Wechselwirkung - Peter Gnas - E-Book

Wechselwirkung E-Book

Peter Gnas

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Der Montagmorgen im Oktober war ein Wochenanfang wie jeder. Viele Leute, die auf dem Bahnsteig des Bremer Hauptbahnhofs auf die S-Bahn warteten, starrten größtenteils vor sich her. Die Jüngeren sahen auf ihre Smartphones. Georg Kranz war Leiter des Gymnasiums im Zentrum Achims bei Bremen. Er war einundsechzig Jahre alt und schon immer mit derselben Frau verheiratet. Kranz war einer der Wenigen, die sich an einem Wochenbeginn auf die Arbeit freuten. Er war ein aufgeschlossener Mann und liebte den Umgang mit Menschen, mit seinem Kollegium und den Schülern. Er unterrichtete fast täglich noch zwei bis drei Stunden Mathematik und Musik. Der Bahnsteig war voll zu dieser Uhrzeit. Kranz beobachtete zwei Frauen – vermutlich Mutter und Tochter. Die junge Frau war vielleicht siebzehn und auf diesem Bahnsteig der lebhafteste Mensch. Die beiden hatten sich untergehakt. Kranz fühlte sich durch das Mädchen an seine Tochter Nikola erinnert. Auch sie war hellblond, auch sie war quirlig. Ihre Energie hatte Nikola zeitlebens in sportliche Aktivitäten gelenkt. Sie war verrückt nach Tennis. Viele Jahre hatte Kranz seine Wochenenden am Rand eines Tennisplatzes verbracht und Nikola angefeuert. Sie hatte nach dem Abitur Sport und Germanistik studiert. Heute arbeitete als Lehrerin in Oldenburg. Kranz blickte zur Anzeigetafel – noch eine Minute bis sein Zug kommen sollte. Als er wieder zu den beiden sah, bemerkte er, dass das Mädchen schmerzverzerrt zuckte und sich vom Arm der Mutter losriss. Mit der rechten Hand fasste sie an ihren linken Oberarm. Die Lippen formten ein 'Aua' als sie den Kopf nach hinten drehte und die Personen, die dort standen, ansah. Kaum jemand registrierte sie.

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Seitenzahl: 212

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Wechselwirkung

Kriminalroman von Peter M. Gnas

Peter M. Gnas ist 1955 in Bremen geboren und hat dort Kunst studiert. Seit Jahrzehnten arbeitet er selbstständig als Grafik-Designer und Texter in Stuttgart. Kreativität in Wort und Bild tragen ihn durch sein gesamtes Leben. Neben der zielgerichteten schöpferischen Tätigkeit im Marketing arbeitet er frei künstlerisch in Wort und Bild.

Impressum

Deutsche Erstveröffentlichung

© 2017 by Peter M. Gnas

Herstellung und Verlag: Peter M. Gnas

Umschlaggestaltung: Die Zeitgenossen GmbH, Stuttgart

Umschlagfoto: iStockphoto

Am Bahnhof

Der Montagmorgen im Oktober war ein Wochenanfang wie jeder. Viele Leute, die auf dem Bahnsteig des Bremer Hauptbahnhofs auf die S-Bahn warteten, starrten größtenteils vor sich her. Die Jüngeren sahen auf ihre Smartphones.

Georg Kranz war Leiter des Gymnasiums im Zentrum Achims bei Bremen. Er war einundsechzig Jahre alt und schon immer mit derselben Frau verheiratet. Kranz war einer der Wenigen, die sich an einem Wochenbeginn auf die Arbeit freuten. Er war ein aufgeschlossener Mann und liebte den Umgang mit Menschen, mit seinem Kollegium und den Schülern. Er unterrichtete fast täglich noch zwei bis drei Stunden Mathematik und Musik.

Der Bahnsteig war voll zu dieser Uhrzeit. Kranz beobachtete zwei Frauen – vermutlich Mutter und Tochter. Die junge Frau war vielleicht siebzehn und auf diesem Bahnsteig der lebhafteste Mensch. Die beiden hatten sich untergehakt. Kranz fühlte sich durch das Mädchen an seine Tochter Nikola erinnert. Auch sie war hellblond, auch sie war quirlig. Ihre Energie hatte Nikola zeitlebens in sportliche Aktivitäten gelenkt. Sie war verrückt nach Tennis. Viele Jahre hatte Kranz seine Wochenenden am Rand eines Tennisplatzes verbracht und Nikola angefeuert. Sie hatte nach dem Abitur Sport und Germanistik studiert. Heute arbeitete als Lehrerin in Oldenburg.

