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Der zu Unrecht suspendierte, ehemalige Kriminaloberkommissar Udo Voss verliert seinen Job als schlechtbezahlter Wachtmann, weil er durch seine kriminalistische Einstellung laufend seine Kompetenzen überschreitet. Damit wird er nun vollständig von Hartz IV abhängig. Während eines angeordneten Lehrganges des Jobcenters gerät er aufgrund seiner Spürnase zwischen die Fronten einer Korruption, in die auch diese private Bildungsfirma verwickelt zu sein scheint. Aber dort in der Bildungsfirma ist auch Irma, die Sekretärin, zu der er sich hingezogen fühlt. Eines Tages wird Udo völlig unerwartet von Rockern einer Motorradgang überfallen ...
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Seitenzahl: 329
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Berthold Wendt
Schmarotzer
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Schmarotzer
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Epilog
Impressum neobooks
Schmarotzer
Berthold Wendt
Zitat: „Biologen verwenden für Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben, übereinstimmend die Bezeichnung Parasiten. Natürlich ist es vollkommen unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf den Menschen zu übertragen. Schließlich ist der Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert.“
Vor einigen Jahren
In dieser stürmischen Nacht fing für den sechunddreißigjährigen Eberhard Templ aus Neustrelitz in einem verlassenen Forsthaus in der Mark Brandenburg ein neues Leben an. Die Umstellung kam sehr plötzlich für ihn, obwohl er darauf wartete. Monatelang hatte er sich auf dieses Ereignis vorbereitet; hatte sich Tattoos stechen lassen, wie sie Rocker trugen; hatte die Sprechweise der Rocker geübt; hatte seine Fahrfertigkeiten auf dem Motorrad vervollkommnet und gelernt, mit dem Motorrad nur auf dem Hinterrad zu fahren. Er bekam eine neue Biografie, die ihm kleinere Straftaten nachsagten und die Verwicklung in eine Massenschlägerei am Rande eines Spiels des FC Hansa Rostock, die auch in den Unterlagen der Polizei verzeichnet war. Niemand konnte wissen, wieweit die Verbindungen der Rocker reichten.
Die Biografie des Rockers musste glaubwürdig aussehen: zu unauffällig, als dass er in der Rockerszene bekannt war – zu unsauber, als dass man sofort einen Spion witterte. Er hatte bereits vor einiger Zeit die ohnehin nur sporadischen Kontakte zu seiner Familie abgebrochen. Sie glaubte, er sei verschollen.
In dieser stürmischen Nacht im Forsthaus wechselte Eberhard Templ komplett sein Leben gegen ein anderes aus. Er kam mit einem PKW und fuhr mit einem Kultmotorrad, nahm eine neue Identität mit gefälschten Daten auf echten Rohdokumenten an und stieß in dieser Nacht zu den DarkDevils, die in der vergangenen Nacht ein Gangmitglied bei einer Auseinandersetzung mit einer anderen Gang verloren hatten.
Schon nach wenigen Wochen gehörte er zu den führenden Köpfen der Gang, der die Vorhaben der Rocker kannte und insgeheim dem Staatsschutz weiterleitete. Nur ganz Wenige wussten von der Kreation des Rockers, dessen Geburtsname Eberhard Templ war.
„Kriminalrat Petersen, guten Tag“, stellte sich der Leiter der Dienststelle gewohnheitsmäßig vor, als er den Hörer ans Ohr gehalten hatte.
Untertänigst sprang er trotz seiner 51 Jahre von seinem Schreibtischsessel auf und nahm militärische Haltung an. „Guten Tag, Herr Innenminister“, wiederholte er sich in einem Ton der Unterwürfigkeit. Wenn es einen Zeugen in diesem Büro gegeben hätte, würde er aussagen, dass Kriminalrat Petersen bei dem Wort Innenminister eine Verbeugung gemacht hatte.
„Ja, in dem Rockerfall sind wir gut vorangekommen, Herr Innenminister“, gab er bereitwillig Auskunft, wohlwissend, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach, denn seit einiger Zeit waren die Ermittlungen ins Stocken geraten.
„Selbstverständlich, Herr Innenminister. Ich werde Ihren Gesandten persönlich am Tor empfangen.“
Kriminalrat Petersen wischte sich verstohlen den Angstschweiß von der Stirn.
„Ja, Herr Minister. Heute gegen 16 Uhr. Es wird mir eine Freude sein, Ihren Gesandten zu empfangen.“ Dabei machte er wieder eine leichte Verbeugung.
„Auf Wiederhören, Herr Innenminister.“
Schlaff ließ sich der Kriminalrat auf seinen Sessel fallen und schloss für einen Augenblick die Augen. Wo sollte er nur so schnell die versprochenen Ermittlungsergebnisse herbekommen. Ein bisschen mehr Zeit hätte er sich schon gewünscht, um das Vorhandene wenigstens etwas positiver aufzubereiten. Udo Voss, der Teamleiter der Rockerermittlungen, musste die Kastanien aus dem Feuer holen, ja das musste er!
Petersen öffnete seine Bürotür und trat in den Flur.
„Voss, zu mir!“
Wenn man auch sonst immer Stimmen aus den Büros auf dem Flur vernehmen konnte, verstummten sie augenblicklich nach dem Befehl. Offenbar hatte der Chef schlechte Laune und da war es allemal besser, sich in die Arbeit zu stürzen.
Ohne die Tür zu schließen, setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
Eine Tür klappte und kurze Zeit später erschien Udo Voss in Petersens Büro.
„Was gibt's, Guido?“
„Setz dich, Udo. Heute um 16 Uhr muss ich einem Gesandten des Innenministers die Ergebnisse in deinem Fall darlegen. Sag mir, dass du was Neues hast und dass die Ermittlungen bald abgeschlossen sein werden.“
„Eines vorweg. Abschließen können wir diesen Fall wohl vorläufig noch nicht. Aber ich habe tatsächlich was Neues. Die KTU hat einen Satz Fingerabdrücke extrahieren können, aber leider nicht zuordnen. Fest steht aber, dass diese Person auch bei der Randale am Stadion involviert war. Möglicherweise auch noch woanders, aber das wissen wir noch nicht. Zumindest sagen das die Kollegen der KTU.“
Kriminalrat Petersen musste nicht lange am Eingang warten. Selbst ein Uneingeweihter hätte den korrekt gekleideten Gesandten des Innenministers mit seinem Aktenkoffer erkannt. Der Mittvierziger mit seiner Halbglatze und dem Duft eines guten Parfüms passte einfach nicht in die Umgebung.
