Abreise - Peter Gnas - E-Book

Abreise E-Book

Peter Gnas

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Linda Bichler hatte während ihrer ersten Ehe in jungen Jahren ihre Nieren nachhaltig geschädigt. Seit mehr als zwei Jahrzehnten war sie auf die Dialyse angewiesen. Ihr Mann war der Situation nicht gewachsen und hatte sie verlassen. Sie arbeitete seit vielen Jahren als Filialleitung eines Reisebüros in Bremen Mitte. Ihr Jugendtraum von großen Reisen rund um die Welt hatte sie ihrer Erkrankung opfern müssen. Eines Tages betrat Marc Schubert das Reisebüro. Er war Wissenschaftler an der Universität Bremen. Reisen fanden für den Junggesellen bisher nur in Verbindung mit seiner Forschung statt. Da er nach vielen Jahren intensiver Arbeit das Gefühl hatte, dass auch er ein wenig Erholung und Abschalten gebrauchen konnte, traf er auf Linda Bichler. Beide hatten sich bei dem Beratungsgespräch gut verstanden und sich privat verabredet, obwohl Schubert nicht dem Bild eines Mannes entsprach, dass Linda Bichler auf den ersten Blick gefiel. Trotzdem entwickelte sich aus der Freundschaft allmählich eine Liebe und schließlich die Ehe. Linda Bichler kehrte mit dieser zweiten Heirat zu ihrem Mädchennamen Link zurück. Schubert nahm ebenfalls diesen Namen an. Er hatte sich erkundigt, ob er als möglicher Spender einer Niere für seine Frau infrage kam. Da die Ärzte dafür grünes Licht gaben, überraschte er seine Frau mit dieser Nachricht. Bereits wenige Wochen nach der Transplantation konnte Linda Link mit ihm zum ersten Mal so verreisen, wie sie es sich erträumt hatte – ohne Krankenhaus und Dialyse am Urlaubsort. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten fühlte sie sich befreit. Als der Professor für einige Zeit beruflich stark eingespannt ist und zu einer Konferenz in die Vereinigten Staaten fliegt, begeht sie einen fatalen Fehler. Sabrina Hamm, Erste Kriminalhautkommissarin und ihr Team werden zu einer Leiche gerufen, die in einem Garten-Pavillon gefunden wurde.

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Seitenzahl: 201

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Abreise

Kriminalroman von Peter M. Gnas

Peter M. Gnas ist 1955 in Bremen geboren und hat dort Kunst studiert. Seit Jahrzehnten arbeitet er selbstständig als Grafik-Designer und Texter in Stuttgart und jetzt bei Sigmaringen. Kreativität in Wort und Bild tragen ihn durch sein gesamtes Leben. Neben der zielgerichteten schöpferischen Tätigkeit im Marketing arbeitet er frei künstlerisch in Wort und Bild.

Impressum

Deutsche Erstveröffentlichung

© 2020 by Peter M. Gnas

Herstellung und Verlag: Peter M. Gnas

Umschlaggestaltung: Die Zeitgenossen GmbH, Stuttgart

Titelbilder: Pixabay/ robert1029

Pixabay / vitalworker

Pixabay / Alexas_Fotos

Begegnung mit Linda

Linda Link war vierundzwanzig Jahre alt, als sie Jens begegnete. Er war ein Jahr älter als sie. Jens und sie hatten eine gemeinsame Freundin – Gabi Hirth – sie feierte an diesem Abend ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag. Er war Mechatroniker in einer Firma, die sich auf die Herstellung von Metallteilen spezialisiert hatte, Gabi Hirth arbeitete im selben Unternehmen im Innendienst der Vertriebsabteilung. Sie hatte Linda zwei Jahre zuvor in einer Bar kennengelernt. Linda und Jens Bichler waren sich bislang nicht begegnet.

Gabi Hirth mochte Jens Bichler, seine groß gewachsene Gestalt und seine männliche Ausstrahlung. Trotz seiner jungen Jahre war er stark behaart an den Armen und wie der Hemdausschnitt erahnen ließ, am ganzen Körper. Sie hatte gehofft, dass sie ihn an diesem Abend für sich gewinnen könnte.