Kranz blickte zur Anzeigetafel – noch eine Minute bis sein Zug kommen sollte. Als er wieder zu den beiden sah, bemerkte er, dass das Mädchen schmerzverzerrt zuckte und sich vom Arm der Mutter losriss. Mit der rechten Hand fasste sie an ihren linken Oberarm. Die Lippen formten ein ‚Aua‘ als sie den Kopf nach hinten drehte und die Personen, die dort standen, ansah. Kaum jemand registrierte sie.

Dann ging alles sehr schnell. Sie taumelte, ihre Beine knickten ein. Ehe die Mutter sie fassen konnte, fiel sie auf das Gleis. Kranz zögerte einen Augenblick, um abzuwarten, ob jemand, der daneben stand zur Hilfe kam. Als das nicht passierte, sah er auf die Tafel – es wurde immer noch eine Minute angezeigt. Er ließ seine Aktentasche fallen und sprang ins Gleisbett. Er stolperte die zehn Schritte zu der jungen Frau, die reglos dalag. Jetzt reagierten die Menschen, die in den ersten beiden Reihen standen mit Entsetzen. Viele blickten auf die verbleibende Zeit, andere sahen die Schienenstränge entlang nach dem Zug.

Kranz hob das Mädchen hoch und legte sie der verängstigten Mutter vor die Füße. Er blickte auf die Anzeigetafel – null Minuten. Er hörte die Ansage, für die Einfahrt der S-Bahn. Er versuchte auf den Bahnsteig zurückzukommen. Es misslang ihm. Er sah in die Richtung, aus der er den Zug heranfahren hörte. Der Lokführer bemerkte ihn vor seiner Lok auf den Schienen stehend und leitete mit entsetztem Blick eine Vollbremsung ein.

Kranz hörte das metallische Kreischen der Bremsen. Er sah die Mutter an, zuckte mit den Schultern und schloss die Augen. Er hoffte, dass es nicht wehtun werde. Sein letzter Gedanke galt seiner Frau, seiner einzigen großen Liebe. Für einen Gedanken an seine Kinder, reichte die Zeit nicht.

*

Sabrina Hamm, Erste Kriminalhauptkommissarin kam direkt von zu Hause an die Unfallstelle. Auf dem Weg zum Präsidium erreichte sie der Anruf, dass es am Hauptbahnhof eine Tragödie gegeben habe. Die Frage, ob es ein Unfall oder ein Suizid gewesen sei, konnte man nicht beantworten.

Sie sah schon beim Heraufkommen auf der Treppe ihren Kollegen Sven Grabert im Gespräch mit Menschen. Er hielt ein Diktiergerät in der Hand, damit nahm er in solchen Situationen die Aussagen auf. So hatte er das, was die Leute frisch im Gedächtnis hatten, im Zugriff, ohne dass er später Fehler bei einem Gedächtnisprotokoll machte.

Sabrina Hamm ging zu ihm und reichte ihm die Hand, ohne seine Zeugenbefragung zu unterbrechen. Sie hörte einen Augenblick zu und ging dann zu einem uniformierten Kollegen, der zusah, wie man versuchte, den Mann auf den Schienen zu bergen.

„Hamm", stellte sie sich vor, „Kripo. Wissen Sie, was passiert ist?“

„Polizeimeister Jahn", antwortete er, „soweit ich gehört habe, ist eine Jugendliche auf die Schienen gestürzt. Der Mann, der vom Zug erfasst wurde, war auf das Gleis gesprungen, um ihr zu helfen.“

„Der Mann liegt da drunter?“, fragte sie und deutete unter die Bahn.

„Ja.“

„Und das Mädchen?“

„Ist auf dem Weg ins Krankenhaus.“

„Also lebt sie ...“

„Ich gehe davon aus.“

„Danke“, sagte sie und gab ihm die Hand.

Sie ging wieder zu Grabert. Sie sah den Zeugen an und hob entschuldigend die Hand.

„Verzeihung, ich will nicht unterbrechen.“

Dann wandte sie sich an den Kollegen: „Sven, wenn du fertig bist, kann ich dich danach kurz sprechen?“

„Klar.“

Sabrina Hamm ging dorthin, wo die Wagen getrennt worden waren – zwischen ihnen war eine Lücke von zehn Metern. Auf den Schienen standen Kollegen in weißen Overalls. Zwei knieten hinter dem Wagen, guckten in die Richtung, in der das Opfer liegen musste und debattierten gestenreich über die nächsten Schritte.

