs“, damit machte er eine Handbewegung zwischen Sabrina Hamm undsich. „Wir haben uns in der Klinik mit der Kindergartenleiterin unterhalten. Hiervon wussten wir nichts. Was ich natürlich zuerst wissen möchte: Hat man an der Stelle, an der die Küche war, einen weiterenHinweis auf einen Sprengsatz gefunden?“

Rotberg sah seine Leute an, den Polizeipräsidentenund den Senator.

Polizeipräsident von Berghausen hob kurz die Hand: „Darf ich?“

Senator Frank gab ihm mit einer Geste das Wort.

„Ja, wir habenHinweise auf eine zweite Explosionsstelle entdeckt. Wir und die Spezialisten der Feuerwehr hätten das auch ohne das Telefonat gefunden, allerdings nicht mehr heute.“

„Das bedeutet danndoch, dass der Anrufer authentisch ist, oder?“, fragte Rotberg.

„Bei aller Vorsicht, davon müssen wir ausgehen“, antwortete der Senator.

Eine solche klare Aussage aus dem Munde des Innensenators der Freien Hansestadt Bremen wischte die letzten Zweifel aus den Gesichtern der Skeptiker. Die einen schwiegen betreten, andere murmelten etwas zu ihren Sitznachbarn. Niemand wusste im Grunde, wie man beginnen sollte.

Sabrina Hamm räusperte sichund hob die Hand.

„Für alle, die mich nicht kennen, mein Name ist Sabina Hamm, ich arbeite im Team von Polizeihauptkommissar Rotberg. Nachdem wir heute im Erdbeerweg dabeiwaren, als die ersten Hinweise auf eine Bombe zutage kamen, sindHerrRotbergund ich zum Klinikum Ost gefahren. Auf der Fahrt dahin haben wir überlegt, wer hinter so einem Anschlag stecken könnte. Im Laufe des Gesprächs fiel irgendwann das Wort Soziopath. Ich sehe, dass HerrSikorski in der Runde sitzt. Was sagen Sie dazu?“

Der Angesprochene setzte sich sofort aufrecht in den Sessel. Dr. Hans-Werner Sikorskiwar selbstständiger Psychologeund Therapeut. Er arbeitete regelmäßig für die Ermittlungsbehörde als Berater und Fallanalytiker sowiegelegentlichals Gutachter in Gerichtsverfahren. Ein schlanker, hochgewachsener Mann von Ende fünfzig mit grauem, immernochvollem Haar undtief eingeschnittenen Lachfalten um die Augen. Er trank einen Schluck Wasser, bevor er antwortete: „Frau Hamm, da haben Sie mich kalt erwischt. Sie wissenja“, sagte er in die Runde, „Psychologenund Rechtsanwälte legen sich nicht gern fest.“

Einige Anwesende lächelten – andere mochten bei der ernsten Sachlage keinen Humor.

„Als ich dem Telefongespräch zugehört hatte, gingen mir parallel die Bilder von heute durch den Kopf. Die kühle Rationalität in der Stimme und die grauenvolle Tat – ich denkeganz ähnlich wie Sie.“ Dabei sah er Sabrina Hamm direkt an.

Rotberg bemerkte diesen Blick. Sikorskiwar trotz seines Alters ein ausgesprochener Frauentyp – attraktiv, intelligent und