Schokosushi - Thomas Köhler - E-Book

Schokosushi E-Book

Thomas Köhler

0,0

Beschreibung

Nach ihrer Niederlage an einer TV-Quizshow überstürzen sich die Ereignisse im Leben von Heidi Robusta. Von der Boulevardpresse in Bedrängnis geraten, nutzt Heidi den Trostpreis von Diamond-Luxusreisen und reist mit deren Gruppe nach Japan. Ungeahnt, Stunden vor dem Abflug ereignet sich in Japan eine fürchterliche Naturkatastrophe. Ken, der Fremdenführer, wird beauftragt, die Schweizer Reisegruppe zu betreuen. Die Planung läuft völlig aus dem Ruder und gerät in eine ungeahnte Dimension.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 511

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Schweiz

Sonntag, 16. November 2025

Die Niederlage

Japan

Montag, 17. November 2025

Im Onsen-Bad

Das Abendessen

Beim Schrein

Ein seltsamer Traum

Schweiz

Montag, 17. November 2025

Der Tag danach

Verzweiflung

Der Anruf

Die Eingebung

Zu Besuch bei Dr. Mori

Japan

Dienstag, 18. November 2025

Das Erdbeben

In der Toilette

Spaziergang zum Strand

Elternbesuch

Abschied von Emiko

Schweiz

Dienstag, 18. November 2025

Der Plan

Bestätigung der Reise

Nach der Show der Frust

Beim Einkauf

Japan

Mittwoch, 19. November 2025

Erster Arbeitstag als Abteilungsleiter

Begrüßungsgespräch

Der Auftrag

Nach der Arbeit

Schweiz

Mittwoch, 19. November 2025

In der Morgenfrühe

Die Begegnung auf dem Parkplatz

Im Reisebüro

Beim Pizzaessen

Geheime Mission

Japan

Donnerstag, 20. November 2025

Check-out

Ein intensiver Arbeitstag

Ungeahntes Ereignis

Schweiz

Donnerstag, 20. November 2025

Abschied vor dem Lebensmittelladen

Von der Dunkelheit ans Licht

Schockmoment

Das Kalkül

Japan

Freitag, 21. November 2025

Das Beben am frühen Morgen

Ein Bote vom Himmel

Der Spitalbesuch

Die schwarze Schatulle

Erste Probleme gelöst

Schweiz

Freitag, 21. November 2025

Abflug

Trauer und Liebe

Japan

Samstag, 22. November 2025

Unerwartete Änderung

Die Frau in Rot

Ankunft im Edo-Dorf

Willkommensdrink

Schweiz

Samstag, 22. November 2025

Zwei Fliegen auf einen Schlag

Zu viert

Japan

Sonntag, 23. November 2025

Unerwünschter Besuch

Schwerelos

Kein Vorwärtskommen

Der erste Schnee

Gefangen

Kehrtwende

Auf der Flucht

Schmerz und Erlösung

Not kennt kein Gebot

Schweiz

Sonntag, 23. November 2025

Schokosushi gelöscht

Glück kommt selten allein

Japan

Montag, 24. November 2025

Böse Überraschung

SCHWEIZ

Sonntag , 16. November 2025

Die Niederlage

Ein Kopf-an-Kopf-Rennen, die Spannung hätte nicht größer sein können. Über zwei Millionen Zuschauende waren auf dem Schweizer Fernsehkanal zugeschaltet.

Nach der Werbepause kam es zum Showdown in der Suipon-Quizshow. Eine Bläserfanfare kündigte das Finale an. Der großgewachsene Moderator Roger Eistopf, der mit seiner Frage das Unentschieden auflösen sollte, stand im Rampenlicht.

Die Zuschauer applaudierten. Der blondhaarige Eistopf ging auf die beiden Teilnehmenden zu. Professor Dr. Xaver von Seebergen, gekleidet in einen braunen Anzug, und die Japanologin Heidi Robusta in enganliegendem Jersey-Kleid standen sich gegenüber.

„Nun ist es so weit“, verkündete der Showmaster mit erhobener Stimme. „Wer die Frage zuerst korrekt beantwortet, erhält ein Preisgeld von hunderttausend Schweizer Franken und der Trostpreis, wie könnte es anders sein, ist eine Reise nach Japan, gesponsert von Diamond-Luxusreisen.“

Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt. Roger Eistopf las die letzte Frage vor.