Sie dachte, dass sie keine große Lust verspürte, das Opfer zu sehen. Leichenfunde waren nie angenehm, ein Mann, der von einer S-Bahn überrollt wurde, war das Letzte, was sie jetzt sehen wollte. Sie blickte entlang der Lücke zwischen Zug und Bahnsteig. Dort gab es Gott sei Dank nichts zu sehen. Vielleicht sah der Tote ja doch nicht so schlimm aus, falls er in der Mitte Zugs gestanden hatte, als der ihn erfasste.

Sie ging zu der Stelle, an der die Spurensicherung ihre Boxen abgestellt hatte. Möglicherweise konnte sie hier einen Becher Kaffee abstauben.

„Ich habe keinen Bock, eine schlimm zugerichtete Leiche zu sehen. Habt ihr einen Kaffee für mich übrig?“

Der Kollege Jonas Welters holte aus einer Aluminiumkiste eine Thermoskanne und einen Pappbecher. Er reichte ihn Sabrina Hamm und schenkte den dampfenden Kaffee ein. Sie schnupperte an dem Becher, es roch überraschend aromatisch. Sie nahm einen vorsichtigen Schluck, um sich nicht die Zunge zu verbrühen. Anerkennend zog sie die Augenbrauen hoch.

„Schön stark“, sagte sie.

Welters lächelte: „Keiner von uns mag eine dünne Brühe.“

Er verschloss die Kanne und stellte sie zurück in die Aluminiumbox.

„Der Mann wird Verletzungen aufweisen, er wird aber wahrscheinlich nicht verstümmelt sein. Soweit wir es beurteilen können, liegt er in der Mitte des Zugs.“

„Kann er noch leben?“

Er schob die Unterlippe vor und zog die Mundwinkel runter, dabei schüttelte er den Kopf.

„Ich glaube nicht. Der Schlag durch die herannahende Lok und das Mitschleifen über den Untergrund wird schnell zum Tode geführt haben. Wenn er Glück hatte, war er sofort tot."

Sabrina Hamm atmete tief durch. Es schauderte sie, wenn sie daran dachte, dass der Mann am Morgen von zu Hause aufgebrochen war und sich von seinen Lieben verabschiedet hatte. Nun lag er als toter Philanthrop unter dieser S-Bahn.

„Über das Mädchen wisst ihr nichts, oder?”

„Nur, dass es vom Notarzt versorgt und ins Krankenhaus gebracht wurde.”

„Zentralkrankenhaus?”

„Wahrscheinlich”, antwortete Welters.

„Ich versuch' mal, da anzurufen. Danke für den guten Kaffee.”

Sie warf den leeren Becher in einen Papierkorb und holte ihr Mobiltelefon aus der Tasche. Sie gab in die Internetsuchmaske den Namen der Klinik ein. Kein Empfang. Sie fluchte still vor sich hin. Dann sah sie, dass Grabert mit seiner Befragung fertig war und winkte zu ihm hinüber.

„Und, was gibt es zu berichten?”, fragte Sabrina Hamm.

„Überall dasselbe. Dass eine junge Frau aufs Gleisbett gestürzt war, haben nur wenige Menschen mitbekommen. Mehr Leute haben gesehen, dass ein Mann auf die Schienen sprang. Das muss alles sehr schnell gegangen sein. Sehr viele haben überhaupt nichts beobachtet und konnten nur vom Hörensagen berichten.“

Grabert machte eine Pause und verzog den Mund zu einer bitteren Miene: „Was mich aber wirklich nervt, dass die meisten Zeugen sich ganz schnell verdünnisiert haben. Bloß keine Zeit verlieren. Da stirbt vor ihren Augen ein guter Mann und die machen Business as usual.”

Er sah Sabrina Hamm an und machte eine Geste, als stecke er sich den Finger in den Hals: „Ich könnte kotzen.”

Beide schwiegen einen Moment.

„Na ja, wir haben hoffentlich einige Bilder der Überwachungskameras.”, sagte Grabert. Er deutete mit dem Stift auf einige Kameras, die an verschiedenen Stellen montiert waren.

„Das wäre natürlich das Objektivste”, meinte sie, „kümmerst du dich darum?”

„Das war das Erste, das ich gemacht hatte.”

„Sven, du bist einfach nicht zu ersetzen”, sagte sie und legte dem Kollegen freundschaftlich den Arm um die Schulter.

„Das weiß ich.”