Es waren mehr als zwanzig Gäste gekommen, die Gabi Hirth so stark beschäftigten, dass sie kaum dazu kam, sich mit Bichler zu unterhalten und schon gar nicht mit ihm zu flirten. Stattdessen musste sie aus der Entfernung zusehen, wie er sich mit Linda anfreundete. Schließlich fiel sie aus allen Wolken, als beide nach Mitternacht zu ihr kamen und sich gemeinsam verabschiedeten.

*

Linda Link war Reiseverkehrskauffrau. Am Beginn ihrer Ausbildung hatte sie den Beruf romantischer gesehen. Sie hatte von bezahlten Ferien geträumt und von der Arbeit als Reiseleiterin. Dass sie sich für den Job als Animateurin nicht eignete, hatte sie sich bereits im ersten Urlaub eingestehen müssen. Dafür war sie viel zu gehalten in ihrer Persönlichkeit. Für den Beruf als Reiseleiterin beherrschte sie zu wenige Sprachen.

Drei Jahre hatte sie in Hannover in der Zentrale eines großen Reiseveranstalters gearbeitet und war nach dieser Zeit in ihre Heimatstadt Bremen zurückgekehrt. In einem unternehmenseigenen Reisebüro arbeitete sie zwei Jahre im Team und weil sie gute Umsätze vorweisen konnte, wurde ihr die Leitung eines Reisebüros in Bremen Mitte übertragen.

Im ersten gemeinsamen Jahr mit Jens waren sie in eines der Tophotels des Unternehmens nach Kreta geflogen. Sie konnte diese Art von Urlaub genießen. Für alles war gesorgt, nichts blieb dem Zufall überlassen. Jens war Motorradfahrer mit Leib und Seele. Bereits nach einer Woche langweilte er sich in dem Vollkasko-Hotel, wie er es nannte. Sie hatte ihm deshalb versprochen, im nächsten Jahr eine Motorradtour mit Zelt mitzumachen.

Nach dem ersten Urlaub waren sie sicher, dass sie zusammengehörten. Sie heirateten. Da sie ihm zugesichert hatte, im folgenden Jahr mit dem Motorrad zu verreisen, wollte sie jedoch selbst fahren. Er unterstützte sie beim Erwerb des Führerscheins – auf abgelegenen Parkplätzen und Straßen zeigte er ihr, wie sie ein Motorrad beherrschen konnte. Er fuhr eine große BMW-Geländemaschine, hatte sich für ihre ersten Fahrversuche von einer Bekannten jedoch ein niedriges Tourenmotorrad geliehen. Nach zwei Wochenenden beherrschte sie das Motorrad. Die Fahrerlaubnis erhielt sie deshalb bereits nach den vorgeschriebenen Pflichtstunden.

*

Im folgenden Sommer hatte sie ihr Versprechen gehalten. Mit ihren beiden BMW-Motorrädern machten sie sich auf den Weg über Österreich in die Dolomiten. Er fuhr eine schwere Geländemaschine. Sie hatte sich eine gebrauchte Tourenmaschine zugelegt, bei der der Sattel sehr tief lag, damit sie mit den Füßen sicher auf dem Boden stehen konnte.

Nach einigen Tagen hatten sie Bozen erreicht und schlugen das Zelt am Kalterer See auf. Am Abend hatten sie sich vorgenommen noch einmal in die Stadt zu fahren, um eine Kleinigkeit zu essen. Der Abend war mild und als die Sonne den Saum der Berge küsste, fuhren sie los. An diesem Abend sollte ihr Leben eine tragische Wendung nehmen.

Wegen des warmen Wetters hatten sie sich lediglich die Helme übergestreift und waren leicht bekleidet in kurzen Hosen und in T-Shirts aufgebrochen. Sie hatten ein Restaurant ausgesucht, in dem sie auf der Terrasse sitzen konnten. Nach einer halben Stunde begann sich Linda Bichler bereits unwohl zu fühlen. Trotz der Temperatur von dreißig Grad fror sie. Sie drängte Jens nach einer Stunde zur Rückfahrt zum Zelt. Sie sei müde und fühle sich schlapp. Jens war nicht begeistert, brach aber mit ihr auf.

In der Nacht erwachte sie. Sie hatte Schüttelfrost und hohes Fieber und ihr tat der Rücken weh. Von ihrem Stöhnen erwachte Jens. Er bekam einen Schreck, als er die Hängelampe einschaltete und ihr schmerzgeplagtes Gesicht sah.