„Im Jahr 1551 wurde einem Daimyo in der damaligen Suo-Provinz, der heutigen Präfektur Yamaguchi, vom spanischen Missionar Francis Xavier eine Uhr geschenkt. Wie lautet der korrekte Name des Daimyos?“

Die Kamera schwenkte vom Showmaster auf die Teilnehmenden.

Rasch schlug Heidi mit flacher Hand auf den großen roten Knopf und antwortete: „Yoshitaka Oguchi.“

Eine Sekunde später dröhnte das Negativsignal durch den Saal.

Die junge Frau schlug ihre Hände über dem Kopf zusammen. Ein Ausdruck großer Enttäuschung ließ ihr Gesicht unwirklich aussehen.

Professor von Seebergen drückte den Knopf und korrigierte mit ruhiger Stimme: „Yoshitaka Ouchi.“

Lichtblitze, Sirenengeheul und tosender Applaus brachen über ihn herein. Er ließ sich als Sieger feiern, während Heidi zusammengesunken auf ihrem Hocker Tränen über die Wangen kullerten. Der Buchstabe „G“, ein einziger falscher Buchstabe – aus der Traum.

JAPAN

Montag , 17. November 2025

Im Onsen-Bad

Draußen war ich drinnen. Eingehüllt in den aufsteigenden Dunst saß ich im Außenbad und genoss das Schauspiel der vorüberziehenden Wolken, die das Mondlicht aufsaugten und weitertrugen. Zugleich lauschte ich den Regentropfen, die auf das Vordach prasselten und zu einem Trommelkonzert anschwollen. Immer neue Trommeln stimmten mit. In synkopischen Rhythmen pulsierend wurden sie stetig lauter, bis schließlich der donnernde Klang der Pauke das Finale ankündigte und ein unbeschreibliches Glücksgefühl in mir erwachen ließ.

Ich war befördert worden! Als Fremdenführer für ausländische Touristen war ich zum Abteilungsleiter in der Firma Happy Tours Japan (HTJ) aufgestiegen.

Die meisten nannten mich Ken, obwohl mein richtiger Name Kenichi war. Und ich? Ich dachte auch, ich sollte nur Ken sein, denn das „ichi“ stand für den ersten Sohn.

Ich fühlte mich aber nicht als Erstgeborener, weil meine Mutter zwei Jahre vor meiner Geburt einen toten Jungen zur Welt gebracht hatte.

Es muss eine sehr schmerzhafte Erfahrung für sie gewesen sein. Beinahe täglich erzählte sie mir, wie schön es gewesen wäre, mich mit meinem älteren Bruder aufwachsen zu sehen. Nach all den Jahren hörte ich sie immer noch oft mit ihm sprechen. Momente, die mich traurig stimmten. Meine Eltern hatten stets das Beste für mich gewollt, was rückblickend aber nicht immer das Beste war, denn ich habe nie um etwas kämpfen müssen. Mir wurden alle Steine aus dem Weg geräumt. Erst als ich mein Studium in Osaka, weit weg von meinem Elternhaus, begonnen hatte, wurde mir klar, worum es im Leben ging.

Mein Vater starb vor fünf Jahren, danach wurde Mutter sehr einsam. So entschloss ich mich, nach dem Studium wieder in die Präfektur Saitama in ihre Nähe zu ziehen. Das kam mir nicht ungelegen, da ich mich in Osaka ohnehin nie heimisch gefühlt hatte. Wir Menschen aus der Kanto-Region, der Metropolenregion Tokio und den umliegenden Präfekturen kannten einen anderen Umgang. Wir waren nicht so direkt wie die Leute aus der Kansai-Region im Westteil der Hauptinsel Honshu.

Mutter lebte allein im Familienhaus meines Vaters in Chiaraijima. Unweit davon lag die Stadt Fukaya, in der ich nun seit über einem Jahr wohnte.

Das Abendessen

Während ich aus dem Onsen-Bad stieg, dachte ich an das bevorstehende Abendessen mit meiner Liebsten, Emiko. In der Umkleidekabine zog ich den Yukata an, wickelte den Obi, einen schmalen Stoffgurt, zweimal um die Hüfte und knotete die Enden zusammen.

Erst wenn ich den Yukata trug, fühlte ich mich in einem japanischen Gasthaus so richtig heimisch.