„Dann kümmere ich mich um das Mädchen. Ich wollte gerade in der Klinik anrufen, hier ist aber keinen Empfang.”

Grabert holte sein Smartphone aus der Tasche und sah auf das Display: „Stimmt.”

Sie stieg die lange Treppe hinab. Dabei suchte sie im Internet nach der Telefonnummer der Kinderklinik und wählte.

„Guten Tag, mein Name ist Sabrina Hamm, ich bin Erste Kriminalhauptkommissarin im Präsidium Bremen. Bei Ihnen ist vor einer knappen Stunde eine junge Frau per Notarztwagen eingeliefert worden. Ich wollte mich nach ihrem Zustand erkundigen.”

Sie lauschte. Sie wurde weiterverbunden und wiederholte die Frage.

„Junker", meldete sich eine junge selbstsichere Stimme.

Sabrina Hamm wiederholte ihr Anliegen ein drittes Mal.

„Ich bin Oberärztin und habe die Jugendliche aufgenommen”, sagte sie. Ihre Stimme senkte sich: „Sagen Sie mir bitte nochmal Ihren Namen?”

Sabrina Hamm hörte, dass es am anderen Ende raschelte. Offensichtlich setzte sich die Ärztin hin, um mitzuschreiben.

„Sabrina Hamm , Erste Kriminalhauptkommissarin beim Präsidium Bremen.“

Sie nannte ihr Büroadresse und Telefonnummer des Präsidiums. Sie könne sich dort rückversichern und sie dann auf dem Mobiltelefon zurückrufen – die Nummer würde man ihr geben.

„Ich denke, das genügt zunächst. Ich werde Ihnen am Telefon ohnehin keine Details nennen. Ich kann nur sagen, dass die junge Frau bereits im Notarztwagen verstorben war und wir sie trotz aller Bemühungen nicht wiederbeleben konnten."

„Mit einer so schlechten Nachricht habe ich gar nicht gerechnet", antwortete Sabrina Hamm, „woran sie gestorben ist, können Sie mir am Telefon nicht sagen, oder?”

„Nein, ich weiß es auch nicht. Ich denke, das ist ein Fall für die Gerichtsmedizin.”

„Nichtnatürlicher Tod?”

„Wie gesagt, ich weiß es nicht. Wir machen im Moment unseren Bericht. Der wird dann zu einer Untersuchung führen.”

„Vielen Dank, Frau Dr. Junker. Ich kümmere mich parallel um eine Obduktion.”

Sabrina Hamm verabschiedete sich und wählte sofort die Nummer der Kollegen im Präsidium. Sie sollten alles Weitere veranlassen. Dann ging sie wieder nach oben auf den Bahnsteig zu Grabert.

„Das Mädchen ist tot."

„Ach du Scheiße,” rutschte es ihm heraus. „Woran ist sie gestorben?”

Sie zuckte mit den Schultern: „Die Ärztin wusste es nicht oder wollte es am Telefon nicht sagen. Ich habe die Obduktion veranlasst.”

„Dann ist der arme Kerl da unter dem Zug vergeblich gestorben”, sagte er. „Das sollte seine Familie nicht erfahren – jedenfalls nicht von uns.”

„Weiß man schon, wer er ist?“

„Wir haben auf dem Bahnsteig eine herrenlose Aktentasche gefunden. Einer der Zeugen meinte gesehen zu haben, dass das Opfer sie fallen ließ, bevor er aufs Gleis sprang.“

„Hast du reingesehen?“

„Ja, es sind einige Unterlagen enthalten, die darauf hindeuten, dass der Mann etwas mit einem Gymnasium in Achim zu tun hat.“

„Ausweis?“

„Leider nicht. Ich hoffe, dass er Papiere bei sich hat. Sonst müssen wir versuchen, über die Schule weiterzukommen.“

„Ich fahre mal ins Krankenhaus und versuche die Ärztin zu sprechen, die den Tod des Mädchens festgestellt hat. Vielleicht weiß sie ja doch etwas.“

„Okay, ich ruf dich an, wenn ich was Neues habe“, antwortete er.

Im Zentralkrankenhaus

„Guten Tag Frau Dr. Junker, mein Name ist Sabrina Hamm.“

„Sie glauben, dass ich Ihnen etwas verheimlicht habe, Frau Kommissarin?“, die Ärztin begrüßte sie mit einem spitzen Tonfall.

