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Schmerz E-Book

Harro Albrecht

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Beschreibung

"Chronischer Schmerz kann jeden treffen. Am besten, man liest das Buch, bevor der Schmerz beginnt." Deutschlandfunk In Deutschland leiden 16 Millionen Menschen unter andauernden oder wiederkehrenden Schmerzen. Die herkömmlichen Schmerztherapien erweisen sich zunehmend als Sackgasse. Pharmazie, Medizin und Forschung treten auf der Stelle, neue Schmerzmittel sind nicht in Sicht, und unter den Patienten wächst die Verzweiflung. Der Arzt und Wissenschaftsjournalist Harro Albrecht hat weltweit recherchiert und erzählt vom langen Kampf gegen diese menschliche Urerfahrung – von Fortschritten, Fehlschlägen und immer noch ungelösten Fragen. Seine Erkenntnisse machen Mut: Linderung ist möglich, wenn wir lernen, anders mit Schmerzen umzugehen. "Albrechts Argumentation ist klar und seine Befreiung von vielen Schmerzirrtümern erhellend." Psychologie heute

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Harro Albrecht

Schmerz

Eine Befreiungsgeschichte

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Making-of1   Die Schmerzfalle2   Fata Morgana3   Eine folgenreiche Trennung4   Materie siegt5   Die Wende6   Lehrmeister Schmerz7   In der Sackgasse8   Ein Rückfall9   Lügendetektor10   Hinab in die Emotionen11   Unter Strom12   Geselligkeit statt AspirinDank
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Making-of

Keine Macht dem Schmerz

Am Anfang steht ein Geständnis. Ich bin Arzt, Herzpatient und seit zwanzig Jahren Medizinjournalist, aber bevor ich dieses Buch schrieb, wusste ich nahezu nichts über eine der wichtigsten Herausforderungen der Medizin: den Schmerz. Vor den Recherchen war Schmerz lediglich ein Symptom für mich, ein Indiz für eine körperliche Entgleisung. Im besten Fall findet sich eine Ursache, die sich abstellen lässt, und bis dahin helfen sogenannte Analgetika, Schmerzmittel, einigermaßen effektiv.

Doch so einfach ist es nicht, und das hätte ich bei genauer Betrachtung wissen können. Denn ich kam mit einem Herzklappenfehler zur Welt und musste mich in Hamburg und in London mit acht, vierundzwanzig und zuletzt mit vierundvierzig Jahren jeweils einer Operation am offenen Herzen unterziehen. Mit einer Säge durchtrennten mir die Chirurgen das Brustbein. Nach dem Eingriff zerrte jeder Atemzug an dem mit Drähten geflickten Knochen, es fühlte sich an, als rollte ein Panzer über meine Brust. Ich kann dies mit Worten beschreiben, doch anders als eine Erinnerung an einen Sonnenuntergang vor blauem Meer fällt es mir schwer, diese Empfindung heute in mir wachzurufen.

Akuter Schmerz ist ein intensives, momentanes, sehr privates Erlebnis, und es verblasst offenbar gnädig. Wenn ich indes Zeuge werde, wie sich jemand mit einem höllisch scharfen keramischen Messer fast die Fingerkuppe abtrennt, wird mir heiß und kalt. Ich sollte abgebrühter sein. Eine kurze Zeit habe ich selbst im Operationssaal gestanden, Patienten mit großen Schmerzen erlebt und sie bei Bedarf mit Medikamenten versorgt. Wenn ein Skalpell im gleißenden Licht über die durch das Desinfektionsmittel gelblich gefärbte Haut glitt und dort einen roten, blutigen Strich zeichnete, meinte ich für einen Moment, den Schmerz des anderen spüren zu können, und musste wegsehen. Mir ist bewusst, dass diese Reaktion im Grunde genommen nur die mitfühlende Resonanz meines eigenen Schmerzempfindens war. Der Patient auf dem Operationstisch war betäubt und spürte in diesem Augenblick die Schärfe des Skalpells nicht. Und wäre er bei Bewusstsein gewesen, hätte ich nicht gewusst, was wirklich in ihm vorging. Schmerz ist subjektiv. Manche Patienten leiden erheblich unter Verletzungen, die anderen nichts ausmachen. Schmerz ist deutlich mehr als nur ein einfaches Warnsignal am Ende einer Klingelleitung.

Der Schmerz ist die Grenzfläche, an der Psyche und Körper aufeinandertreffen. Er ist Trennungsschmerz, Wundschmerz und psychische Verletzung durch Zurückweisung. Er ist ein Phänomen, welches das ganze menschliche Leben umfasst. Er ist die Grundlage vieler Religionen und Motor der Kultur. Ohne Schmerz keine Kunst, keine Sprache und kein Denken. Damit führt das Nachdenken über diese unangenehme, oft belastende Empfindung weit über die Medizin hinaus. Molekularbiologie, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Anthropologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften sind damit beschäftigt. Das Theater, das Kino, die Musik, die bildenden Künste und ein Gutteil der Weltliteratur arbeiten sich auf die eine oder andere Weise an der Thematik ab. Wobei es in der Kunst mehr um psychische Leiden geht. Aber besteht wirklich ein Unterschied zu den körperlichen Leiden? Im Laufe meiner Nachforschungen in Italien, Dänemark, Kanada, Großbritannien, Israel, Uganda, den Niederlanden und in Deutschland fand ich mich mit den grundlegendsten Aspekten des menschlichen Daseins konfrontiert.

Anlass für meine Recherchen waren die Vorbereitungen für ein kurzes Interview zu einem frei verkäuflichen Schmerzmittel. In einer Fachzeitschrift hatte ein Pharmakologe die Sicherheit des bekannten Medikamentes Acetaminophen, besser bekannt unter dem Namen Paracetamol, angezweifelt. Es war nur eine fachliche Randnotiz, aber zwischen den Zeilen steckte eine allgemeine Kritik des allzu sorglosen Gebrauchs von Analgetika. Schon Hobby-Marathonläufer schlucken heute dieses und ähnliche Medikamente in großer Zahl. Schmerzmittel sind billig und frei verfügbar und das, obwohl sie erhebliche Nebenwirkungen haben können. Eine beunruhigende Konstellation, die ein Interview wert schien. Rücken-, Knie- oder Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten Gründen, weshalb Menschen den Arzt aufsuchen. Der Verbrauch von Analgetika schnellt in die Höhe, und die Zahl der Operationen an Gelenken und Wirbelkörpern nimmt bedrohliche Ausmaße an. Gleichzeitig sind Patienten oft unzufrieden mit den Ergebnissen. Die herkömmlichen Strategien der Medizin – und der Patienten – verfehlen offenbar ihr Ziel. Weder verschaffen die Medikamente genügen Linderung, noch führen sie zu einem gesunden Umgang mit dem Schmerz (Kapitel 1).

Schon in den Vorbereitungen zu dem Interview fand ich viele Hinweise darauf, dass sich hinter der Diskrepanz eine größere Geschichte verbarg, und aus dem Interview wurde ein dreiteiliger Artikel, der dann schließlich in dieses Buchprojekt mündete. Das Phänomen Schmerz war offensichtlich vielschichtiger, als ich es mir habe vorstellen können. Sagt der Umgang mit Schmerzen und Schmerzmedikamenten etwas darüber aus, wie wir zum Leben stehen? Und vor allem: Ist Schmerz etwas, das wir in jedem Fall und mit aller Macht bekämpfen müssen? Schlucken Menschen so viele Pillen, weil es ihnen körperlich schlechtgeht oder weil sie sich betäuben müssen? In einem Buch, das dem Wesen des Schmerzes auf den Grund geht, sollte es deshalb nicht nur um Krankheit und Medizin gehen. Die Menschen, die sich mit dem Thema beschäftigen, erzählen eine eigene Geschichte, jenseits der harten Fakten. Es gab inspirierende Augenblicke und viele ernüchternde und ein paar Erfahrungen, die ich während meiner Recherchen und der Arbeit am Manuskript dieses Buches selbst mit dem Schmerz machte. Von diesen Erlebnissen soll an dieser Stelle die Rede sein. Es ist gleichsam das »Making-of« des Buches.

Als persönliche Übergangszeremonie vom Büroalltag in das selbstgewählte Buchexil stand eine zehntägige Wanderung in Norwegen. Wenn es eine Gegend gibt, die nachträglich betrachtet für die Höhen und Tiefen der Recherche und für die Mühsal auf dem Weg zu den wenigen zentralen Erkenntnissen steht, dann sind es diese stundenlangen Märsche im Rondane- und Dovrefjell-Nationalpark. Das Gelände ist übersät mit moosbewachsenen oder grauen Felsen und die Wanderung dadurch beschwerlich. Der Aufstieg zu den Zweitausendern mit fünfzehn Kilogramm Gepäck auf dem Rücken ist für den Untrainierten schweißtreibend und mitunter sehr hart. Es war ein freiwilliges »Leiden«, das fünf Mal mit der grandiosen Aussicht von einem Gipfel belohnt wurde: Storronden, Vinjeronden, Rondeslottet, Høgronden und Snøhetta. Bergab wartete dann wieder gefährlich scharfkantiges und manchmal verschneites Geröll. Jeden Tag nahmen Entspannung und Kondition etwas zu, und am Ende machte sich ein zutiefst befriedigendes Gefühl breit.

