Schmetterlingspuppe - Nana Schweitzer - E-Book

Schmetterlingspuppe E-Book

Nana Schweitzer

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Beschreibung

Sie hassen sich, bekriegen sich und brauchen einander doch: Die eine ist eine strebsame Angestellte einer Modefirma, immer pünktlich, adrett, seriös. Die andere ist ein Wesen der Nacht, eine Herumtreiberin, die Drogen nimmt und ungeniert Sex mit Fremden hat. Obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten, kommen die zwei Frauen nicht voneinander los - zwangsweise, denn sie teilen sich denselben Körper. In ihrem autobiografischen Bekenntnis erzählt Nana Schweitzer von Liebe, Loyalität und den Gespenstern ihrer Kindheit. Schmetterlingspuppe ist der autobiografische Roman von Nana Schweitzer - das authentische Tagebuch einer Selbstzerstörung und Selbstfindung, das Mut macht. Dies ist Nana Schweitzers eigene Geschichte, die Geschichte einer Frau mit zwei Seelen.

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Seitenzahl: 320

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Nana Schweitzer

Schmetterlingspuppe

Autobiografischer Roman

INHALT

Schmetterlingspuppe

Es fängt nicht mit dem Tag an, nicht mit blauem Himmel und Vogelgesang. Zuerst bricht die Nachtüber mich herein und breitet ihr Schattenreich aus.

Beständig, hoffnungslos und dunkel ihrem Wesen nach ist sie lange die einzige Existenzform für mich, und ich fange an zu glauben, dass es nichts gibt außer der Nacht.

Ich gewöhne mich an den Schmerz und die Furcht und den Verrat; all das nehme ich hin, ohne aufzubegehren, weil ich nichts anderes kenne.

Doch erst, als die Schwärze sich vollkommen verdichtet, sehe ich den Ausgang. Ich klettere, ich ziehe meinen Körper und den Geist hinaus in die Welt, in das Licht, in die Sonne und … ich sehe, dass sie schön sind und wert, geliebt zu werden, einzigartig und unverwechselbar.

Und es wird Tag, und ich lerne die Welt neu kennen, und ich lerne mich neu kennen, jeden Tag. Jeder einzelne davon ist so kostbar wie ein ganzes Leben.

Die Nacht

Dum spiro, spero.

(Solange ich atme, hoffe ich.)

CICERO

07.01. – Ich bin wieder da, ich bin in der realen Welt, und wie nicht anders erwartet, zerschmettert sie mich. Nach zwei Wochen tauche ich auf, und man sollte meinen, ich würde versuchen, Luft zu holen. Jedoch habe ich das Atmen verlernt.

Sie hatte unkontrollierbar und restlos zwei Wochen lang Besitz von mir ergriffen. Hinter ihr versteckt, vergaß ich, wie man selbstständig agiert. Wie ein Kind lerne ich heute im Eiltempo zu leben. Oder es zumindest gut genug vorzutäuschen. Ihre Stärke hatte mich mit der ganzen Wucht des Unterdrückten erschlagen. Sie hat mir keinen Platz gelassen, zwei Wochen lang war ich nur ihr Schatten …

… wir sind so verschieden, es ist ein Wunder, dass wir einander überhaupt verstehen können. Ich bin ein Kontrollfreak, muss alles vorwegplanen, immer funktionieren, perfekt in jegliche Gesellschaft hineinpassen. Ich bin eine Streberin, immer darauf aus, die Beste zu sein; jemand, der vollkommen in seinem Beruf aufgeht, sein Leben darauf ausrichtet, seine Freizeit dafür opfert, ohne es als Opfer anzusehen. Eine Maschine, vor allen menschlichen Regungen flüchtend, angsterfüllt über die Abgründe, die andere Seelen verbergen, angsterfüllt, etwas könne in mich hineinkriechen.

Sie hingegen ist ein personifizierter Abgrund. Sie ist süchtig, süchtig nach Sucht, sie stürzt sich vollkommen freiwillig in ihre Abhängigkeiten. Sie wird restlos von ihnen verschlungen, und genauso restlos ist sie nach einiger Zeit ihrer überdrüssig. Die Abhängige verliert plötzlich das Interesse am Objekt der Begierde und lässt es fallen, um sich ein neues zu suchen.

Sie kennt keine Regeln, sie isst planlos oder auch gar nicht; sie schläft die Nächte nicht durch, und ich darf es dann ausbaden, wenn ich tags drauf arbeiten gehe und perfekt funktionieren muss.

Sie nimmt Drogen und das Schlimmste ist, dass sie mich da mit hineinzieht. Mich, die ich jede Art von Benebelung verachte und mich vor diesem Zustand fürchte. Ich habe schon tagsüber Kokain nehmen müssen, um den Schlafmangel, den sie verursacht, auszugleichen. Ich schlucke Valium, weil ich nachts nicht schlafen kann, wenn sie unbedingt raus will. Ich musste die Dosis erhöhen, denn eine 5-mg-Pille reicht längst nicht mehr, um sie zu betäuben.

Sie bricht auch optisch aus mir hervor, sie ist anders, auffälliger mit ihren Riesenaugen und dem kirschroten Mund. Ich trage jetzt auch roten Lippenstift. Ihr kleiner, dünner Körper ist übersät mit Tattoos. Ich kann sie nicht davon abhalten, und es werden immer mehr … und manchmal vergesse ich ihre Existenz und ziehe eine weiße Bluse an und bleibe plötzlich erschrocken irgendwo stehen und sehe in meinem Spiegelbild, dass sich die Farben und Konturen unter dem weißen Stoff abzeichnen.