Er grüßte kurz und hielt seinen Ausweis zur Legitimation Petersen hin.
„Kriminalrat Petersen. Guten Tag.“ Fragend sah er den Gesandten an.
„Mein Name tut nichts zur Sache. Namen sind nur Schall und Rauch, Herr Petersen.“ Der Fremde versuchte ein Lächeln und Petersen wurde etwas mulmig zumute.
Das ließ er sich aber nicht anmerken. Petersen hatte schon von der Existenz dieser Legitimationen vom Staatsschutz gehört, war ihm aber in seiner dreißigjährigen Geschichte bei der Kripo noch nicht unter die Augen gekommen. Er führte den Gesandten durch sein Büro in den abhörsicheren Raum.
„Kaffee?“, fragte Petersen fast beiläufig.
Der Fremde lehnte dankend ab. „Das wird nicht nötig sein.“
„Herr Petersen“, fuhr er fort, „nicht umsonst ist auf meiner Legitimation kein Name vermerkt. Es handelt sich bei meinem Besuch um ein höchst staatliches Interesse, das eine äußerste Geheimhaltung verlangt. Ich vergattere Sie deshalb zum Schweigen.“
Ganz wohl fühlte sich Petersen bei dieser Vergatterung nicht. Warum fuhr der Fremde nur solche Geschütze auf?
„Selbst der Innenminister weiß nichts vom Inhalt der Weisung. Das Leben und die Gesundheit von mehreren Personen sind in Gefahr. Für Sie springt dabei die Beförderung zum Kriminaloberrat heraus, die eine Versetzung in Ihre Heimat beinhaltet. Und Sie wissen, dass das ein wesentlich besseres Einkommen bedeutet.“
Woher wusste dieser Fremde nur von seinen inneren Wünschen? Dass ihm unheimlich zumute war, war stark untertrieben.
„Wenn Sie sich nicht an diese Weisung halten, können sie sich ausrechnen, welche Folgen das für Sie hat. Ich denke, mehr brauche ich nicht dazu sagen. Aber ich nehme an, dass Sie auch noch morgen Dienststellenleiter sein wollen.“
Petersen schluckte. „Was also ist Ihre Weisung?“
Für eine derartige Beförderung würde er das scheinbar Unmögliche möglich machen. „Da ich schon in der Falle sitze, und es oberstes Gebot der Sicherheitsorgane ist, Leben zu schützen, bin ich für Ihre Weisung bereit.“
„Die Ermittlungen gegen die Rockerbande sind einzustellen, und zwar aufgrund des Abhandenkommens von Beweismitteln. Dafür ist Ihr Kollege Kriminaloberkommissar Udo Voss wegen Vertrauensbruch und Unbrauchbarmachung von Beweismitteln zu suspendieren.“
„Aber Voss ist einer meiner besten Männer ...“
„Wenn Sie das nicht veranlassen, wird es Ihr Nachfolger morgen oder in den nächsten Tagen bewirken.“
„Schon gut, schon gut. Wenn es die Situation verlangt, dann mache ich es! Selbstverständlich mache ich es“, beeilte sich Petersen zu sagen. Er wollte noch ‚aber ganz wohl ist mir nicht dabei‘ sagen, ließ es dann aber.
„Das ist gut. Vielleicht ist es für Sie ja leichter, wenn ich Ihnen verrate, dass Kriminaloberkommissar Udo Voss in den Fokus unserer Ermittlungen geraten ist, bei dem unter anderem eine mögliche IM-Tätigkeit bei der Stasi eine Rolle spielt.“
Dass gegen Voss in Wirklichkeit gar nicht ermittelt wurde und dass es bei der Überprüfung von Voss außer den unvermeidlichen dienstlichen Kontakten mit den Mitarbeitern des MfS nachweislich keine weiteren Kontakte gegeben hatte, verschwieg der Fremde. Da Voss aber den umfassendsten Überblick über den Rockerfall hatte und er als verantwortlicher Ermittler Konsequenzen zu tragen hatte, musste er geopfert werden.
Einige Jahre später, Montag, 13. September
Als die zunehmende Mondsichel ihr unklares Licht auf die Felder links und rechts der Bundesstraße warf und Udo Voss mit den Scheinwerfern seines acht Jahre alten Golfs die Dunkelheit zwischen seinem Heimatort und der Kreisstadt durchschnitt, ahnte er noch nicht, dass sich bald sein Leben ein weiteres Mal radikal verändern würde.
Rechts der Straße kam der letzte Regionalexpress der Bahn auf ihn zugefahren, um im letzten Moment mit leichter Neigung parallel zur Fahrbahn den Gleisen zu folgen. Schnell verschwand er aus Udos Blickfeld. Udo blickte kurz nach links und erkannte am Horizont die Lichter einer Fähre. Nicht dass er in der Dunkelheit das Meer erkennen konnte, er wusste einfach, dass man im Herbst genau an dieser Stelle bis auf die Ostsee sehen konnte. Hasso, Udos Schäferhund fiepste leise auf dem Beifahrersitz. Nur noch wenige Hundert Meter, dann musste er in der Senke gleich nach dem Ortseingangsschild links in das Gewerbegebiet einbiegen.
An dem Tor der Fensterbaufirma stellte Udo seinen Golf ab und entnahm seiner Tasche die passenden Schlüssel. Bevor er ausstieg, leuchtete er kurz mit seiner Taschenlampe das Gelände des Anwesens ab. Auch Hasso verfolgte den Lichtstrahl.
Alles ruhig. Udo und Hasso konnten den Rundgang beginnen. Es war still. Nur hin und wieder hörte man ein Auto von der nahen Straße vorüberrauschen. Hasso ging Seite an Seite neben Udo auf das Hauptgebäude zu. Plötzlich blieb Hasso stehen und richtete seine sensiblen Hundeohren in Richtung des Gebäudes. Halt, hier stimmte etwas nicht. Udo hockte sich neben Hasso, der mit hoch aufgestellten Ohren aufmerksam seinen Kopf leicht nach links ausrichtete. Udo streichelte Hasso anerkennend.
„Was ist Hasso?“, fragte er. Etwas Metallenes fiel zu Boden und schepperte durch die Nacht. Udo löste die Hundeleine. „Los!“, befahl er flüsternd.
Kaum hatte Udo das Kommando gegeben, spurtete Hasso um das Gebäude herum, blieb dann vor einer der zahlreichen Gebäudenischen stehen und gab Laut.