Manchmal ist es ratsam, sich an einen vorurteilsfreien Ratgeber zu wenden, jemanden, der nicht in die fragliche Materie verstrickt ist und sie gleichsam objektiv von außen betrachtet. Es gibt Menschen, die aufgrund extrem seltener Gendefekte keine schmerzhaften Reize spüren. Vielleicht konnte jemand mit solch einer Störung das Phänomen besser einordnen. Ich suchte einige Wochen in Deutschland und fand niemanden. Dann erfuhr ich von einigen englischen Patienten. Die aber wollten nicht mit mir sprechen. Hier und da hatte es ein paar Zeitungsberichte über diese seltsamen Menschen gegeben, aber die Spur führte ins Nichts. Es gebe jemanden in Indien, verriet mir ein deutscher Genetiker und übermittelte mir nach Rücksprache eine E-Mail-Adresse. Ich nahm über die Kontinente hinweg Kontakt auf. Schon bald musste ich feststellen, dass das Fehlen von Schmerz kein Glücksfall, sondern ein Handicap ist. Es macht die Betroffenen zu Außenseitern. Jetzt verstand ich, warum viele Menschen mit dieser Besonderheit das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Ich suchte nach einem Ausweg und traf in der Wüste von Israel auf die seltsamsten Kinder, denen ich je begegnet bin. Bedingt durch einen genetischen Defekt, sind auch sie schmerzfrei. Das macht sie zu furchtlosen und wild entschlossenen Wesen, die sehr radikal mit ihrem Körper umgehen und klaglos schwerste Verletzungen hinnehmen. Ihr selbstzerstörerischer Umgang mit der Welt ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Schmerz ein wertvolles Warnsignal ist und vollkommene Schmerzfreiheit nicht erstrebenswert sein kann. Auf ihre Weise wirken diese Kinder erwachsen und fremd, vielleicht, weil ihnen eine wesentliche menschliche Erfahrung fehlt. Auf der einen Seite ist Schmerz eine sehr einsame Erfahrung, auf der anderen Seite ist er ein urmenschliches Erleben, das uns verbindet. Schon diese einfache Erkenntnis steht im krassen Widerspruch zu Slogans wie »schmerzfreie Stadt« oder »schmerzfreies Krankenhaus«. Das Symptom hat mehr gute und böse Gesichter, als wir in der westlichen, schmerzarmen Welt realisieren.

Einerseits ist Schmerz ein Warnsignal, und doch können wir uns in begrenztem Maß darüber hinwegsetzen. Solange wir noch das Gefühl haben, dass der Schmerz nicht unser Denken, Fühlen und Handeln völlig vereinnahmt, sondern wir ihn kontrollieren, kann er sogar ein reizvoller Gegner sein, an dem wir unsere Grenzen austesten.

Zu der einsamen Arbeit an einem Buch gehören gewisse Rituale, die den Tag strukturieren. Ein Jahr lang aß ich jeden Tag Tom Ka Gai, eine thailändische Suppe mit Kokosmilch, Gemüsebrühe, Zitronengras, Knoblauch, roter Tom-Ka-Paste, Bambussprossen, Ingwer, Koriander und scharfen Chilischoten. Gern durfte es eine Extraportion dieser roten Scharfmacher sein. Im Chili steckt Capsaicin, eine Substanz, die unter Forschern beliebt ist, weil sie damit experimentell akute Schmerzen auslösen können. Der Stoff kitzelt genau den Rezeptor und die dazugehörigen Nerven, die uns normalerweise ruckartig die Hand von der heißen Herdplatte zurückziehen lassen. Trotz der Erfahrung mehrerer schmerzhafter Operationen habe ich also freiwillig jeden Tag mit einer scharfen Mahlzeit meine Schmerz-Rezeptoren stimuliert.

Ich gehe im Sport an die Schmerzgrenze, beim Zahnarzt halte ich lieber vorübergehend den Bohrer aus, als den ganzen Tag mit betäubter Lippe herumzulaufen, und ich löffle gern scharfe Suppen. Acht Tage nach meiner zweiten Herzoperation in London hatte ich nach reichlich ungesalzenem Fisch aus der Krankenhausküche Heißhunger auf etwas gut Gewürztes. Also bestellte ich direkt nach der Entlassung in einem Londoner indischen Restaurant ein Curry mit fünf Schärfesternen. Mein Herz raste, die Schweißperlen standen mir auf der Stirn. Nun hatte ich gerade eine Operation am offenen Herzen überlebt und dachte, ich stürbe einen Häuserblock vom Krankenhaus entfernt an einem Chicken Vindaloo.

Selbstgeißelung bedeutet, dass man sich lustvoll über den ultimativen Lehrmeister Schmerz hinwegsetzen kann. Wie das Gespräch mit einer über und über tätowierten jungen Frau schnell zeigte, ist es eben etwas anderes, ob man die Kontrolle über den Schmerz behält oder ihn wie ein Krebspatient ohnmächtig ertragen muss. Schmerzhafte Reize und das Leiden daran sind offenbar zwei verschiedene Dinge. Aus diesem Grund bezeichnen Wissenschaftler die neutrale Wahrnehmung eines Schadreizes auch als Nozizeption (abgeleitet vom lateinischen nocere, schaden) und die entsprechenden Sensoren in der Haut als Nozizeptoren. Erst durch eine negative Emotion entsteht daraus im Kopf der Schmerz. Weil die unbewusste Bewertung eines Reizes individuell unterschiedlich ausfällt, stehen die Schwere einer Verletzung und die einhergehende Empfindung oft nicht in Beziehung zueinander. Ein besonders scharfes Messer kann die Haut durchtrennen, ohne dass wir dies bemerken, und ein harmloser eingerissener Nagelfalz kann einem den Tag verderben. Wie neutral oder negativ ein Reiz anschlägt, hängt von der Situation und der Persönlichkeit ab. Auf dem Weg zwischen Haut und Hirn gibt es viele Einflüsse, die aus Reizen völlig unterschiedliche Empfindungen, von Lust bis Leid, entstehen lassen. Dass etwas Ablenkung und Zähnezusammenbeißen den Schmerzcharakter ändert, ist leicht nachvollziehbar. Was aber ist mit dem eigentlichen medizinischen Problem, dem chronischen Schmerz, gegen den Menschen offensichtlich so ohnmächtig ankämpfen?

Jedes Mal nachdem mein Brustbein durchtrennt worden war, zwang mich der Wundschmerz für eine Weile in die Rückenlage. Heftiges Lachen war tabu, und wenn es zu arg wurde, hieß es flach atmen. Ich beherrschte die Situation, und das war, wie sich im Verlauf der Recherchen zu diesem Buch herausstellte, ein großer Vorteil. Für mich war der Spuk jedes Mal nach sechs Wochen vorbei. Ein Drittel aller Herzpatienten jedoch leidet noch mehr als ein Jahr, nachdem eine Knochensäge ihr Brustbein gespalten hat. Als Arzt habe ich sehen können, wie sich dauerhafter Schmerz in die Gesichter von Menschen gräbt. Wie sehr chronische Schmerzen das Leben auf den Kopf stellen, konnte ich mir nur staunend berichten lassen. Die Patienten können nicht mehr klar denken, schlafen schlecht, sind deprimiert, und manche denken sogar daran, aus dem Leben zu gehen, um ihr Leiden zu beenden. Und bei alldem haben sie oft das Gefühl, von ihrer Umwelt nicht im Ansatz verstanden zu werden. Der andauernde Schmerz grenzt sie aus. Manche, denen ich begegnete, waren besonders bemüht um ihr gepflegtes Aussehen. Um keinen Preis wollten sie mehr als notwendig auffallen. Chronischer Schmerz unterscheidet sich offenbar erheblich von der Empfindung nach einem Schnitt in den Finger oder einer freiwilligen Selbstgeißelung. Er macht ebenso einsam wie die Unfähigkeit, Schmerz zu empfinden. Der amerikanische Literaturprofessor David Morris schrieb in seinem viel zitierten Buch über die Kultur des Schmerzes, dass chronischer Schmerz sich vom akuten Schmerz unterscheidet wie Krebs von einem Allerweltsschnupfen[1].

Ein Großteil des Medizinsystems beschäftigt sich mit nichts anderem als der direkten oder indirekten Bekämpfung chronischer Schmerzen (Kapitel 2). Ich suchte einen Arzt auf, der in einem Hamburger Krankenhaus eine Sprechstunde für betroffene Menschen anbietet. Unter den Patienten war die Vorstellung verbreitet, dass ihr chronischer Schmerz eine Fehlfunktion des Körpers sei, die man am besten mit einem Medikament abstellt. Der psychotherapeutisch ausgebildete Arzt indes wusste, dass diese Strategie nicht ausreicht. Die Patienten drängten auf Tabletten, Spritzen und weitere kernspintomographische Untersuchungen, der Arzt bremste. Aber wir leben nun einmal in einer materialistischen Welt. Injektionen und aufwendige Apparate sind für viele überzeugender als einfühlsame Worte. Immer weiter zerlegen die Wissenschaftler den Körper. Am Ende dieses Prozesses sollen bessere materielle Lösungen stehen. Das ganze medizinische System bewegt sich in diesem Koordinatensystem. Zwar lockt das Geschäft mit dem Massensymptom, aber der Schmerz ist offenbar ein trickreicher Gegner. So gab es leider gerade bei der Entwicklung neuer Analgetika in den vergangenen Jahren viele Rückschläge.

Die Pharmaindustrie investiert Milliarden in die Erforschung neuer Wirkstoffe, und doch ist die Ausbeute nur sehr gering. Einmal nahm mich eine Mitarbeiterin, die maßgeblich an der Zukunft der pharmakologischen Schmerztherapie arbeitet, in einem pharmazeutischen Labor beiseite. Die Forscherin war nachdenklich geworden. Sie sei sich nicht sicher, ob sich die Geheimnisse des Schmerzes in einem kommerziellen Labor ergründen lassen. Die Forschung brauche viel Zeit. »Hier aber steht immer jemand hinter mir und will möglichst bald Resultate sehen«, sagte die Wissenschaftlerin, die vorher in einer großen, gutdotierten öffentlichen Forschungseinrichtung in Deutschland gearbeitet hatte. Im universitären Umfeld sei das anders gewesen. Dort habe sie den Dingen auf den Grund gehen können. In den Laboren ihres neuen Arbeitgebers stehe sie oft unter Druck und sei gleichzeitig mit einem Wust von Formularen konfrontiert, der ihr das Arbeiten erschwere. In dieser Situation bleibe gar nichts anderes übrig, als die Schmerzmodelle simpel zu halten. Eigentlich, sagte sie, müsste die Pharmaindustrie mehr Geld in die Forschung stecken und mehr Geduld haben. Dann aber würde es länger dauern und die Rendite sinken. Beides sind keine attraktiven Optionen für Investoren. So wächst auf der einen Seite der Bedarf nach schnellen, technischen Lösungen, auf der anderen Seite fehlt der Nachschub an besseren Medikamenten. Es ist eine vertrackte Lage, deren Wurzeln tief in die Vergangenheit reichen.