Sie trägt eine Unmenge von Armbändern um ihr linkes Handgelenk und um ihr rechtes ihr dünnes braunes Lederband, tausendmal drumgewickelt, Puls abschneidend eng, mit dem sie sich gern beim Sex die Hände verbinden lässt. Ich verstecke es unter meinen langen Ärmeln, aber jedes Mal, wenn es plötzlich hervorschaut, muss ich darüber nachdenken, was sie sich antun lässt. Es wird immer schwieriger, sich auf die Realität zu konzentrieren und den Träumen, die sie um mich herumgesponnen hat, zu entfliehen.

Sie muss ständig im Mittelpunkt stehen, provozieren, die Menschen mit ihrem Anderssein konfrontieren. Sie redet über Sex und sie scheut keinen öffentlichen Sex. Sie redet offen über ihren Drogenkonsum und schreckt nicht davor zurück, öffentlich Drogen zu nehmen, provokant um sich schauend, ob sich jemand daran stören will.

Deswegen muss ich mit aller Macht versuchen, sie aus meinem Leben herauszuhalten, denn alle werden mich für ihre Sünden verantwortlich machen. Die Grenze, so scheint es, verwischt immer mehr, und ich weiß oft nicht, ob ich es bin, die im Büro auf der Toilette Koks zieht, um bei der Arbeit wach zu bleiben, oder sie. Die Kabinentür ist zu, jedoch nicht abgeschlossen … will sie, dass ich erwischt werde, womöglich meine Arbeit verliere? Will sie den vollkommenen Besitz?

Ich glaube nicht, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie für immer bei mir leben will, denn sie strebt nach dem Besonderen, und das ewig Anwesende verliert nach und nach seine Besonderheit. So kompromisslos, wie sie ist, sie, die alles oder nichts will, kann sie doch auf Dauer kein Schattendasein führen wollen.

Vielleicht sollte ich ihr einen Namen geben, aber sie mag meinen. Wenn sie unterwegs ist und jemanden kennenlernt, stellt sie sich immer mit ihm vor. Sie ist verletzt, weil ich verzweifelt versuche, zwischen uns zu differenzieren.

Manchmal beneide ich sie, wünsche mir sogar, so werden zu können wie sie, frei zu sein von jeglicher Verpflichtung. Ich würde meinen Job aufgeben und in den Tag hinein leben, mir um nichts Gedanken machen, Geld verdienen mit den Sachen, mit denen sie ab und an zu Geld kommt, Gelegenheitsjobs … Sie ist kreativ und auch talentiert, das muss ich anerkennen, doch wie bei allem verliert sie dabei irgendwann das Interesse und wird deswegen trotz ihres Talents niemals Karriere machen. Ihr ist es egal, wenn sie ohne Geld dasteht, mir nicht. Ich habe zu viel Angst, ich brauche Sicherheit.

Ich würde in ihrer Welt nicht überleben, auch nicht in ihrem Schmerz. Der ist an manchen Tagen so überwältigend, dass ich bereit wäre, mich aufzuschneiden, nur um sie aus mir herauszuholen; oder noch lieber mich aus ihr. Er gehört zu ihr, sie kann ohne ihn nicht leben. Das Glück, aber auch der Schmerz sind bei ihr pur und umwerfend, nicht gestreckt und nicht dosiert, sondern rein und vollkommen. Aber ich kann weder mit dem einem noch dem anderen leben. Deswegen mache ich das einzig Richtige, wenn sie nicht mehr zurückzuhalten ist: Ich gehe weg, raus, überlasse ihr alles und beobachte das Geschehen aus sicherer Entfernung.

Und manchmal möchte ich gar nicht mehr zurückkommen. Ich bin nicht süchtig nach dem Leben; ich lebe, weil ich muss. Es hat mich auch keiner gefragt, ob ich überhaupt leben möchte. Und da ich immer schwächer geworden bin in letzter Zeit, lasse ich sie oft alles so machen, wie sie es will. Diese zwei Wochen konnte ich sie für mich handeln lassen. Ich hatte Urlaub und war nicht verpflichtet, anwesend zu sein. Die Bühne, das Leben gehörten ihr. Ich hatte nicht nur Urlaub von der Arbeit, sondern anscheinend auch vom Leben.

Es war kalt heute Morgen, diese Art von feuchter Kälte, die bald eine Milderung verspricht und einem gleichzeitig unangenehm in die Knochen kriecht. Ich war total übermüdet und konnte dennoch trotz Valium bis vier Uhr morgens nicht einschlafen. Ich bin aber nach dem ersten Klingeln des Weckers um sieben aufgestanden, wie ein Soldat, so wie mein Vater es mir damals beigebracht hat. Brave Tochter eines stolzen Vaters!

Ich hatte noch circa zehn Minuten vor der Abfahrt meines Zuges, und so stellte ich mich in die Schlange des Coffeeshops. Ich kramte nach meinem Portemonnaie und spürte plötzlich diesen bohrenden Blick in meinem Rücken. Es konnte nichts Gutes bedeuten. Also drehte ich mich nicht um, obwohl mir bewusst war, dass dieses Gefühl nicht einfach so vorübergehen würde. Tja, so bin ich.

–N…??!

Verdammt, ich wusste es doch! Eine fremde Stimme, die meinen Namen kennt. Ich drehte mich um, musste es, und sah in die Augen eines Mannes, der gleichzeitig erfreut, verwirrt und sogar eine Spur wütend wirkte. Ich sah an ihm hinunter, mein Körper konnte sich daran erinnern, von seinen Händen angefasst worden zu sein; ihn auf sich, unter sich, in sich gehabt zu haben … dies alles lief wie ein Film ab in meinem Kopf, jedoch ohne jeglichen Bezug zu mir. Wenn ich ihn ansah, hatte er keinerlei Bedeutung für mich. Ein Fremder, der meinen Namen kennt. Verdammt, verdammt! Warum muss sie immer meinen Namen benutzen? Ich konnte natürlich nicht verbergen, dass er mir gehörte. Wahrscheinlich wäre es ohnehin nicht möglich gewesen, aus der Geschichte wieder herauszukommen. Er hat sich, ohne zu zögern, an meinen Namen erinnert.