„Linda, was hast du?“

„Aua“, wimmerte sie, „mir geht es schlecht.“

„Wo tut es weh?“

„Rücken.“

Soll ich dir eine Tablette geben?“

„Ja.“

Er hatte in dem Etui mit seinen Kosmetikartikeln eine Packung Schmerzmittel. Er kannte das von langen Fahrten, dass er schon mal Kopf- oder Rückenschmerzen bekam. Eine Ibuprofen hatte ihm stets zuverlässig Linderung verschafft. Er brach eine Tablette in der Mitte durch, damit Linda sie leichter schlucken konnte und reichte ihr eine Flasche mit Wasser.

„Danke“, stöhnte sie.

Er löschte das Licht, legte sich hinter sie und schloss sie in die Arme. Er hoffte, dass er sie wärmen konnte und ihr Zittern nachließ. Er war beunruhigt, als er merkte, dass sie in seinen Armen trotz der sommerlichen Temperaturen weiter zitterte. Erst nach einer Viertelstunde wurde sie ruhiger. Er war erleichtert, als ihr gleichmäßiges Atmen ihm signalisierte, dass sie schlief. Ihre Körpertemperatur war so hoch, dass er etwas von ihr abrückte. Er wollte nicht dazu beitragen, ihren Körper zu überhitzen.

Bereits nach einer Stunde erwachte sie erneut. Wieder zitterte sie, wieder wand sie sich vor Schmerzen. Er sah auf sein Smartphone – es war zwei Uhr. Er holte diesmal zwei Tabletten aus der Packung, brach sie durch und reichte sie ihr mit Wasser. Erneut nahm er sie in den Arm und schlief ein, als auch sie einschlief.

Er wachte irgendwann auf, weil er die rasende Hitze ihres Körpers spürte. Sie war nass geschwitzt und stöhnte im Schlaf. Er überlegte, was er tun konnte. Wenn sie wieder erwachte und litt. Er konnte ihr nicht noch mehr Tabletten geben. Er dachte nach, was die Ursache sein konnte. Eine Lebensmittelvergiftung? Sie hatte eine Pizza Quattro Formaggi gegessen – davon bekam man doch keine Vergiftung.

Er hatte das Internet an seinem Telefon wegen der hohen Gebühren im Ausland abgestellt. Jetzt ging er kurzentschlossen online und suchte in Bozen nach dem Krankenhaus.

„Ospedale di Bolzana“, las er leise, „hoffentlich sprechen die deutsch.“

Er tippte auf die Telefonnummer. Es tutete.

„Hallo, sprechen Sie deutsch oder englisch?“

„Deutsch.“

Er erklärte, was geschehen war. Die Frau am anderen Ende hörte zu.

„Bringen Sie ihre Frau her, wir untersuchen sie.“

„Wir sind mit dem Motorrad da, das wird nicht gehen.“

„Von wo rufen Sie an?“

„Vom Campingplatz am Kalterer See.“

„Ich will versuchen, ob ich einen Krankenwagen organisieren kann. Ich schreibe mir Ihre Nummer vom Display ab und rufe zurück.“

„Danke.“

*

Linda Bichler war eine halbe Stunde später unter Zittern erwacht. Er hatte versucht ihr zu erklären, was er zwischenzeitlich unternommen hatte. Das Gesagte erreichte sie nur aus der Ferne. Die Welt lag außerhalb, hinter einer dicken Wand aus heißem Nebel.

Da das Krankenhaus noch nicht zurückgerufen hatte, rief er nochmals an. Es war diesmal eine männliche Stimme am Telefon. Er wusste von nichts und lehnte es auch ab, sich um einen Krankenwagen zu kümmern. Er müsse einen Arzt rufen, der seine Frau einweisen würde, falls es nötig sei. Wütend drückte Bichler das Gespräch weg.

„Linda, ich muss mal kurz raus. Ich decke dich dick zu, damit du weniger zitterst.“

„Ja“, drang es aus ihr heraus.