Die Ausgangslage war abgesteckt: Vielen Patienten helfen die Medikamente und Operationen nicht oder nicht mehr. Die industrielle Forschung sucht mit immer neuen Substanzen doch noch nach einer biochemischen Lösung des Problems und scheitert daran. Der Beginn dieser Entwicklung liegt dreihundertachtzig Jahre in der Vergangenheit bei einem überheblichen Mann, der den Wundern der Natur am liebsten in seiner Studierstube auf den Grund ging. René Descartes revolutionierte nicht nur das wissenschaftliche Denken, sondern er bahnte den Weg zu einer materialistisch orientierten Sicht auf den menschlichen Körper und damit auch auf den Schmerz ( Kapitel 3). Jedenfalls wird dieses Bild des französischen Philosophen in fast jedem Vortrag über Schmerzen verbreitet. Dass es sich in Wirklichkeit etwas anders verhält und Descartes missverstanden und seine Lehre von seinen Nachfolgern verfälscht wurde, erfuhr ich von einem Gelehrten in Utrecht.

Theo Verbeek hat sein Leben dem Franzosen Descartes gewidmet, inzwischen sieht er selbst ein wenig aus, wie man sich den französischen Denker vorstellt. Verbeek trägt einen klassischen grünen Borsalino und dazu farblich passend einen weiten Lodenmantel. Weil der Niederländer nicht mehr gut sehen kann, braucht er einen Stock; seiner hat einen Silberknauf. Descartes führte oft einen Säbel mit sich, und es heißt, er habe bei einer Elbüberquerung damit einmal Räuber in die Flucht geschlagen. Utrecht war längere Zeit Wohnsitz des Franzosen. Er sei ein intellektueller Flüchtling in den Niederlanden gewesen, wird kolportiert, weil in der Heimat die engstirnigen Katholiken den Ton angaben. Für Theo Verbeek war der eigentliche Grund für Descartes’ Dauerexil indes eine delikate Liebesaffäre. Der adlige Philosoph hatte mit einer Magd unehelich ein Kind gezeugt. Als Edelmann konnte er sich nicht dazu bekennen, aber er wollte die Verantwortung übernehmen und blieb deshalb immer in der Nähe der alleinerziehenden Mutter. Natürlich kam dem Grübler auch der Umstand zupass, dass ihn in den Niederlanden zunächst niemand kannte und er unbehelligt arbeiten konnte. In Amsterdam lebte er in einem schmalen Haus am Westermarkt 6. Er hatte Glück. In dem Neubauviertel war direkt gegenüber ein paar Jahre zuvor gerade die Westerkerk, zu dieser Zeit die größte protestantische Kirche der Welt, fertiggestellt worden. Wo einst der französische Flüchtling die Freiheiten des Exils genossen hatte, war zu dem Zeitpunkt, als ich das Haus in Augenschein nahm, gerade eine Arbeitsagentur für arbeitslose Akademiker aus Spanien eingezogen. So wiederholt sich die Geschichte. Descartes’ akademisches Leben in den Niederlanden aber gestaltete sich gar nicht so zurückgezogen wie geplant, sondern mutet an wie ein moderner Wissenschaftskrimi. Es wird intrigiert, um die Wette publiziert und notfalls abgekupfert. Schließlich entsteht eine Vorstellung vom Körper als einer Maschine und vom Schmerz als einem Glockenläuten am Ende eines biologischen Klingelzugs. Auf die Spitze getrieben hat diese Automaten-Metapher Julien Offray de La Mettrie, ein Arzt, scharfer Denker und sinnenfroher Spaßvogel. Dieses mechanistisch-materialistische Bild prägte für Hunderte von Jahren den Umgang mit dem Schmerz.

Erst im 19. Jahrhundert ging die Saat der aufstrebenden Naturwissenschaften auf. Die Naturforscher der vorangegangenen Epochen mochten viele neue und teilweise wegweisende Theorien ersonnen und Belege dafür gesammelt haben, ihnen fehlten indes überzeugende Beweise für die Nützlichkeit ihrer neuen Denkart. So lange hatte die Kirche noch die Macht, den Schmerz als ein Zeichen göttlicher Nähe zu verklären. Dann stellte die Entdeckung der Narkose alles auf den Kopf (Kapitel 4). Jetzt mussten die Menschen nicht länger grausame Operationen bei vollem Bewusstsein über sich ergehen lassen. Es blieb nicht der einzige Durchbruch. Schlag auf Schlag lieferte die Pharmaindustrie neue massentaugliche Analgetika, die schon bald reißenden Absatz fanden. Religiöse und nichtreligiöse Skeptiker warnten noch vor dem allzu sorglosen Gebrauch der Betäubungsmittel. Aber die Zeiten, in denen die Kirche die alleinige Deutungshoheit über den Schmerz besaß, waren endgültig vorüber. Die mit ihren maßlosen Aderlässen und unwirksamen scholastischen Therapien in Missfallen geratene Medizin gewann erheblich an Reputation.

Eine der ersten Anwendungen für die neuen, wirksamen Narkosemittel waren Entbindungen. Dies ist insofern bedeutsam, als es einer der wenigen natürlichen Vorgänge ist, die mit extremen Schmerzen einhergehen. Es ist daher nicht ganz klar, ob dieser Schmerz überhaupt eine Angelegenheit für die Medizin ist. Schon im 19. Jahrhundert gab es erhitzte Diskussionen, ob eine Geburt schmerzfrei sein dürfe. Früher überwogen noch religiöse Argumente gegen die Narkose, heute ist der Wunsch nach Natürlichkeit das bevorzugte Motiv für einen Verzicht auf Schmerzfreiheit. Ich traf die Hamburger Hebamme Pia Steinbrück, die in fünfzehn Jahren mehr als tausend Geburten begleitet hat. Während die Ärzte früher mit Chloroform, Lachgas oder Äther betäubten, hilft heute die rückenmarksnahe Regionalanästhesie oder kurz PDA. Das Thema Schmerz in der Geburt, sagt Steinbrück, würden Hebammen heute gern auslassen. Sie würden keine schlafenden Hunde wecken und die Frauen beunruhigen wollen. Steinbrück ist der Ansicht, dass der Schmerz viel zu sehr zum Tabu gemacht werde. »In den Vorbereitungen zu einer Geburt muss man darüber sprechen«, sagt die Hebamme. In ihren Kursen geht sie detailliert auf die verschiedenen Faktoren im Schmerzempfinden ein. Die Männer erhalten einen Extrakurs. »Männer wollen unbedingt etwas machen«, sagt Steinbrück, »aber sie können nicht viel tun.« Die Hebamme benutzt dann ein männeraffines Bild. Sie sollten sich vorstellen, ihre Frau führe Fahrrad auf der Tour de France. Die Frau sitzt im Sattel, ihr Mann im Besenwagen. »Ihr dürft sie mit Bananen beschmeißen, ihnen Wasser reichen und sie anfeuern«, erklärt Steinbrück den Männern dann, »aber fahren müssen eure Frauen, und sie müssen ins Ziel kommen.« Schmerz sei außerdem nicht gleich Schmerz. Entscheidend sei, wie sehr man ihn noch kontrollieren könne, ob der Zeitrahmen absehbar sei und ob ein lohnendes Ziel in Aussicht stehe. Gerade hat sie selbst entbunden, und fast hätte sie sich gegen Ende der Geburt wie so viele Frauen dem überwältigenden Gefühl des Kontrollverlusts ergeben und sich eine PDA setzen lassen. Steinbrück widerstand diesem Impuls. »Ich hatte Presswehen und wusste, das war's jetzt.« Das Wissen um die Schmerzvorgänge hatte ihr die Kontrolle über diesen extremen Schmerz erhalten. Sie verzichtete auf die Betäubung. »Obwohl ich nicht grundsätzlich gegen die PDA bin«, beteuert sie. Und dann erzählt sie den Teilnehmern der Vorbereitungskurse vom Tätowierstudio. Ob jemand schon mal gesehen habe, dass dort jemand eine Betäubungsspritze erhalten habe? Pia Steinbrück, weiß worüber sie spricht. Ihr Rücken ist ausgiebig tätowiert. Sie gibt zu, dass dieser Schmerz etwas ganz anderes als der ohnmächtig ertragene Kopfschmerz oder eine Wehe sei. »Es ist wie eine Sucht, hinterher bin ich immer ganz high.«

Durch die Erfolge des 19. Jahrhunderts und weitere Erkenntnisse auf dem Feld der Schmerzforschung setzte sich die materialistische Sicht auf den Schmerz weiter durch. Schmerzen galten, gleichsam von der Psyche abgespalten, vor allem als ein Symptom, das auf körperliche Schäden hinweist. An der McGill University in Montreal treffen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Schmerzbehandlung und Forschung aufeinander. Einst hatte ein Mitschüler von René Descartes, der strenggläubige Steuereintreiber Jérôme Le Royer de la Dauversière aus La Flèche, die kanadische Stadt gegründet. Der Jesuit hatte nach einer Eingebung Geld eingesammelt, ein Expeditionsteam in das ferne Land geschickt und am Sankt-Lorenz-Strom das erste Krankenhaus errichten lassen – er selbst kam nie nach Kanada. Noch heute erinnert in der 201 Pine Avenue West im Foyer des Musée des Hospitalières de l'Hôtel-Dieu de Montréal eine hölzerne Wendeltreppe aus dem Wohnhaus von Royer an Montreals Gründer. In dieser historisch aufgeladenen Stadt arbeitet noch heute eine Art Anti-Descartes, der kanadische Psychologe Ronald Melzack. Zusammen mit dem britischen Physiologen Patrick Wall hat er 1965 mit einer bahnbrechenden Schmerztheorie Descartes’ Trennung von Körper und Geist aufgehoben (Kapitel 5). Die beiden postulierten, dass psychische Vorgänge die Weiterleitung von Schmerzsignalen physiologisch hemmen können. Gut dreihundert Jahre nachdem der französische Philosoph René Descartes mit seinen Theorien die wissenschaftliche Trennung von Geist und Körper angestoßen hatte, fanden die Antipoden in einer neuen Schmerztheorie wieder zusammen und öffneten das Feld unter anderem für die Psychologie.