Gemütlich packte ich meine Sachen in die Tasche und ging direkt vom Baderaum zum Speisesaal. Auf dem Zataku, dem Tisch mit den kurzen Beinen, stand auch schon das aufwändig kunstvoll angerichtete Kaiseki-Menü bereit. Kulinarisch gesehen war für mich ein Kaiseki unübertrefflich. Ich liebte nichts mehr als ein Essen aus vielen frischen lokalen Spezialitäten auf kostbarem Geschirr, farblich den Jahreszeiten angepasst. Der festliche Anblick stimmte mich auf den bevorstehenden Abend mit Emiko ein. Ich richtete mich im Schneidersitz auf dem Sitzkissen ein und wartete.

Inzwischen saßen alle Gäste plaudernd an ihren Tischen, nur Emiko ließ auf sich warten.

Vielleicht ist sie eingeschlafen, sagte ich mir.

Ungeduldig nahm ich mein Smartphone zur Hand und rief sie an. Ein Knacken, darauf folgte ihre Stimme, doch sie kam nur vom Band des Anrufbeantworters.

Warum nahm sie nicht ab? War sie womöglich auf dem Weg hierher?

Ich löste meine Beine aus der Schneidersitzposition und bewegte mich auf Zehenspitzen durch den Speisesaal zur Schiebetür, wo ich in die bereitstehenden Pantoffeln stieg. Gedankenversunken schritt ich durch den Korridor an der Rezeption vorbei, als plötzlich eine Hotelangestellte vor mir stand.

„Sakamoto-san, kann ich Ihnen behilflich sein?“

Offenbar hatte sie gespürt, dass ich auf jemanden wartete. Überrascht schaute ich sie an und stammelte: „Ich, ich bin auf der Suche nach Emiko Ishikawa.“

Sie zeigte Richtung Ausgang. „Vor wenigen Minuten hat Ishikawa-san das Gebäude verlassen.“

Wortlos drehte ich mich um und schaute durch die Glasfront. Dichte Nebelschwaden schwächten das Licht der Straßenlaternen.

Was hat Emiko nach draußen getrieben? Bestimmt hatte sie wieder eine Vision, schoss es mir durch den Kopf.

Beim Schrein

Der Nebel verdichtete sich mehr und mehr. Mit Hilfe des Smartphones ermittelte ich meinen Standort. Ich ging davon aus, dass Emiko zum nächsten Shinto-Schrein gegangen war. Sie hatte eine außergewöhnliche Gabe: Sie konnte mit Ujigamis, den Schutzgöttern, kommunizieren. Allerdings nur hier in Otsuchi an der Sanriku-Küste im Nordosten von Japan, wo sie aufgewachsen war und eine Verbindung zu ihren Ahnen herstellen konnte. Bestimmt war sie heute, wie schon so oft, von den Schutzgöttern gerufen worden. Auf dem Display meines Handys wurde der nächstgelegene Schrein in einer Entfernung von zweihundert Metern angezeigt. Um keine Zeit zu verlieren, nahm ich eine Abkürzung bis zur Treppe, die zum Torii, dem roten Eingangstor, führte. Die steinigen Stufen waren uneben und glitschig. Vorsichtig stieg ich Tritt für Tritt nach oben, bis ich vor dem Schrein-Areal stand. Nach einer kurzen Verschnaufpause betrat ich den heiligen Boden. Achtsam setzte ich einen Fuß vor den anderen, doch das Knirschen der Kieselsteine unter meinen Schuhen ließ sich auch beim Langsamgehen nicht vermeiden.

Was war das?

Ich blieb stehen und lauschte. Ein leises Wimmern durchbrach die Stille. Adrenalin aktivierte meinen Kampfgeist. In gebückter Haltung ging ich ein paar Schritte weiter und blieb erneut stehen.

„Vorwärts“, befahl ich mir im Flüsterton und setzte mich wieder in Bewegung. Je tiefer ich ins Areal eintauchte, desto sicherer war ich mir, Emikos Stimme zu hören. Sie weinte und sprach zwischendurch. Ich ging noch näher, bis ich ihre Silhouette erkannte. Bewegungslos stand ich da und glaubte Worte wie „warnen“, „Kinder“ und „Berge“ zu verstehen.