Je länger ich nichts sagte, desto mehr nahm die Wut in seinem Gesicht zu. Aber was sollte ich sagen? Ich weiß gar nicht, wie man mit solchen Menschen redet.

– Erkennst du mich etwa nicht?

– Doch, natürlich. Wie gehts dir?

Das hat sie ihn bestimmt noch nie gefragt, das konnte man ihm deutlich anmerken. Aber ich bin nicht wie sie: Ich bin gut erzogen, ich frage die Menschen nach ihrem Befinden und schlafe nicht mit jedem! Was hat ihr bloß an dem gefallen? Meine Güte.

– Wo fährst du denn jetzt hin in der Frühe?

– Zur Arbeit.

– Aber … ich dachte, du arbeitest gar nicht, ich meine nicht so normal, du weißt schon …

– Entschuldigung, was möchten Sie bestellen?

Gott sei Dank!

Ich drehe mich um, gebe meine Bestellung auf, bezahle und nehme meinen Kaffee. Die ganze Zeit über spüre ich seinen bohrenden Blick in meinem Rücken. Bevor ich gehe, wende ich mich ihm zu und verabschiede mich artig von ihm; ich bin wirklich gut erzogen! Aber meine Höflichkeit scheint weder sein Erstaunen noch seine Wut zu mildern.

Ihre Eskapaden gehen mir wirklich langsam auf die Nerven.

Alles, was man vergessen hat,​

schreit im Traum um Hilfe.

ELIAS CANETTI

08.01. – Ich bin so müde! Mein Körper will einfach nicht mehr, ich habe überall Schmerzen. Alle Knochen meiner Wirbelsäule scheinen sich durch meine Haut zu bohren, als wollte mich jeder einzelne verlassen. Ich kann immer noch nicht schlafen; ich falle für jeweils eine kurze Zeit in eine Dunkelheit voller unruhiger, angsteinflößender Träume, aus denen ich schweißgebadet aufwache. Manchmal bin ich froh, nicht mehr schlafen zu können, doch wenn ich mich drei, vier Stunden hin und her gewälzt habe, wünsche ich mir den Schlaf herbei, um jeden Preis.

Das Valium hilft nicht, es ist sinnlos, es zu nehmen. Ich schlucke die Tabletten fast nur noch aus Gewohnheit. Die Versorgung stockt, ich bräuchte einfach mehr, aber ich bekomme sie nicht vom Arzt auf Rezept, sondern durch eine Bekannte. Ich muss mir die Pillen einteilen: Zwei, drei Tabletten auf einmal heißt, dass ich dann ein paar Abende ganz ohne auskommen müsste … Ich habe so schon viel zu wenig, andererseits hat sie die zwei Wochen über keine einzige genommen, was mich nicht überraschen sollte: Koks und Ecstasy passen nicht mit Valium zusammen.

Ich bin heute Morgen in eins unserer Geschäfte in der Stadt gefahren und habe wie eine Verrückte gearbeitet. Bis 16 Uhr habe ich nichts gegessen, nichts getrunken; bloß keine Sekunde Pause oder ausruhen, bloß nicht eine Sekunde nachdenken. Ich habe den Leuten Angst gemacht, ich konnte es ihnen ansehen. Jedoch trauten sie sich nicht, mich zu fragen, ob alles in Ordnung sei, sie kennen mich in diesem Zustand … nicht fragen!

Als ich zur Bank ging, um Geld abzuheben, welches ich fürs Taxi brauchte, um in mein Büro fahren zu können, überfiel mich diese Müdigkeit. Ich lehnte mich gegen eine Hauswand und war mir für einen Moment nicht sicher, ob ich überhaupt weitergehen konnte.

Endlich stand ich vor dem Bankomat und nachdem ich die EC-Karte hineingesteckt hatte, fiel mir das Tütchen mit dem Koks im Seitenfach des Portemonnaies auf. Ich nahm es heraus und betrachtete es ein paar Augenblicke lang; ich überlegte, auf die Toilette unten im Café zu gehen und die Schmerzen verschwinden zu lassen. Nicht sie, ich dachte darüber nach!

Die Grenze verschwindet, ich höre auf, ich zu sein, ich werde sie. Keine Kontrolle mehr …

Dann hob ich den Kopf und sah die Kamera auf mich blicken. Ich habe es dann doch nicht gemacht, hatte zu viel Angst, dass es die Kollegen im Büro merken würden. Ich bin schon einmal in dieser Hinsicht aufgefallen, konnte mich aber herausreden. Diesmal könnte es zu viel sein.

Aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe, mich bis heute Nacht zurückzuhalten. Langsam fange ich an zu glauben, nicht sie sei süchtig, sondern ich. Sie macht es aus Spaß, ich dagegen scheine ein Problem zu haben.

An sich gibt es kein Sie und Ich. Sie sieht es gern so, weil sie in ihrem Kopf immer noch die brave Tochter ist, wie sie im Buche steht. Und weil das, was sie tatsächlich ist, nicht in die Gesellschaft passen würde, in der sie lebt. Der Unterschied zwischen uns ist, dass ich akzeptiere, ja sogar liebe, was ich bin: anders. Sie nicht. Immer wenn wir etwas tun, was aus dem Rahmen fällt, den sie um ihre Seele errichtet hat, bin ich es, die verantwortlich ist, sodass sie sich nicht schuldig fühlen muss.

Ich kann mich noch genau an das erste Mal erinnern, als sie aus ihrem Körper heraussprang und mich tun ließ, was sie nicht tun konnte, jedoch wollte. Sie war 13. Sie lebte seit ein paar Monaten bei ihrem Stiefvater.