„Davon kann keine Rede sein“, antwortete sie und zeigte ihr den Dienstausweis: „Damit sie sehen, dass ich wirklich Polizeibeamtin bin.“

„Frau Hamm, ich kann Ihnen nicht helfen. Das ist ein Fall für die Gerichtsmedizin.“

„Ich weiß nicht, ob sie wissen, dass ein Mann, der das Mädchen von dem S-Bahngleis gerettet hat, kurz darauf überrollt wurde. Meine Kollegen bergen den Toten gerade. Ich muss nun zu den Verwandten des Mannes gehen und ihnen die traurige Nachricht überbringen. Dass er vergeblich gestorben ist, weil das Mädchen auch tot ist, kann ich ihnen nicht sagen. Ich möchte vorher einfach gern eine erste Einschätzung hören, ob der Tod des Mädchens mit dem Sturz auf die Schienen zu tun hat.“

„Das ist ja schrecklich“, sagte die Ärztin.

Sie sah Sabrina Hamm einen Moment schweigend in die Augen. Sie war knapp vierzig Jahre alt und hatte kluge Augen. Ihre halblangen dunklen Haare, ihre fast schwarzen Augen gaben ihr ein südländisches Aussehen, das nicht zu ihrem Namen passen wollte. Sie steckte die Hände in die Taschen ihres Kittels und blickte nachdenklich auf ihre Schuhspitzen.

„An den Folgen des Sturzes ist sie höchstwahrscheinlich nicht gestorben“, sagte sie schließlich und sah sie wieder an.

Sabrina Hamm wartete die Pause ab. Sie würde ihr etwas mitteilen, da war sie sicher.

„Nachdem wir die Wiederbelebungsmaßnahmen abgebrochen hatten, habe ich mir das Mädchen genau angesehen. Ich wollte wissen, ob ich eine Einschätzung über die Todesursache auf den Totenschein schreiben könnte. Eine äußere Verletzung durch einen Sturz habe ich nicht festgestellt. Soweit ich es fühlen konnte, gab es auch keine Frakturen.“

Sabrina Hamms Gesichtsausdruck nahm gespannte Züge an. Sie hatte einen Verdacht, den sie ihr wohl gleich nennen würde.

„Frau Dr. Junker, bitte sagen Sie mir, was Sie denken. Ich werde Sie weder darauf festlegen, noch dem Gerichtsmediziner im Vorfeld etwas mitteilen.“

„Kommen Sie bitte mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.“

Sie drehte sich entschlossen um und ging den Gang zügig hinauf, Sabrina Hamm folgte ihr.

„Ist das Mädchen noch hier?“

„Nein.“

Sie ging in ein Zimmer, setzte sich hinter den Schreibtisch und suchte etwas in ihrem Computer.

„Hier“, sagte sie und drehte den Monitor um.

Sabrina Hamm sah an der zarten Haut, dass ein Körperteil eines jungen Menschen zu sehen war.

„Ist sie das?“

„Ja, der linke Oberarm.“

Sie beugte sich vor: „Sieht aus wie ein Stich.“

„Das ist mir aufgefallen. Die Todesursache habe ich als Herzstillstand angegeben. Davon bin ich überzeugt.“

„Eine allergische Reaktion auf den Stich ...?“

Die Ärztin spannte die Lippen an und wiegte den Kopf.

„Ich nehme Sie beim Wort. Was ich sage, nehmen Sie bitte unter ganz großem Vorbehalt mit.“

Mit der Rückseite eines Kugelschreibers umkreiste sie am Monitor den roten Punkt, der von geröteter Haut umgeben war.

„Ungewöhnlich für einen Stich ist die Art der Schwellung der Haut. Es sah aus, als hätte sich um den Stich Flüssigkeit unter der Haut gesammelt. Das muss nichts bedeuten. Wir haben, bevor wir das Mädchen in die Gerichtsmedizin gegeben haben, Blut abgenommen.“

„Welchen Gedanken haben Sie?“

„Ich habe die Mutter trotz ihres Unglücks fragen können, ob das Mädchen eine Krankheit hatte. Ob es sich deswegen in Behandlung befand. Oder ob es geimpft wurde.“

Sie schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf: „Nichts dergleichen.“

„Was hat die Blutuntersuchung ergeben?“

„Wir haben das Blut lediglich abgenommen und hier als Gegenprobe gelagert, für den Fall, dass es gebraucht werden könnte.“

Sabrina Hamm lehnte sich im Stuhl zurück und sah ihr nachdenklich in die Augen.