Udo, der seit einem Handgemenge während einer seiner Kontrollgänge vor gut eineinhalb Jahren leicht gehbehindert war, folgte seinem aufmerksamen Begleiter so schnell er konnte.
Dann geschah alles ganz schnell: eilige Schritte auf dem Dach. Fast gleichzeitig sprang Hasso auf, stieß jemanden zu Boden und zeigte dem Niedergestoßenen drohend seinen Fang. Wenig später hörte Udo hinter sich ein dumpfes Geräusch und kurz darauf einen lautes Wehgeschrei.
Udo konnte sich auf Hasso, einen gut ausgebildeten, aber in die Jahre gekommenen Polizeischutzhund, verlassen. Er würde den Gestellten nicht entkommen lassen.
„Hilfe, Hilfe!“ flehte der auf dem Boden Liegende leise und bibberte. „N-Nehmen S-Sie die Töle da weg. Die hat mich g-gebissen.“
Udo leuchtete ihn an. „Wo hat er dich gebissen?“ Er ließ den Lichtkegel der Taschenlampe an ihm auf- und abwandern. Dabei traf der Lichtstrahl nahe der Fassade etwas längliches, Blankes. „Ich kann nichts erkennen, außer dass du auf dem Boden liegst und schlotterst. Hab’ dich nicht so mädchenhaft, das hättest du dir überlegen sollen, bevor du aufs Dach gestiegen bist. Erzähl’ mir bloß nicht, dass du hier Fenster bestellen wolltest. Dazu braucht man nämlich keine Leiter und keinen Schraubenschlüssel! Du kannst dir inzwischen schon mal überlegen, was du zu nachtschlafender Zeit im Gewerbepark zu suchen gehabt hast.“
Udo folgerte aus der Sachlage: Die Beiden hatten es auf die erst kürzlich montierten Solarpaneele abgesehen. Er sah sich kurz um. Nichts. Verdammt, warum mache ich hier die Arbeit der Kripo! Unangenehme Erinnerungen kamen in Udo hoch. Warum hatte ihm damals nur niemand geglaubt. Niemand außer Fründt. Eine Schande!
„Aus Hasso!“, gab Udo das Kommando.
„Los, leg dich auf den Bauch, Hände nach hinten!“ Mit silbergrauem faserverstärkten Klebeband band er geübt die Hände auf dem Rücken des jungen Mannes zusammen. Dieses Klebeband hatte er immer dabei. Er konnte damit Schlüssel kennzeichnen, beschädigte Regenfallrohre abdichten oder eben auch, wie jetzt, Verdächtige arretieren.
„Aufstehen!“
Der Festgenommene hatte Mühe, ganz ohne die Hilfe der Arme aufzustehen. Udo griff in seinen Gürtel. Seine starke Hand und seine gut einhundert Kilo Gewicht musste der junge Mann erst einmal überwinden.
„Bilde dir ja nicht ein, du könntest weglaufen. Hasso ist bestimmt schneller als du. Was er dann macht, weißt du ja nun.“
Während die Drei in die Richtung des Schreies gingen und Udo sich über die breitbeinige Gehweise des Festgenommenen wunderte, telefonierte Udo mit der Polizei und berichtete kurz von dem Vorfall.
„Die Kollegen sind unterwegs“, äffte Udo die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung nach um sich gleich darauf zu beschweren: „Das letzte Mal hat das ‚Unterwegs’ eine geschlagene Stunde gedauert! Ihr solltet hoffen, dass es dieses Mal nicht so lange dauert“, sagte er laut. Doch seine Gedanken gingen weiter: Wie soll ich da die ganzen anderen Kontrollstellen noch schaffen, wenn es hier wieder solange dauerte?
Inzwischen hatte Udo den anderen Tatverdächtigen am Boden liegend und rund fünf Meter von der Hauswand entfernt gefunden. Mit der Hand versuchte der Liegende, den blendenden Strahl der auf ihn zukommenden Lampe abzuschirmen. „Hilfe!“, jammerte er. „Mein Fuß.“
„Welcher?“
„Der rechte.“
„Hinsetzen!“, befahl Udo dem Ersten, der ihm umständlich Folge leistete. Udo schlang das reißfeste Klebeband um seine Beine.
Udo besah sich den Fuß. Geschwollen. Ohne Zweifel, damit konnte der Zweite keinen einzigen Schritt mehr laufen.
„Jetzt mal die Zähne zusammenbeißen, mein lieber Freund. Wer das Eine will, muss das Andere mögen.“ Auch ihm band Udo die Hände auf den Rücken. „Am besten, das sieht sich mal ein Arzt an. Ich glaube, auf die Füße können wir verzichten. Damit kommst du sowieso nicht weit.“ Anschließend verständigte er den Notarzt.
„Pass gut auf, Hasso!“ Hasso antwortete mit einem „Wau“.
Im Lichte der Taschenlampe kondensierte die Atemfeuchtigkeit in der Kälte. Udo zog seine Mütze tiefer ins Gesicht und schlug den Kragen seiner lammfellgefütterten dunklen Lederjacke hoch.
„Euer nächtlicher Ausflug wird euch wohl teuer zu stehen kommen. Wohl an! Wir machen uns einen gemütlichen Abend bei kaltem Boden und einem frischen Lüftchen und warten auf die lieben Kollegen der Polizei.“
„Arschloch!“, schrie der Verletzte und versuchte Udo anzuspucken. Dann wandte er sich an seinen Komplizen: „Hast du dir wegen dem Clown da in die Hosen gepisst, oder wieso bist du so breitbeinig angekommen? Memme!“ Udo aber tat, als hörte er das nicht. Innerlich stellte er sich auf ein längeres Warten ein, das er unerträglicher empfand, als diese Beleidigung. Er hatte schon ganz andere gehört.
Wider Erwarten waren Polizei und ärztlicher Notdienst bereits nach einer guten Viertelstunde vor Ort und Udo konnte seinen nächtlichen Kontrollgang mit dem Einscannen des Objektcodes in sein Lesegerät beenden. Er war sauer, hieß doch dieser Vorfall für ihn, wieder einen Haufen endloser Formulare auszufüllen und dafür seine Freizeit zu opfern. Ohnehin war seine tägliche Schicht oft elf, zwölf Stunden lang.
Hasso hatte Udos Stimmung mitbekommen. Beruhigend rieb er seinen Hals an Udos Bein, bevor Udo die Beifahrertür aufgeschlossen hatte und er sich auf seinen angestammten Platz neben Udo setzen konnte.
