Luzifer, Kriminalist, Zauberkünstler - Berthold Wendt - E-Book

Luzifer, Kriminalist, Zauberkünstler E-Book

Berthold Wendt

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Beschreibung

Seit dem Jahre 2006 bis zum heutigen Tag haben sich durch die Mitarbeit in der Schreibwerkstatt viele Texte angesammelt, die einer Veröffentlichung harren. Kurze und etwas längere Kurzgeschichten, auch einige Gedichte und Kürzestgeschichten. Die Themen spannen sich von Science-Fiction über Kriminalgeschichten und selbst Erlebtem bis zur Zauberkunst. Es hat sich gezeigt, dass viele andere Berufsgruppen interessante Geheimnisse haben. Nicht zuletzt wurden menschliche Schwächen auf humorvolle Weise karikiert und der Finger in die Wunden der staatlichen Bürokratie gelegt. Ein Teil der Geschichten befasst sich auch mit Geschehnissen, die kaum jemand als lustig bezeichnen würde. Trotzdem hatte ich Lust darauf.

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Seitenzahl: 570

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Ein Wort zuvor

Diabolisches und Zauberei

Königin der Nacht

Die Luzifer-App

Das mentale Experiment

Satans Spiegel

Mitteilung aus dem Jenseits

Baldurs Mythos

Kriminalistisches

Der fast vergessene Fall

Verwirrungen

Eingesperrt im Irgendwo

Strafsache Erika Eisbach

Kommissar Skyworker

Johannas Vermächtnis

Der Schreibtisch des Richters

Die Versuchsreihe

Poltergeister

Claudia und der nette Mann

Science und Fiction

Ein unglaublicher Fund

Unheimlicher Besuch

Mitten in der Story

Zeitlos

Österliche Rechenkunst

Die Struktur

Giftige Hartz-4-Geschichten

Rache ist süß

Auf den Strich gezwungen

Die Trillerpfeife

Eulenspiegelei

Der Eklat

Zum Sparen verführt

Erlebtes und Erdachtes

Coffee-To-Go

Alarm an Kasse sieben

Der Aufsatz

Dei Upsatz

Ausweg aus klammer Kasse

Windmühle im November

Lust auf Unlustiges

Todesangst

Tausend echte Wörter

Wenn du mich liebst

Gehasstes Sternchen

Mann in Schwarz

Ilse und der Mann mit dem weißen Bart

Sachen gibts…

Sieben Dramen und eine Posse

Die Erfindung des Rades

Das Projekt oder: Mein Turm von Babylon

Heißhunger in Brüssel

Das dreizehnte Bier

Krähenbaum

Experimente

Schreibhürden

Digital-Radio-Life

Der 100-Meter-Lauf

Numerus personales – nur eine Nummer

Von der Sonne und dem Schornstein

Gefangen – Das Capgras-Syndrom

Liebe und so

Der Fall Eva und Adam

Der letzte Abend

Scheue Mittsommerliebe

Weihnachtliches

Perfektes Weihnachtsfest

Überraschung am Heiligen Abend

Brief vom Weihnachtsmann

Weihnachtliche Aufregung

Oma Ernas Vorweihnachtszeit

Ein Wort zuvor

Als ich im Sommer 2006 aufgrund eines Artikels der Ostsee-Zeitung den Weg in die Schreibwerkstatt der Volkshochschule fand, hatte ich eine kleine Science-Fiction-Geschichte in der Tasche, die ich einige Monate zuvor geschrieben hatte. Die Freude war groß, als ich den Anfang von »Ein unglaublicher Fund« (sie finden sie auch in dieser Anthologie) vorlesen durfte. Unglaublich Stolz war ich, dass sie sich – aus meiner Perspektive – nicht hinter den Geschichten der dienstälteren Mitglieder der Schreibwerkstatt verstecken musste. Zukünftig war also jeder zweite Dienstag um 19 Uhr im Ehm Welk-Haus ein fester Termin in meinem Kalender – viele Jahre lang.

Dass jeder, der in so einer Runde tätig ist, von den Erfolgen und Fehlern der anderen sowie durch die Kritik eben jener an den eigenen Texten lernt, braucht an dieser Stelle nicht erwähnt zu werden. (Diese Aussage ist schon beinahe hinterhältig, allein durch deren Existenz.) Dadurch wurde mein Ehrgeiz angestachelt und irgendwann hatte ich das Selbstvertrauen, auch die anderen Mitglieder zu bewerten. Schließlich musste ich die Kriterien für gute Texte erst erlernen – neben meinem eigenen Empfinden. Ich wuchs daran, ohne es wirklich zu bemerken. Als ich mir jedoch in der Vorbereitung für diese Anthologie die selbst geschriebenen Texte aus der Anfangs- und der Jetztzeit anschaute, war der Unterschied nicht zu leugnen. Auch Sie, liebe Leserin, lieber Leser, werden Unterschiede im Vergleich von meinen älteren und neueren Texten bemerken. Sie meinem heutigen Wissensstand anzugleichen, erschien mir in dieser Anthologie nicht gerecht, denn sie zeigt auch meine Entwicklung.

Jeder, der in einem Team oder Kollektiv arbeitet, wird schon festgestellt haben, dass das Zeigen von besondern Fähigkeiten unweigerlich dazu führt, dass man diese Tätigkeit immer wieder ausführen muss, wenn sie entsprechende Anerkennung erlangte. Das kenne ich als gelernter Maurer ebenso, wie in der Schreibwerkstatt. Irgendwann kam meine Affinität zu Computern in den Gesprächen zutage. Außerdem prahlte ich mit dem Vorhandensein entsprechender Software, um Druck-Dateien zu erstellen. Im Ergebnis dessen stellte ich die Texte für das geplante Büchlein »Johannas Vermächtnis und andere Geschichten« zusammen und brachte sie ins Taschenbuchformat. Dazu hatte ich oft nur die Ausdrucke der Texte zur Verfügung, die ich erst mittels einer Texterkennung in die digitale Welt übersetzte. Es gab zwar noch einige kleinere Probleme mit der Digitaldruckerei in Bad Doberan, die aber schnell behoben werden konnten. Am Ende hielt jeder mindestens drei, von der VHS bezahlte Exemplare in der Hand. Was bei der nächsten Veröffentlichung der Schreibwerkstatt »Licht hinter dunklem Glas«, einem Gemeinschaftsroman von sieben Autoren, geschah, braucht nicht besonders erwähnt zu werden. Und dabei ist es dann auch geblieben, mit der Konsequenz, dass fast alle Mitglieder mindestens ein Buch mit eigenen Texten haben drucken lassen.

Für meinen eigenen Roman »Schmarotzer« habe ich also layoutmäßig ein wenig üben können. Hin und wieder helfe ich den ehemaligen Mitgliedern der Schreibwerkstatt immer noch, ihre Bücher auf den Markt zu bringen, obwohl es die Schreibwerkstatt der VHS leider nicht mehr gibt.

Es freut mich jedes Mal, wenn ich ein weiteres Beleg-Exemplar mit selbstentworfenem Layout in meinen Bücherschrank stellen kann.

Berthold Wendt

im März 2025

Diabolisches und Zauberei

September 2019

Königin der Nacht

Ich hatte in der Zeitung gelesen, dass die Königin der Nacht im Kakteenhaus des Botanischen Gartens in dieser Nacht ihre kolossale, angenehm duftende und farbenprächtige Blüte zeigen würde. Eine Menge interessierter Besucher hatten sich an jenem Abend eingefunden. Unter den Anwesenden war eine Magierin, die die Wartezeit zu dem abendlichen Ereignis auf ebenso zauberhafte Art und Weise verkürzen sollte. Für uns war das genau die richtige Mischung fantastischer Eindrücke. Während meine Frau der Magie der Blüte verfallen war, interessierte mich in erster Linie die Zauberei der jungen Magierin, die sich botanischerweise Agavina nannte.

Sie hatte sich einen Stand in Sichtweite des Kaktusgewächses mit einigen Requisiten eingerichtet. Spielkarten, Münzen und Seidentücher in den Farben der zu erwartenden Kaktusblüte. Wer Lust hatte, sich bis zum Eintreffen des Ereignisses ver- und bezaubern zu lassen, gesellte sich abseits der botanischen Fachgespräche zur Magierin, die zu jedem ihrer Kunststücke eine Geschichte zu erzählen wusste.

»Haben Sie zufällig eine Drei-Einhalb-Euro-Münze bei sich?«, fragte mich Agavina und wartete mein Kopfschütteln ab. »Nun, das ist auch höchst unwahrscheinlich! Dieser Wert wurde ausschließlich für mich geprägt, um sie hinter dem Ohr eines Zuschauers hervorzuzaubern.«

Sie tat genau das und gab mir die Münze in die Hand. »Die ist aus Gold«, behauptete sie.

Außer dass mir ein solch krummer Wert unbekannt war, konnte ich keine versteckte Mechanik oder Ähnliches daran feststellen, was mich auch gewundert hätte.

»Gold ist es jedenfalls nicht«, musste ich bemerken, »und eine Blüte obendrein, mit Drei-Einhalb-Euro!«

»Ich habe das Gold vernickeln lassen, damit es sich nicht abgreift!«, erklärte sie, lächelte und gönnte allen eine winzige Denkpause.

Ich sah nach links und rechts. Fast alle Zuschauer schmunzelten; einige etwas später.

Ich legte ihr die Münze in die Hand zurück. Wenn es nun doch Gold war? – Das verwarf ich jedoch sofort wieder.