„Wenn ich Ihre Äußerungen richtig interpretiere, gehen Sie davon aus, dass sie möglicherweise etwas injiziert bekommen hat.“

„Oder in etwas Spitzes hineingestolpert ist“, fuhr sie dazwischen.

„Ich verstehe.“

„Ich möchte mich jetzt aber nicht weiter aus dem Fenster lehnen. Es wäre vielleicht gut, wenn Sie dem Pathologen zunächst nichts von unserem Gespräch mitteilen. Wenn er zu demselben Ergebnis kommt, sind wir einen Schritt weiter. Dann muss man sie öffnen und alle Werte durchs Labor untersuchen lassen. Sollte man dort zu einer anderen Einschätzung kommen, rufen Sie mich an.“

Sabrina Hamm pustete die Wangen auf.

„Das hört sich gerade an, als wollten Sie andeuten, dass wir es hier mit einer Straftat zu tun haben könnten.“

„Oder einem Unfall.“

„Na ja, was heißt Unfall. Wenn jemand auf einem öffentlichen Bahnsteig mit einer gefährlichen Substanz an einem spitzen Gegenstand rumläuft, würde ich das mindestens grob fahrlässig nennen.“

„Das ist mir zu voreilig. Es ist möglich, dass sie auf irgendetwas allergisch reagiert hat."

„Ich verstehe.“

Sie erhob sich und reichte der Ärztin die Hand.

„Ich setze mich gleich mit der Gerichtsmedizin in Verbindung. Vielen Dank, Frau Dr. Junker.“

„Informieren Sie mich, wenn Sie etwas wissen?“

Sabrina Hamm gab ihr eine Visitenkarte.

„Ich bin ein schrecklich vergesslicher Mensch. Ich versuche dran zu denken. Falls ich es vergesse, rufen Sie mich gern jederzeit an. Ich denke, in zwei Tagen weiß ich mehr.“

Frau Kranz

Sabrina Hamm rief Grabert an. Der hatte so lange auf dem Bahnsteig ausgeharrt, bis der Mann unter dem Zug geborgen war. Er hatte auf die Papiere gewartet, um die Identität des Toten festzustellen.

„Wie sieht er aus?“, fragte sie.

„Dafür, dass er von einer S-Bahn überrollt wurde, eigentlich ganz gut.“

„Er ist aber nicht mehr am Leben, oder?“

„Nein, leider nicht. Vermutlich war er auf der Stelle tot.“

„Sagt das der Arzt?“

„Ja. Er hatte viele Knochenbrüche, selbst wenn er noch bewusstlos gewesen war, hat er vermutlich so viele innere Verletzungen, dass er nach wenigen Minuten gestorben wäre.“

„Und wie heißt er?“

„Georg Kranz, wohnhaft Adlerstraße fünfunddreißig. In der Aktentasche auf dem Bahnsteig, waren ja Unterlagen des Achimer Gymnasiums. Ich habe im Internet nachgesehen – er war der Schulleiter.“

„Dann müssen wir wohl zu der Familie“, sagte Sabrina Hamm, „willst du, soll ich?“

„Mach‘ du! Nimm einen Seelsorger mit.“

Sie berichtete Grabert, von dem Gespräch mit der Ärztin und deren Andeutungen.

„Was?“, Grabert bellte überrascht ins Telefon.

„Bitte sei so gut, und kümmere dich darum, dass das Mädchen obduziert wird. Ich möchte möglichst schnell wissen, was da los ist. In dem Zusammenhang wäre es natürlich besonders wichtig, die Videos vom Bahnsteig auszuwerten. Ich gehe in der Zwischenzeit zu der Familie.“

Sabrina Hamm rief die Kollegin Carola Menge an und bat darum, ihr einen Notfallseelsorger zur Adlerstraße zu schicken, sie würde vor dem Haus warten.

Sie fuhr zu der Adresse. Als sie dort war, beschloss sie, sich irgendwo einen Becher Kaffee zu besorgen und ein Brötchen. Kauend ging sie zum Haus der Kranz‘. Vor der Tür wartete noch niemand. Sie aß in Ruhe das Brötchen, der heiße Kaffee war bei dem kühlen Wetter eine Wohltat, auch wenn er nicht wirklich gut schmeckte.

Nach einigen Minuten hielt ein Taxi, ein Mann mit einer leuchtend orangefarbenen Jacke bezahlte den Fahrer. Sabrina Hamm hatte immer wieder mit Krisenhelfern zu tun, diesen kannte sie noch nicht. Der Mann stieg aus und sie ging auf ihn zu.