Nachdem er auch bei der Fleischerei im Gewerbepark alles kontrolliert hatte, war das nächste Ziel das Gewerbegebiet auf der Ostseite der Kreisstadt. Zu gern hätte Udo gewusst, was die Beiden auf dem Dach der Fensterfirma wirklich vorhatten. Ob er mit seiner Vermutung recht hatte?
Die Bundesstraße war frei. Udo trat etwas mehr aufs Gaspedal, in der Hoffnung er könne so etwas von der verlorenen Zeit einholen. Ein orangefarbener Blitz aus dem Starkasten in der siebziger Zone kurz vor der Kreisstadt holte ihn in die Realität zurück. „Auch das noch! Herr-Gott-Sakrament!“, fluchte er vor sich hin. „Und das alles für einen Stundenlohn von Fünf-Euro-Zwölf!“
Der Lokalreporter hatte seine Kamera eingepackt und den Tagungsraum des Jobcenters verlassen. „Kommen wir nun zum gemütlichen Teil. Der unterzeichnete Vertrag ist wahrhaft ein Grund, auf gutes Gelingen unserer Initiative anzustoßen.“ Justus Voigt, der Leiter des Jobcenters blickte in die Runde. „Besonders möchte ich hervorheben, dass es uns nun endlich gelungen ist, alle Parteien an einem Tisch zu bringen. Ja, nicht nur zusammenzubringen, sondern auch mit grundsoliden finanziellen Ergebnissen aufzuwarten. Lassen Sie mich mit den Damen unserer Runde beginnen: Sie, Frau Viola Maurer, mit Ihren profunden Ideen zu effektiven Bildungsangeboten in der Leif-GmbH, Sie, Frau Eva Jakob, für Ihre überaus nützlichen Kenntnisse in der Beschäftigungspolitik und deren Anwendung in Ihrer Übungsfirma Easy-Job und nicht zu vergessen unseren langjährigen Freund und Kollegen Alex Maurer mit der POWER-PSA, seiner Power-Job-Vermittlung!“
Voigt griff nach seinem Glas und erhob sich. „Erheben wir uns. In Anbetracht der Wichtigkeit unserer Vereinbarung für die Menschen in unserer Gesellschaft habe ich mir erlaubt, auf Kosten des Hauses eine Kiste echten Champagner zu ordern.“ Er hob sein Glas in die Höhe. „Zum Wohl, meine Damen und Herren! Auf gutes Gelingen.“
Die Gläser klangen und Viola Maurer, die in einem engen kurzen, aber schlichten roten Kleid erschienen war, blickte Justus Voigt mit einem Augenaufschlag an, wobei sie ihr lichtblondes schulterlanges Haar feminin wiegte. „Ich habe gar nicht geahnt, dass auch der Chef eines Jobcenters solch charmante Reden halten kann.“ Sie berührte ihn leicht am Oberarm. „Ich glaube, ich muss bei Ihnen mal Privatunterricht nehmen. Kommen Sie auch zu mir, wenn ich Sie gut bezahle?“ Dabei biss sie sich mit ihren oberen Schneidezähnen leicht auf die Unterlippe und strich ihm zärtlich die Wange. Sie stieß ihn mit ihrer Hüfte leicht an. „Wir werden ungestört sein“, meinte sie und lächelte. „Dafür werde ich sorgen.“
Die Tür zum Tagungsraum öffnete sich und Frau Knechtel, Voigts Sekretärin, steckte ihren Bubikopf durch den Türspalt.
„Herr Voigt, Herr Biegel wartet wegen einer Beschwerde über Frau Krause auf das Gespräch mit Ihnen. Sein Termin mit Ihnen ist schon vor über einer halben Stunde gewesen. Er wird allmählich ungehalten.“
„Frau Knechtel, Sie sehen ja wohl, dass wir hier beschäftigt sind?“, herrschte Voigt sie an. „Lassen Sie sich etwas einfallen. Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, müssen Sie sich eine andere Beschäftigung suchen. Und jetzt verschwinden Sie!“
Die Tür krachte mit aller Wucht ins Schloss, während kurz darauf der Korken der nächsten Champagnerflasche knallte.
Während Justus Voigt und Viola Maurer flirteten, steckten Alex Maurer und Eva Jakob die Köpfe zusammen und tuschelten. Hin und wieder huschte ein Lächeln über die Lippen der Beiden. Wie zufällig lag die Hand von Alex auf der von Eva und Eva machte keine Anstalten ihre dort wegzuziehen.
Dienstag, 14. September
„Jobcenter will Arbeitslosigkeit über 50 halbieren“ und „Jobcenterchef erhebt erneut Klage gegen sittenwidrigen Lohn“, titelte die Kreis-Zeitung über einem großformatigen Foto mit den Unterzeichnern bei der Unterschriftsleistung. Mit der Initiative 50-plus ziehen jetzt das Jobzentrum, die Bildungsfirma Leif-GmbH und die Übungsfirma Easy-Job sowie POWER-PSA an einem Strang. Es darf nicht sein, so führte Justus Voigt vom Jobcenter der Münsterstadt aus, dass die wertvollen Erfahrungen der Überfünfzigjährigen brach liegenblieben. Es kommt darauf an, diese Personengruppe fest in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Unser Ziel ist die Vollbeschäftigung.
Udo Voss las entgegen seiner Gewohnheit den ganzen Artikel, hoffte er doch, trotz Vollzeitjob endlich aus der Abhängigkeit des Jobcenters zu entfliehen. Nichts, aber auch gar nichts war in diesem Artikel darüber zu erfahren, zu welchen Bedingungen die Leute seiner Altersgruppe in Arbeit kommen sollten. Seit er vor über zwei Jahren den Job als Wachtmann einer privaten Sicherheitsfirma übernommen hatte, hatte es immer wieder Unstimmigkeiten bei dem monatlichen Einkommensnachweis für das Jobcenter gegeben. Ohne das Geld vom Staat hätte er trotz der vielen Überstunden nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten können.
Udo blätterte weiter und suchte nach Interessantem. Die Überschrift „Polizei stellt Diebe auf frischer Tat“ weckte seinen Wissensdurst. Mitten hinein beim Lesen machte sich sein Handy bemerkbar. „Chef“, war auf dem kleinen farbigen Display zu lesen.