Einerseits zeichneten sich für mich immer schärfer die Umrisse dieses Phänomens ab, andererseits erschien es mir, als sei man von guten Lösungen weiter entfernt denn je. Von Ronald Melzack, dem Pionier der neuen Schmerzära, hatte ich mir bessere, ja endgültige Antworten erhofft. Er ist inzwischen ein betagter Herr, lebt mit seiner Frau in einer Seniorenresidenz, kommt aber immer noch gelegentlich in die Universität. Als ich ihn im Winter 2013 in seinem Büro aufsuchen wollte, tobte gerade ein Blizzard über der Stadt, und er konnte nicht kommen. Am nächsten Tag hatte sich die Lage beruhigt, der Schnee lag hoch, es war sehr kalt, aber die Sonne schien, und Melzack fand einen Weg nach Montreal. Ich fragte also den »Einstein des Schmerzes« nach etwas, was die meisten Aspekte plausibel zusammenbringe und erkläre, eine Art Universaltheorie des Schmerzes. Der alte Mann lachte matt und antwortete mit der Geschichte von zwei Mitbewohnern in seiner Seniorenresidenz. Die hätten ihn angesprochen, weil er sich doch mit Schmerzen auskenne. Sie litten nach einer Herpesinfektion fürchterlich unter einer sehr schmerzhaften Gürtelrose. Melzack riet ihnen, zum Neurologen zu gehen. Seine Nachbarn winkten ab, sie hätten bereits drei Neurologen gesehen, und keines der verschriebenen Medikamente helfe. »Warum das mehr weh tut, als wenn man sich in den Finger schneidet«, sagte Melzack zu mir schulterzuckend, »ich weiß es doch auch nicht.« Eine Universaltheorie? »Vielleicht finden Sie ja eine.«

Dies schien ein hoffnungsloses Unterfangen, allein das neue Textbook of Pain umfasst 1153 Seiten. Dieses umfassende Standardwerk und Lehrbuch versucht nichts weniger, als den aktuellen Wissensstand von der Neurobiologie des Schmerzes über seine Behandlung bis hin zu psychologischen Aspekten abzubilden. Die beiden Pioniere auf diesem Gebiet, Ronald Melzack und Patrick Wall, haben es zum ersten Mal herausgebracht. Aber immerhin darf ein naiver Autor die gewöhnlichen Denkpfade verlassen, viel mehr Aspekte des Themas aufgreifen und sich mit so vielen Experten unterschiedlicher Richtungen unterhalten, wie er mag und Zeit hat. Zumindest besteht auf diese Weise eine kleine Chance, neue Zusammenhänge zu sehen oder einfach zu behaupten. Montreal ist der ideale Ausgangspunkt für solche Nachforschungen. Dort arbeiten hochkarätige Neurowissenschaftler, Kliniker und Psychologen, mit denen ich sprechen durfte. Doch ich gewann den Eindruck, dass auch sie unsicher waren, wohin die Reise gehen sollte. Melzack selbst bewegten zu diesem Zeitpunkt weiterführende Fragen; eine Struktur im menschlichen Gehirn interessierte den Psychologen besonders: die »Brücke«. Diese Struktur ist so groß wie ein Daumen und sitzt tief im Stammhirn. »Ist die Brücke verletzt, dann rutschen Menschen ins Koma und kommen nie wieder heraus. Liegt die Verletzung ein Stück darunter, dann sind manche Menschen wach, aber völlig paralysiert.« Mit der Frage nach dem Bewusstsein war der Psychologe wieder mehr in sein angestammtes Forschungsgebiet zurückgekehrt. Denn wenn Schmerz ein Bewusstsein voraussetzt, ist es wichtig, wo dieses Bewusstsein lokalisiert ist. Auf diese Weise führt die Beschäftigung mit dem Schmerz weit über die normalen Diskussionen um Rückenschmerzen hinaus zu zentralen Fragen der Hirnforschung und nicht zuletzt der Psychologie. Es sind gleichsam philosophische Fragen, die heute viele Schmerzforscher bewegen und mit denen ich mich noch ausgiebig beschäftigen sollte.

Der akute Schmerz hat seinen Schrecken verloren. Dafür aber treten die chronischen Leiden in den Vordergrund. Eine der wichtigsten Strategien gegen dieses Problem heißt »Aktivität statt Passivität«. Wer oft auf dem Bürostuhl sitzt, tut gut daran, in Bewegung zu bleiben. Das hilft dem Körper und dem Geist. Regelmäßig arbeitete ich mich zum Ausgleich für das viele Sitzen beim Schreiben des Buches im Fitnessstudio an allerlei Gerätschaften ab. Mir ist heute noch so, als habe mich der Trainer bei den Instruktionen zu einer der Maschinen vor einer Fehlhaltung gewarnt. Ich hatte nicht ausreichend aufgepasst, und so spürte ich bald nach dem Training ein Stechen am rechten Ellenbogen. Nichts Schlimmes, dachte ich, die Sehnenansätze der Unterarmmuskeln sind wohl überreizt. Es ist das, was man gemeinhin einen Tennisarm nennt. Ich wollte indes nicht mit dem Sport aufhören. Hätte ich es getan, gäbe es dieses Buch wahrscheinlich nicht, denn neben dem Ritual der scharfen Suppe und der Kräftigung der Muskulatur strukturierte der Sport den Tag. Also mied ich einschlägige Übungen, machte aber ansonsten weiter wie bisher. Bald breitete sich ein Ziehen in Richtung Unterarm aus, der ganze Arm wurde empfindlich, die Schulter begann zu schmerzen, ich schlief schlecht. Das alles fand zu dem Zeitpunkt statt, als ich etwas über periphere und zentrale Sensitivierung lernte. Bei diesem Prozess ist die ursprüngliche Verletzung schon längst ausgeheilt, aber das Warnsignal schrillt weiter. Es ist der Zeitpunkt, ab dem Schmerzen schwerer zu behandeln sind und das eigentliche medizinische Problem beginnt. Damit hatte eine Art unfreiwilliger medizinischer Selbstversuch begonnen. Wie lange würde der Schmerz anhalten, und würde er gar chronisch werden? Und was würde ich tun können, wenn der Schmerz nicht mehr verschwände? Was tun Menschen, die solche Probleme nicht mehr losgeworden sind?

Ich fuhr nach Mainz, denn dort, am Schmerz-Zentrum des Deutschen Roten Kreuzes, war einst die erste interdisziplinäre Schmerzklinik Deutschlands gegründet worden. In dieser Einrichtung arbeiten Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten und Pflegepersonal eng mit den Patienten zusammen. Sie gehen chronische Schmerzen gleich von verschiedenen Seiten an (Kapitel 6). Besonders in der Tagesklinik herrscht eine fast gelöste Atmosphäre. Es sind viele Menschen versammelt, die vor lauter Schmerzen keinen Ausweg mehr wissen. Die Klinik ist ihre letzte Hoffnung. Hier lernen sie, dass Schmerz mehr ist als ein einfacher Alarm. Die psychische Verfassung des Menschen ist an dieser Empfindung ebenso beteiligt wie seine Empfindlichkeit gegenüber Stress oder seine soziale Umwelt. Alle Patienten in den Mainzer Klinik werden auf die eine oder andere Weise mobilisiert, sie erhalten psychologische Unterstützung und lernen, dass sie oft noch mehr können, als sie sich selbst zumuten. Fast könnte man denken, dass mit der Existenz solcher Kliniken nichts mehr schiefgehen könne. Aber erstens profitiert nicht jeder von dieser Art der Behandlung, und zweitens übersteigt der Bedarf an interdisziplinärer Behandlung bei weitem das mögliche Therapieangebot. In Mainz beträgt die Wartezeit Monate. Unterdessen halten sich die Patienten mit Medikamenten und notfalls Operationen über Wasser. Leidet jemand unter Schmerzen, die nicht erklärt werden können, sieht er sich auch heute noch dem Verdacht ausgesetzt, er bilde sich den Schmerz nur ein oder, schlimmer noch, er täusche ihn vor. Ein Diskriminierung, gegen die Paul Nilges zeit seines Berufslebens angegangen ist. Zum Stressabbau lud mich der Psychologe sogleich zu einem Drei-Brücken-Lauf über den Main ein. Mein Ellenbogen tat noch weh, aber die Beine waren unbeschadet, also lief ich mit.

Früher waren die stärksten bekannten Schmerzmittel, die sogenannten Opioide, Menschen mit unerträglichen Schmerzen vorbehalten, die kurz vor dem Tod standen. Heute erhalten immer mehr Menschen diese Mittel und das, obwohl sie vielen kaum mehr helfen. In den USA hat die unkritische Verschreibung bereits zur Krise geführt. Jedes Jahr sterben dort mehr als 16.000 Menschen durch Opioide, die ihnen ein Arzt verschrieben hat (Kapitel 7). In den USA hat das Umdenken eingesetzt, und nun schlägt das Pendel wieder in die andere Richtung. Manche Menschen, die diese Schmerzmedikamente dringend bräuchten, bekommen sie nicht mehr. In Deutschland ist die Abgabe der Opioide sehr viel stärker reguliert, trotzdem sorgt die großzügige Verschreibung auch unter deutschen Ärzten für Kontroversen. Eine der ersten Maßnahmen bei den stationär aufgenommenen Patienten in Mainz ist deshalb oft der Opioid-Entzug.