Auf keinen Fall durfte ich sie jetzt stören, denn es war mir bewusst, dass sie nicht grundlos hierhergekommen war. Die beißende Kälte drang durch meine Kleidung und ich fing am ganzen Leib an zu schlottern. Plötzlich wurde es still, Emiko verließ das Areal. Ich folgte ihr. In guter Sichtdistanz stellte ich mich hinter einen Baum auf der anderen Straßenseite und beobachtete, wie sie durch den Haupteingang unserer Unterkunft verschwand. Schnell überquerte ich die Straße und ging um den Bau herum, sodass ich unbemerkt durch den Hintereingang ins Gebäude gelangen konnte. Drinnen angekommen sah ich, wie sie durch den Gang zur Toilette huschte.

Rasch zog ich meine Schuhe aus und bewegte mich über den Teppich an der Rezeption vorbei. Beim Entree deponierte ich meine Lederboots im Schuhkasten und setzte mich auf einen Stuhl in der Eingangslobby. Während ich auf Emiko wartete, schaute ich im Handy meine Mailnachrichten durch. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich die Toilettentür öffnete und sie auf mich zukam. Als sie vor mir stand, platzte es aus mir heraus: „Emiko, wo bist du gewesen?“

Verblüfft schaute sie mich an und antwortete: „In der Toilette, wo sonst?“

Sofort wurde mir klar, dass sie sich nicht an ihren Aufenthalt im Schrein erinnerte, und ging nicht näher auf ihr Verschwinden ein.

„Lass uns Abendessen“, meinte ich gutgelaunt, griff nach ihrer Hand und führte sie zum Speisesaal. Wir aßen schweigend, während die Bediensteten bereits mit den Vorbereitungen für das Frühstück beschäftigt waren und die Tische deckten.

Ein seltsamer Traum

Der Sauerstoff ist knapp, das Glas schmutzig und mein Körper schmerzt. Kraftsparend schwimme ich an der Glaswölbung entlang. Es gibt weder einen Anfang noch ein Ende. Tote Mücken schwimmen an der Oberfläche, die Sonne erhitzt das Wasser, bis es stinkt und ich eine Engelsstimme melodisch singen höre:

Schwimm und frag nicht nach dem Sinn!

Sing und denk dich irgendwohin.

Wenn die Zeit gekommen ist

und die Katz dich holt und frisst,

hat sie dir wohl dein Leben genommen,

doch hab keine Angst, auch du wirst wiederkommen.

Ihre Worte hallten nach, bis ich aufwachte und die Augen öffnete. Mein Blick wanderte zum Fenster, von wo das Licht der Straßenlaternen durch den Spalt beider Vorhangenden drang. Emiko schlief ruhig neben mir auf dem Futon. Ihre geschmeidige Körperform zeichnete sich durch das weiße Laken ab. Ihre Gestalt sah aus wie in Gips gegossen. Während ich mir mit dem Pyjamaärmel den Schweiß von der Stirn tupfte, betrachtete ich ihr Gesicht. Ihr Mund war geschlossen, der linke Mundwinkel deutete ein Lächeln an. Unwillkürlich musste ich an die Mona Lisa denken, obwohl Emikos Lippen markanter waren. Überhaupt – Emiko mit der Mona Lisa vergleichen! Wangen und Stirn hätten nicht unterschiedlicher sein können und im Gegensatz zur Mona Lisa hatte Emiko Augenbrauen. Meine Gedanken waren wirr, ich starrte an die Decke und kam ins Grübeln.

Hatte mein Traum einen Zusammenhang mit Emikos Besuch beim Schrein? Ein Goldfisch im Glas und ein Schreinbesuch – wohl kaum. Und doch hätte es sein können, dass wir uns auf derselben Unterbewusstseinsebene bewegt haben. Ich spürte mit ihr eine enge Verbundenheit, schloss die Augen und fiel diesmal in einen traumlosen Schlaf.