Udo war sauer. Nicht einmal den wohlverdienten Feierabend am Vormittag konnte der Chef akzeptieren. Ob er wieder einen außerplanmäßigen Zusatzjob hatte, ging ihm durch den Kopf, bevor Udo aufs Knöpfchen drückte.
„Voss“, meldete Udo sich und lauschte.
Bald darauf vergrößerte er den Abstand seines Handys von seinem Ohr. Das, was er hörte, war unangenehmer als ein Zusatzjob. Der Chef siezte ihn und zitierte ihn kurz und knapp für den späten Nachmittag in sein Büro. Dann legte der Chef wieder auf. Dass Udo nicht wusste, um was es ging, machte ihn äußerst unruhig.
Den kurzen Artikel zu den Dieben musste er aber noch schell zu Ende lesen. Schon bald stellte er fest, dass es sich dabei um den Vorfall bei der Fensterbaufirma vorgestern Nacht handelte. Die beiden Burschen hatten tatsächlich versucht, Solarpaneele vom Dach zu stehlen. Aber kein Wort von ihm und Hasso. Insgeheim ärgerte ihn das und ließ die Polizei besser dastehen, als sie es eigentlich verdiente. „Naja, Journalistendenke eben“, tat er es ab!
Frau Knechtel öffnete die Fenster des Beratungsraumes weit. Sie war sauer. Echt sauer. Erst ließ sie Voigt mit dem armen Herrn Biegel allein, obwohl er mit ihm einen Termin hatte, und sie musste den armen Kerl auch noch anlügen. Ungeniert flirtete Voigt auch noch mit der verheirateten Viola Maurer unter den Augen ihres Ehemanns. Das tat weh. Bisher hatte sie geglaubt, dass sie die Auserwählte neben Voigts Frau war. „Das Schwein!“, sagte sie laut und hielt sich im gleichen Moment die Hand vor den Mund. Ängstlich sah sie sich um. Gott sei Dank, niemand weiter war hier.
Ein undefinierbarer süßlich-aromatischer Geruch stieg ihr in die Nase, als sie den Aschenbecher mit den filterlosen Zigarettenkippen entleerte. Normale Kippen riechen anders. Sie sah schon darüber hinweg, dass in diesem Gebäude Rauchverbot herrschte. Was haben die da nur gequalmt? In der kleinen Pentry-Küche sortierte sie das Geschirr in den Geschirrspüler. Sie wischte sich eine Träne von der Wange. Warum geriet sie nur immer wieder an so treulose Männer.
Udos Handy vollführte, getrieben von der Vibration des stillen Alarms, einen Tanz auf der polierten Tischplatte. Udo schrak von der Couch hoch. Schlaftrunken griff er ein paar Mal daneben, bis er das Telefon endlich in der Hand hielt. Scharf sehen konnte er noch nicht.
„Voss, Udo Voss!“, meldete er sich. Es dauerte eine Weile, bis er die Stimme erkannte. Der Chef hörte sich sehr aufgebracht an. Udo sah auf die Uhr. Er hatte den Termin verpasst. „Bitte entschuldige, Chef! Ich bin gleich unterwegs.“ Ungehalten brüllte der Chef ihn an, sodass auch ohne Freisprechfunktion ein Nichtbeteiligter jedes Wort verstehen hätte können. „OK, Bitte entschuldigen Sie, Chef!“
Während Udo in aller Hast seine Wohnung verließ und zum Golf eilte, bohrte sich in nicht gekannter Intensität die Frage in seine Gehirnwindungen, warum er so in Ungnade beim Chef geraten war, dass er sogar das Sie verlangte. Dabei hatte er ein ausgesprochen gutes Gefühl über die Verrichtung seines Dienstes. Am ehesten ließ sich die Situation noch mit seiner Suspendierung vor gut zwei Jahren vergleichen. Damals war er unschuldig gewesen, aber niemand, fast niemand, schenkte ihm Glauben.
Noch als Udo in seinen Golf einstieg, hatte er dieses eigenartige Gefühl der vom Schlaf verklebten Augen, das nur allmählich wich. Er wählte die etwas kurvenreichere aber schnellere Strecke über die Dörfer. Die glatte Straße verführte dazu, die Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht allzu ernst zu nehmen. Hoffentlich hatte hier die Verkehrspolizei keine Geschwindigkeitskontrolle eingerichtet. Dennoch hatte er Respekt vor der Straße, was ein schwarz gekleideter Motorradfahrer mit seiner schwarzen schweren Maschine offensichtlich nicht hatte, dessen Rücken mit dem Schriftzug DarkDevils in deutscher Frakturschrift verziert war. Dieses Logo ließ ihn an seinen letzten Fall erinnern.
Udo schob diesen unangenehmen Gedanken beiseite. Noch immer konnte er sich nicht vorstellen, was der Chef eigentlich von ihm wollte.
Nur eines wusste er: Für den Chef war die Angelegenheit so wichtig, dass sie keinen Aufschub duldete. Udo trat trotz leichter Kurve ein wenig mehr auf das Gaspedal.
Kurz darauf sah er die schwarze Maschine auf der Straße liegen und leitete eine Vollbremsung ein. Die Reifen quetschten auf der trockenen Straße. Das linke Vorderrad berührte schon das Motorrad, als er zum Stehen kam. Die Lüftung des Golfs zog den Gestank von verbranntem Gummi in das Wageninnere.
Von nun an ging fast alles automatisch: Warnblinker einschalten, sich um den Verletzten kümmern, der rund acht Meter weiter an einem Strauch zwischen zwei Bäumen lag. Der Motorradfahrer war nicht ansprechbar, doch konnte er seinen Puls noch fühlen. Er war schwach. Dann Notarzt und Polizei verständigen. Aus einem Riss seiner ledernen Hose am Oberschenkel trat Blut aus. Zuviel Blut, als dass er auf den Notarzt warten konnte.
Die Folie um seinen eingeschweißten Sanikasten setzte ihm zu. Er versuchte es wiederholt mit den Fingernägeln, dann mit den Zähnen. Wertvolle Zeit verstrich. Endlich, die Folie gab nach. Udo trat Schweiß auf die Stirn. Natürlich klebte die Öffnung die Einmalhandschuhe zusammen. Seine feuchten Finger konnten sie nicht öffnen. Er verzichtete darauf, nahm die Schere und schnitt die Hose des Opfers auf. Ein offener Bruch. Aber die Schlagader schien unverletzt.
Abbinden, hämmerte es in ihm. Abbinden, mach schnell! Udo sah sich um. „Einen Knebel, ich brauche einen Knebel!“, rief er, doch niemand hörte ihn.