An dem Nachmittag waren er und ihre Mutter nicht zu Hause, als sie Besuch bekamen. Sie führte ihn ins Kinderzimmer und unterhielt sich eine Weile mit ihm, bis ihre jüngere Schwester das Zimmer betrat und sagte, der Vater sei am Telefon. Ich weiß nicht mehr, was der Vater, dieser Arsch, ihr alles an den Kopf warf in dem Gespräch. Ich hasse ihn abgrundtief! (Vielleicht sind wir doch zwei verschiedene Personen, denn sie liebt ihn genauso intensiv, wie ich ihn hasse.) Ich würde ihn am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen. Als sie auflegte, passierte es. Sie trat zur Seite, und ich spürte, wie sie dachte: Tue es einfach, tue, was du willst!

Ich ging ins Zimmer zurück, machte die Tür zu, schloss sie jedoch nicht ab. Der Mann saß immer noch auf dem Sofa, aber ich schaute nicht auf sein Gesicht. Ich kniete wortlos vor ihm, öffnete seinen Gürtel und die Knopfleiste der Jeans. Er erhob sich kurz, und ich zog die Jeans runter. Jahre später hat derselbe Mann mir gesagt, was ihm damals alles durch den Kopf ging, aber zu diesem Zeitpunkt verschwendete ich keinen Gedanken daran, denn es spielte keine Rolle.

Sein Schwanz war schon einigermaßen hart, es war das erste Mal, dass ich einen Schwanz in meiner Hand hielt, sanft rauf und runter glitt. Ich schaute auf die Spitze mit dem kleinen Eingang unten, berührte ihn leicht mit der Fingerkuppe, fuhr die Konturen nach. Ich wollte ihn mit der Zungenspitze ertasten und machte es dann auch, die Haut fühlte sich so sanft und unschuldig an. Ich glitt mit der Zunge an dem Schaft entlang, jede einzelne noch so kleine Unebenheit ertastend. Meine Hand unten übte immer mehr Druck aus, und ich spürte, wie er härter wurde. Es erregte mich unheimlich, ich wollte mit ihm spielen, ihn lecken, ich wollte ihn in mir haben.

Ich steckte ihn in den Mund, so weit wie nur möglich, bis kein Platz mehr in mir war für etwas anderes als seinen Schwanz. Ich saugte daran und drückte meine Hand unten immer fester zusammen. Ich war wie im Rausch, konnte an nichts anderes denken, die Welt und all ihre Bewohner waren nicht mehr existent. Ich habe schon vorher masturbiert, in diesem Augenblick spürte ich jedoch zum ersten Mal eine echte, alles vernichtende und keinen Raum für etwas anderes lassende Erregung. Seitdem jage ich ihr hinterher und bin bereit, alles andere für sie zu opfern.

Er stand auf, packte mich am Kopf und drückte ihn noch stärker an seinen Unterleib, hart und erbarmungslos stieß er seinen Schwanz in meinen Mund. Ich bekam keine Luft mehr, doch diese Hilflosigkeit erregte mich. Ich verschränkte meine Hände hinter dem Rücken, um mich noch hilfloser zu fühlen. Und so ließ ich mich von ihm in den Mund ficken.

Ich hörte sie denken, was jetzt wäre, wenn die Tür aufginge und ihr Vater hereinkäme; und ich spürte ihre Freude darüber, dass er sie (und nicht mich) kniend vor einem Mann mit dessen Schwanz in ihrem Mund sehen würde. Sie würde es niemals zugeben, doch so war es!

… und er kam in meinem Mund und ich schluckte alles herunter. Dann stand ich auf, und sie verließ das Zimmer. Sie putzte sich die Zähne. Er tauchte im Bad auf, lehnte sich gegen den Türrahmen und schaute sie ungläubig an. Sie bot ihm Kaffee an. Sie ist ja so gut erzogen!

Ich glaube an die Kraft der Liebe

und der Unschuld, an die Macht

des Hasses und des Verrats.

N.S.

09.01. – Ich werde sie beschützen. Sie ist sich dessen nicht bewusst, vielmehr will sie es nicht wahrhaben, denn in ihrer Welt muss alles bestehen und funktionieren; aber sie zerbricht. Was in ihr geschieht, ist nicht normal. Was sie träumt, macht mir Angst. Ich bin es, die sie immer aufweckt. Es ist sehr früh, noch dunkel draußen, halb fünf, aber ich kann sie nicht weiterschlafen lassen. Sie wird meine Zeilen heute Abend lesen, wenn sie von der Arbeit zurückkommt. Sie wird sie nicht akzeptieren und nichts zugeben. Ich will sie so nicht sehen! Jedes Mal, wenn ich aufstehe, sehe ich sie niederfallen. Es tut mir leid.

Ich werde nicht fallen! Ich habe es gelesen, auch das, was sie gestern Abend geschrieben hat. Als ob es meine Neigungen wären, die ich nicht offen ausleben kann, und sie, die andere, deswegen vorschicke! Das ist nicht wahr! Als würde ich gegen meine eigene Welt rebellieren; ein Organismus, der sich selbst zerstört! Sie will mich beschützen?

Ich bin wütend, denn sie scheint ernsthaft zu glauben, ich sei schwächer als sie. Eigentlich ist es ja nicht weiter verwunderlich. So sind diese »Rebellen« nun einmal, sie sehen Ordnung und Beständigkeit als Schwäche und Stillstand an und nicht als das, was sie sind: Sicherheit.

Wegen ihr bin ich schon mit 17 von zu Hause ausgezogen, ohne ein richtiges Einkommen zu haben; wegen ihr bin ich ständig umgezogen; wegen ihr war ich gezwungen, meine Arbeitsstellen, die mir Sicherheit und Geborgenheit gaben, eine nach der anderen aufzugeben. Gut, über Letzteres kann ich mich nicht beklagen, denn die Wechsel haben sowohl karrieretechnisch als auch finanziell immer eine Verbesserung bedeutet. Da hat mich ihr umtriebiger Geist, der den Stillstand verabscheut, weiter getragen als mein Wunsch nach Stabilität.