Die Ärzte stecken in der Klemme. Patienten stürmen ihre Praxen mit Rücken-, Knie- oder Kopfschmerzen, und nichts hilft ihnen auf Dauer. Es fehlt an Schmerztherapeuten, es gibt nur wenige Schmerzkliniken, in denen mit Bewegung, Medikamenten und Psychotherapie gleichzeitig das Problem angegangen wird. Nicht jeder ist zufrieden mit dem neuen, biopsychosozialen Ansatz. Die Ärzte nicht, weil es ihnen leichter fällt, ein Rezept auszustellen, als den Patienten umfassend zu behandeln; die Patienten nicht, weil sie das Stigma fürchten, das mit dem Wort »Psychotherapie« einhergeht; und manche Schmerzformen reagieren kaum auf Analgetika. So wächst die Hoffnung auf ein magisches Wundermittel, das gut wirkt und selbst bei Daueranwendung wenige Nebenwirkungen hat (Kapitel 8). Weltweit arbeiten Wissenschaftler an solchen Problemlösern. Es sind Forschungslabore wie Granta Park bei Cambridge, das der Pharmakonzern Pfizer unterhält, das Center for Sensory-Motor Interaction im dänischen Aalborg, eine Art Testparcour für neue Medikamente, und die Nachfolger von Ronald Melzack in Montreal, die mit aller Macht unter anderem versuchen, Schmerzgene dingfest zu machen.

Was sind das für Menschen, die sich freiwillig mit so einem unangenehmen Thema beschäftigen? Anders, als sich vielleicht vermuten lässt, sind es keine Ärzte, Psychologen oder Wissenschaftler, die angesichts der Schwere ihres Sujets gramgebeugt sind. Zunächst einmal sind es Menschen mit besonders weit gefächerten Interessen. Der Molekularbiologe mag für lange Zeit nur ein einzelnes Molekül studieren oder der Kernphysiker sich mit der Suche nach einem extrem seltenen Elementarteilchen begnügen. Der Schmerzforscher aber muss immer den ganzen Menschen in den Blick nehmen. Geistes- und naturwissenschaftliche Aspekte sind gleichermaßen wichtig. Psychologen müssen sich in die Physiologie des menschlichen Körpers einarbeiten, der Physiologe umgekehrt psychologische Grundkenntnisse erwerben. Das setzt eine überdurchschnittliche Offenheit gegenüber den Konzepten anderer Fachdisziplinen voraus. Deshalb hat dieses Fach manch außergewöhnliche, ja bisweilen geradezu exzentrische Charaktere hervorgebracht. John Bonica – einer der Begründer der modernen Schmerztherapie – war in seinem Vorleben Catcher, Ronald Melzack, der eine bahnbrechende neue Theorie entwickelte, schrieb nebenbei Kinderbücher, und sein Partner Patrick Wall war ein glühender Sozialist, der einem Whiskey nie abgeneigt war und einen Thriller verfasste, dessen Klappentext einiges versprach: »Dies ist ein brillanter, origineller und lustiger Roman darüber, was geschieht, wenn eine Gruppe sehr intelligenter Menschen das Gesetz in die eigene Hände nimmt und gegen das Böse kämpft.«

Solange Schmerz vor allem noch als körperliches Phänomen gesehen wurde, waren im vergangenen Jahrhundert die Männer auf dem Feld der Schmerzforschung tonangebend. Als Ronald Melzack und Patrick Wall das Fach für die Psychologie und die Hirnforschung öffneten, rückten Frauen an die vorderste Forschungsfront: Ruth McKernan, Forschungsleiterin bei Pfizer; die physiologische Psychologin Herta Flor, Wegbereiterin der Gate-Control-Theorie in Deutschland; Irene Tracey, die Königin der bildgebenden Verfahren; und international renommierte Wissenschaftlerinnen wie die deutschen Katja Wiech in Oxford, Petra Schweinhardt in Montreal oder die Placeboforscherin Ulrike Bingel in Essen. Sie alle eint das Faible für Lebensforschung in all seinen Facetten, von der individuellen Psychologie über die harte Neurowissenschaft bis hin zur sozialen Dimension des Schmerzes.

Der Nachfolger von Ronald Melzack in Montreal ist Jeff Mogil. Der ausgebildete Psychologe sucht nach Schmerzgenen und studiert, wie Laborbedingungen sich auf die Schmerzexperimente mit Mäusen auswirken. Wie alle Menschen, so sind auch Schmerzforscher nicht vor Schmerzen gefeit. Und wie sich schnell herausstellte, schützt das Wissen um die Vorgänge nicht immer vor allzu menschlichen Reaktionen. Jeff Mogil zum Beispiel verspürte eines Tages einen heftigen Stich im Kreuz. Ganz offensichtlich meldete sich hier eine seiner Bandscheiben. Am Nachmittag flog der Genforscher unter Qualen nach New York zu seinen beiden Schwestern, und das gab ihm die Gelegenheit für ein kleines Experiment in eigener Sache. Eine seiner Schwestern beherrschte die Kunst der Akupunktur und setzte flugs ein paar Nadeln. Die andere hatte im Medikamentenschrank noch etwas Oxycodon liegen, ebendas Opioid, das durch Überverschreibung in den USA ins Gerede gekommen ist. Also schluckte Mogil am Tag nach der Nadelsitzung noch ein paar Pillen. »Nach meiner Erfahrung war das Oxycodon nicht besser als die Akupunktur«, erinnerte er sich, »aber ich zog das Oxycodon vor, weil die Akupunktur weh tat und weil das Medikament länger wirkte.« Nach drei Stunden habe der Effekt der Nadeln nachgelassen, die Tabletten hielten zwölf Stunden. »Wenn ich die Intensität des Schmerzes hätte angeben sollen, wäre sie nach beiden Behandlungen ungefähr gleich gewesen«, sagte Mogil, »aber mit Oxycodon machten sie mir nicht mehr so viel aus. Es half in Bezug auf die Bewertung, aber nicht so sehr sensorisch.«

Dies blieb nicht die einzige Gelegenheit, bei der dieser Forscher sein eigenes Schmerzverhalten genau studieren konnte. Eines Morgens wachte er mit heftigen Schmerzen auf der Innenseite eines Oberschenkels auf. »Ich bin also zu meiner Frau gegangen, und die sagte: 'Mist, ich glaube, du hast eine Hernie'.« Seine Frau hatte als Chiropraktikerin gearbeitet und erklärte ihrem Mann, was das bedeutet: Manchmal träten Eingeweide durch eine Lücke in der Bauchwand, und die einzige Behandlungsmöglichkeit sei, die Lücke operativ wieder zu verschließen. »Danach musst du vier Wochen stramm auf dem Rücken liegen«, sagte sie noch. Mogil hatte ein kleines Kind, er und seine Frau arbeiteten siebzig Stunden in der Woche. »Ich bin ein wenig ausgeflippt«, sagte Mogil. Er rief eine Praxis an und bekam sofort einen Termin. Dort nahm ihn ein Arzthelfer auf. »Das ist nicht der typische Ort für eine Leistenhernie

Aber wer weiß …«, sagte der Helfer nach kurzer Inspektion, »wir sollten Dr. Jones fragen.« Dr. Jones kam und sagte: »Das ist nicht die typische Lage für eine Leistenhernie. Aber wer weiß … Wir fragen Dr. Smith ein Stockwerk höher. Er ist Experte in so etwas.« Inzwischen tat es wirklich höllisch weh. Dann kam Dr. Smith. Der sah den Patienten nur flüchtig an und sagte: »Das ist die falsche Stelle, es ist keine Leistenhernie. Sie haben einen Muskelkrampf. Gehen Sie zur Arbeit, am Nachmittag ist das wieder in Ordnung.« - »Ich schwöre, noch bevor ich im Auto saß, war der Schmerz komplett verschwunden«, erzählte Mogil, während er bequem auf dem Sofa in seinem Büro lümmelte. »Innerhalb von dreißig Sekunden war er von einer Sieben auf der Schmerzskala auf eine Eins zurückgegangen, nachdem Dr. Smith Entwarnung gegeben hatte und ich wusste, dass ich nicht vier Wochen auf dem Rücken liegen muss.« Die erwarteten Konsequenzen einer Operation hatten den Schmerz verstärkt. Natürlich, beeilte sich Mogil zu sagen, habe es sich um einen akuten Schmerz gehandelt. Chronischer Schmerz sei eine ganz andere Liga.

Die Selbstbeobachtung und der Selbstversuch haben eine lange Tradition unter Forschern. Der englische Chemiker Humphry Davy atmete 1799 selbst zum ersten Mal analgetisch wirkendes Lachgas ein. »Ich war mir der Gefahren bewusst.« Erst spürte er einen leichten Druck in den Muskeln und dann ein sehr angenehmes Kribbeln, das sich über die Brust und seine Extremitäten ausbreitete und schließlich einen unwiderstehlichen Tatendrang auslöste. Viele Schmerzforscher sammelten weniger angenehme Erfahrungen. Sie legten Nerven an sich frei und reizten diese oder traktierten sich mit Stromschlägen. Ronald Melzack ließ sich Akupunkturnadeln in die Zehen stechen, und eine brach dabei ab. Der schlaksige Direktor des dänischen Center for Sensory-Motor Interaction (SMI), Lars Arendt-Nielsen, läuft Marathon und lässt auch sonst keine Gelegenheit aus, den Schmerz an sich zu studieren. Als renommierter Wissenschaftler fliegt er oft über den Atlantik. »Fünfzehn Minuten nach dem Start gab es jedes Mal dieses knackende Geräusch«, erinnerte sich Arendt-Nielsen, »und dann hatte ich diese entsetzlichen Schmerzen in meinem Kiefer. Die ganze rechte Gesichtshälfte tat weh, mir liefen die Tränen über die Wangen. Ich war völlig am Boden zerstört.« Ein halbes Jahr lang ging das auf transatlantischen Flügen so, und sein Zahnarzt konnte keine Ursache entdecken. Inzwischen war der Forscher verunsichert und fürchtete sich vor jedem längeren Flug. Er bemerkte, wie er nach und nach empfindlicher gegen Reize wurde und sich der Schmerz ausbreitete. »Das war sehr interessant«, sagte er mir. Er schwelgte in seinen Gedanken wie ein kleiner Junge, der sich an sein erstes Tretauto erinnert. Während des Fluges konzentrierte sich der Schmerzforscher voll und ganz auf dieses diffuse Gefühl in seinem Mund, und irgendwann entdeckte die suchende Zunge den Unhold. Ein Zahn war gebrochen.