In der Ferne hörte er schon ein Martinshorn. Udo schöpfte Hoffnung. Doch es wurde wieder leiser. Vorübergehend benutzte er die Schere als Knebel. Mit ihr hatte er nicht genügend Gewalt. Udo fiel der große Schraubendreher unter seinem Sitz ein. Er verhakte die Schere im Verband, was überraschend gut funktionierte.
Der Schraubendreher. Das war ein guter Einfall. Der Puls war schwach aber stabil. Auch der Atem. Mit dem Werkzeug hatte er genug Kraft, das Bluten der Wunde einzudämmen. Immer wieder kontrollierte er die Vitalfunktionen.
Die Sirene des Krankenwagens überdeckte alle anderen Geräusche. Plötzlich Ruhe. Autotüren klappten. Der Notarzt kniete sich neben den Verletzten. Udo gab kurz und präzise weiter, welche Maßnahmen er eingeleitet hatte.
Der Notarzt nickte. „Gut!“
Udo stand auf. Auch die Polizei war inzwischen eingetroffen. Fast eine halbe Stunde später konnte er seine Fahrt endlich fortsetzen.
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, ereiferte sich der Chef. „Erst ignorieren Sie so mir nichts, dir nichts den Termin, dann versprechen Sie mir hoch und heilig sofort zu kommen. Endlich, eine geschlagene Stunde später tauchen Sie hier auf. Verstehen Sie das unter sofort?“
Udo wollte den Grund nennen. „D…“
„Jetzt rede ich!“, schrie er Udo an. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Was muss ich mir noch von einem geschassten Kriminalkommissar bieten lassen? Eine Eigenmächtigkeit nach der anderen. Hier bin ich derjenige, der ’was zu sagen hat, verstanden! Ich stehe dafür gerade, was hier passiert und was nicht passiert. Ich sage hier, was zu tun und zu lassen ist. Es ist mein Geld, das ich ausgeben muss, wenn jemand die Firma verklagt.“ Der Chef setzte sich an seinen Schreibtisch und griff mit zitternder Hand ein Schreiben.
„Ich weiß nicht, wie oft ich Ihnen das noch sagen soll“, begann er etwas ruhiger. „Sie haben als Wachtmann nicht die gleichen Rechte, wie ein Polizist. Ich wünschte, es wäre anders.“ Dann schrie er: „Aber es ist nicht anders!“
Das Blatt Papier verstärkte das Zittern seiner Hand. „Was ist das da eigentlich gewesen, bei der Fensterfirma? Hat Ihre Töle tatsächlich den einen Verdächtigen zu Boden gerissen?“
Endlich kam Udo zu Wort: „Ja, ich habe verschlafen, ja ich bin zu spät gekommen. Aber zu spät gekommen bin ich vor allem deshalb, weil ich einem Unfallopfer helfen musste! Ja, und Hasso hat auch einen jungen Mann zu Boden gerissen. Außer, dass er sich vor Angst in die Hose gemacht hat, ist ihm nichts weiter passiert. Außerdem: Hasso ist ein ausgebildeter, wenn auch pensionierter, Polizeihund. Man versucht eben nicht, Solarpaneele vom Dach zu klauen. Selber schuld.“
„Und genau das geht über Ihre Kompetenz, Herr Voss. Wenn Sie etwas bemerken, sprechen Sie die Leute an! Einfach nur ansprechen, klar?“ Der Chef schüttelte den Kopf. „Und Ihre Töle,“ er verzog verächtlich den Mund, „Entschuldigung Polizeihund, lassen Sie gefälligst im Auto, wenn er schon unbedingt mit muss!“
Udo setzte auf eine ruhige Stimme. „Schon vergessen, warum ich jetzt humpeln muss, Chef? Du brauchst dich ja nicht zusammenschlagen lassen. Du sitzt hier fein in deinem Büro. Sag mal, stimmt's bei dir noch? Bei dem miesen Gehalt soll ich mir auch noch die Knochen blau hauen lassen?“
„Ende der Diskussion! Zum allerletzten Mal: ohne Hund! Das ist eine Weisung! Und in Zukunft per Sie! Verstanden? Und jetzt raus!“
Das war eindeutig. So zusammengefaltet hatte ihn seit seiner Studienzeit niemand mehr. Die Chance, hier noch etwas zu bewegen, war äußerst gering. Udo nickte und drehte sich wortlos zum Gehen um. Er war schon fast an der Tür, da legte der Chef noch einmal nach: „Eine Kleinigkeit noch und Sie sind gefeuert!“
Das saß tief. Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. So ein Idiot! Hatte er nicht dazu beigetragen, dass die beiden endlich hinter Schloss und Riegel saßen und ihr Unwesen nicht mehr länger treiben konnten? Dankbar hätte der Chef ihm sein sollen! Es dauerte lange, bis sich Udos Kreislauf wieder normalisierte. Wieder und wieder gingen ihm diese Gedanken durch den Kopf. Klar, ganz nach Vorschrift hatte er nicht gehandelt. Aber trotzdem: Wo kämen wir hin, wenn alle Leute immer nur wegsehen würden…
Als Udo Voss endlich in seinen Golf einstieg, sandte die Sonne die letzten Strahlen in den abendlichen Himmel. Er kraulte Hasso am Hals. „Guter Hund“, flüsterte er Hasso zu, um sich selber zu beruhigen, „guter Hund“. Udo startete den Motor.
Freitag, 1. Oktober
Justus Voigt hatte in seinem Büro mit den oft wiederholten Übungen seine Stimme um eine halbe Oktave tiefer trainiert, um so mehr Überzeugungskraft darzustellen. Das tat er immer vor Versammlungen.
Die Duftnote von Voigts Parfüm hatte sich im Versammlungsraum bereits ausgebreitet. Er legte sich akkurat das nächste Blatt mit einigen Zahlen zurecht und korrigierte mit der rechten Hand den Sitz seiner rahmenlosen Brille. „Kommen wir nun zur Auswertung der Tätigkeit der persönlichen Ansprechpartner. Ich möchte an dieser Stelle zum wiederholten Male betonen, dass es die Aufgabe der persönlichen Ansprechpartner ist, unsere Kunden schnellstmöglich in Beschäftigung zu bringen, Vermittlungshemmnisse zu beseitigen und Unwillige zur Aufgabe ihrer Blockadehaltung zu bewegen, wenn nötig, mit allen zu Gebote stehenden Möglichkeiten, einschließlich der konsequenten Anwendung von Sanktions- und anderen geeigneten Maßnahmen. Dabei sind in erster Linie all jene wieder in Arbeit zu bringen, die dem Arbeitsmarkt entsprechend den Direktiven der Bundesanstalt am besten entsprechen.“ Der Leiter des Jobcenters rückte sich abermals die rahmenlose Brille mit dem Luxusgestell zurecht.