SCHWEIZ

Montag , 17. November 2025

Der Tag danach

Heidi Robusta saß auf dem Bettrand und fühlte sich wie nach einer durchzechten Nacht. Kopfschmerzen und Müdigkeit machten ihr zu schaffen. Die Frage, warum Oguchi und nicht Ouchi, ließ sie nicht mehr los. Eine halbe Stunde verging, bis der erste Versuch aufzustehen scheiterte. Erst nach dem zweiten Anlauf gelang es ihr, mit beiden Füßen auf dem Boden zu stehen. Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln und schlurfte in die Küche. Gedankenversunken stellte sie eine Tasse unter den Abfluss und drehte den Hahn auf. Als das Wasser bereits überlief, drehte sie den Hahn wieder zu und führte das Gefäß mit beiden Händen an ihren ausgetrockneten Mund. Sie trank ohne Unterlass, bis die Tasse leer war, und stellte sie ins Spülbecken. Mit ihrem linken Fuß zog sie den Küchenschemel heran und ließ sich auf die Sitzfläche plumpsen. Es war ruhig, ab und zu in unregelmäßigen Abständen setzte das Summen der Kühlschrankaggregate ein. Ihre Augenlider schlossen sich wie automatische Schleusentore. Eingenickt auf dem Schemel sitzend verlor ihre Körperhaltung mehr und mehr an Stabilität. Ein Krampf im rechten Unterschenkel bahnte sich an. Kurz bevor der Schmerz eintrat, wurde sie wach und streckte das Bein noch rechtzeitig. Mühsam richtete sie sich auf und öffnete das Küchenfenster – ohne zu bemerken, dass das Radio noch auf dem Vorsprung stand, es krachte lärmend ins Abwaschbecken. Ungerührt griff sie nach dem Gerät und schaltete es ein. Das Ende des Beatlessongs „Help“ war noch zu hören, bevor die Nachrichten folgten. Sie stellte den Hörfunk auf die Küchenablage und lauschte den Worten des Nachrichtensprechers. Gleichzeitig öffnete sie die oberste Schublade vom Küchenbuffet und zog eine Tafel Schokolade heraus.

Seit ihrer Jugend verging kein Tag ohne Schokolade, denn sie war der festen Überzeugung, dass der Gehalt an psychoaktivem Theobromin ihren Gemütszustand positiv beeinflusste.

Langsam riss sie die Verpackung auf, brach die halbe Tafel in mehrere Stücke und steckte sich eins davon in den Mund. Während sie kaute, schaute sie gedankenverloren aus dem Fenster und legte die aufgerissene Hülle blindlings in die Schublade zurück. Bewegungslos stand sie da und starrte zur kahlen Linde neben dem Gebäude, bis das Knallen der Eingangstür sie ins Hier und Jetzt zurückholte. Blitzartig schaltete sie das Radio aus und zog das Fenster leise zu. Die Schokolade, soeben im Verdauungstrakt angekommen, machte den Weg rückwärts in die Speiseröhre, sodass sie sich beinahe übergeben musste. Der Gedanke, dass jemand nach ihr suchte, um sie zu interviewen, versetzte sie in Panik.

Leise zog sie die Küchentür hinter sich zu und eilte ins Bad. Vor dem Spiegel schaute sie in ihre blauen Augen. Sie öffnete den seidenen Schlafrock und ließ ihn zu Boden gleiten. Tränen kullerten über ihre Wangen und versickerten im Badteppich unter ihren Füßen. Niedergeschlagen griff sie mit beiden Händen in ihre blonden Haare, band sie zu einem Haarknoten und verschwand in der Duschkabine.

Verzweiflung

Frisch geduscht saß Heidi vor dem Schminkspiegel und kämmte gleichmäßig ihre langen Haare. Sie dachte an Marti, ihren Arbeitskollegen, mit dem sie an einer Zusammenstellung von Gedichtanthologien japanischer Poesie arbeitete.

Marti las viel, sprach aber wenig, außer er kannte sein Gegenüber. Seine Muttersprache war Japanisch. Er war der Sohn eines Schweizer Diplomaten und in Kobe geboren. Mit zweiundzwanzig hatte er sein Studium an der Universität Himeji in japanischer Literaturgeschichte und Germanistik abgeschlossen und war danach in die Schweiz ausgewandert. Sein Hobby war das Kochen japanischer Gerichte, was er hervorragend beherrschte.

Ich hätte auf Marti hören sollen, dachte Heidi. Seine Worte „Wenn du gewinnst, wirst du dich verändern, und wenn du verlierst, werden sie dich verändern“ waren eine deutliche Warnung gewesen. Er hatte recht. Warum habe ich bloß nicht auf ihn gehört?