Bichler hatte sich überlegt, dass er kurzerhand jemanden wecken würde, der ein Auto hat. Dafür würde man ja wohl Verständnis aufbringen. Mit einer Taschenlampe ging er über den Zeltplatz, dorthin, wo die Camper mit Autos standen. Bei einem Opel Kombi blieb er stehen. Der Wagen hatte ein deutsches Kennzeichen. Einen Moment zögerte er, dann klopfte er auf die Zellwand.

„Hallo ...? Ich brauche dringend Hilfe.“

Er horchte. Innen regte sich etwas.

„Hallo. Ich brauche Ihre Hilfe“, wiederholte er.

Er hörte eine ängstliche Frauenstimme: „Da draußen ist jemand.“

Sie schien ihren Begleiter zu wecken.

„Ich bin hier auch im Urlaub“, sagte er, „bitte helfen Sie mir.“

„Was wollen Sie?“, fragte eine skeptisch klingende Männerstimme.

„Meine Frau ist sehr krank, sie muss ins Krankenhaus und wir haben nur Motorräder.“

„Warum rufen Sie keinen Krankenwagen?“

„Hab ich vor langer Zeit probiert. Die kommen nicht. Ich muss einen Arzt rufen, weiß aber nicht wie ich einen erreiche.“

„Ist das etwas Ansteckendes?“

„Nein. Ich vermute eine Vergiftung.“

Einige Sekunden später wurde der Reißverschluss von innen geöffnet. Eine Lampe leuchtete ihm ins Gesicht.

„Ich heiße Jens Bichler. Mein Zelt steht dort bei den Motorrädern.“

„Schau’n wir mal“, sagte der Mann mit schwäbischem Dialekt.

Sie gingen zu Bichlers Zelt. Er hörte Linda stöhnen.

„Es geht ihr schlecht. Sie hat hohes Fieber und Schmerzen.“

Der Mann bückte sich, ging in das Zelt, leuchtete in die Schlafkabine und betrachtete die zitternde Frau.

„Oha“, stieß er hervor: „Ich hole den Wagen. Gucken Sie mal, dass Sie Ihre Frau abfahrbereit machen. Vergessen Sie nicht Geld und Papiere.“

„Vielen vielen Dank.“

*

In der Klinik hatte man zunächst mit einem Antipyretikum dafür gesorgt, dass ihr Fieber nachließ. Als sie wieder ansprechbar war, wurde sie von einem Arzt befragt. Schnell kam der Verdacht auf, dass sie eine schwere Nierenentzündung hatte. Ein Bakterienschnelltest bestätigte den Verdacht. Sie bekam ein Breitband-Antibiotikum, dass ihr schnell Linderung verschaffte.

Am nächsten Tag sollte sie entlassen werden. Der Arzt hatte dringend dazu geraten, fünf Tage in einem Hotel zu verbringen, um die Entzündung auszukurieren. Er hatte ihr weiter geraten, nicht mit dem Motorrad nach Deutschland zurückzukehren.

Sie hatten sich an den ersten Teil des ärztlichen Rats gehalten. Es hatte ihr jedoch widerstrebt, das Motorrad per Bahn nach Bremen zu holen. Sie waren im Hotel geblieben, bis die fünf Tage rum waren, während der sie das Antibiotikum nehmen sollte. Am sechsten Tag holten sie ihr Motorrad vom Zeltplatz, packten ihre Sachen und machten sich auf den Rückweg.

Um sich etwas zu schonen, fuhren sie bis Würzburg, übernachteten dort und fuhren am zweiten Tag nach Hause.

Angekommen in Bremen, spürte sie, dass sie ihren Nieren zu viel zugemutet hatte. Sie bekam Angst, dass sie einen Fehler gemacht haben könnte. Noch am Abend fuhr sie in die Notfallambulanz im Zentralkrankenhaus. Die Ärztin hörte sich ihre Geschichte an und machte ihr unmissverständlich klar, dass sie für das Handeln keinerlei Verständnis habe. Sie verschrieb ihr ein Breitband-Antibiotikum und empfahl dringend am nächsten Tag zu einem Urologen zu gehen, um eine Bakterienkultur anlegen zu lassen.

Bereits am nächsten Morgen war sie beschwerdefrei und ignorierte den Rat der Ärztin. Solange sie das Medikament nahm, war es ihr gut gegangen, drei Tage nach dem Absetzen fingen die Beschwerden jedoch erneut an. Sie bekam erst am folgenden Tag einen Termin bei einem Urologen und es dauerte weitere drei Tage, bis die angelegte Kultur das Ergebnis lieferte: Enterohämorrhagische Escherichia coli, kurz EHEC genannt. Irgendwo hatte sie den Namen schon gehört, wie gefährlich diese Bakterien waren, wusste sie nicht.