Mit geschmeidigen Bewegungen manipulierte sie kunstvoll mit dem Geldstück. Ei! Mit welcher Geschwindigkeit und wie geschickt und sicher sie mit der Münze zwischen ihren Fingern kreisen, balancieren und rollen lassen konnte! »Meine rechte Hand ist wie Ihre Hausbank«, erklärte sie. »Sie macht aus dem eingezahlten Geld das Doppelte, manchmal sogar das Dreifache!«

War es eben gerade noch eine einzelne Münze, hatte sie plötzlich zwei und dann drei zwischen den Fingern ihrer rechten Hand. Sie materialisierten sich buchstäblich innerhalb einer Bewegung vor meinen Augen, ohne dass ich sagen könnte, woher sie gekommen waren. »Möchten Sie jedoch einen Kredit, nimmt die Bank für die Auszahlung einen nicht bescheidenen Betrag für sich, und für Sie ist das Geld, durch die zu zahlenden Zinsen, nur einen Bruchteil wert.«

Agavina nahm mit ihrer freien Hand eine der Münzen, zerrieb sie scheinbar mit den Fingern und pustete den Rest in die Luft. Es blieb nichts übrig. Sie war spurlos verschwunden.

»Aber das ist für Banken kein Problem! Sie greifen dann im Geheimen in die Zukunft.«

Sie bedeckte die münzhaltende Hand mit einem kleinen Tuch, nutzte es wie einen sich öffnenden Vorhang, indem sie es langsam wegzog. Zwischen allen Fingern hielt sie nun eine Münze.

»Ja, das kann eine Bank,ganz im Gegensatzzu allen anderen Sterblichen. Sie nennt es Geldschöpfung! Dort holt sie sich jenes Kapital, welches Sie persönlich erst noch erarbeiten müssen, und geben es denen, die ohnehin ein gut gefülltes Konto haben, damit sie nochmehr Schotter machen können. Damit ist allerdings die Kohle für Sie nicht mehr erreichbar.«

Mit den Fingern zerrieb sie wie vorhin jede einzelne Münze, bis auf die, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

»Und wenn Sie wollen, bekommen Sie den Betrag wieder zurück.«

Sie legte mir die letzte Münze zur Prüfung wieder in die Hand. Es schien die von vorhin zu sein. Oder doch nicht? Sie war am Rand wie von Mäusen angeknabbert – und da, da war tatsächlich der Goldkern zu sehen!

»Nun, Sie meinen, keinen Verlust erlitten haben? Weit gefehlt! Denn bedenken Sie: Die Bank holte sich das Kapital aus der Zukunft. Das funktioniert nicht ungestraft – für Sie. Am Ende erhalten Sie weniger an Wert, als Sie der Bank zur Aufbewahrung übergeben hatten.« – »Doch manchmal ist all ihr Geld weg«, ergänzte sie, »beispielsweise dann, wenn sie oder die Bank es riskant angelegt hatten!« Sie holte Schwung, zählte und warf die Münze bei »Drei« senkrecht in die Luft. In diesem Moment war ein bewunderndes »Ah« zu hören – aber nicht von den nach oben blickenden Zuschauern der schönen Magierin, sondern einige Meter weiter von den Bewunderern des Kakteengewächses. Die bezaubernde Magierin unterbrach ihren Auftritt für die bezaubernde Königin der Nacht, als sie anfing, ihre Blüte zu öffnen. Bereits zum Morgengrauen hin würde sie anfangen zu welken. In einem Jahr aber bestand die Gewissheit, dass sie erneut ihre Blüte zeigen würde. Noch schöner, größer und vollkommener. Schließlich nahm sie ihren Wert und ihre Schönheit nicht aus der Zukunft, sondern aus realen Molekülen und Kräften. Die Drei-Einhalb-Euro-Münze jedoch hat niemand mehr gesehen.

***

September 2019

Die Luzifer-App

Nach den Ereignissen der vergangenen Wochen musste ich mal etwas anderes sehen, als die unverständlichen Briefe von Rechtsanwälten, die mein Bestes ohne Skrupel für sich vereinnahmten. So bin ich am Morgen mit unseren letzten 55 Euro in den Einkaufspark gefahren. Wie wir die kommenden Wochen überstehen sollten, wusste ich nicht. – Ich war einer der Ersten hier. Gerade hatte ich gedacht, dass mich nur noch ein Wunder aus der finanziellen Notlage befreien könnte, als eine Männerstimme links neben mir sagte: »Geh da vorn rechts in den Presseshop!«

Ich schaute mich um. War ich gemeint? Niemand in meiner Nähe. Ich ging weiter.

Gerade war ich drei Schritte am Presseshop vorbei.

Wieder befahl mir jemand. »Los! Geh rein!«

Dachte ich beim ersten Mal noch, dass ich einer Verwechselung aufgesessen war, hörte ich es jetzt ganz dicht neben mir.

»Na, geh schon!«, tönte es aus meiner Brusttasche. Dort steckte mein Smartphone.

Wieso spricht mein Handy mit mir, dachte ich noch, als ein »Wirds bald? Geh doch nicht an Deinem Glück vorbei, Micha!«, zu hören war. Eine ältere Frau sah mich irritiert an. Hatte ich so ein verdattertes Gesicht gemacht?

Mit der rechten Hand griff ich in mein Jackett und blieb stehen. Ich starrte aufs Display. Ein ausnehmend gut aussehender Mann mittleren Alters schaute aus dem Bildschirm heraus. Nein, nicht wie ein Bild, sondern so, als ob ich ihn anfassen könnte. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Vorsichtig versuchte ich, ihn zu berühren. Er war nicht zu fassen.

»Na endlich, Michael! Mich kannst du nicht greifen. Gestatte, dass ich mich vorstelle: Ich bin Luzifer.«

Konnte das stimmen? Er hatte gar keine Hörner … Wie vermochte er mich zu sehen, ohne Telefonverbindung? Ich deckte versuchsweise mit einem Finger die Kamera ab.

»Das ist sinnlos, Micha. Ich sehe Dich trotzdem. Wie sonst hätte ich gewusst, dass Du gerade vor dem Presseshop stehst? Und eh! Die Hörner sind eine Erfindung der Menschen und auch das Fegefeuer. Angst macht euch Menschen gefügig, dabei kommt man mit Belohnungen viel weiter.«

Ich sah mich um. Niemand in der Nähe, der meine Manipulation gesehen haben könnte, auch keine Überwachungskamera. Angstschweiß. War ich noch bei allen Sinnen?

»Wisch Dir die Stirn und beruhige Dich, Micha. Angst brauchst Du nicht zu haben. Ich weiß, dass Du finanzielle Probleme hast. Ich will Dir helfen, Dich wieder zu sanieren. Glaube mir also.«

Er lächelte gewinnend und ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich ihm wirklich trauen konnte.

»So ist es gut. Du wirst es nicht bereuen. Teste mich ruhig und beseitige Deine Zweifel, die noch irgendwo in Deinem Gehirn versteckt sind. Wie wäre es mit Lotto? Geh doch die paar Schritte zurück in den Presseshop und spiele zwei 8-er-Tipps 6-aus-49. Die 56 Euro dafür hast Du noch in der Brieftasche.«

»Hab ich nicht! Ich muss fürs Wochenende einzukaufen. Selbst dafür reicht das Geld kaum. Da kann ich nichts fürs Lottospielen abzweigen. Nicht einmal für ein paar Blumen.«

»Lüg mich nicht an. Ich bin der Erzengel Luzifer! Doch, Du hast die 56 Euro bei Dir! Zu Deinen Visitenkarten hast Du vor einer Woche gegen Abend ein Eurostück gesteckt. Weißt Du noch?«

Ja, es stimmte! Nun fiel es mir wieder ein.

»Na, siehst Du! Kannst Du mir nun vertrauen, oder nicht?«, fragte er mit offenem, ehrlichen Gesicht und lächelte. »Es ist wichtig, dass Du jetzt spielst! Mach Dir keine Sorgen! Die sind unbegründet.«

»Wirklich?«

»Ja doch! Beeile Dich, Micha. Die Frau, die von links kommt, will auch ihr Glück im Lotto versuchen. Du musst unbedingt vor ihr am Lottoschalter sein, das ist ganz wichtig!«

Ich weiß nicht, was mich antrieb. Ich drängelte mich gerade noch vor der genannten Frau in den Shop und erntete ein »Unverschämt« dafür. Mein gesamtes Bargeld setzte ich ein und wurde – belohnt. Als erster Kunde am Schalter erhielt ich ein Rubbellos gratis. Eilig rubbelte ich es mit dem Daumennagel frei, ein Geldstück hatte ich ja nicht mehr. Buchstaben kamen zum Vorschein, es war ein O. Ein zweites und ein drittes O wurden sichtbar. Das konnten keine O-s sein! Das waren Nullen! Ich kratzte sie richtig sauber. Ein Komma war nicht zu entdecken. Ein Euro-Zeichen erschien! Am liebsten hätte ich gejubelt. Schließlich rubbelte ich als letzte Ziffer noch eine Drei frei! Dreitausend Euro Gewinn. Gut, dass ich auf Luzifer gehört hatte.

Den Gewinn musste ich mir an einem Bankautomaten auszahlen lassen. Die Karte, die ich im Presseshop dafür erhalten hatte, schluckte der Geldautomat gleich um die Ecke. Sollte er! Ich hatte dreitausend Euronen, von der meine Frau nichts wusste. Bei einem Kännchen Kaffee und einem Stück Marzipantorte suchte ich mir eine ruhige Ecke in dem Café gegenüber und überlegte, was ich mit diesem unerwarteten Gewinn anstellen sollte. Kaum saß ich, klingelte mein Handy.