Nachdem jede Haarpartie von Knoten befreit war, legte sie den Kamm auf die Ablage zurück und machte ihre Schminkutensilien bereit. Der plötzliche Klingellaut unter der Bettdecke ließ sie erstarren. Erst als das Geräusch verstummte, kniete sie sich vors Bett und fuhr mit beiden Armen unter die Decke. Mit den Fingern tastete sie Zentimeter für Zentimeter die Oberfläche der Matratze ab, bis sie auf ihr Smartphone stieß. Schnell wie eine Katze auf Mäusejagd packte sie das Gerät und zog es hervor. Dann tippte sie ihren persönlichen Zahlencode ein und drückte auf das Telefonhörersymbol. Ganz oben auf der Anrufliste bemerkte Heidi den Schriftzug „Impfzentrum Goldstern“.

Was sollte das jetzt bedeuten? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen.

Die Uhr zeigte bereits viertel nach drei. Kurzentschlossen schaltete Heidi den Computer ein, als erstes poppte die Startseite des Online-Nachrichten-Portals JUST auf. Der Leitartikel titelte reißerisch und mit großen Lettern: „Der Buchstabe G brachte Heidi Robusta um hunderttausend Schweizer Franken Preisgeld!“ Ein sensationsheischendes, seitenfüllendes Foto mit ihrem weinenden Gesicht flankierte den Bericht.

Verzweifelt schlug sie die Hände vors Gesicht und schluchzte. Doch lange dauerte es nicht, bis sich Scham und Schmach vereinten und es wie bei einer chemischen Reaktion zur Explosion kam. Ihr Gefühlszustand verwandelte sich in Wut und die Hände ballten sich zu Fäusten.

Erst nach einigen Minuten des Zorns wurde sie ruhig und schloss die Augen. Gedanklich bereitete sie sich auf den Kampf vor, wie ein Samurai, der in die Schlacht zog. Selbstvorwürfe waren keine Option und das verpasste Preisgeld änderte ihr Leben auch nicht. Sie akzeptierte die Niederlage, jedoch nicht die mediale Ausbeutung ihrer Person.

Ihre Finger legten sich um die Maus und klickten weiter. Das Bild von Professor von Seebergen mit dem Kommentar „Der Professor als großer Profiteur!“ ließ ihren Puls nochmals ansteigen. Sie dachte über ihn nach und fand, dass er nichts falsch gemacht hatte und sie ihm nicht böse sein konnte.

Nachdem sie weitere Artikel über sich gelesen hatte, wurde sie von der Lust nach Schokolade in die Küche getrieben.

Der Anruf

Heidi schnappte sich ihr Mobiltelefon und tippte auf der Anruferliste auf „Impfzentrum“. Es klingelte dreimal, bis sich eine freundliche Frauenstimme meldete: „Impfzentrum Goldstern, Melanie Grob, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Guten Tag, hier spricht Heidi Robusta, ich habe Ihre Anrufanzeige auf meinem Handy gesehen.“

„Vielen Dank, dass Sie zurückrufen. Sie sind Heidi Robusta, die Verliererin der Suipon-Quizshow von gestern Abend, nicht wahr?“

Heidi war perplex. Mit so einer Frage hatte sie nicht gerechnet. Einen Moment lang herrschte Stille, dann antwortete sie: „Ja, das ist richtig, ich bin die Verliererin der Show. Aber wieso fragen Sie? Das hat doch nichts mit einer Impfung zu tun.“

„Es geht um die Injektion vor Ihrer Abreise nach Japan. Für eine Reise von der Schweiz nach Japan und umgekehrt ist die YOUKOSO-Impfung Pflicht. Diese Vorschrift ist seit einer Woche in Kraft. Die Impfung wird im Impfausweis registriert und bei der Ein- und Ausreise kontrolliert.“

„Ich habe aber nicht vor, nach Japan zu reisen.“

„Frau Robusta, Ihnen steht doch eine Reise von Diamond-Luxusreisen nach Japan zu! Wir wurden von der Reisefirma informiert, um mit Ihnen einen Impftermin zu vereinbaren.“