„Im vergangenen Monat September hatten wir ein Angebot von 683 Stellen, von denen nur 417 vermittelt werden konnten. 417 Jobs von sechs Mitarbeitern! Das sind nur zwei Drittel! Ich sage das hier in aller Deutlichkeit noch einmal: Das ist entschieden zu wenig. Besonders positiv hervorheben möchte ich an dieser Stelle aber unsere Mitarbeiterin Evelin Krause, die allein in 211 Jobs vermittelt hat.“ Voigt machte eine kleine Pause und Frau Krause genoss dabei die Aufmerksamkeit sichtlich. „Die rote Laterne trägt wieder einmal Frau Gutrecht mit ganzen 17 Vermittlungen. Das sind wiederum sechs weniger als im Vormonat.“
Alle Blicke ruhten nun auf der ältesten Kollegin. Aber Frau Gutrechts Blick war selbstbewusst und gefasst.
„Ein besonderes Maß für die Qualität Ihrer aller Arbeit ist die Anzahl der Widersprüche. Insgesamt kann man mit der Entwicklung im letzten halben Jahr zufrieden sein. Meine Vorgabe, dass mindestens 45 Prozent negativ beschieden werden, ist eingehalten worden, wobei es auch hier wieder Unterschiede gibt. Positiv hervorheben muss ich an dieser Stelle, dass wiederum Frau Krause trotz ihres jungen Alters wieder eine hervorragende Arbeit geleistet hat, ganz im Gegensatz zu Frau Gutrecht.“ Bei dem Namen Gutrecht wurde er lauter. „In einem Falle hörte ich sogar davon, dass Sie, Frau Gutrecht, einen Kunden zur Klage aufforderten.“ Er sah sie tadelnd an. „Was in Gottes Namen haben Sie sich dabei gedacht? Die Kollegen der Rechtsabteilung konnten diesen Fall gerade noch klären, indem sie dem Kunden einen Vergleich vorschlugen. Ein Urteil in dieser Sache hätte fatale Auswirkungen auf die Finanzlage der Bundesagentur gehabt. Mit dieser, unserer Lösung kann sich kein Nachahmer auf ein solches Urteil berufen. Man könnte beinahe meinen, dass Sie die Kunden geradezu ermuntern, aufmüpfig zu werden und damit der Kaste der Advokaten und Rechtsanwälte zuarbeiten. Ich kann an dieser Stelle wohl verlangen, dass Sie mehr Teamgeist beweisen müssen. Was haben Sie dazu zu sagen? Wir hören.“
„Es sind heute eine ganze Reihe von Vorwürfen gegen mich vorgebracht worden. Leider entsprechen diese nicht alle der ganzen Wahrheit.“
In der Dienstberatung wurde es unruhig.
„Ruhe!“ befahl Voigt. Bewusst drückte er seine Stimmlage nach unten. „Welche Wahrheit denn? Es stimmt also nicht, dass Sie die niedrigste Vermittlungsrate haben, oder wie soll ich das verstehen?“
„Nein, das nicht, Herr Voigt. Aber Sie sollten weitere Fragen nach den Hintergründen stellen und nicht nur ein paar x-beliebige Zahlen auf eine Ihnen genehme Art und Weise interpretieren. Ich habe auch meine Statistik.“
„Da bin ich aber gespannt.“ Voigt lachte verächtlich.
„Ja, es ist richtig, ich habe 17 meiner Kunden in Arbeit gebracht. Alle 17 haben einen Job bekommen, der ihnen ein auskömmliches Leben ermöglicht. Den 23 vom Vormonat geht es ebenso. Alle sind aus unserer Statistik verschwunden. Nur zwei von ihnen mussten sich im ganzen letzten Jahr wieder im Jobcenter melden. So gesehen ist meine Tätigkeit hier durchaus ein Erfolg für die Betroffenen. Ich glaube nicht, dass Frau Krause eine ähnlich geringe Rücklaufquote hat. Es geht doch hier um Menschen und nicht um die Statistik! Haben Sie sich die Arbeitsangebote schon mal genauer angesehen, Herr Voigt? Was kommt denn für die Betroffenen bei der Annahme eines Großteils der möglichen Beschäftigungen unter dem Strich heraus? Würden Sie etwa einen 400-Euro-Job annehmen, der gleichzeitig von Ihnen verlangt, den eigenen PKW auf eigene Kosten zu Kundenfahrten zu nutzen oder täglich über 100 Kilometer zu fahren, um zur Arbeitsstelle und zurückgelangen? Sie wissen doch: Die Fahrtkostenpauschale gibt es von den gezahlten Steuern zurück. Und wer keine Steuern zahlt, hat eben Pech gehabt? Oder wie sehen Sie das? Was bleibt dann nach Abzug der Spritkosten, und ich spreche noch nicht einmal von verschleißbedingten Reparaturkosten, von diesen 400 Euro noch übrig? In einem anderen Angebot war sogar ein eigener PC Voraussetzung für die Aufnahme der Tätigkeit. Ehrlich gesagt, kann ich unter diesen Umständen niemanden in eine Tätigkeit unter Androhung von Sanktionen pressen, ja pressen, bei der ich annehmen muss, dass es für diesen Unternehmer nur um billigste Arbeitskräfte geht, die er so billig wie möglich auch wieder loswerden kann, wenn er sie nicht mehr benötigt. Wenn die Unternehmer nicht gezwungen werden, ihre Arbeitnehmer ordentlich zu behandeln und zu bezahlen, haben wir bald das Chaos und fast jeder braucht zum Überleben staatliche Unterstützung. Das dürfte dann sehr, sehr teuer für den Staat werden; oder, das ist viel wahrscheinlicher, die staatliche Unterstützung für die Betroffenen wird heruntergefahren werden.“
Voigt schnaufte und verfiel in seine höhere, normale Stimme. „Habe ich mich hier verhört, oder maßen Sie sich hier tatsächlich an, die Richtlinien des Landrates und der Bundesanstalt zu ignorieren. Das geht entschieden zu weit, Frau Gutrecht! Es geht bei den Richtlinien für die Vermittlung auch darum, dass unsere Kunden mit einem Minijob erst einmal einen Fuß in die Tür zum ersten Arbeitsmarkt bekommen. Immerhin ist es möglich, und das trifft noch viel mehr auf die Zeitarbeit zu, dass eine Minijobstelle in eine Vollzeitstelle umgewandelt wird. Diese Chancen sind immer vorhanden, wie mir Herr Maurer von der Power-PSA bestätigte.“
„Dass ich nicht lache!“, platzte Frau Gutrecht dazwischen. „Ihre Statistik scheint Wunschdenken zu sein.“
Blicke wechselten zwischen den Anwesenden, aber niemand anderes wagte es, eine Bemerkung zu machen. Verstohlen grinsten einige Mitarbeiter in die Hand.