Der Urologe ließ sie umgehend in ein Dialysezentrum bringen, wo sie sofort eine Blutwäsche erhielt. Linda Bichler hatte sich bereits vorher schlecht gefühlt – dass sie nun an der Dialyse-Maschine lag, erfüllte sie mit Angst. Nach zwei Stunden an dem Gerät setzte sich ein Arzt zu ihr. Er schwieg einen Augenblick, was sie noch mehr beunruhigte.

„Frau Bichler, Ihre Nieren sind in großer Gefahr.“

Sie fühlte sich, als hätte er ihr mit der Faust in den Magen geboxt. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Ich will nichts beschönigen. Mit dieser Blutwäsche retten wir Ihnen vorerst das Leben.“

Das war der nächste Tiefschlag.

„Mit EHEC ist nicht zu spaßen. Wir können hier einen großen Teil der akuten Bakterien aus Ihrem Blut filtern. Über den Berg sind Sie damit aber keineswegs. Sie werden weiterhin Medikamente nehmen müssen und wir werden die Dialyse ein oder zweimal wiederholen.“

„Sind meine Nieren geschädigt?“, fragte Sie ängstlich.

„Akut ja. Wir setzen alles daran, die entstandenen Schäden zu begrenzen.“

„Und wenn das nicht gelingt?“

„Daran sollten Sie jetzt nicht denken.“

„Tue ich aber“, sagte sie gereizter, als sie eigentlich wollte.

Der Arzt sah auf den Kugelschreiber, den er zwischen den Fingern drehte.

Er atmete tief durch: „Dann laufen wir Gefahr, dass Ihre Nieren die Arbeit einstellen.“

Sie legte sich die Hand auf die Brust: „Oh Gott.“

„Jetzt arbeiten wir mit allem, was möglich ist erst mal daran, die Gesundheit Ihrer Nieren wieder herzustellen.“

*

Sie hatte kein Glück. Ihre Nieren hatten die Arbeit im nächsten halben Jahr irreparabel eingestellt. Dreimal wöchentlich wurde sie zum Dauergast im Dialysezentrum. Sie stand auf der Liste, die sie als mögliche Empfängerin einer Spenderniere auswies. Da sie die Dyalyse gut verkraftete, stand ihr Name jedoch weit hinten auf dieser Liste.

Ihre Ehe hatte ihre gesundheitlichen Probleme nicht überstanden. Nach einem Jahr, machte er ihr klar, dass er für die Rolle eines Krankenpflegers nicht geeignet sei. Er hatte ihr gesagt, dass er den Weg freimachen wolle für einen besseren Mann. In Wahrheit hatte er Angst vor der Situation und wollte sich so schnell wie möglich davonmachen.

Linda Bichler hatte es lange geahnt, dass er gehen würde. Es war nicht nur einmal vorgekommen, dass er nach Hause kam und nach dem Parfüm einer Frau roch. Einmal hatte sie geglaubt, den Geruch der Scham einer Frau in seinem Gesicht wahrzunehmen.

Als er gegangen war, begann sie ihm die Schuld an ihrer Situation zu geben. Er hatte sie zum Motorradfahren bewegt. Er hatte sie dazu gebracht, diese unselige Tour zu unternehmen. Einige Wochen später hatte sie diese Vorwürfe gelassen. Im letzten halben Jahr vor seinem Abschied, war er der einzige Umgang gewesen, den sie privat hatte. Immer mehr Freunde und Bekannte hatten Probleme im Umgang mit ihrer Erkrankung und waren ferngeblieben. Und sie hatte auch nicht viel unternommen, die Kontakte zu halten. Die Scheidung wurde ein Jahr später vollzogen. Nun war sie allein.

Die Patientin

Seit fast zwanzig Jahren ging sie nun regelmäßig zur Dialyse. Da sie immer nachts im Zentrum war, arbeitete sie weiter im Reisebüro. Wie gerne hätte sie mal wieder eine Fernreise unternommen. Es mussten jedoch so viele Kriterien erfüllt werden, dass sie nicht mehr in exotischere Länder flog.