Die Flüge waren noch für weitere Schmerzerkenntnisse gut. Immer wieder hatten Flugbegleiter Lars Arendt-Nielsen Decken gereicht, die sich während des Schlafs mit einer Klammer so an der Kleidung befestigen ließen, dass sie nicht herunterrutschten. Schon kam der Spieltrieb des Wissenschaftlers durch. Er zwickte sich mit der Klammer in den Finger und hängte sie schließlich an ein Ohrläppchen. Das schmerzte intensiv. »Interessant«, dachte der Däne wieder. »Zunächst tut es nicht weh, wenn ich sie aber länger hängen lasse, dann kommen die Schmerzen.« Das transatlantische Experiment führte schließlich dazu, dass der Däne die Befestigung als Instrument für standardisierte Schmerzprovokationen ohne Strukturschäden einführte. Inzwischen ist die Klammer ein properes Laborwerkzeug. »Man übt ein klein wenig Druck aus – aber wenn man es für zehn Minuten am Ohrläppchen lässt«, erklärte mir der Forscher, »dann bekommt man so etwas wie Spannungskopfschmerzen.« Darüber hinaus sei er schmerzfrei, sagte Lars Arendt-Nielsen gut gelaunt, und schlucke keine Medikamente. Das heißt, einmal doch. Im Selbstversuch hatte der noch junge Wissenschaftler mit einem Freund zusammen Codein eingeworfen und sich anschließend mit Nadeln traktiert. »Wir wollten sehen, wie sich das auswirkt. Also haben wir ziemlich viel Codein genommen«, erinnerte sich der Däne, »uns wurde ein wenig schwindelig.« Danach hatte Arendt-Nielsen völlig unvorbereitet eine Vorlesung gehalten und sich großartig gefühlt. Ein paar Jahre später beichtete ihm sein Freund und Kollege, dass er an jenem Abend einen leichten Autounfall gehabt hatte.

Ich selbst wollte ihm Rahmen meiner Recherchen wenigstens ein kleines Experiment wagen. Im SMI drapierten Doktoranden eine extrabreite Blutdruckmanschette um meinen Unterschenkel und setzten sie rhythmisch unter hohen Druck. Auf diese Weise erlebte ich, dass wiederholte Schmerzreize die Empfindlichkeit auf die gleich intensiven Reize steigern – ein klassisches Experiment der Schmerzforschung.

Lars Arendt-Nielsen und Jeff Mogil suchen eifrig nach einem neuen Hebel für die Schmerzbekämpfung. Und doch sind beide inzwischen nachdenklich geworden und sich nicht mehr sicher, wie sich dieses Ziel erreichen lässt. Die vorhandenen Wissenschaftsstrukturen sind nicht für die Erforschung eines komplexen Phänomens wie den Schmerz geeignet. Es überspannt viele Forschungsgebiete, Untersuchungen über chronische Schmerzen müssten extrem lange dauern, und Tierversuche geben nur einen ersten Anhalt, was wirklich helfen könnte. Die Leute würden über Schmerzgene forschen, weil sie dafür Fördergelder bekämen, sagt Jeff Mogil, der immerhin selbst auf diesem Gebiet einer der aktivsten Wissenschaftler ist. »Wir finden auffällige Gene in Mäusen und glauben, wir können dies für den Menschen übersetzen«, umschreibt er seine Arbeit, »denn dann haben wir eine Erfolgsgeschichte und können eine wissenschaftliche Arbeit publizieren.« Die Ergebnisse seien in sich schlüssig, aber zu bedeuten hätten sie noch lange nichts. So verwundert es nicht, dass die Grundlagenforschung zwar sehr viele interessante Ergebnisse und Studien zutage fördert, dass aber von diesen Erkenntnissen wenig am Krankenbett ankommt. Die praktischen Ärzte sind im Wesentlichen noch immer auf dieselben Therapiemethoden angewiesen wie ihre Kollegen vor einhundert Jahren.

Die meisten Wissenschaftler waren sehr dankbare, aufgeschlossene Gesprächspartner. Selbst hartnäckige Naturwissenschaftler respektieren die Einflüsse der Psyche auf das Schmerzempfinden, und doch sind sie ganz auf Moleküle, Gene und Neurone konzentriert. Zum Teil spiegelt diese Spezialisierung den enggesteckten Rahmen der modernen Forschung wider. Doktorarbeiten müssen nun einmal mit einem begrenzten Zeitbudget angefertigt werden, die Investoren wollen nicht ewig auf die Rendite warten. Zum Teil hoffen sie noch auf die Lösung des Problems Schmerz irgendwo in der Materie. Wenn es nur irgendeine objektive Nachweismethode für das subjektive Schmerzempfinden gäbe, dann ließe sich der richtige Schalter finden und umlegen. Dann könnte die Wirkung von Medikamenten genau beziffert werden, und endlich würden die Vorgänge im rätselhaften Gehirn verständlicher. All das verspricht eine spezielle Form der Kernspintomographie (Kapitel 9).

Die funktionelle Kernspintomographie (fMRI) ist zum Lieblingsinstrument der Schmerzforschung geworden. Mit diesen imposanten Geräten ist ein berührungsloser Blick in das denkende, fühlende Gehirn möglich. Mit einfacheren Varianten dieser Maschinen untersuchen Ärzte sonst die Knie, den Rücken oder das Gehirn. Mit Upgrades aber können Hirnforscher die Durchblutung von Gehirnarealen vermessen. Erfährt ein Proband einen Schmerzreiz, wird sein Gehirn an markanten Stellen aktiv. Also krabbeln viele Probanden in die enge Röhre des Kernspintomographen und verharren dort für eine Weile, während zum Beispiel Hitzesonden die Haut am Unterarm erwärmen. Als ich durch die Schneemassen in Montreal stapfte, sollte an der McGill University eine außergewöhnliche Patientin untersucht werden. Sie trägt nur den geheimnisvollen Namen G/L und ist einer von zwei Menschen, von denen bekannt ist, dass ihr die Nervenfasern für die Tiefensensibilität fehlen, mit denen der Körper ohne visuelle Kontrolle die Lage und die Bewegungen der Extremitäten feststellen kann.

Ein schwedisches Wissenschaftlerteam wollte herausfinden, auf welche Weise die Schädigung der Nerven das Schmerzempfinden der Patientin G/L verändert hatte. Ein weiterer Patient in England kam nicht dafür in Frage, weil er im engen Tomographen jedes Mal Panikattacken bekam. Zum Einrichten der Apparatur in Montreal wurde ein Freiwilliger gesucht. Ich meldete mich. Die Forscher sprangen um mich herum, verlegten Kabel, bauten Projektoren auf und montierten eine Hitzesonde an meinem rechten Unterarm. Kurzer Heiztest. Ich spürte das Brennen auf der Haut. Dann sollte ich mich in die Horizontale begeben. Viele Patienten kennen die Prozedur, für mich war es das erste Mal. Zunächst wurde mein Kopf in einer engen Schale mit Schaumstoff fixiert, dann stopfte mir jemand Stöpsel in die Ohren, und als sich schließlich noch eine Spule einen Zentimeter über meiner Nase senkte, spürte ich die erste Unruhe. Zwei Stunden lang sollte ich wie lebendig begraben in diesem dröhnenden Gerät liegen. Die Tatsache, dass ich über einen Spiegel nach außen sehen konnte und man mir einen Alarmknopf in die Hand drückte, versöhnte mich nicht mit der Aussicht. Die Zeit war knapp bemessen, die Wissenschaftler waren nervös. Ich machte einen Rückzieher und schälte mich aus meiner Kopfschale. Eine Forscherin streifte einen der blauen Anzüge über, wie sie auf Intensivstationen getragen werden, nahm meinen Platz ein und ertrug das stundenlange Liegen klaglos. Fast hätte ich es verpatzt.

Das fMRI ist ein nicht unumstrittenes Instrument. Viele zweifeln an der Aussagekraft der bestechend detaillierten Bilder, die diese Geräte liefern. Aber die Methode ist nun einmal in der Welt, und so stürzen sich bereits Rechtsanwälte und Versicherungsunternehmen darauf und wollen das fMRI als Lügendetektor einsetzen. Die Wissenschaftler, mit denen ich sprach, lehnen diese Verwendung ab. Zwar ließe sich mittels fMRI sehr genau sagen, wenn jemand Schmerzen hat, aber wenn die entsprechenden Muster fehlen, kann man eben nicht mit Sicherheit behaupten, dass dieser Mensch gerade keine Schmerzen empfindet. So bleiben das fMRI und ähnliche bildgebende Verfahren zunächst Instrumente für die Grundlagenforschung. Sie zeigen, wie das Gehirn die Lokalisation und Intensität eines Reizes, die unangenehmen Emotionen und die kognitive Bewertung zum eigentlichen Schmerzempfinden zusammensetzt.