Voigt hatte sich mit seiner Stimme wieder in Griff. Er ignorierte den Zwischenruf. „Es ist nun einmal so, dass der Kunde für eine Arbeit schon mal ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen muss. Nur soviel zu Ihrer Bemerkung zu den Spritkosten, Frau Gutrecht!“ Dabei schlug Voigt mit der Faust auf den Tisch.
„Genau so ist es“, bestätigte Frau Krause. „Ich selber habe im Interesse meiner Kunden gute Kontakte zu dieser Zeitarbeitsfirma aufgebaut. Ich finde, jeder der dieses Angebot annimmt, kann erhobenen Hauptes stolz auf die eigene Leistung sein. Es geht doch darum, das Gefühl zu entwickeln, wieder gebraucht zu werden.“
Voigt nickte ihr anerkennend zu.
„Stolz auf die eigene Leistung und wieder gebraucht werden“, parodierte Frau Gutrecht die Äußerungen von Frau Krause. „Dass ich nicht lache! Sie müssen noch viel lernen, Kindchen. Stolz und Gebrauchtwerden reichen für ein reales Leben leider nicht aus, meine Gute. Wenn ich arbeite, will ich mir auch was leisten können und in den Urlaub fahren können, aber zumindest nicht jeden Cent vor dem Ausgeben umdrehen müssen. Denken Sie mal darüber nach. Wohnen Sie eigentlich immer noch bei Mutti?“
„Was hat es mit meiner Beschäftigung zu tun, dass ich bei meiner Mutter wohne?“ Frau Krause brach in Tränen aus. „Was haben Sie denn immer gegen mich. Dauernd hacken Sie auf mir umher.“ Dann rastete sie vollkommen aus. „Und du, Justus, musstest du unbedingt meine Vermittlungen von Kunden anführen? Das hast du doch nur gemacht, damit ich von den anderen ausgegrenzt werde. Neid wolltest du provozieren und mich damit ausbooten, du widerliches Geschöpf. Ich glaubte, du liebst mich. Wie kann man mit solchen Kollegen auskommen. Wenn du das noch mal machst, bringe ich mich um!“ Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie sprang auf und verließ den Raum.
Irritiert blickten sich alle an. Fast niemand verstand, warum sich Evelin Krause derart unvorhersehbar irrational verhielt.
Frau Gutrecht reagierte als Erste und stürzte ihr nach. „Ich kenne das!“, rief sie, noch bevor hinter ihr die Tür ins Schloss fiel.
Wenig später kamen beide Frauen wieder herein und setzten sich wortlos.
„Alles wieder in Ordnung“, kam Frau Gutrecht den Fragen zuvor, um dann übergangslos zum Thema zurückzukehren. „Herr Voigt, Sie forderten mich auf, Stellung zu beziehen. Bitte, das tue ich hiermit. Ihr Urteil über mich ist doch sowieso schon gefällt. Dann hören Sie jetzt hier auch die ungeschminkte Wahrheit. Was den Fall betrifft, einem meiner Kunden zu raten, gegen das Jobcenter zu klagen, so habe ich das durchaus mit Augenmaß angeregt. Es ist einfach undemokratisch und verfassungsfeindlich, Kunden ihre Rechte vorzuenthalten, wie es aufgrund Ihrer spleenigen Vorgaben leider immer wieder geschieht. Hinter vorgehaltener Hand sagt das hier fast jeder. Seien wir doch ehrlich: Nicht die meisten unserer Kunden bemühen sich, zu wenig in Arbeit zu kommen, sondern es gibt einfach zu wenige geeignete Jobs, von denen unsere Kunden auch leben können. Das ist ein gewaltiger Unterschied, ein gewaltiger!“
Gemurmel kam auf. Bis auf wenige Anwesende schauten die meisten bei diesen Worten vor sich auf den Tisch.
„Ich ...“, setzte Frau Gutrecht erneut an.
„Schluss mit der Propaganda! Ich entziehe Ihnen das Wort. Ich dulde es nicht, hier politische Ansichten zu verbreiten.“
Frau Gutrecht war außer sich: „Ihre Vorgaben sind ebenso politisch geprägt, wie meine Anschauungen, Herr Voigt!“
Dienstag, 5. Oktober
Udo hasste die Tage, an denen er einen oder manchmal auch mehrere der kleinen gräulichen Briefe im Postkasten vorfand. Meistens stand dann irgendwelcher Ärger ins Haus. Dieses Mal war es eine Einladung des Jobcenters zur weiteren beruflichen Entwicklung, wie es hieß. Zu einer Einladung geht man oder auch nicht. Hier jedoch sollte man sich tunlichst hüten, der Einladung nicht zu folgen. Unterschrieben hatte eine Frau Krause, und nicht wie üblich Frau Gutrecht, mit der er in den letzten Jahren immer gut ausgekommen war, die mit beiden Beinen im Leben stand. Schon, dass die Frau Krause den Termin um 14 Uhr ansetzte, zu einer Zeit, zu der eigentlich schlafen musste, und die auch nicht bereit war, die Uhrzeit zu ändern, verärgerte Udo sehr. Nicht einmal das Argument, dass er Nachtwächter sei, konnte sie erweichen.
Nun saß Udo also im Jobcenter. Der Termin schon um mehr als eine Stunde überfällig. Udo hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Endlich der erlösende Satz: „Herr Voss, bitte“, gesprochen von einer blonden, schlanken, wohlproportionierten und modern gekleideten Frau so um die 30. In ihrer hautengen schwarzen Hose und den pinkfarbenen Pulli und ebensolchen Pumps ging sie zu ihrem Büro voran. Udo schloss die Bürotür hinter sich.
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