Die gesundheitlichen Probleme durch die Dialyse nahmen zu. Sie litt regelmäßig unter Schmerzen in Knochen und Gelenken, Müdigkeit, depressiven Phasen und Mangel an roten Blutkörperchen. Mittlerweile zählte sie zu den Personen, die ein Spenderorgan benötigten. Ihr Vater hatte sich schon einige Jahre zuvor angeboten, eine seiner Nieren zu spenden. Leider kam er wegen eigener gesundheitlichen Risiken nicht infrage. Ihre Mutter war verstorben, bevor ihre Nieren ausfielen.

Sie lebte ständig mit dem Gedanken, dass irgendwo ein Mensch sterben musste und sie von dessen Tod profitierte. Immer wieder ertappte sie sich bei dem Wunsch, dass bald der richtige sterben möge. Wenn es nicht passieren würde, konnte sie ein nicht perfekt passendes Organ bekommen und müsste mehr Medikamente nehmen – aber die nahm sie ja jetzt bereits in rauen Mengen.

Noch eine Begegnung mit Linda

An einen regnerischen Samstagmorgen im April betrat ein Mann das Reisebüro. Sie erhob sich und lud ihn ein, an ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen.

„Was kann ich für Sie tun.“

„Ich möchte im Juni gern zwei bis drei Wochen eine gemischte Reise machen. Halb Faulenzen, halb Rundreise.“

„Haben Sie eine bestimmte Region im Blick?“

„Nein. Es ist fast alles interessant für mich. Ich habe noch nie eine Rundreise gemacht.“

„Sie verreisen allein?“

„Ja. Es wäre aber ganz schön, wenn es eine Reise in einer Gruppe wäre.“

Sie betrachtete ihn einen Augenblick. War es ein Kunde, der gleichgesinnte, bildungshungrige Mitreisende suchte, mit denen er sich an den Abenden austauschen konnte? Oder war er einer der einsamen Männer, die unbedingt jemanden fürs Leben kennenlernen wollte? Er war ein durchschnittlich aussehender Mann von durchschnittlicher Größe und vermutlich mit einem durchschnittlichen Gehalt aus einem durchschnittlichen Beruf. Sie hatte stets Männer bevorzugt, die eine gewisse Verwegenheit ausstrahlten. Wenn sie sich auch eingestehen musste, dass diese Vorliebe ihr keine echte Partnerschaft eingebracht hatte.

Dieser Mann war nicht verwegen – er würde nie auf eigene Faust ein exotisches Land bereisen. Wenn sie ehrlich sich selbst gegenüber war, war sie im Grunde wie dieser Kunde. Sie hatte das Unberechenbare stets gern an einen Mann an ihrer Seite delegiert.

„Wie würde Ihnen eine komplett begleitete Studienreise gefallen? Gut gebildete Reiseleiter, tolle Hotels und hervorragendes Essen. Im Anschluss einige Tage am Strand?“

„Wenn es nicht so teuer wird.“

„Wie viel möchten Sie ausgeben?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht dreitausend Euro?“

„Gibt es denn etwas, dass Sie schon immer gern sehen wollten?“

Er dachte nach.

„Japan, Südamerika oder irgendwas in Asien ...“

„Drei Wochen Südamerika mit Rundreise und Strandurlaub wird auf jeden Fall teurer. Mittelamerika könnte passen. Japan geht – dort kommt es auf den Standard an, den Sie von einem Hotel erwarten. Thailand, Vietnam und Kambodscha sind gut machbar.“

„Könnten Sie mir für Japan etwas vorschlagen?“

Sie schlug ihm verschiedene Rundreisen vor – für eine anschließende Strandwoche Thailand. Sie rechnete verschiedene Modelle durch, die in sein Budget passten.

„Waren Sie schon einmal in Japan?“, fragte er.

„Nein, leider nicht.“

„Leider? Für Sie muss das doch günstiger sein, oder?“

„Ja, das schon ...“

„Aber ...?“

Sie zögerte. Gehörte das in ein Kundengespräch?

„Aber ... nichts“, sagte sie.

„Verdienen Sie hier zu wenig?“

„Nein“, sagte sie entschieden und schüttelte lächelnd den Kopf.