Ich nahm das Gespräch an.

»Hallo Michael, hier ist Dein persönlicher Schutzengel. Bitte lege nicht auf! Ich weiß, dass Dir Luzifer soeben einen Geldgewinn zugespielt hat, und auch der Systemschein mit den beiden Tipps wird Dir nochmals einen hohen Gewinn bringen.«

Ich wollte etwas sagen.

»Bitte unterbrich mich nicht. Die Wahrheit und das Rechte, haben es oft schwer, sich durchzusetzen. Ich gönne Dir den Gewinn. Verwende ihn aber klug und sei ehrlich zu Deiner Frau. Du wirst …«

Die Verbindung unterbrach. Luzifer nahm wieder den gesamten Bildschirm ein. Als App hatte er sich inzwischen auch ungefragt installiert. Der Schlawiner, der!

»Versucht dieser ständige Miesmacher von sogenanntem Schutzengel, Dich zu beeinflussen? – Seit wann macht es denn Spaß, immerfort an die Vernunft, die Zukunft und andere Leute zu denken? Das Leben spielt jetzt in dieser Stunde, Junge! Überlege mal, welche Wünsche Du Dir erfüllen könntest, wenn Du Deiner Frau das gerade gewonnene Geld verschweigst? Verschweigen ist ja nicht lügen. Den ausgeplauderten Lottogewinn bekommt sie doch unweigerlich mit. Glaube mir, mehr wird es sie auch nicht freuen, wenn sie von dem Rubbellos erfährt. Wichtig ist doch, dass Du von Deinen Schulden herunterkommst, oder was!«

Wünsche hatte ich in der Tat viele. Viele, deren Erfüllung sie nicht einmal auf den ersten Blick mitbekommen würde, auch einen, auf den sie immer so allergisch reagierte, nämlich einmal mit einem Geländewagen durch Schlamm und Wildnis zu rasen und durch die Luft zu fliegen.

»Das wäre doch schon mal etwas! Es muss ja nicht heute sein, aber behalte das mal im Auge. So was gibt Dir Deine innere Zufriedenheit und Dein gelittenes Selbstwertgefühl schnell wieder zurück.«

Das Handy klingelte abermals. Wieder der Schutzengel. Was hatte er jetzt zu meckern.

»Michael, das solltest Du nicht tun. Denke an Deine Frau. Sie hat mit recht Angst um Dich. Soll Dein Sohn denn ohne Vater aufwachsen? Bedenke …«

Wieder funkte Luzifer dazwischen.

»Will Dich die alte Spaßbremse schon wieder bekehren? Das ist schon was, mit zweihundert PS an die Grenzen zu gehen! Du bist ein Mann und Männer brauchen diesen Adrenalin-Kick! Dann weißt Du genau, dass Du lebst! «

Jetzt musste ich erst einmal ungestört Torte und Kaffee genießen. Von irgendwoher hörte ich Musik.

Das Handy. Nein, nicht schon wieder der Schutzengel mit seinen supervernünftigen Sprüchen!

Es war meine Frau.

»Sag mal, wo bleibst Du denn? Hast Du schon eingekauft? Wo bist Du jetzt überhaupt? Hast Du das Sonderangebot gesehen? Ist das was für uns? Kannst Du mal bei der Frauenklinik vorbeifahren und Schwangerschafts-Befund abholen? Die wissen Bescheid, dass Du kommst. «

Hatte ich richtig gehört? Möglicherweise reichte es ja auch, mal einen Tag mit ihr bei schönem Wettermit einem kultigen Trike einen Ausflug zu machen.

»Hallo, Du Schöne. Atme tief durch und sei ganz entspannt. Stell Dir vor, ich habe mit einem Rubbellos dreitausend Euro gewonnen! Ich musste darüber eine Weile in einem Café nachdenken. Alles Andere wird im Anschluss erledigt! Wenns gut geht, bin ich in einer dreiviertel Stunde zuhause. Ich habe Dir ja so viel zu erzählen, von einer wahrhaft diabolischen Begegnung! Also bis nachher. Ich liebe Dich!«

Ich genoss den letzten Bissen und den letzten Schluck und war überaus zufrieden mit mir.

Von dem großen Lottogewinn ist noch einiges übrig geblieben und zu dritt sind wir jetzt auch. Meine Schulden und die penetranten Anwälte bin ich Gott sei Dank los. Luzifer ist allem Anschein nach eingeschnappt. Er hat sich nicht wieder gemeldet, aber ich hege den Verdacht, dass er uns ab und an Steine in den Weg legt und mit vorgeblich sachlicher, aber aggressiver Werbung doch noch ködern will.

***

Oktober 2018

Das mentale Experiment

Die vierte Wand

Hallo, ich bin es! Wünschst Du Dir auch manchmal, Du könntest sehen, was Dein Gesprächspartner wirklich denkt? Als Erzähler, also als so eine Art Gott in der Welt der Geschichten, kann ich zwar in den Kopf eines jeden meiner Akteure hineinsehen, aber nichts verändern! Nein, ich kann nicht einmal das Opfer warnen, wenn der Bösewicht im Hinterhalt lauert, oder dem unentschlossenen Verliebten einen sanften Schubs in die Arme seiner Herzensdame geben. Der Einzige, dem ich etwas mitteilen kann, bist Du, mein Leser. In der Regel habe ich in einer Geschichte keine eigene Rolle, in der ich Dich direkt anspreche, wie ein Schauspieler an der Bühnenrampe zum Publikum. Machen wir diesmal eine Ausnahme, die Ausnahme der vierten Wand.

Genug der Vorrede! Alles fing damit an, dass Silvana Ullrich, 46 Jahre, blond, wohlgeformte frauliche Rundungen, mit ihrem Ehemann Gernot anlässlich ihres Kennenlerntages einen Abend mit dem Mentalmagier Berto Bertolini im Stadttheater besucht.

Wagen wir ein Experiment, in dem ich Dir Einblick in das Denken von drei Akteuren gewähre und ich Dir nebenbei, es lässt sich nicht vermeiden, sogar noch einen Zaubertrick verrate – abgemacht?

So! Und jetzt sei bitte leise! Wir versetzen uns in die Zaubershow zurück! Der Geruch von sengend heißen Scheinwerfern, altem Polster und den vielfältigen Duftwässerchen der Besucher empfängt uns im Theatersaal. Bertolini ist mit einem kleinen leuchtend-roten Seidentuch von der Bühne in den Zuschauerraum gegangen und kommt auf uns zu. Aus der Nähe haucht ein leichter Duft von Chanel No.5. Es war das Eau de Parfum von ...

Silvana Ullrich

Scheu oder Hoffnung. Die Scheu siegte und ich sah weg, weg von dem mehr als gut aussehenden, schlanken Mittvierziger mit den angegrauten Schläfen, der mir auf irgendeine Weise bekannt vorkam. Zumindest versuchte ich das Wegsehen. Etwas Geheimnisvolles, Diabolisches und dennoch Vertrautes lag in seinen Augen. Wie viel Souveränität er ausstrahlte! Viel mehr, als mein Gernot.

Er kam mit seinem Tuch immer näher. Sein Smoking und sein schmaler, gerader Schnauzer standen ihm ausgezeichnet. Nein, ich durfte ihn nicht anstarren! Andererseits musste ich herausfinden, an wen er mich erinnerte. Das ging kaum ohne Hinsehen.

Und dann geschah es: Das unerhofft Erhoffte! Er hielt neben mir und bat mich, aufzustehen. Aus unmittelbarer Nähe sah er mit seinen hellbraunen Augen noch besser aus als auf der großen Videowand! Sein herbwürziges Tabac-Parfum umschmeichelte mich.

Gernots feuchte Hand berührte meine. Ich entzog sie ihm. Etwas Kosmetik, würde ... Nun gut.

Wenig später band er sein Seidentuch um meinen Zeigefinger. Daran zog er mich sanft auf die Bühne und erbat einen Applaus.

Es war mir peinlich, mit welch einer Wucht mich der Beifall von den gut siebenhundert Zuschauern erreichte. Allein für meine Anwesenheit!

Sicher waren alle anderen erleichtert, davongekommen zu sein. Dieser Gedanke kam mir zugegeben erst nach der Show des mit viel Brimborium angekündigten Mentalmagiers Berto Bertolini. Als ich meinen Namen sagen wollte, war mein Hals wie zugeschnürt. Die Zunge klebte förmlich am Gaumen. Ich bildete mir ein, dass es jeder hören konnte. Wie peinlich!

Niemand wusste, was er plante. Mein Äußeres kam mir in den Sinn. Saßen die Strümpfe faltenfrei? Passten die Pumps wirklich zum Kleid? War die Wimperntusche verschmiert? Den Kontrollimpuls unterdrückte ich. Ich spürte meinen Mittelfinger dennoch ein wenig zucken.

»Die Wimpern sind in Ordnung«, raunte er mir nach einem prüfenden Blick zu.

Woher wusste er, was ich dachte? Verlegen lächelte ich. Überhaupt empfand ich all meine Gesten als völlig deplatziert. Wie verhielt ich mich jetzt angemessen?

Während dieser Gedanken erläuterte Bertolini sein nächstes Experiment. Er würde eine Stecknadel wiederfinden, behauptete er, die ich in seiner Abwesenheit verstecken sollte. Konnte so ein Vorhaben erfolgreich sein? Eine so kleine Stecknadel in einem so großen Saal?

Der Mentalist gab mir die Nadel und verließ unter der Bewachung von zwei Zuschauern den Saal.