Aber ich dachte, dass sie wenigstens bei meinem jetzigen Job endlich Ruhe gibt: Ich führe ein Nomadenleben, bleibe drei, vier Tage in einer Stadt und reise dann weiter, bin nirgendwo fest gebunden, die Tage sind unterschiedlich. Doch auch jetzt scheint irgendetwas nicht mehr in Ordnung zu sein, denn nach kaum mehr als anderthalb Jahren spüre ich diesen Drang in mir, weiterzuziehen, mich zu verändern. Und er kann nicht von mir kommen, denn mir gefällt meine Arbeit.

Sie war gestern da. Sie hat nichts gemacht, mich nicht schockiert oder in Verlegenheit gebracht. Es ist seltsam, wenn die Dinge nicht ihren gewohnten Lauf nehmen. Ich fühlte fast so etwas wie Bedauern in mir aufsteigen, als Stunden vergingen und nichts geschah. Soll das alles sein?

Auf der Couch liegen und fernsehen, das kann jeder.

Das ergibt alles keinen Sinn. Sie scheint irgendwie nicht mehr zu wissen, was sie tun soll. Ich spüre ihre Sorgen und zum ersten Mal so etwas wie Hilflosigkeit. Aber niemandem ist damit geholfen, wenn sie erstarrt. Hast du gehört?

Ich mache heute keine Überstunden wie sonst. Kurz vor sieben (im Büro ist eigentlich um sechs Schluss) nehme ich mir ein Taxi und fahre in die Stadt.

Ich gehe zu Saturn und kaufe ein:

•Das neue Album von The Killers.

•Eine Best-of von Placebo.

•Die Best-of von den Rolling Stones. Ich fahre im Moment sehr auf Sympathy for the Devil ab.

•Die letzte Platte von Goldfrapp. Genau wie die Platte von den Rolling Stones ist die schon lange auf dem Markt, aber ich war auch lange nicht einkaufen.

•Die DVD Corpse Bride von Tim Burton.

•Die zweite Staffel von L Word.

•American History X. Ich habe den Film schon mehrfach gesehen, wollte aber mal wieder weinen.

•Lie with Me. Der Name des Regisseurs fällt mir nicht ein, und ich bin zu faul, um aufzustehen und auf dem Cover nachzuschauen. Aber ich kenne den Film, und, was soll ich sagen? Die Hauptfigur ist wie eine Mischung aus ihr und mir. So wird es also sein, wenn wir endgültig miteinander verschmelzen.

Ich werde vielleicht nicht schlafen, aber ich werde auch nicht mehr mit offenen Augen die Decke anstarren. Nun, mein Musik- und Filmgeschmack scheint sich sehr verändert zu haben, dies gilt auch für die Bücher, die ich lese. Ihr Einfluss stört mich nicht mehr. Auch wenn ich immer mehr wie sie werde, ist es mir egal, vielleicht ist es besser so.

Wer weiß es schon?

Ich bin müde, früher bin ich oft nach ihren Eskapaden beim Fernsehen eingeschlafen; doch die Angst, nicht mehr schlafen zu können, scheint sich zu einer Phobie entwickelt zu haben, denn ich kann an nichts anderes denken. Dieses Problem war schon Wochen vor dem Urlaub aufgetreten, und es scheint nicht verschwinden zu wollen. Und ich ertappe mich öfter dabei, dass ich mit anderen darüber rede, auch mit meinen Kollegen im Büro, was mir gar nicht ähnlich sieht, denn ich hasse es, zugeben zu müssen, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Ich hasse es, das Spiegelbild meiner Hilflosigkeit in ihren Augen zu sehen.

Sie können es, weil sie es zu können scheinen.

VERGIL

10.01. – Bin gestern bei irgendeiner Folge von L Word eingeschlafen, ohne Valium (was natürlich nicht gegen die Serie spricht, das möchte ich betonen). Die neue CD von The Killers ist der Hammer, alle anderen habe ich mir gestern nicht richtig anhören können, musste immer wieder zu den Ks wechseln. Habe das Album schon auf meinem Laptop und dem MP3-Player, möchte keine Sekunde mehr ohne diese Songs leben. Seht ihr, wie ich wie sie werde? Von den Filmen war Corpse Bride als Erstes dran; danach Lie with Me; zum Schluss kam, wie gesagt, L Word.

Ich fühle mich heute gut, wieder fit. Ich habe nur circa vier Stunden geschlafen, und das auch noch auf dem Sofa und nicht im Bett. Der Schlaf war trotzdem erholsam, ich kann mich zumindest nicht an irgendwelche Albträume erinnern. Morgen habe ich mir einen Urlaubstag genommen, für all die angefallenen Augaben, die ich nicht, während ich arbeite, erledigen kann und für die in den letzten zwei Wochen Urlaub keine Zeit war, denn ich war ja gar nicht da, und sie kümmert sich nun mal nicht um solche »Nebensächlichkeiten«.

Aber ich habe das Gefühl, dass ich es morgen auch nicht schaffen werde, mich durchzusetzen. Ich spüre ihre Lust, sie will explodieren. Da bleiben keine Zeit und kein Platz für etwas anderes. Irgendwie freue ich mich, vielleicht bin ich es gar nicht mehr selbst, sondern sogar schon sie? Ich weiß es nicht, blicke da nicht mehr durch.

Als ich heute ins Büro kam, hatte ich ziemlich viele E-Mails, und der rote Knopf an meinem Telefon blinkte mich wütend an. Sie konnten es wohl nicht glauben, dass ich noch vor sieben Uhr das Büro verlassen hatte, ha!