„Guten Tag, mein Name ist Hamm, ich bin von der Kripo. Ich nehme an, wir beide sind verabredet.

Der Mann mit der leuchtenden Jacke, war groß und machte einen freundlichen Eindruck. Er würde seine Sache wahrscheinlich gut machen, dachte sie.

„Schunk, Werner Schunk, ich bin Krisenhelfer beim Arbeiter Samariterbund. Würden Sie mich, bevor wir dort hineingehen, einmal unterrichten, worum es geht?“

Sie gab ihm eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse.

„Und was ist mit dem Mädchen?“

„Es ist leider auch verstorben. Ein vergeblicher Tod.“

„So würde ich das nicht sehen. Wenn der Mann nicht auf die Schienen gesprungen wäre, hätte das Mädchen auch sein Leben verloren und dieser hilfsbereite Mensch hätte sich zeitlebens Vorwürfe gemacht.“

Er sah sie einen Moment schweigend an: „Nein, das war kein vergeblicher Tod. Das wird den Angehörigen im Sinn bleiben, sooft sie an den Ehemann und Vater denken.“

„So habe ich es noch gar nicht gesehen“, sagte sie.

„Von mir aus können wir reingehen“, sagte er.

Sie klingelten. Niemand öffnete. Sabrina Hamm ärgerte sich, dass sie nicht vorher angerufen hatte. Sie hatte die Leute aber nicht am Telefon informieren wollen.

„Tja, was tun wir?“, fragte sie.

„Jetzt ist es zehn vor zwei, wir könnten irgendwo einen Kaffee trinken gehen und es in einer halben Stunde noch mal versuchen. Eventuell ist die Frau beim Einkaufen, vielleicht arbeitet sie halbtags und kommt demnächst nach Hause.“

„Ich hatte zwar gerade einen Kaffee, aber es kann nicht schaden, sich ein wenig aufzuwärmen“, sagte sie. Als sie wieder von der Haustüre gehen wollten, kam ihnen eine Frau entgegen, die einen Schlüssel in der Hand hielt. Die Frau grüßte und musterte den Mann in der Jacke eines Sanitäters. Sabrina Hamm dachte, dass das Alter passen könnte. Sie hielt Schunk am Arm und sah ihr nach Sie schloss die Tür auf und ging hinein.

„Vielleicht ist sie das.“ sie machte einige schnelle Schritte hinterher.

„Frau Kranz …?“

Die Frau drehte sich um und sah die beiden unsicher an. Sie würde sie nicht ins Haus lassen. Von Trickdieben, die sich unter einem Vorwand Zugang zur Wohnung verschafften, hatte sie schon gehört.

„Sind Sie Frau Kranz?“, hakte Sabrina Hamm nach.

„Und wenn ich es wäre ...“

„Meine Name ist Sabrina Hamm“, sie griff in die Innentasche ihrer Jacke, holte den Dienstausweis heraus und ging mit ausgestrecktem Arm auf sie zu. Zögerlich griff sie danach.

„Polizei?“, fragte sie. Sie wurde von Unruhe ergriffen. Unsicher musterte sie die beiden.

„Sie sind Frau Kranz – ist das richtig?“

Sie stellte ihre Tasche ab und gab Sabrina Hamm den Ausweis zurück. Sie legte die flache Hand auf die Brust, als wolle sie sich vor einer schlechten Nachricht schützen.

„Ist etwas mit meinem Mann oder den Kindern?“

Wollen wir uns drinnen unterhalten?“ Sabrina Hamm forderte mehr als das sie fragte.

„Es ist etwas geschehen ...“

„Wollen wir?“

Sie nickte geistesabwesend. Ihre Augen wanderten unruhig hin und her. Sie versuchte sich zu konzentrieren. Dann griff sie die Tasche und ging hinein.

„Bitte“, sie deutete mit der Hand zu einem Zimmer am Ende des Flurs.

Sabrina Hamm sah sich um. Ein geschmackvoll eingerichteter Raum. Große Holzfenster, teure Möbel, die sie als moderne Klassiker bezeichnen würde. In der Ecke stand ein Flügel. Der Deckel war geschlossen. Es stand nichts darauf. Vermutlich wurde er regelmäßig bespielt. Der Raum war perfekt aufgeräumt, so als erwarte sie einen Fotografen einer Wohnzeitschrift. Durch eine Schiebetür sah sie in den Nebenraum. Sie hatte sich immer eine Bibliothek zu Hause gewünscht – aus echtem Holz, die bis zur Decke reichte, mit einer Leiter, die sich verschieben ließ. Hier war sie. Bei ihr standen und lagen die Bücher in zwei Reihen voreinander in preiswerten Regalen aus einem Mitnahmemarkt.