Mir schlug das Herz bis zum Hals. Besonnen bleiben, ermahnte ich mich! Es war sicher das Beste, mich selbstbewusst zu geben, und beschloss, die Nadel in einer der Grünpflanzen zu verstecken. Natürlich wussten es einige im Saal besser, vermutlich Studenten der psychologischen Fakultät. Ob sie ihn testen wollten? Doch was hätte das für die meisten Zuschauer und vor allem für mich gebracht? Außerdem war das eine Art Mobbing. Darauf stand ich noch nie und entschied mich, fair zu bleiben.

Wenn ich daran zurückdenke, wie es weiterging, als er den Saal wieder betreten hatte, weiß ich immer noch nicht, was ich fühlen soll. In dem Moment, als er mich mit seinen sanften, gepflegten Fingerspitzen am Handgelenk ergriff, wurde mir klar, dass er altersmäßig zu mir passte. Ein Gefühl der Geborgenheit durchströmte mich.

Die Besucher waren aufs Äußerste gespannt, hielten fast den Atem an, als er mich führte.

Ja, führte! Er machte sich auf den Weg, bevor ich überhaupt den stummen Befehl rein gedanklich formulieren konnte, so wie er es von mir erbeten hatte: Gehe geradeaus, stop, drehe nach links.

Spotlicht und Kamera verfolgten unseren Weg.

Und dann passierte es: Mit einem Mal wusste ich nicht mehr, ob es die dritte oder vierte Grünpflanze war. Musste ich fünf Stuhlreihen nach vorn, oder jetzt gleich nach rechts? In diesem Moment glaubte ich, vor Scham in den Erdboden versinken zu müssen. Bertolini sah mich an. Da war etwas in seinem Blick, das ich nicht deuten konnte. Wie feinfühlig er sein musste! Ach Gernot ...

Bertolini erinnerte die Gäste, dass dies ein Experiment wäre und es möglich sei, dass es fehlschlug. Experimente könne man wiederholen, begründete er mit einem alles gewinnenden Lächeln.

Im Saal wurde es unruhig. Hatte mich Bertolinis Persönlichkeit zu sehr gefangen genommen? ... mich im wahrsten Sinne des Wortes mental verzaubert? Wie konnte ich nur ... Ich konnte nicht anders!

Vier Reihen weiter fiel ein Gehstock in den Gang. Danke – jetzt wusste ich es wieder!

Das Gemurmel verstummte. Das Spotlicht folgte Bertolini, der mich zu der Pflanze mit der Nadel brachte. Er machte es auffallend spannend. Dann hob Berto Bertolini die Nadel in die Höhe. Die Kamera übertrug sie in Großaufnahme. Kurze Zeit später brach rasender Applaus los, er begleitete mich zu Gernot und ließ mich bei ihm zurück. Ganz im Vertrauen! Dir kann ich es ja sagen, dass sie sich schon einmal begegneten. Aber ich will Dir nicht die Spannung nehmen. Noch soll das Wie und Wann für Dich wie im Nebel verborgen bleiben.

Eine Frage steht jedoch im Raum: Womit beschäftigten sich im Foyer die beiden Bewacher und ...

Berto Bertolini

Die kleine Pause, die ich nun hatte, war gerade lang genug, um meinenbeiden Bewachern ein kleines Bier zu spendieren und etwas zu plaudern. Da wo es möglich war, hatte ich es mir angewöhnt, männliche Begleiter zu wählen. Es fiel mir leichter, mit Herren unverbindlich zu plaudern, als mit Damen. So konnte ich gewissermaßen einen Moment privat sein, meine Anspannung abbauen, das eigene Ich spüren. Doch hatte ich die Rechnung ohne einen meiner Bewacher gemacht. Der stellte sich als Konrad Holbert vor, Reporter irgendeiner regionalen Zeitung undredete unaufhörlich auf mich ein.

Donnerwetter! Ich hätte ihm ansehen müssen, was er im Schilde führte! Aber ich nutzte die Gelegenheit: Kostenlose Presse konnte ich immer gebrauchen und verabredete mich mit ihm im Theatercafé.

Warum war mir ausgerechnet Frau Ullrich aufgefallen, als ich vor Beginn durch den Vorhang schaute? Es hatte immer seinen Grund, das wusste ich aus meinen Psychobüchern. Das Gehirn erledigt hin und wieder Dinge, die sich dem Bewusstsein entziehen. Damit ich mich erinnern konnte, musste ich aufhören, vordergründig darüber nachzudenken, zu blockieren. Ich hatte mich selbst studiert.

Ich wurde hereingerufen. Jetzt aber! Bevor ich den Saal betrat, musste ich mich wieder in Bertolini zurückverwandeln. Diesmal blieb ein wenig meines wirklichen Ichs zurück.

So hundertprozentig konnte ich mich nicht konzentrieren. Meine Routine half mir. Frau Ullrich, mein Medium, gab eindeutige Kommandos. Zum Glück! Ihre exakten Anweisungen machten vieles wieder wett und sie zu einem ausgezeichneten Medium auch für angehende Mentalisten. Ich habe da eine begabte junge Frau vor Augen, meinen Zauberlehrling, meine Tochter.

Unerwartet in diese Erinnerungen widersprachen sich die Kommandos. Ich sah sie an, und erkannte Ratlosigkeit und etwas, das nichts mit meinem hiesigen Engagement zu tun hatte.

Bald tausend Mal hatte ich die Nummer mit dem Muskellesen aufgeführt. Viele Male musste ich erneut erklären, dass dies ein Experiment sei. Einige Male hatte ich sogar das Medium wechseln müssen, sei es, weil die Signale nicht zu erkennen waren, sei es, weil jemand versuchte, mich hereinzulegen. Das konnte ich inzwischen ganz gut unterscheiden. Ohnehin war eine gute Menschenkenntnis als Mentalist und Magier eine unverzichtbare Tugend. Und dann fiel dieser Gehstock in den Gang.

Wie es dann weiterging, weißt Du ja schon. Inzwischen wirst Du Deine Vorstellung von der Umgebung haben. Deine Fantasie wird Dir je nach Temperament Details liefern, die ich Dir verschwiegen habe, beispielsweise die Farbe des Bühnenvorhangs und Silvanas Outfit oder die sich von Geisterhand wie ein Ballett bewegte Scheinwerferzeile und natürlich die Kameras für die Videowand oder auch, dass ausgerechnet Du einen Platz hinter diesem ausgewachsenen Riesen erwischt hast.

Da das hier nicht für den Fortgang der Handlung wichtig ist, überlasse ich das Deiner Fantasie. Eine Tatsache muss ich aber noch beichten: Den fallenden Gehstock habe ich dazuerfunden.

Sicher wird Dich die Frage bewegen, wo und wann sich denn nun Silvana und Bertolini schon einmal begegnet sind und vielleicht auch, warum sich der Mentalist Bertolini nennt. Nun, »Bert« steckt auch in seinem zivilen Vornamen, es musste sich weit gereist anhören und das endende »-ini« weist sehr oft auf Zauberkünstler und Mentalisten hin. Beispielsweise auf den berühmten ungarisch-amerikanischen Harry Houdini in den 20er- und 30er-Jahren.

Das fand auch der Reporter der regionalen Zeitung heraus, der sich als Bewacher eingeschlichen und schon manche Ungereimtheit der Politik in dem Blatt an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Die Leser der Zeitung achteten ihn als unbestechlich. Er unterschreibt seine Artikel und Kolumnen immer mit ...

Konrad Holbert

Inzwischen war die Zaubershow beendet. Sein Herausgeber und Chefredakteur hatte es ihm ans Herz gelegt, sein Bestes zu geben, denn er sträubte sich momentan mit allen Mitteln gegen eine feindliche Übernahme seiner Zeitung. Die Schlagzeile musste am nächsten Tag die größtmögliche Aufmerksamkeit erreichen. Diese Aufmerksamkeit erhoffte sich Holbert auch beim Chef zur Sicherung seiner eigenen Brötchen durch eine besondere Akribie zu erhaschen.

Holbert hatte das Ehepaar Ullrich zu einem Interview bewegen können und einige Fotos gemacht. So hatte er erfahren, wo und wann Silvana zur Schule gegangen war, sie ihren Mann kennenlernte und auch, dass ihr Bertolini irgendwie bekannt vorkam. Ja, sie war so euphorisch, dass sie sich mit Holbert von Gernot fotografieren ließ und es brühwarm ihren Facebook-Freunden mitteilen musste.

Noch ahnte Holbert nicht, dass gerade dieser Umstand den bereits vorbereiteten Artikel zunichtemachte. Seit er wusste, dass Bertolini, der im wahren Leben Robert Lehmann hieß, hier in die Kreisstadt kommen würde, hatte er Material gesammelt.

In Holbert meldetesich der Boulevard-Journalist:Bertolinis Nadel.War es Betrug?Wenn er Hinweise entdecken würde,dass beidesich kannten, konnte er den Leserng laubenmachen, dass es illegale Absprachen gegeben habe.

So ein Journalismus war ihm wirklich zu armselig. Außerdem glaubte er nicht daran. Reißerischen Schlagzeilen würden nur vorüberergehend die Auflage steigern können.

Holbert konnte Bertolinis Lebenslauf bezüglich der Schulzeit etwas vervollständigen, aber nichts Brisantes erfahren. Als er Bertolini jedoch erzählte, dass Silvana annahm, ihn zu kennen, zog der Mentalist ähnlich wie Mr. Spock vom Raumschiff Enterprise seine linke Augenbraue hoch. Er verriet Holbert nichts über den Grund, bat ihn danach aber eindringlich, seriös zu bleiben. Holbert war sich sicher, dass er ähnliche Vermutungen anstellte, wie Silvana. Eine neue Schlagzeile fing an, sich vor seinem geistigen Auge zu formen. Er verstand Bertolini, aber er verstand auch die Notlage seines Herausgebers.