Aber es hat keiner versucht, mich auf dem Geschäftshandy oder gar dem privaten zu erreichen, also kann es ja nicht so wichtig gewesen sein. Ich merke, wie sich meine Einstellung immer mehr der ihrigen angleicht. Immerhin arbeiten wir nicht in einer Notaufnahme, sondern es handelt sich um Dinge, die auch um neun Uhr am nächsten Morgen erledigt werden können, oder? Es geht doch nur um Geld.

Arbeite, als ob du kein Geld bräuchtest,

Tanze, als ob dir niemand zusehen würde, Singe, als ob dir niemand zuhören würde,

Liebe, als ob dich niemand verletzt hätte,

Lebe, als ob dies das Paradies auf Erden wäre. POSTKARTENAUFDRUCK

11.01. – Ich fühle Hände auf meinem Körper, der ganze Raum um mich besteht aus fremden Körpern, die sich aneinanderschmiegen, sich von der Musik forttragen lassen, im Tanz miteinander verschmelzen. Wir sind alle von der gleichen Lust erfüllt, vom Rauch, der die Farben und Konturen um uns herum verschwimmen lässt, bis die Welt ganz weit weg getragen wird; wir haben aufgehört zu denken und angefangen, nur noch zu fühlen.

Ich tauche kurz aus der Tiefe auf, sehe aus dem Augenwinkel meine Freundin in der Lounge, sehe, wie sie mich beobachtet. Der Typ neben ihr erzählt ihr etwas, doch ich kann von hier aus erkennen, dass sie ihm nicht zuhört. Ihre Augen kleben an mir. Sie ist die einzige Konstante in meinem Leben, jemand, der mich schon seit Jahren durch meine Nächte begleiten darf. Alle anderen kommen und gehen, aber sie bleibt.

Ich tauche wieder ab, in die Musik hinein. Sie ist so gut; wir sind erst ein paar Mal in diesem Club gewesen. Ich habe ihn durch einen Zufall gefunden, doch ich bin süchtig nach ihm geworden, die DJs hier machen Unglaubliches aus den schon bekannten Songs. Sie mischen und sie experimentieren, und die Musik berührt auf unglaubliche Weise, sie trägt einen in eine andere Welt. Wie alles in diesem Club: die Enge, der Style, das Verbotene und Verborgene; die Menschen, wahllos zusammengemischt, alle Rassen, alle Altersgruppen, alle Lebensweisen, die sich in der Kleidung widerspiegeln. Und doch sind alle von der gleichen Sehnsucht getrieben. Es ist eine Gemeinschaft, nie wird jemand allein tanzen müssen. Eine Hand gleitet von hinten an meiner Schulter vorbei und führt einen Joint an meinen Mund.

Ich ziehe dran, oh Gott, es ist ziemlich starkes Zeug! Die Hand verharrt einige Sekunden vor meinem Mund, und ich bewege ab und an meinen Kopf nach vorn und nehme einen Zug. Hände berühren meine Schenkel, umfassen meine Taille. Es ist so eng auf der Tanzfläche, dass man nicht erkennen kann, wem sie gehören. Und es spielt auch keine Rolle, hier darf jeder jeden begehren.

Aber ich weiß sofort, dass es seine rechte Hand ist, die, während mich die linke rauchen lässt, von hinten an meinen Bauch fasst und meinen Körper an seinen Schwanz presst. Er ist hart, und es erregt mich. Ich bin bereit. Ich fühle, dass ich feucht bin, ich spüre die Lust. Und als ob er meine Gedanken lesen und meine Lust wie ein Tier wittern könnte, schmeißt er den Rest des Joints auf den Boden, packt mich am rechten Handgelenk und zerrt mich hinaus. Er nimmt nicht meine Hand, er hält mich dort fest, wo mein Puls schlägt, seine Finger bohren sich in mich hinein. Er durchbricht die Menschenmenge, die uns umgibt, mit seinem Körper, und ich bin ihm dankbar, dass er mich führt. Ich glaube nicht, dass ich es schaffen würde, mir allein einen Weg durch dieses Gewirr zu bahnen.

Ich schaue ihn mir an, habe immer noch keine Ahnung, wie sein Gesicht aussieht; alles, was ich erkennen kann, ist, dass er nicht besonders groß ist, auch nicht muskulös, sondern eher schlank und drahtig, aber man kann eine Kraft spüren, die von ihm ausgeht. Er hat kurz geschorene Haare und eine sehr dunkle Haut.

Ich weiß nicht, wohin wir gehen, aber ich weiß wozu, und das reicht doch, oder? Wie viele Menschen können schon behaupten, sie wüssten, was sie am Ende des Weges erwartet? Ich weiß es, und ich kann an nichts anderes denken, mein ganzes Wesen ist nur darauf ausgerichtet. Ich würde jetzt keine einzige Frage beantworten können, ich kann nicht denken, mich an nichts erinnern, nichts außer dieser Lust empfinden.

Wir sind raus aus der Halle, laufen den Gang an den Eingängen zu anderen Hallen entlang, überall Menschen. Sie streiten, sie lästern, sie küssen sich. Sie schwimmen im Nebel an uns vorbei, »uns«, wir sind eins. Ich habe das Gefühl, er wird mich nie wieder loslassen, und wenn ers täte, würde ich mich verlieren, mich verlaufen und nie wieder hinausfinden …

Er hält an, greift nach einem Schlüssel, mit der anderen Hand immer noch mein Handgelenk umklammernd. Er sperrt die Tür auf und schiebt mich ins Dunkel hinein. Sobald die Tür ins Schloss fällt, kann ich nichts mehr sehen. Ich weiß weder, wo er ist, noch, ob er mit mir im Raum ist. Die Stelle, die von seinen Fingern die ganze Zeit umschlossen wurde, fühlt sich so leer an, die Haut kribbelt, fleht nach ihm. Und ich höre seinen Atem nicht. Ist er vielleicht gar nicht da, bin ich womöglich allein hier? Was soll ich tun?