„Bitte“, Frau Kranz riss sie aus ihren Gedanken und deutete auf ein Ledersofa.

Die beiden nahmen Platz, ohne sich anzulehnen. Die Frau des Hauses setzte sich in den Sessel, der auf der anderen Seite des Glastisches stand. Sie hatte den Mantel anbehalten und saß am vorderen Rand des Polsters. Ihre Hände, die den Schlüssel immer noch umklammert hielten, verrieten ihre Anspannung.

„Frau Kranz, wissen Sie, wo sich Ihr Mann im Augenblick aufhält?“

Sie schüttelte den Kopf kaum merklich, so als müsse sie einem intensiven Traum abschütteln.

„In der Schule …? Er ist Leiter eines Gymnasiums in Achim.“

„Hat er etwas getan?“

„Nein.“

„Warum suchen Sie ihn dann?“

Sabrina Hamm warf einen flüchtigen Seitenblick zu Schunk, dann sah sie ihr direkt in die Augen.

„Wir suchen ihn nicht“, sie machte eine kurze Pause: „Ich habe leider keine gute Nachricht für sie.“

Ihre Hände griffen den Schlüssel wieder fester, die Finger färbten sich weiß.

„Frau Kranz, Ihr Mann ist heute Morgen beim Versuch ein Mädchen von den Bahngleisen zu retten, ums Leben gekommen. Es tut mir sehr leid.“

Sie legte ihre Hand auf den Mund, als wolle sie sich am Schreien hindern. Sie blickte zwischen den beiden hin und her. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Schließlich schluchzte sie laut.

Schunk erhob sich vom Sofa und hockte sich neben sie auf den Boden. Er legte ihr die Hand auf den Rücken.

„Herr Schunk ist Krisenhelfer, Frau Kranz. Er wird Sie unterstützen, bis jemand, den Sie kennen hier ist und Ihnen hilft.

„Wo ist das passiert? Wieso war ein Mädchen auf den Schienen. Ist sie auch …?

„Es ist im Hauptbahnhof passiert. Wir untersuchen die Sache gerade. Was mit dem Mädchen ist, können wir im Moment nicht sagen. Ihr Mann hob es auf jeden Fall auf den Bahnsteig, ehe der Zug kam.“

Sabrina Hamm konnte ihr einfach nicht sagen, dass sie tot war. Wenn möglich wollte sie, dass sie im Glauben ist, dass das Mädchen lebte.

„Ihr Mann ist eine außergewöhnliche Person, er hat sich als Einziger auf dem Bahnsteig couragiert benommen. Ich weiß nicht, ob ich diese Größe besessen hätte.“

„Ich wünschte, er hätte sich anders entschieden“, sagte sie schluchzend.

„Das hätte er nicht gekonnt, er hätte es sich niemals vergeben“, sagte Schunk.

„Nein, das hätte er nicht.“

Dr. Renz

Sabrina Hamm war noch eine Viertelstunde geblieben, sie hatte dem Krisenhelfer das Weitere überlassen. Sie hatte ihr Mobiltelefon vor der Haustür wieder eingeschaltet und Grabert angerufen.

Das Mädchen war in der Zwischenzeit in der Gerichtsmedizin eingetroffen. Sie hatten verabredet, sich dort zu treffen. Die Videoaufzeichnungen vom Bahnsteig waren ebenfalls bereits kopiert und auf dem Weg ins Präsidium.

Als Sabrina Hamm in der Gerichtsmedizin eintraf, stand Grabert bereits neben der zierlichen Leiche des Mädchens. Es lag dort auf dem kalten Blechtisch unter dem gnadenlosen Licht einer OP-Leuchte. Grabert war im Gespräch mit Dr. Jakob Renz, der hier tätig war, solange er denken konnte.

„Und?“, fragte sie.

Renz sah sie über die Brille hinweg an, als hielte er sie für unzurechnungsfähig.

„Sie wollten fragen, warum Sie den Bericht noch nicht in Händen halten“, frotzelte er.

„Sie haben ihn immer noch nicht fertig?“ Sie trat lächelnd auf den Gerichtsmediziner zu und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Um mich mal ganz weit aus dem Fenster zu lehnen: eine natürliche Todesursache ist das hier meines Erachtens nicht“, sagte Renz und deutete mit einem Kugelschreiber auf den linken Oberarm der Jugendlichen.