Holbert stürzte sich in die Arbeit. Bei Facebook brauchte er nicht lange zu suchen, um Silvana zu finden – und das Foto, das ihr Mann von beiden schoss. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Ihr Nutzerkonto war ziemlich umfangreich. Wenn er gewollt hätte, hätte er daraus ohne viel Mühe ein Profil zusammenbasteln können, dass sie erpressbar gemacht hätte – doch er suchte nach Hinweisen, wo und wann Silvana Ullrich und Robert Lehmann, alias Bertolini, aufeinandergetroffen waren.

Erst als er der Spur einer der Facebook-Freunde von Silvana folgte, entdeckte er es: Sie waren bis zur 9. Klasse Schulkameraden gewesen. Dort in der Klasse gab es einen Robert Lehmann!

Als er dann Fotos von ihm sah, konnte er sich nicht vorstellen, dass dieser Abseitsstehende der spätere Bertolini sein konnte: So elegant, charmant und selbstbestimmt, wie er auftrat. Wie es aussah, wurde Robert damals gewiss ungern in eine Fußballmannschaft gewählt und blieb auf der Disco bei Damenwahl unbeachtet. Immer stand und stellte er sich abseits. Sollte das wirklich eines Tages der smarte Mentalmagier Berto Bertolini werden? Der weite Augenabstand in beiden Gesichtern sagte ihm, dass er richtig lag. Zu 99 Prozent.

Ein nervöser Klick mit der Computermaus offenbarte aber auch Folgendes: Robert war vier Jahre nacheinander Sieger der Mathe-Olympiade gewesen. Mit diesem Wissen wunderte ihn nicht mehr, dass er den Wochentag zu jedem Datum wusste; jedenfalls hinterließ er diesen Eindruck bei dem Interview. Dieser Fakt sprach für seine Theorie. Ein mögliches Komplott zwischen beiden konnte er darin aber nicht sehen. Für nähere Recherchen hatte er keine Zeit mehr. Er musste seinen Bericht in die Tastatur seines Computers klopfen. Die Schlagzeile lautete: »Mögen sie sich noch?«, und dann kleiner: »Bertolini trifft in Show seine Jugendliebe«. Dazu erfand er ein Treffen beider nach der Veranstaltung. Der Vorwurf eines abgekarteten Spiels war vom Tisch. Bei der großen Anzahl von Bertolinis Auftritten hätte sicher jemand gepetzt. Die meisten der Leser hätten diese freche Behauptung trotzdem ungeprüft geschluckt.

So, lieber Leser: Jetzt kennst Du fast die gesamte Geschichte. Doch eine Überraschung gibt es noch. Silvanas Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Warum zog es sie so unwiderstehlich zu Bertolini? Warum kam er ihr so bekannt vor? Sie musste es herausfinden.

»Ich will zum Bühneneingang, um Bertolini um ein Autogramm zu bitten«, belog sie ihren Mann über den wahren Grund.

Gernot rollte mit den Augen und trottete hinterher.

Er wurde ihr lästig. Er war so eigenartig. Ahnte er etwas?

Da war noch etwas mit Bertolinis Augen. Das hatte sie im Gefühl. Sie konnte es nicht benennen und Gernot gegenüber durfte sie es keinesfalls erwähnen.

Dank Holberts Bemerkung über Silvana hatte Bertolinis Langzeitgedächtnis etwas in den Tiefen seiner Erinnerungen ausgegraben. Er sah sie vor sich, – wie vor gut 30 Jahren in dem kurzen roten Kleid auf dem Klassenfest. Sie hatte ihm zugeblinzelt. Er wollte sie zum Tanz auffordern. Er hatte sich wieder einmal nicht getraut ... Diesmal wollte er es besser machen. Ob Holbert die Kontaktdaten hatte? Er sprang auf und stürmte durch die Tür.

Wow! Damit hatte er nicht gerechnet. Alarm! Da stand sie! Wie aus einem inneren Zwang heraus schlüpfte er in die Rolle ›Bertolini‹, so, wie es in seinen Psychobüchern stand. Er hatte sich selber beobachtet. Er konnte sich nicht dagegen wehren.

»Ich wusste, dass Sie kommen werden, Frau Ullrich«, begann er dämonisch mit halb geschlossenen Augen. »Ich sehe sechs Buchstaben. Es formt sich ein Begriff daraus: Freund! Nein, ich irre mich. Ein E verformt sich zu zwei Punkten und wandert über das U! Ein T gesellt sich ans Ende. Es ist ein Name. Fründt. Es ist ihr Name! Ihr Name war Silvana Fründt, nicht wahr?«

Silvanas Pupillen weiteten sich. Sie nickte.

»Robert?«, rief sie und sah ihn irritiert an, »Robert Lehmann? Die Intelligenzbestie?«

Jetzt sah sie es. Der weite Augenabstand zerstreute ihre letzten Zweifel. Warum hatte sie es nicht früher bemerkt? Wie dumm stand das Genie damals da, als sie ihm immer wieder zublinzelte. Das rote Kleid hatte sie schließlich nur seinetwegen angezogen. Nichts! Keine Reaktion!

Er spielte auch jetzt nur eine Rolle. Warum hatte sie die Fassung wegen einer so trüben Tasse verloren und Gernot belogen?

Ach, mein lieber Gernot!

***

November 2019

Satans Spiegel

»Komm doch zurück, Amalie«, rief sie hinter mir her. »Bitte entschuldige …«

Die Autotür klappte zu und schnitt die leeren Rechtfertigungen meiner Mutter ab. Mit ein wenig Glück würde ich auf dem Hauptbahnhof noch den Nachtzug erreichen können. Ich war wütend! Nein, wütend war geschmeichelt! Was bildete Mutter sich nur ein, mich nach Köln zu einer zweifelhaften Talkrunde zu locken, während meine Zwillingsschwester Amara in Rostock verzweifelt um ihr Leben kämpfte. Es musste etwas anderes sein, als Empathie, das Mutter und Amara miteinander verband.

Das Taxi fuhr an. Weg, nur weg von diesem schmierigen Fernsehstudio! Mutter hätte es dabei belassen sollen, den Kontakt mit mir auf ein Minimum zu beschränken. Selbst die Fernsehleute schienen besser über Amara informiert zu sein. Es war mir peinlich, wie der Regisseur sich meiner Mutter näherte, die beinahe nuttig in Minirock und halb offener Bluse eintraf. Auch mich versuchte er zu umarmen. Weggestoßen hatte ich ihn, den geilen Bock. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte sich eine Ohrfeige eingefangen. Darüber konnten auch seine Schmeicheleien über mein Aussehen nicht hinweghelfen – auch kein Angebot zu einer Fernseh-Talk-Runde für »gleichermaßen klugen wie schönen Frauen«, wie er sich ausdrückte. Unwillkürlich rollte ich mit den Augen.

Allmählich beruhigte ich mich durch das sanfte Schaukeln des Taxis im abendlichen Verkehr und ich begann nüchterner zu denken, so, wie es sich für eine promovierte Psychologin gehörte. Warum hatte ich nichts von Amaras Zustand gespürt, so, wie immer, seit ich denken konnte. Jeden ihrer körperlichen Schmerzen spürte ich bisher, obwohl ich oft nichts davon wissen konnte. Die Entfernung spielte dabei keine Rolle. Ja, sogar ihre Symptome wie Schwellungen und Wundsein übertrugen sich auf unerklärliche Art und Weise auf mich, wie in einem Spiegel. Ein Spiegel, so wie sie Rechtshänder war und ich die linke Hand benutzte, wenn es genau werden sollte … Vorübergehend hatte ich bei mir schon an eine Form des Couvades-Syndroms gedacht, bei dem Männer beispielsweise mit Übelkeit und Gewichtszunahme auf eine Schwangerschaft ihrer Partnerin reagierten. Übergroßes Mitgefühl konnte ich mit Sicherheit ausschließen und wissenschaftlich zu erklären war es erst recht nicht. Trotzdem würde mir der direkte Draht zu ihr fehlen, was zumindest psychologisch zu erklären war.

Der Dom kam in Sicht. In wenigen Augenblicken musste ich aussteigen. Den Preis am Taxameter rundete ich großzügig auf und entnahm meinem Portemonnaie einen Schein für den Chauffeur. Noch ehe ich abgeschnallt war, öffnete er meine Tür, drückte mir den Rollkoffer in die Hand und wünschte mir eine gute Weiterfahrt. Er lächelte mich an und hob zum Gruß zwei Finger an die Schirmmütze.

Für den Nachtzug erhielt ich sogar noch eine Platzkarte. Dass das nicht nötig gewesen wäre, stellte ich später fest, aber so wusste ich wenigstens, in welchen Waggon ich einsteigen konnte. Es war außerdem die Sicherheit, nicht von meinem auserkorenen Platz vertrieben werden zu können. Dann entpuppte sich der Zweite-Klasse-Waggon als einer der Ersten Klasse, der mehr Platz für die Beine und zum Nebenmann bot. Meinen Platz fand ich deshalb nicht und nahm mir einen Platz in der Einzelsitzreihe. Meinen Koffer wuchtete ich vorerst nicht ins Gepäcknetz. Er fühlte sich auf dem Platz mir gegenüber ganz wohl.