Ich strecke meine Arme aus, versuche, irgendeinen Punkt zu finden, an dem ich mich festhalten kann, ich habe Angst. Wieso ist es so dunkel hier? Es gibt kein einziges Fenster. Ich weiß nicht, wo sich die Tür befindet, nicht einmal die Wände. Ich bin vollkommen orientierungslos. Meine Sinne sagen mir nichts; ich sehe nichts, höre nichts, rieche nichts, spüre nichts, schmecke nichts.

Als ich mit ausgestreckten Armen ein paar Schritte gehe, ertaste ich mit den Fingerspitzen eine Wand oder Tür. Als ob es ein Startschuss für ihn wäre, stößt er mich jetzt, da er sich nicht mehr an meiner Hilflosigkeit weiden kann, gegen die harte Oberfläche der Wand und presst sich von hinten an mich. Ich fühle erneut seinen harten Schwanz, er drückt mich so rücksichtslos gegen die Wand, dass ich mich kaum rühren und noch nicht mal richtig atmen kann. Er hat mich in die Enge getrieben, mich jeglicher Möglichkeit beraubt, zu handeln und mich gegen ihn zu wehren. Er scheint den Raum gut zu kennen, war die ganze Zeit neben mir, wollte, dass ich meine Angst eingestehe; jetzt ist er wütend.

Er zerrt mein Kleid hoch, Leggins und Höschen runter, und bevor ich etwas sagen kann, ist er in mir drin. Die Leggins in meinen Kniekehlen schnüren meine Beine zusammen, und ich kann mich nicht bewegen. Ich fühle mich wie ein eingesperrtes Tier und wie ein Tier habe ich kein Stimmrecht.

Er ist gekommen, ich spüre es an meinen Oberschenkeln hinunterlaufen. Ich weiß, ich werde von allen dafür verachtet werden, die es niemals begreifen, die »mich« niemals begreifen, aber auch ich bin gekommen. Wie ein Tier. Weil der Schmerz so groß war, als er so unvorbereitet in mich eindrang und ich mir noch nicht einmal durch Stöhnen Erleichterung verschaffen konnte, weil ich so erniedrigt wurde, weil ich hilflos und somit frei von jeglicher Sünde war. Weil ich so voll von ihm war, weil er für den kurzen Augenblick vollkommen die Leere verdrängt hatte. Weil ich keine Scham, kein Bedauern und keinen Verlust verspüre.

Ich fliehe, sobald er die Tür aufsperrt und das fahle Licht in den Raum eindringt. Verdammt, ich habe keine Ahnung, wo ich bin, habe mir den Weg nicht gemerkt. Ich brauche eine Toilette, um mich sauber zu machen, ich spüre immer noch das klebrige Zeug zwischen meinen Beinen. Es ist erniedrigend und doch erregend.

Ja, ich lasse mich ficken und in euren Augen bin ich vielleicht nichts weiter als eine Hure, doch ich kann die unerfüllten Wünsche hinter euren anständigen Gesichtern sehen. Sie huschen in euren Augen hin und her und werden nur von den Lidern zurückgehalten, hilflos und um Freiheit bettelnd.

Ich habe eine Verpflichtung, mir selbst gegenüber, ich will alles mitnehmen, will nicht blind sein, so wie ihr. Ich will verstehen, das Leben begreifen. Jedes einzelne Individuum begreifen – das ist der Anfang.

Ich bin nicht heterosexuell, nicht homo- und auch nicht bisexuell; diese Kategorisierungen lehne ich ab! Warum muss es für jeden und alles Regeln geben? Wenn ich diesem einen besonderen Menschen begegne, spüre ich Lust auf ihn, unabhängig von Geschlecht, Alter oder Aussehen. Und wenn er mich begehrt, mache ich mir keine Gedanken, ich bin nur froh und nehme das Geschenk der Lust an.

Ich hatte noch nie schlechten Sex, sie schon. Sie hatte Sex mit Menschen, die ins Bild passen und besondere Merkmale aufweisen. Ich hingegen orientiere mich nicht an äußerlichen Kriterien, wenn ich mir meine Sexpartner aussuche, sondern an der reinen Essenz der Lust. Und dann spielt alles andere keine Rolle mehr, es schenkt mir die Erfüllung. Das Begehren in ihren Augen ist die Gabe.

Und Honig scheint dir bitterer als Salz

Die Träne süßer nicht als Wermut – nein

Ich kenne keinen größ’ren Schmerz,

als lebendig unter lauter Schläfern sein.

AUS EINEM RUSSISCHEN SONG

12.01. – Sie liebt ihn, sie tut es, ich kann es ganz genau erkennen. Sie will es zwar nicht, denn Liebe bedeutet Kontrollverlust für sie. Ich kann ihre Angst spüren, die stärker ist als die Liebe. Trotzdem liebt sie ihn. Aber sie lässt mich mit ihm ficken …

Ich wache nachmittags auf, es ist sehr heiß und dunkel in meinem Zimmer, die Heizung ist voll aufgedreht, und die Stoffgardinen sind zugezogen. Es ist kurz nach drei, zu wenig Schlaf. Normalerweise wache ich erst um sechs, sieben Uhr auf.

Ich weiß, dass ich nicht mehr einschlafen werde. Ich bin unruhig und ängstlich. Als ich in den Spiegel schaue, scheint mir mein Gesicht fremd, ich muss mir erst mit Gewalt bewusst machen, dass es sich um mich handelt. Ich verstehe nicht, warum sie weg ist. Ich fühle mich allein.

Den Nachmittag verbringe ich mit meiner Familie. Irgendwann streiten wir uns, wie immer, und ich verlasse die Wohnung. Als ich nach Hause komme, schlucke ich zwei Valium. Mein letzter Gedanke kurz vorm Einschlafen ist, dass ich mir unbedingt neue besorgen sollte und zwar so schnell wie möglich.

Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal,

fürchte ich kein Unglück.

PSALM 23

14.01. – Diese Woche bin ich wieder viel unterwegs: zuerst Mailand, dann fliege ich für zwei Tage nach Hamburg.

Es ist doch seltsam, neulich habe ich mir meine und ihre Aufzeichnungen durchgelesen. Dabei stellte ich fest, dass unsere Arbeit fast keinerlei Erwähnung findet. Wenn man bedenkt, dass ich die meiste Zeit des Tages und die meiste Zeit der Woche damit beschäftigt bin zu arbeiten, und wenn man bedenkt, welchen Stellenwert die Arbeit in meinem Leben hat, ist das schon erstaunlich. Aber wahrscheinlich liegt es genau daran: Sie hat eben diesen Stellenwert für mich verloren.

Dasselbe gilt für meine Familie: Auch sie spielt keine Rolle, und obwohl ich sie regelmäßig sehe, scheint sie meinen Alltag kaum zu beeinflussen. Das ist die einzig logische Erklärung dafür, dass sie nicht in meinen Gedanken vorkommt. In meinem Tagebuch gibt es nichts anderes als meine Gedanken. Ich verfolge keine bestimmten Ziele mit dem, was ich aufschreibe. Ich versuche nur, das, was mich gerade erfüllt, niederzuschreiben, um wieder atmen zu können.

War im Kino: Hitman. Fand ich sehr gut: Gewalt poetisch dargestellt, erinnerte mich ein wenig an die Filme von John Woo. Zwei Hauptcharaktere, Mann und Frau, es gab aber keinen Sex zwischen den beiden, was sehr erfreulich war. Es hätte die Atmosphäre zerstört. Als ich aus dem Kino kam, fand ich einige SMS auf beiden Handys, aber alle waren für sie. Ich hätte gern gewusst, wie der Mann vom Freitag aussah, sein Gesicht. Wie kann sie es wagen?

You shut your mouth

How can you say

I go about things the wrong way?

THE SMITHS

16.01. – Habe ich schon erwähnt, dass ich Mailand hasse? Wenn nicht, dann sei es hiermit gesagt: Ich tue es und zwar aus tiefstem Herzen. Ich war schon in so vielen Städten, jedoch gibt es keine andere Metropole, die bei mir solch negative Gefühle hervorruft. Diese Stadt erdrückt mich mit ihrem Grau. Ich habe das Gefühl, eine Last auf der Brust zu tragen, wenn ich dort bin. Wenn ich durch die Straßen laufe, habe ich in kürzester Zeit das dringende Bedürfnis, mich zu waschen. Ich spüre den Staub auf der Haut, den Haaren, der Kleidung. Leider muss ich mehrfach im Jahr dorthin, und jedes Mal werde ich depressiv.

Es gab jedoch auch ein Erlebnis dort, das zu meinen liebsten Erinnerungen zählt. Es war im letzten Sommer, ich bin am Sonntagmorgen nach Mailand geflogen. Am darauffolgenden Tag sollte ich an einigen Präsentationen arbeiten. Diesen Nachmittag war es zunächst mein Plan, ein Event im Nachbargebäude zu besuchen, das auch meine Firma organisiert hatte, für das ich aber nicht verantwortlich war. Ich wollte mir diese Präsentation unbedingt an diesem Tag ansehen, da ich davon ausgehen konnte, ab Montag keine Zeit mehr dafür zu haben.

Man hatte mich diesmal in einem anderen Hotel einquartiert, mit der Zusicherung, dass sich dieses in der Nähe der Hallen befände und ich kein Taxi nehmen bräuchte. (Der Verkehr während der Fashion Week in Mailand könnte jeden zum Selbstmord treiben!)

Ich stellte meine Koffer ab, erkundigte mich an der Rezeption nach dem Weg und marschierte los. Natürlich habe ich mich verlaufen. Ich bin ehrlich: Ich habe keinen Orientierungssinn, ich könnte mich selbst in einem Supermarkt verlaufen. Aber diese Stadt machte es mir zusätzlich schwer. Jeder, den ich nach dem Weg fragte, gab mir eine andere Beschreibung, das Ganze dann auch noch auf Italienisch, weil keiner in dieser internationalen Stadt der Mode englisch spricht.

Ich lief zum x-ten Mal über den Antiquitätenmarkt. Es war so heiß, dass meine Absätze Abdrücke im Asphalt hinterließen, und ich war viel zu warm angezogen in meinem schwarzen Cashmere. Dieser Weg schien überhaupt kein Ende mehr zu nehmen. Ich hielt Ausschau nach einem Taxi, natürlich ohne Erfolg. Ich dachte darüber nach, zum Hotel zurückzulaufen und mir von dort aus ein Taxi zu bestellen, war mir aber nicht sicher, ob ich das Hotel wiederfinden würde.

In meinem gebrochenen Italienisch sprach ich eine Frau an, die neben ihrem Stand saß. Sie antwortete mir, sie kenne die Straße nicht und könne mir nicht weiterhelfen. Und dann zeigte sie auf den dunklen Eingang einer Bildergalerie, die sich direkt vor uns befand, und sagte mir, der Mann dort könne mir bestimmt den Weg weisen. Er sei hier geboren worden und habe sein gesamtes Leben hier verbracht.

Als ich die Schwelle überquerte, bekam ich Gänsehaut. Ich tauchte in eine dunkle, kühle Welt ein, die nach Ölfarben und Holz roch. Ich hatte plötzlich das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein, so vertraut kam mir der Laden vor. Ich beruhigte mich sofort, der ganze Ärger und die Hitze fielen von mir ab. Ich fühlte mich wie ein Tier, das nach einer Hetzjagd die sichere Hand seines Herren im Nacken spürt und alles Böse beiseitelegt.