Damit stoßen die modernen Geräte auf ein Gebiet vor, das bisher der Psychologie vorbehalten war. Plötzlich wird deutlich, wie Stress und Depressionen die Schmerzempfindung verstärken und warum manchmal Antidepressiva gegen Schmerzen besser helfen als Paracetamol. Psychologen und Ärzte entdecken, dass physischer und psychischer Schmerz sich neurobiologisch sehr ähneln und zwischenmenschliche Kontakte sich auf das Schmerzempfinden auswirken. Deutlich wird auch, wie flexibel und plastisch das Gehirn reagiert. Schmerz ist ein Lehrmeister, und lernen kann nur ein System, das sehr veränderbar ist. Je umfassender dieses System auf die Umwelt reagieren kann, desto sicherer leitet es das Individuum durch das Leben. Das heißt, nicht nur physische Gefahren stehen im Zentrum, sondern ganz allgemein Umstände, die das Überleben in anderer Weise beeinträchtigen könnten. Fällt die Analyse positiv aus, wird das Gehirn einen Impuls zum Handeln setzen, indem es ein mehr oder minder ausgeprägtes Unwohlsein generiert. Dies ist das Wesen der Emotion, die uns auf etwas Essenzielles hin oder von ihm weg bewegt. Mittlerweile sehen manche Forscher den Schmerz selbst als eine Emotion an (Kapitel 10). Das Schmerzempfinden sollte mithin unmittelbar auf emotionale Reize reagieren. Eine emotionale Überforderung kann dieses System aktivieren, umgekehrt können »emotionale Therapieformen« Menschen mit chronischen Schmerzen helfen, denen sonst nichts hilft. Wenn ein schmerzgeplagter Musiker sein geliebtes Instrument wieder zur Hand nimmt, bewirkt das mitunter mehr als eine Tablette oder eine Verhaltenstherapie. Doch selbst in der interdisziplinären Therapie kommen die Emotionen bisher zu kurz. Die Medizin tut sich schwer mit solchen weichen Parametern. So kann es geschehen, dass anstelle einer Psychotherapie, der Aufarbeitung von Lebensverhältnissen, der Analyse von Überforderungen und Stressmomenten im Leben ein technisches Hilfsmittel zum Zug kommt.

In einem Café traf ich einen Berater mittleren Alters mit extremen, einseitigen Kopfschmerzen, die ihn bis zu einem Dutzend Mal am Tag überfielen. Diese Cluster-Kopfschmerzen attackierten ihn mit Vorliebe kurz nach dem Einschlafen – weswegen er eine Zeitlang kaum mehr wagte, sich hinzulegen. »In dieser Phase habe ich einmal das Wohnzimmer auseinandergenommen«, sagte er. Jahrelang probierten Ärzte alle möglichen Medikamente aus, bisweilen in Höchstdosen, aber mit mäßigem Erfolg. Er habe die ersten Jahre immer gehofft, dass irgendwann das Wundermittel komme: »Und dann nimmst du jeden Tag eine Pille, und der Käse ist gegessen.« Aber dieser Wunsch ging nie in Erfüllung. »Und dann kommt irgendwann der Punkt, wo das Leben nicht mehr lebenswert ist«, sagte er so beiläufig wie möglich und nahm einen Schluck Mineralwasser, »wo man denkt, was willst du noch hier? Du hast nur noch Schmerzen, du hast keinen Erfolg mehr – weil ich ja nicht mehr arbeiten konnte. Ich hatte einfach keine Lebensqualität mehr. Ich musste beim Essen aufpassen, durfte nichts trinken und nicht ausgehen, weil ich nicht wusste, wann die nächste Attacke kommt.« Er dachte daran, seinem Leben ein Ende zu setzen. Was ihm schließlich half, war Sauerstoff. Jetzt geht der Berater nicht mehr ohne eine Ein-Liter-Flasche Sauerstoff aus dem Haus, legt sie in den Kofferraum seines Wagens, nimmt sie mit aufs Hotelzimmer und hat die Anfälle mit ein paar tiefen Zügen aus dieser Flasche unter Kontrolle.

Manchmal geht es nicht anders, und es bleibt nur eine materialistische Lösung wie Sauerstoff oder eine elektrische Sonde, die ins Gehirn geschoben wird (Kapitel 11). In Jena sprach ich mit einem Patienten, der mit Hilfe dieser Tiefenhirnstimulation hoffte, seine extremen Gesichtsschmerzen in den Griff zu bekommen. Er wirkte sehr aufgeräumt und hatte klare Vorstellungen davon, was gut für ihn war. Er hatte in einem seiner früheren Berufe mit Elektrik zu tun, und die Behandlung mit Strom war für ihn extrem plausibel. Es ist das Prinzip, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Schon im 19. Jahrhundert hatten Wissenschaftler mit diesem Ansatz experimentiert. Wenn Nerven die Schmerzsignale elektrisch weiterleiten, dann müsste Strom, auf die richtige Weise verabreicht, das Signal modifizieren können. Jetzt erlebt diese Idee als Hightech-Lösung mit Gehirnsonden und digitalen Impulsgebern ihren zweiten Frühling. Ob der Jenaer Patient für sich die richtige Lösung gefunden hatte, war noch nicht sicher.

Bildlich gesprochen hatte ich zu diesem Zeitpunkt wie in Norwegen alle fünf Gipfel erklommen. Inzwischen waren die Beine nicht mehr so müde, die Aussicht auf das hinter mir liegende Gelände beeindruckend, auch wenn gelegentlich Nebel und Wolken die Sicht behinderten. Einst hatten Ärzte dem Schmerz keine große Bedeutung beigemessen. Dann glaubten sie lange Zeit, es sei nur ein einfaches Warnsignal, das sich vergleichsweise gut in den Griff bekommen lasse. Mittlerweile erscheint dieses Phänomen als schillernder, unfassbarer Begleiter des Lebens, der sich selbst raffinierten Gegenangriffen erfolgreich entzieht.

Ich war verblüfft, dass Forscher, die seit Jahrzehnten über dem Thema brüten, oft Mühe haben, dieses Phänomen wirklich zu begreifen. Ja, in ihren Bemerkungen schimmerte eine gewisse Demut durch. Nur wer in wirklich alle Richtungen flexibel bleibt, hat eine Chance. Diese Offenheit gegenüber den vielfältigen Einflüssen auf das Schmerzempfinden zeichnet die guten Schmerzforscher aus. Sie machte sich auch auf andere Weise bemerkbar. Ob Naturwissenschaftler oder Psychologe, alle waren zugänglich für ungewöhnliche Schmerztherapien, auch bei sich selbst. Die Psychologin Ann Gamsa aus Montreal probierte es mit Aufmerksamkeitstraining; ihr Kollege Ronald Melzack ließ sich im Selbstversuch Akupunkturnadeln in die Füße stechen und erhielt Elektroschocks am Kinn; der Däne Lars Arendt-Nielsen ließ sich hypnotisieren; die Iranerin Parisa Gazerani schwört auf Yoga; die Hebamme Pia Steinbrück setzt erfolgreich Hypnose ein, und der in allen wissenschaftlichen Kniffen bewanderte Yoram Shir empfiehlt seinen Patienten mitunter ernsthaft Handauflegen. »Wenn die Patienten mich fragen, was ich tue, dann sage ich: ‚Das meiste ist Voodoo-Medizin‘«, erklärte mir Shir in seinem Wohnzimmer. »Und dann lachen sie. Und ich sage: ‚Jetzt, wo sie lachen, sind wir auf gleicher Augenhöhe.‘«

Gleich eine ganze Reihe nichtmedizinischer Strategien fuhr der inzwischen lange pensionierte deutsche Physiologe Manfred Zimmermann auf. Wenn in seiner aktiven Zeit Tierversuche anstanden und er tagelang durcharbeiten musste, hatte er oft Migräne. Zimmermann aber wollte sich nicht in einem dunklen Zimmer verschanzen. »Ich habe bis zum Erbrechen Liegestütze gemacht«, erinnerte er sich, »danach war alles wieder in Ordnung.« In weniger schweren Fällen lenkte sich der Physiologe, der sonst über Mikroelektroden Stromimpulse durch Nervenfasern jagte, mit Blockflötenspiel ab. Und wenn er einmal im Hotel logierte, legte er sich in ein heißes Bad und füllte sich mit Kaffee ab. Obwohl Menschen im Einzelfall oft auf vorwissenschaftliche Techniken zurückgreifen, sind bis auf die Akupunktur, die Hypnose, die achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, Bewegung, das Yoga und Tai-Chi viele andere »Gegenmittel« ihren Wirksamkeitsnachweis schuldig geblieben. Für viele nichtpharmakologische Behandlungsformen findet sich keiner, der Studien finanzieren würde. Welche Pharmafirma sollte schon die Wirkung von Liegestütze gegen Kopfschmerzen untersuchen wollen? Andere Methoden sind oft trotzdem wirksam. Weil sich dennoch nichts Gesichertes über die meisten esoterischen Verfahren sagen lässt, habe ich sie weitgehend ausgespart. Der Schmerz ist subjektiv. Ich würde sonst nicht so argumentieren, aber in diesem Fall gilt wohl doch: Nach der Abklärung gravierender körperlicher Schäden zählt am Ende allein der Erfolg. Wie wichtig der Kopf in der Schmerzbekämpfung ist, weiß aus eigener Erfahrung auch Ulrike Bingel, Placeboforscherin und Neurologin an der Universität Duisburg-Essen. »Ich bin sehr schmerzempfindlich«, sagte sie mir, »und kann mit Schmerzen ganz schlecht umgehen.« Wenn sie ausnahmsweise einmal Kopfschmerzen plagen, greife sie zur Tablette. »Die wirkt nach zehn Minuten«, sagte Bingel, »obwohl das pharmakologisch eigentlich nicht sein kann.« Der Placebo-Effekt funktioniere sogar wunderbar bei Placeboforschern.