Die eine Sache war, dass Mutter und ich enorme Meinungsverschiedenheiten hatten, die andere, dass meine Zwillingsschwester sterbenskrank war. Das berührte mich außerordentlich. Beinahe tat es mir leid, dass ich mich mit Amara so heftig in der Schönheitsklinik gestritten hatte. Ich konnte es einfach nicht mehr mit ansehen, wie sie für die angeblichen Schönheitsmakel ihre Gesundheit unnötigerweise aufs Spiel setzte und noch dazu so viel Geld dafür ausgab. Die jüngste Entwicklung gab mir recht. Wozu musste sich eine dreiunddreißigjährige Frau die Gesichtshaut straffen lassen? Ich konnte es nicht begreifen, auch nicht, wenn ich in den Spiegel sah. Ich selbst war froh, noch jung und trotzdem etwas reifer auszusehen. Welcher Patient würde mich ernstnehmen, wenn ich wie Zwanzig wirkte? Sie sollten mir schon zutrauen, dass ich ihnen helfen konnte. Das war in der Psychologie der halbe Weg zum Erfolg.

Fast unmerklich setzte sich der Zug in Bewegung. Morgen früh würde ich mich in Rostock gleich zu Amara in die Südstadtklinik aufmachen und erst danach in meine Wohnung fahren. Hoffentlich würde ich nicht für immer zu spät kommen. Der Zug hatte Fahrt aufgenommen. Jetzt hatte ich einige Stunden Zeit, über die erneute Begegnung mit meiner Zwillingsschwester und unser Leben nachzudenken.

Ein Ereignis, an das ich mich selbst kaum erinnern kann, aber das mir von Mutter immer wieder vorgehalten wurde, muss sich den Schilderungen nach zugetragen haben, als Amara und ich drei oder vier Jahre alt waren. Wenn man den alten selbstgeschossenen Fotos trauen darf, mussten wir ein überaus niedliches Zwillingspärchen mit einer jugendlich wirkenden Mutter gewesen sein. Um dem Ganzen die Krönung aufzusetzen, hatte sie uns zu einem Fotoshooting angemeldet, was damals wohl bei mancherlei Gelegenheiten angesagt war. So etwas gab es bisher bei uns nicht. Zu der Zeit glaubte man hierzulande noch, dass jedes neu ins Land gekommene Unternehmen es genau so ehrlich mit uns meinte, wie wir Einheimischen. Den Erzählungen nach hatte Mutter für diesen Termin damals vorab eine dreistellige Summe in der für uns neuen D-Mark auf den Tisch legen müssen. Der Betrag würde sich innerhalb kurzer Zeit amortisieren, versprach die Werbung des Fotografen. Wir glaubten es. Während es Amara und unsere Mutter offenbar genossen, vom Künstler in Position gebracht zu werden, interessierten mich in erster Linie die Scheinwerfer, die Kamera auf dem Stativ und die einfachen Kisten mit den bedruckten farbenfrohen Überwürfen, auf denen wir platziert werden sollten. Mit Süßigkeiten versuchte mich Mutter, zum Stillsitzen zu überreden. Das klappte nicht so wie vorgesehen.

Als mich Mutter dann zum Stillsitzen zwang, entlud sich mein Mageninhalt über die ganze Szenerie. Ihre süßen Bestechungsversuche hatten sich gerächt. Damit waren auch alle weiteren geplanten Shootings mit anderen Kindern geplatzt. Der Fotograf verlangte von Mutter eine Entschädigung für die ruinierten Requisiten und es gab keine Fotos und erst recht keinen Werbevertrag, den er uns versprochen hatte. Darüber hinaus bin ich bei meinen Erkundungen an irgendetwas Färbendes geraten. Mutter hat das Kleid nie wieder sauber bekommen. Vielleicht hat sie das auch nur erzählt, um mich zu demoralisieren. Das Einzige, was ich von diesem Tage wirklich in Erinnerung behalten hatte, war ein verschleierter Spiegel, in den ich hineinblickte und meine Schwester heraus. Das faszinierte mich. Ich sah sogar hinter den Spiegel.

Irgendwann ist es Mutter dann doch noch gelungen, ein paar professionelle Fotos von Amara und sich zu bekommen – bei einem Fotografen, der seit vielen Jahren in der Stadt arbeitete. Mitgenommen hatten sie mich zum Glück zu diesem Fototermin nicht. So wurde es erzählt. Unendlich langes Stillsitzen und in schwingenden Kleidern und Röcken einfach nur Schönsein, das mochte ich noch nie.

Der Intercity rollte über das Gleisbett. De-dumm, de-dumm de-dumm.

Ganz gut erinnern kann ich mich an den Tag unserer Einschulung. Im Gegensatz zu Amara, die sich fortwährend vor dem Spiegel drehte, und dabei den Schwung ihres neuen Kleides bewunderte, war es mir sehr zuwider, mich an diesem Tage feinzumachen und dauernd an mir herumfummeln zu lassen. Anfassen durfte ich auch nichts. Während die Gedanken schon bei den neuen Schulbüchern in meinem Schulranzen waren, wurde ich dauernd aufgefordert, nun endlich still zu stehen. Die Haare ziepten beim Kämmen und der Ranzen klemmte das Kleid ein. Ich musste erst noch lernen, gewisse unausweichliche Dinge über mich ergehen zu lassen, um möglichst bald das tun zu können, wonach mir der Sinn stand. Unausweichlich war auch der Gang zum Fotografen. Natürlich wurde ich schon Wochen vor der Einschulung an mein Missgeschick auf das missglückte Fotoshooting hingewiesen und dass ich mit einer Strafe rechnen müsse, es auch diesmal zu verderben. Also bekam ich vor dem Fototermin keine Süßigkeiten zugesteckt – jedoch meine Schwester! Das war höchst ungerecht. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass mir Mutter das mit dem Fotoshooting vor Jahren immer noch ziemlich nachtrug.

An diesem Tag geschah etwas, was ich erst später deuten konnte. Amara fiel bei dem Drehen vor dem Spiegel hin und zog sich ein Hämatom unter ihrem rechten Auge zu. Sofort lief ich zu ihr, um sie zu trösten. Allein durchs Zusehen entwickelte sich unter meinem linken Auge ebenfalls ein blauer Bluterguss, der immer mehr anschwoll, während der meiner Schwester bis zum Fototermin kaum noch zu erkennen war. Mutter schminkte ihn mir schnell weg. Was war das nur für ein ekliges Zeug, dass Mutter mir da ins Gesicht geschmiert hatte, und lange dauerte es auch. Auf dem gemeinsamen Bild mit Amara ist er dennoch deutlich zu sehen, weil ich kurz vor dem Auslösen genau an dieser Stelle ein unangenehmes Kitzeln verspürte und vorsichtig mit der Hand darüberstrich. Dass ich das Veilchen wirklich ohne mein Zutun bekommen hatte, glaubte mir niemand.

Ich wusste zwar, dass Mutter nicht aus dem Haus ging, ohne sich dieses Zeug ins Gesicht zu schmieren, was meistens ganz schön lange dauerte, vor allem dann, wenn ich darauf wartete, dass sie mir ein neues Buch kaufen sollte. Amara dagegen wusste bereits vor dem Beginn der Schulzeit, dass das Make-up heißt und dass es viele verschiedene Farben und Arten gibt, angefangen vom Lippenstift bis hin zu Puder und Wimperntusche. Gebannt und fasziniert sah sie meist zu, wenn sich Mutter für die Stadt fertigmachte. Und dann passierte es, als Mutter irgendwann einmal Außerhaus war, zog Amara alle Register des Schminkens. Darauf hoffend, dass Amara von Mutter einmal richtig ausgeschimpft würde, feuerte ich sie noch dazu an. Ich fragte sie nur, wie sich das Zeug auf der Haut anfühle. Sie meinte, dass es zuerst kühl wäre, aber ich musste an das Einschulungsfoto denken und mich angeekelt schütteln. Letzten Endes wurde Amara dafür ins Gewissen geredet, aber die dicken Augen von ihrem Weinen bekam ungerechterweise ich.

Der Zug wurde langsamer und ich war gespannt, welchen Bahnhof wir passieren würden. Erste Lichter waren auszumachen. Das Rattern an den Gleisstößen wurde langsamer und hatten jetzt die Frequenz eines schlagenden Herzens. De-dumm, de-dumm. Es war fast Mitternacht. Schlug auch Amaras Herz noch de-dumm, de-dumm? Was hatte sich Mutter nur dabei gedacht?

»Essen Hbf« stand an einem wohl inzwischen ausrangierten Stellwerk, das durch eine Bahngeländelampe angestrahlt wurde. Der Zug hielt. Nur eine Handvoll Leute stiegen aus und ein. Wenig später kündigte das Pfeifen des Schaffners das Weiterfahren an. Bald hörte ich wieder de-dumm, de-dumm und ich gab mich abermals meinen Gedanken hin.