„Haben Sie gesundheitliche Probleme?“

Für die Dauer eines Wimpernschlags sah sie ihn überrascht an.

„Herr ...“

„Schubert.“

„Herr Schubert ...“

Er unterbrach sie: „Was fehlt Ihnen, Frau ...“

Er sah auf das Schild, das auf ihrem Schreibtisch stand: „... Bichler.“

„Herr Schubert, das gehört hier nicht her.“

Er sah sie überrascht an. Er konnte nicht glauben, dass er wirklich so dreist nachgehakt hatte.

„Entschuldigen Sie, ich habe den Verstand verloren. Es geht mich natürlich nichts an.“

Sie lachte: „Nein, Ihr Verstand scheint scharf zu sein.“

Jetzt blickte Sie ihm direkt in die Augen. Was passierte hier? Baggerte er sie gerade an? Hatte sie ihn falsch eingeschätzt? War er in Wahrheit ein Frauenheld? Nein, das war er nicht.

„Sie haben recht. Ich habe gesundheitliche Probleme, die meine Reiselust einschränken.“

„Das tut mir leid.“

„So“, beendete sie diesen aus den Gleisen geratenen Dialog, „jetzt drucke ich Ihnen einige Angebote aus und gebe Ihnen zwei Kataloge mit. Dann können sie zu Hause ganz in Ruhe entscheiden, welches Arrangement für Sie das beste ist.“

„Einverstanden.“

Als er gegangen war, dachte sie, dass er entweder auf jeden Fall wieder zu ihr kommen werde, um eine der teureren Varianten zu buchen oder er würde gar nicht mehr auftauchen, weil ihm das eigene Auftreten peinlich war. Sie war im Laufe der Jahre zu einer guten Menschenkennerin geworden. Das hatte sie zu einer hervorragenden Verkäuferin gemacht. Getrübt wurde ihre Bilanz nur dann, wenn die Dinge beim Flug oder im Hotel schlecht liefen und die Reisenden um einen unbeschwerten Feriengenuss gebracht wurden. Dann geriet oft auch das Reisebüro vor Ort in diese Differenzen.

*

Am übernächsten Tag, am Montag eine Stunde vor Ladenschluss erschien Schubert im Reisebüro. Linda Bichler beriet gerade einen Kunden. Ihre Kollegin war frei. Sie stand auf und bat ihn mit einer einladenden Handbewegung zu sich an den Tisch. Schubert verneinte freundlich, indem er mit erhobenem Zeigefinger abwinkte und auf Linda Bichler deutete. Die bemerkte seine Geste, entschuldigte sich kurz bei ihren Kunden und ging zu ihm.

„Wenn Sie keine Zeit haben, komme ich an einem anderen Tag.“, sagte er leise.

„Ich brauche sicherlich noch eine halbe Stunde. Wenn Sie wollen, lasse ich Ihnen einen Kaffee bringen.“

„Haben Sie dann noch Zeit für mich“, fragte er, „Sie schließen ja in einer Stunde.“

„Ich nehme mir die Zeit.“

„Dann gehe ich einkaufen und komme in einer halben Stunde wieder.“

Sie nahm wieder Platz und sah ihm nach, als er außen am Fenster vorbeiging. Es war eigenartig – irgendwie freute sie sich, ihn wiederzusehen.

*

Er kam pünktlich. Sie erhob sich und deutete mit der flachen Hand auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

„Es freut mich, dass Sie wiedergekommen sind, Herr Schubert.“

„Das war doch klar, oder?“

„Nein, keineswegs – sehr viele Interessenten kommen nicht ein zweites Mal. Haben Sie etwas entdeckt, das Sie interessiert?“

„Ja, ich würde gern eine zwölftätige Rundreise durch Japan buchen. Im Anschluss möchte ich dann nicht an den Strand, sondern noch ein paar Tage Tokio auf eigene Faust erkunden. In einer Hauptstadt kristallisiert sich die Kultur einer Nation.“

Sie dachte über den Satz nach: „Sie haben recht. So habe ich es noch nie gesehen.“

Sie besprachen die Details. Am Ende überschritt er sein ursprüngliches Budget um fünfhundert Euro – so wie sie es gedacht hatte. Als er unterschrieben hatte, war etwas mehr als eine Stunde vergangen. Ihre Kolleginnen hatten bereits vor einer halben Stunde Feierabend gemacht.