Adäquate Antworten auf Schmerzfragen sind nicht das Vorrecht der Medizin, sie liegen oft außerhalb des Gesundheitswesens (Kapitel 12). Der Mensch ist von Geburt an ein Mängelwesen, das heißt, er ist auf die Hilfe von anderen angewiesen. Jede Bedrohung des Gruppenzusammenhalts ist indirekt eine Bedrohung für das Leben des Einzelnen. Im Lauf der Evolution ist auf der Grundlage des Warnsystems vor körperlichen Schäden eines vor sozialen Zurückweisungen entstanden, das weitgehend dieselben Hirnstrukturen nutzt. Aus diesem Grund sind seelische und physische Schmerzen im Wesentlichen dasselbe. Soziale Zurückweisung, Isolation oder Ausgrenzung verstärken den Schmerz, die Gruppe ist schmerzlindernd. So liegt der Verdacht nahe, dass eine individualistische, materialistische Gesellschaft die Verbreitung des Schmerzes fördert. Auf diese Weise hat die Befreiung des Schmerzes aus dem religiösen Kontext uns in eine neue Schmerzfalle geführt. Die säkulare, liberale Gesellschaft gibt ihren Mitgliedern alle Möglichkeiten, den richtigen Weg selbst einzuschlagen. Sie wählen die Tablette oder die Operation und geben damit die Kontrolle freiwillig an die Medizin ab. Ein erster Akt der Befreiung wäre es, sich nicht dem Dogma der Schmerzfreiheit um jeden Preis zu unterwerfen; so weit es geht, die Geschichte, die der Schmerz erzählen will, zu begreifen; ja den Schmerz manchmal auszuhalten. Wenn Emotion und Empathie wichtige Faktoren in der Schmerzentstehung sind, dann haben wir es selbst in der Hand, gleichsam prophylaktisch jenseits der Medizin den Schmerz zu bändigen.

Ein Jahr ist vergangen, und das Buch ist fertig. Nach rund siebzig Litern scharfer Tom Ka Gai, rund tausendzweihundert bisweilen quälenden Kilometern Lauftraining und vielen Tonnen Gewichten, die ich gestemmt habe, ist es Zeit für eine persönliche Schmerzbilanz. Die Schärfe in der Suppe spüre ich kaum mehr – ein typischer Gewöhnungseffekt. Das Laufen ist mir zu einer Angewohnheit wie das Zähneputzen geworden, die den Stress erheblich abbaut. Der stechende Schmerz im rechten Ellenbogen ist nach Monaten trotz Training fast vollständig verschwunden. Aber ich muss mich vorsehen, eine falsche Übung, und sofort ist diese angeschlagene Stelle wieder hochempfindlich.

Ich dachte, damit wären meine eigenen Schmerzerfahrungen fürs Erste erledigt. Nur eine Woche nachdem ich das fertige Manuskript an meinen Lektor geschickt hatte, musste ich mich unerwartet von einem Backenzahn trennen. Zwei Tage zuvor hatte ich eine Schwellung am linken Unterkiefer bemerkt. Mein Zahnarzt brauchte noch nicht einmal drei Sekunden für die Diagnose: Der überkronte Zahn über der Beule sei wohl gerissen, Bakterien hätten sich in die Tiefe vorgearbeitet und nun für die deutlich sicht- und fühlbare Ausbuchtung gesorgt. »Ich habe schon lange nicht mehr so ein Ding gesehen«, meinte er noch und bot sich an, den Übeltäter sofort zu extrahieren. Wie schon gesagt, ich bin Herzpatient und muss deshalb vor solchen Eingriffen ein Antibiotikum einnehmen. Das verschaffte mir in diesem Fall etwas Zeit. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dieses Körperteil in der nächste Minute zu verlieren. Doch zwei Tage später war es so weit. Es war eine gute Gelegenheit, das erworbene Schmerzwissen anzuwenden. Ich hatte Angst. Gespannte negative Erwartung verstärkt Schmerzen, also versuchte ich, nicht an die negativen direkten Konsequenzen der Extraktion zu denken. Ich würde einen gefährlichen, schwächenden Eiterherd verlieren, und das war gut so. Ablenkung hilft: Ich wollte mir also eine schöne Szenerie am Strand vorstellen. Aber diese Imagination war gar nicht nötig – ich wollte ja diese Entzündung dringend loswerden. Der Zahnarzt tat seinen Teil: Weder versprach er, dass es nicht weh tun würde, noch warnte er mich. Er blieb gelassen distanziert. Als die Betäubung wirkte (ja, ich ließ mir eine geben), ging alles sehr schnell. In kürzester Zeit war der Übeltäter entfernt. Ich konnte mich noch zu einem matten Scherz durchringen: »Man muss auch mal loslassen können.« Als die Betäubung nachließ, nahm ich zwar keine Schmerztablette, stellte aber die Arbeit ein und legte mich zu Hause auf das Sofa. So weit klingt der Zwischenfall nach einer erfolgreichen Anwendung meines Wissens. Das Problem lag indes woanders. Vor ein paar Monaten hatte ich etwa einen Monat lang Zahnschmerzen gehabt und sie im Eifer des Buchschreibens (und dank eines falschen Durchhaltewillens) einfach ertragen. Als dann die Entzündung die Knochenhaut überschritten hatte, ließ der Schmerz nach. Hätte ich damals sofort reagiert, wäre ein größerer Defekt des Unterkiefers ausgeblieben. Jetzt stehen mir umfangreiche Aufbauarbeiten bevor. Der Schmerz ist ein Warnsignal, ein unerklärlicher starker Schmerz ein guter Grund, den Arzt aufzusuchen. Ich hätte es besser wissen müssen.

Insgesamt darf ich mich glücklich schätzen, dass meine Gene, meine frühkindlichen Erfahrungen und meine Persönlichkeit mich gegen die Entwicklung von chronischen Schmerzen wappnen. Es hätte aufgrund meines Herzfehlers auch anders kommen können, und die frühen Traumata hätten meine Toleranz gegenüber Schmerzreizen gesenkt. Vielleicht liegt dies auch ein wenig an der Zeit, in der ich aufgewachsen bin. In den 1960er Jahren kletterte ich im Garten auf Bäume, stürzte hier und dort und lernte alle Lektionen, die der Schmerz bereithält. Wie mir scheint, leben Kinder heute abgeschirmter und lernen eine andere Lektion: Schon bei kleinen Verletzungen gibt es homöopathische Globuli oder sogar Schmerzmittel. Eine gutgemeinte frühe Konditionierung, die später ihre Fortsetzung findet – aber das ist nur eine Mutmaßung.

Ich hatte eher die psychischen Qualen in dieser langen Zeit gefürchtet. Doch vor dem einen wie dem anderen schützten die Rituale (täglich dieselbe Suppe), die Bewegung (an sechs Tagen in der Woche Sport), das Gefühl der Selbstwirksamkeit (der selbst strukturierte Arbeitstag) und die Unterstützung durch Freunde. So habe ich die Zeit ohne physische oder psychische Blessuren durchstanden. Nur einmal rammte ich mir bei einer Übung ein Knie in den linken Ellenbogen, direkt auf den Nervus ulnaris, besser bekannt unter dem Namen »Musikantenknochen«. Es verschlug mir vor Schmerz den Atem, mir wurde zunächst heiß, dann kalt. Und solche überwältigenden Schmerzen und noch viel intensivere ertragen manche Menschen fast täglich. Das ist unvorstellbar grausam und erklärt, warum manche von ihnen kurz vor dem Suizid stehen.

Vor der Lektüre des Buchs möchte ich Ihnen noch ein paar Warnungen und Einschränkungen zumuten. Ich habe nur zwei Jahre als Arzt praktiziert, und das ist fast zwei Jahrzehnte her. Durch die andauernde Beschäftigung mit Medizinthemen ist seitdem sicher einiges an Wissen dazugekommen, aber mir fehlt die Praxis. Inzwischen nähere ich mich medizinischen Themen oft als gut informierter Laie und als neugieriger Journalist. Sollte in einer Bahn oder im Flugzeug jemand einen Herzinfarkt erleiden, könnte ich darüber einen Artikel verfassen. Ob ich medizinisch mehr als eine stabile Seitenlage hinbekäme, ist sehr fraglich. Wo immer möglich, habe ich Experten befragt und Quellen zusammengetragen und auf diese Weise mir einen Überblick über die aktuelle Lage der Schmerzforschung verschafft. Innerhalb der vergangenen zwei Jahre sind fast zweitausend Studien auf die Festplatte meines Computers gelangt. In meinen Regalen und in meinem Rechner haben sich rund dreihundert Bücher zum Thema und rund um das Thema versammelt. Ich habe viele Interviews telefonisch oder von Angesicht zu Angesicht geführt und ausgewertet. Und doch mag es sein, dass ich manche Dinge falsch verstanden oder eingeordnet habe. Gerne heißt es, etwas sei »wissenschaftlich bewiesen«. Mit diesem Hinweis soll eine letztgültige Wahrheit behauptet werden. Aber Wissenschaft ist nie statisch. Die Wahrheiten von heute können die Irrtümer von morgen sein. In Kontroversen wie der über die Existenz einer Schmerzmatrix, der objektiven Nachweisbarkeit des individuellen Schmerzempfindens oder der Fähigkeit zur Schmerzempfindung von Komapatienten habe ich das kenntlich gemacht und mich nach Analyse der vorgebrachten Argumente für eine bestimmte Interpretation der Fakten entschieden. Ich tue das jeweils aus guten Gründen und gehe damit dennoch das Risiko ein, auf der falschen Seite gelandet zu sein. Daher kann dieses Buch weder eine ärztliche Beratung bei Schmerzen ersetzen noch als Fachbuch dienen. Und noch eine Einschränkung: Es gibt eine Art unausgesprochene Übereinkunft in einer Gesellschaft, welche Schmerzen wie lange geäußert werden dürfen. Gerade Menschen, die keine auffälligen Verletzungen haben und dennoch lange Zeit über Schmerzen klagen, werden oft stigmatisiert. Schmerz ist eine sehr private und manchmal heikle Angelegenheit, und deshalb sind alle Patientennamen und Details zu ihrem Leben in diesem Buch deutlich verändert. Natürlich habe ich mit Vertretern der Pharmaindustrie gesprochen. Aber ich habe alle Reisen und Recherchen zu diesem Buch selbst finanziert und keinerlei finanzielle oder materielle Zuwendung von der Pharmaindustrie oder von Medizingeräteherstellern erhalten.