Bis sich in der 5. Klasse vieles für Amara und mich änderte, hatten wir schon einiges angestellt, um die Lehrer zu hintergehen und uns so bessere Noten zu verschaffen, wie es nur eineiigen Zwillingen möglich ist. Wir hatten nämlich bemerkt, dass Amara besser singen und zeichnen konnte, ich dagegen war besser in Mathematik und Sachunterricht. Unser für die anderen identisches Aussehen bescherte mir Einsen und Zweien beim Gedichteaufsagen und Amara bei sachbezogenen Vorträgen. Aber wirklich zu steuern war dieser Austausch leider nicht. So kam es, weil sich Amaras Interessen auf die schönen Dinge beschränkte, dass ich ihr von den Lehrern als Vorbild hingestellt wurde. Endlich wurde ich einmal gelobt! Amara beschwerte sich deswegen öfter bei Mutter. Ab der Fünften Klasse wurde ich in der Parallelklasse unterrichtet, was auch seinen Vorteil hatte, denn nicht alles, was ich anstellte, landete auch bei Mutter. Allerdings hatten wir weiter den Sportunterricht gemeinsam, genauso wie die Jungen der beiden Klassen. Amara liebte die Gymnastik. Sie war eine der Besten unter uns, während ich eher Ballspiele mochte. Schlimm wurde es nur einmal, weil sich Amara bei der rhythmischen Sportgymnastik den linken Fuß umknickte und ich, ein paar Meter weiter, währenddessen der Mannschaft zum Sieg verhelfen wollte. So geschah es. Amara passierte das Unglück und ich war gerade beim Volleyball am Absprung um den Ball zurück übers Netz zu schlagen. In diesem Moment in der Luft durchfuhr mich Amaras Schmerz, aber nicht in dem Fuß, mit dem ich abgesprungen und aufgekommen war. Mit diesem Schmerz konnte ich nicht weiterspielen. Dass ich danach mit dem unbelasteten rechten Fuß humpeln musste, verwirrte meine Spielkameraden und warfen mir Absicht und Hinterlist vor. Amara indes führte ihre Übung nach kurzer Pause weiter durch. Alle an der Gymnastikmatte hatten ihr Umknicken gesehen, und mitfühlend die Augen zugekniffen, wurde unter den Schülern erzählt. Ich solle mir ein Beispiel an meiner Schwester nehmen, wurde mir vorgeworfen und nicht so wehleidig sein. Das saß! Konnte ich den anderen von unserer besonderen Verbundenheit erzählen? Sie hätten mir ohnehin nicht geglaubt und ich hätte mir damit nur selber geschadet, wenn ich für die Schulkameraden solch ein blödes Zeug erzählte.

Die Sportlehrerin und Mutter, kannten sich schon seit ihrer Schulzeit und sie erzählte Mutter den Vorfall brühwarm. Mutter war unangenehm berührt von diesem Zwischenfall und forderte mich auf, nicht so zimperlich zu sein. Ich verdrehte genervt die Augen. Zum ersten Mal fiel das Wort Hypochonder. Ich mochte nichts dazu sagen. Vielmehr beschäftigte mich ihr verändertes Aussehen im Gesicht. Ich konnte kaum noch ihre Laune ablesen, seitdem sie die kleinen liebenswerten Fältchen nicht mehr hatte. Viel später erfuhr ich, dass sie sich regelmäßig Botox spritzen ließ. Das wusste selbst Amara damals noch nicht.

Bis Dortmund war ich schon gekommen. Hier hatte ich auf jeden Fall Zugang zum Mobilfunknetz. Ob es auf freier Strecke ebenso war, wusste ich nicht und ich wollte es jetzt auch nicht ausprobieren. Nur ganz selten fuhr ich solch weite Strecken und schon gar nicht mit der Bahn. Ich hatte trotz unserer angestauten Differenzen Mutter auf Kurzwahl und wählte sie an. Was hatte sich Mutter nur gedacht, mir Amaras Gesundheitsproblemen zu verschweigen. Trotzdem hätte ich ihr zuhören sollen, bevor ich ins Taxi gestiegen bin, warf ich mir vor. »Der gewünschte Teilnehmer telefoniert derzeit. Wollen Sie ihr eine …«, war die Ansage im Telefon. Ich brach ab. Auch wusste ich nicht so recht, was ich ihr in die Box sprechen sollte. ›Entschuldige‹ oder ›Was hast Du Dir nur dabei gedacht‹, schien mir nicht passend zu sein. Ich nahm mir vor, es beim nächsten Halt noch mal zu versuchen. Mit diesem Gedanken setzte sich der Zug wieder in Bewegung und das De-dumm-de-dumm war wieder zu hören.

Mit dem Eintritt in die Pubertät spalteten sich unsere Interessen immer mehr. Wenn ich mit den Hausaufgaben beschäftigt war, fiel es Amara immer öfter ein, laut Musik zu hören und danach zu tanzen. Wenn sie auch gut im Rhythmus war, verlangte es von mir Rache. Da ich wusste, wie gern sie sich im Bad aufhielt, um das eine oder andere für ihr Aussehen auszuprobieren, blockierte ich es viel öfter und viel länger, als es notwendig gewesen wäre oder gab vor, noch einmal schnell zu müssen, und dehnte dann die Zeit ins Unermessliche aus. Wenn sie dann richtig aufgebracht war und an der Tür bullerte, kam ich mit unschuldiger Miene heraus. Dann schaltete sie noch einen Gang höher. Ich hatte erreicht, was ich erreichen wollte.

Eines kam Tages ein Brief, der Amara einlud, an einer Beauty-Session teilzunehmen. Sicher hatte Mutter daran gedreht. Sie tat zwar überrascht, aber ich glaubte ihr nicht, was auch an dem Botulinumtoxin gelegen haben könnte, dass sie sich jetzt immer öfter spritzen ließ. Mich interessierte so etwas eigentlich nicht, aber dank Amara wurde ich über derlei Dinge jederzeit detailgenau aufgeklärt.

Die gesamten Herbstferien war ich auf mich allein gestellt. Wenn ich auch die täglichen Arbeiten gern immer wieder auf den nächsten Tag verschob, war es doch eine herrliche Zeit, in der ich mir die Stunden einteilte, so wie mir es passte. Am Tag vor ihrer Rückkehr hatte ich allerdings voll damit zu tun, meine liegengelassene Kleidung einzusammeln und die eingetrockneten Krusten des benutzten Geschirrs im Geschirrspüler zu entfernen. Das gelang natürlich nicht, im Gegenteil: Die hartgewordenen Essensreste wurden dort hart wie Stein. Also doch heißes Wasser ins Spülbecken lassen und das Geschirr mit der Hand und dem Schrubberschwamm bearbeiten. Dabei musste auch mancher Goldrand dran glauben. Viel zu spät bemerkte ich, dass Einweichen mir die Arbeit enorm erleichtert hätte. Ich wollte doch die bessere Tochter sein und dafür gab ich alles, damit es Mutter auch bemerkte. Insgesamt hatte ich aber den Eindruck, dass sie Amara bevorzugte und ich nur ins Spiel kam, wenn es irgendetwas zu erledigen gab. Das traf auch für die Schule zu.

Mutter merkte den sauberen Haushalt nur kurz an und wechselte dann das Thema, nämlich die Beauty-Session, bei der Amara als einer der Besten die anwesenden Model-Agenturen stark beeindruckte. So kam sie mit einem Einjahresvertrag nach Hause, der ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellte. Sie würde die Schule zum Schuljahresende nach der 9. Klasse für ein Jahr unterbrechen, meinte Mutter. Ich nahm es erst einmal so hin, wie es gesagt wurde. Was das bedeutete, wurde mir erst mit der Zeit klar. Auch ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie nie wieder die Schulbank im herkömmlichen Sinne drücken würde. Fortan brauchte Amara noch länger für Hautpflege und Make-up als bisher. Fertig gestylt hielten sie die meisten für zwei Jahre älter als mich. Einmal wurde ich gefragt, ob meine große Schwester schon einen Freund hätte. Einige Male musste ich mich sogar zwischen Morgendusche und Unterricht entscheiden. Besonders an Tagen, an denen wir zu unterschiedlichen Zeiten zur Schule mussten, war es besonders kritisch, sodass ich mich entschloss, zwanzig Minuten früher, vor Mutter und Amara, als erste aufzustehen. Amaras Angewohnheit, bis zum letzten Moment liegen zu bleiben, und dann eine kleine Ewigkeit im Bad zu brauchen, kam mir dabei zur Hilfe. Ich schlafe zwar auch gern, aber ich machte die Erfahrung, dass die gewonnene Zeit mich cooler und ausgeglichener machte. Da ich in dieser Zeit das Frühstück vorbereitete, drückte ich mich mit Erfolg und dem Segen von Mutter um das gehasste Abräumen und Abwaschen. Dafür lag sie mir mit den dauernden Ermahnungen in den Ohren, mir ein Beispiel an Amara zu nehmen, und mehr für mein Aussehen zu tun. Mit meinem Aussehen war ich hingegen sehr zufrieden, sauber zu sein ist mir bis heute das Wichtigste geblieben, nicht der Lidstrich.

Irgendwann einmal bekam ich dann mit, dass sie das nur ihren eigenen Träumen zuliebe tat, denn sie peilte ein Fotoshooting mit ihren Zwillingen an, so als ob gerade das immer reibungslos geglückt wäre. Weil ich auf derlei nun überhaupt keine Lust hatte, schob ich immer wieder dringende Sachen mit der Schule wie Vokabeln lernen, einen Wettbewerb im Volleyball oder einen Vortrag, den ich beinahe vergessen hätte, vor. Ich gewann.

Inzwischen hatte ich Mutter wie auch Amara, was ihre Schönheit betraf, einigermaßen durchschaut. Wollten sie die Zustimmung für etwas Bestimmtes, fingen sie schon Wochen vorher an, über einen neuen sogenannten Makel beiläufig zu reden, und steigerten sich dann hinein. Das betraf dieses Mal die Fettansammlungen an den Oberschenkeln und der Hüfte von Mutter und Amara wollte unbedingt ein sündhaft teures Make-up ausprobieren. All das bekam ich mit, während ich vor meinen Büchern saß und scheinbar unaufmerksam gegenüber ihren Gesprächen war. Ich hatte mir einen Spiegel so hingestellt, dass ich die beiden sehen konnte, wenn sie hinter mir tuschelten. Es wäre für die Schule, log ich. ›Für die Schule‹ war ein totales ›Totschlagargument‹ gegenüber Mutter. Hörte sie es, bekam ich alles genehmigt – fast alles.