„Jetzt habe ich Sie um einen Teil Ihres wohlverdienten Abends gebracht“, sagte er.

„Nein, das haben Sie nicht. Ich freue mich, dass Sie bei uns gebucht haben.“

Er hielt ihre Hand einen Augenblick länger als sie gedacht hatte.

„Darf ich Sie noch zu etwas einladen?“, fragte er.

Sie bemerkte eine leichte Aufregung in seiner Stimme. Es war ihm nicht leicht gefallen, sie zu fragen. Sie sah ihn an, lächelte und legte den Kopf schräg.

„Einladen? An was dachten Sie?“

Er breitete die Arme aus, als lege er ihr die Welt zu Füßen: „Essen, trinken – Sie sind mein Gast.“

Nach einem kurzen Zögern, währenddessen er das Gefühl hatte, die Welt bliebe stehen, stimmte sie zu.

„Gern.“

„Wirklich?“, er strahlte.

„Wenn ich ehrlich bin, habe ich etwas Hunger. Ich zahle das selbstverständlich selbst.“

„Auf keinen Fall tun Sie das. Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass Sie die Wahl haben.“

„Dann sage ich jetzt schon mal danke.“

„Was möchten Sie essen?“

„Fisch wäre toll.“

„Fein. Im Schnoorviertel haben wir genügend Auswahl. Wenn Sie mögen, können wir zu Fuß gehen.“

Linda Bichler war ein wenig durcheinander. Es war bereits ein Jahr her, dass sie ausgegangen war – zusammen mit einem Mann lag es noch länger zurück. Auf einen Mann wie Schubert wäre sie nicht gekommen. Aber was hatte sie für dumme Gedanken. Er schien klug zu sein, hatte sehr gute Umgangsformen – und er machte ihr anscheinend den Hof. Das hätte sie ihm, als er am Samstag das Reisebüro betrat, nicht zugetraut. Sie musste ihre Gedanken zusammennehmen, dass sie nichts vergaß beim Verlassen des Geschäfts. Auf der Toilette schminkte sie sich die Lippen nach. Es kribbelte im Bauch – sie lächelte sich im Spiegel zu.

„Ich bin fertig.“

Sie brachen auf. Es war für April ein milder Abend. Sie trug einen dünnen Mantel, den sie offen gelassen hatte. Er umwehte sie beim Gehen. Schubert nahm im Seitenblick wahr, dass sie von schlanker Gestalt war. Ihren Rock trug sie knielang. Er sah, dass sie schöne Beine hatte und einen würdevollen, schreitenden Gang.

„Was tun Sie, wenn Sie keine Reise buchen?“

„In meiner Freizeit meinen Sie?“

„Zum Beispiel.“

„Ich habe einen Beruf, den die meisten Leute schrecklich finden. Das liegt aber eher daran, dass er nicht so einfach verständlich ist. Weil ich aber das, was ich tue, liebe, beschäftige ich mich auch in meiner Freizeit damit.“

„Jetzt machen Sie es aber spannend.“

„Ich bin Chemiker.“

„Was ein Chemiker im Alltag tut, weiß ich nicht. Aber Sie haben recht, in der Schulzeit war Chemie mein Schreckensfach.“

„Ich will Sie damit auch nicht langweilen.“

„Arbeiten Sie in einem Chemiekonzern?“

„Nein, an der Universität.“

„Sind Sie ein Professor?“

„Richtig.“

Anerkennend verzog sie den Mund: „Ein Professor. Donnerwetter. Ein Doktor auch?“

Er lächelte: „Ja, genau genommen Doktor Doktor. Ich habe auch Physik studiert.“

„Sind Sie sicher, dass eine Reisebürokauffrau die richtige Abendbegleitung für Sie ist?“

„Hätten Sie nicht gefragt, hätte ich nicht erzählt, was ich tue. Dann wäre ich einfach ein Mann, der ein paar schöne Stunden mit Ihnen verbringen möchte.“

„Nein, Sie sind ein kluger Mann, das habe ich sofort bemerkt und Sie haben gute Umgangsformen. Glauben Sie mir, ein einfacher Mann ist anders – so viel Menschenkenntnis besitze ich.“

„Vermutlich mehr als ich.“