Wenn Mutter und Amara sich dann gegenseitig ihre Wünsche mehrmals bestätigt hatten, dann wurden sie heimlich umgesetzt. Sie glaubten, mir etwas vormachen zu können. Ein paar Erkenntnisse dazu hatte ich auch aus Büchern, die sich allgemein verständlich mit der Psychologie befassten. Wenn so eine Vorhersage wieder einmal klappte, war ich stolz auf mich, wie der erste Bezwinger des Nordpols. Dann tat ich vor mir selbst gelehrt und verwendete medizinische Begriffe, die ich kaum verstand.

Nach diesem Symptom (da haben wir eins) gab Mutter vor, etwas mit der Model-Agentur persönlich klären zu wollen, und kam drei Tage später am Bauch sichtlich dünner zurück. Im Gepäck hatte sie ein Set des gewünschten Make-ups für meine Zwillingsschwester. Auch mir bot sie an, es doch auch einmal damit zu versuchen.

Nicht der wütende Blick meiner Schwester, die glaubte etwas abgeben zu müssen, hielt mich davon zurück, sondern weil ich bis heute das klebrige oder staubige Zeug wie eine unbequeme Maske empfinde, die mich in jeder Hinsicht einengt.

Doch dieses neue Zeug hatte etwas in sich, das Amaras Gesichtshaut nicht vertrug, sodass sie innerhalb weniger Minuten krebsrot aussah. Als Amara es im Spiegel bemerkte und hysterisch aufschrie, waren wir zum ersten Mal alle drei bei der Übertragung der Anzeichen beisammen. Nachdem ich die Auswirkungen des neuen Make-ups bei Amara sah, erwarte ich die gleichen allergischen Symptome. Sie kamen. Da warfen sie mir vor, doch heimlich etwas von dem Zeug genommen zu haben, um den Verdacht zu beweisen. Nichts dergleichen tat ich. Zwei Wochen hatte ich mit den roten brennenden Hautstellen zu kämpfen, während Amaras schon am Abend kaum noch auszumachen waren. Mutters Haut zeigte keine allergische Reaktion. Prompt wurde ich von beiden ungerechterweise als Hypochonder bezeichnet. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Ich solle mir ein Beispiel an Amara nehmen, war Mutters Kommentar. Wieder einmal. Das war so gemein! Ich lief in mein Zimmer und wollte keinen von beiden an diesem Abend mehr sehen. Meine Tränen rollten ungehemmt ins Kopfkissen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Sollte ich für alle Zeiten all die Leiden von Amara durchleben müssen?

Der Intercity jagte durch die Nacht in Richtung Norden. De-dumm, dedumm, de-dumm. Schienenstöße und Herzschlag, Amaras Herzschlag.

Als wir 19 Jahre alt waren, konnte meine Schwester den Titel einer Weinkönigin im Saarland feiern und ich mein Abitur, an das sich direkt mein Psychologiestudium anschloss.

So unterschiedlich unsere persönlichen Erfolge waren, so unterschiedlich waren auch unsere Interessen geworden. Ungeschminkt sahen wir uns noch zum Verwechseln ähnlich. Das sollte sich bald ändern. Bedingt durch das Studium zog ich mich immer mehr auf mein Zimmer zurück, während Mutter und Amara viel unterwegs waren und in Hotels übernachten mussten. Wir sahen uns immer seltener. Anfangs hatte ich die Hoffnung, dass diese räumliche Distanz unsere besondere Verbindung schwächer werden lassen würde und ich ihr so auf die Schliche kommen könne. Eines Tages, ich hatte die beiden schon seit Wochen nur über Skype gesehen, schwoll meine Nase unvermittelt extrem an. Mein erster Gedanke war die allergische Reaktion auf einen Insektenstich, den ich tatsächlich hatte. Obwohl ich inzwischen die Zeichen kannte, wenn Mutter oder Amara irgendetwas planten, war in dieser Richtung aus unseren Gesprächen am Telefon oder auch über Skype nichts herauszulesen. Eine Woche lang die Nase kühlen half, sodass ich darauf verzichtete, einen Arzt aufzusuchen.

Mit einer verpflasterten Nase lief Amara einmal im Hintergrund an der Laptop-Kamera vorbei, als ich mit Mutter gerade chattete. Sie waren offenbar leichtsinnig geworden. Mutter hatte es, wie es schien, überhaupt nicht bemerkt. Vorerst hielt ich mein Wissen vor den beiden zurück. Es hätte doch nur gegenseitige Vorwürfe gegeben, denn sie wussten, wie ich zu Schönheitsoperationen und Ähnlichem stand. Dass ich unter solchen Eingriffen bei Amara ebenfalls zu leiden hatte, ging ihnen nicht ein. Auf Spott und gute Ratschläge konnte ich gut und gern verzichten.

Einige Zeit später stellte ich fest, dass auch Mutter sich unters Messer gelegt hatte und war sauer. Richtig sauer. Konnte ich sie noch Mutter nennen, wenn ihre Augenlider so glatt waren, wie die von Amara? Müsste sie nicht die Klügere von beiden sein?

Bis zu einem gewissen Grade konnte ich inzwischen aufgrund meines Studiums die Einstellung nachvollziehen, als Managerin von Amara nicht allzu alt auszusehen. Aber es sah eher so aus, als wenn Mutter ihrer eigenen Tochter Konkurrenz machen wollte. Reichten all die Puder, Cremes und Stifte nicht aus, um schön genug zu sein? Sollte Mutter nicht danach trachten, kompetent und reif auszusehen, um Amara die bestmögliche Hilfe zu sein und um nicht übers Ohr gehauen zu werden?

Die Antwort auf meine Fragen erhielt ich ein Vierteljahr später. Voller Stolz berichtete sie eines Tages, dass sie als die schönste Model-Managerin Deutschlands gekürt wurde und dass sie sich auf dem richtigen Wege sei. Wer hatte ihr derartig stereotype Argumente und Bewertungen eingeredet? Konnte sie nicht mehr selbst denken? Waren das die Argumente, mit denen sie auch Amara beeinflusste?

De-dumm, de-dumm – de-dumm. Das Pochen der Schienenstöße unter den Rädern wurde langsamer. Immer öfter wurde dieser Rhythmus durch Weichen ratternd gestört. Hoffentlich nicht bei Amara. Bremen war nicht mehr fern. Ich war auf dem Weg zu meiner Schwester. Mehr als die Hälfte des Weges hatte ich bereits zurückgelegt. De-dumm, de-dumm, de-dumm. Beeile Dich, Intercity! Ich brauche meine Schwester. Es tut mir leid, liebe Amara. Am ganz frühen Morgen brauchte ich Mutter nicht anrufen. Sie würde auch ihren Schlaf nötig haben. De-dumm, de-dumm. Amara, ich komme. Warte auf mich.

Die Bachelor-Thesis in Psychologie hatte ich gerade erfolgreich verteidigt, als Mutter immer öfter ihre Haut an der Wange zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, etwas herauszog, sie dann losließ und das Zurückspringen der Gesichtshaut vor dem Spiegel genauestens beobachtete. Links, rechts und dann wieder links. Nur um festzustellen, was sie da tat, probierte ich es auch bei mir. Anders als bei Mutter bekam ich die Haut nur mit viel Mühe und entsprechender Kraft überhaupt zwischen die Finger und dann rutschte sie mir schnell von selbst heraus. Rote Wangen waren das Ergebnis bei mir, aber ich glaubte kaum, dass Mutter rote Wangen haben wollte.

Immer edlere Cremes und Tiegel standen in der Beauty-Bar, einem flachen Regal im Bad. Anbringen durfte ich es. Handwerklich etwas bewandert war nur ich. Die anderen beiden waren da, um schön auszusehen. Ich weiß, das ist sehr sarkastisch, aber mit Recht!

Mein Zeug – eine wasserhaltige Gesichtscreme, etwas gutes Parfüm, meine Lieblingssorte Haarwäsche und Duschbad – hatte ich in mein Zimmer genommen, nachdem Amara im Bad aufgeräumt hatte und ich meine Utensilien nicht wiederfinden konnte. Die Seife auf dem Waschbecken und das Zahnputzzeug durften dort stehen bleiben. Gnädigerweise.

Etwas schien Amara durch den Kopf zu gehen, als sie von einer ihrer Sessions heimkam. Bei allen Gelegenheiten hob sie ihren Busen vor dem Spiegel an und betrachtete ihn dabei von allen Seiten. Um Dirndl konnte es nicht gehen, die hatte sie in großer Auswahl in einem ihrer Kleiderschränke hängen. Ich ahnte, dass ich wieder leiden musste. Aber war so eine Operation wirklich notwendig? Wir waren in dieser Hinsicht nicht schlecht ausgestattet, immerhin so, dass ein Dauerlauf ohne Sport-BH für mich undenkbar war. Zum Studentenfasching hatte ich mir einmal so ein Dirndl von Amara ausgeliehen. Ich war überrascht, wie gut mir so ein Kleidungsstück stand, fühlte mich aber trotz der Kette im Dekolleté etwas zu offen. Auch hatte sie mich zu diesem Anlass geschminkt. Das konnte sie wirklich großartig. Dann stellte ich mich vor ihren großen Spiegel und erblickte scheinbar Amara als Spiegelbild. Für immer und dauernd war so ein Kleid und Schminke aber nichts für mich. Die Schleife auf der richtigen Seite, konnte ich mich der Verehrer kaum erwehren – oder war der Studentenfasching daran schuld?