Heidi setzte sich auf den Stuhl vor dem Schminktisch und schaute in den Spiegel. Das ging ihr alles zu schnell. Sie teilte der Frau am Telefon mit, dass sie sich wieder melden würde, doch Frau Grob insistierte, bevor Heidi auflegte: „Ich habe die Quizsendung mitverfolgt. Es tut mir aufrichtig leid, dass Sie die Show verloren haben, und ich möchte Ihnen einen Rat geben.“ Frau Grob atmete kurz durch und sprach weiter. „Die Redaktion des Online-Nachrichtenportals JUST hat Sie bereits im Visier. Haben Sie damals mitverfolgt, wie Susie Hope, auch eine Verliererin dieser Quizsendung, zur Zielscheibe der Öffentlichkeit wurde? Cybermobbing und Belästigungen von selbsternannten Internet-Paparazzi und niveaulosen Leuten waren die Folge. Frau Hope kam an ihre psychischen Grenzen und leidet heute noch unter den Folgen. Der JUST-Artikel von heute schlägt genau in dieselbe Kerbe. Seien Sie also vorsichtig! Der Zufall wollte es, dass ich beauftragt wurde, Sie anzurufen. Was auch immer Zufälle bedeuten oder ob es sie überhaupt gibt, ich empfehle Ihnen, lassen Sie sich impfen und treten Sie die Reise an. Auf Wiederhören.“ Dann legte sie auf.

Die Eingebung

Vom spontanen Nachmittagsnickerchen rutschte Heidi ungewollt in den Tiefschlaf. Erst als das Mondlicht durch die Ritzen der Fensterläden drang, erwachte sie wieder.

Sofort richtete sie sich auf und ging in die Küche. Hungrig zog sie die aufgerissene Schokoladenpackung aus der Schublade und blickte zur Uhr. Es war bereits kurz vor acht. Sie nahm ein Stück in den Mund und zerkaute es. Orientierungslos hüpften ihre Gedanken vom Impfzentrum zum Medienmob über Marti bis nach Japan. Während sie ein zweites Stück Schokolade im Mund zergehen ließ, drehte sie sich um und betrachtete das Bild ihres Vaters, das an der Wand neben der Küchentür hing. Wie von Zauberhand hatte sie eine Eingebung. Entschlossen, ohne Zeit zu verlieren, zog sie ihren schwarzen Mantel über, hastete ins Schlafzimmer und färbte sich vor dem Spiegel stehend die Lippen. Sie schnappte sich das Handy und zerrte die Handtasche unter dem Schminktisch hervor, in der sie das Gerät verschwinden ließ, schlüpfte in ihre Doc Martens-Schuhe und zog die Mantelkapuze über den Kopf. Um sich zu vergewissern, dass niemand im Flur war, öffnete sie die Wohnungstür einen Spalt und blinzelte durch die Öffnung. Die Luft war rein. Lautlos verließ Heidi die Wohnung und ging den Gang entlang. Der Mondschein formte ihren Schatten zu einer Mönchsgestalt, der neben ihr her huschte, bis er sich auf der Treppe in der Dunkelheit verlor. Unten angekommen, schaute sie sich kurz um und marschierte los. Nach ein paar Metern huschte eine Katze aus dem Gebüsch an ihr vorbei. Heidi schreckte zurück, ging aber unbeirrt weiter. Hinter dem Bahnhof angekommen, hielt sie nach einem Taxi Ausschau. Es dauerte keine Minute, bis eines angefahren kam und zentimetergenau neben ihr anhielt.

Sie öffnete die Tür, ohne den Fahrer anzuschauen, und sagte: „Zum Schloss Kyburg, bitte.“

„Gern, bitte steigen Sie ein“, antwortete der Taxifahrer.

Heidi setzte sich auf den Beifahrersitz. Kaum war die Tür geschlossen, fuhr das Auto auch schon los. Während der Fahrt ging eine Meldung ein: „Unfall auf der Zürcherstraße.“ Danach blieb es lange Zeit ruhig.

Das Mondlicht drückte durch den Nebel und verhalf zu einer besseren Sicht. Nachdem die Kyburg-Brücke über die Töss überquert war, bog der Wagen in den Reitweg ein, der durch den Wald zur Burg führte. Die Sicht änderte sich schlagartig, sodass der Fahrer die Nebelscheinwerfer einschalten musste. Der alte Wald ließ erahnen, wie es im Mittelalter gewesen sein musste, als sich die Menschen noch mit Pferd und Wagen fortbewegten. Wegen der extremen Steigung drehte der Motor mit erhöhter Drehzahl. Heidi wurde es mulmig. Sie bat den Taxifahrer, langsamer zu fahren. Eindringlich wiederholte sie ihre Bitte, aber er fuhr unverändert weiter. Eine Nachricht ging ein: „Markus, ruf mich sofort an!“ Der Fahrer ignorierte sie und fuhr unbeirrt weiter. Doch ein wenig später stoppte er auf einem Platz neben dem Abhang. Ruckartig zog er die Handbremse und schaltete das Standlicht ein.

„Ich komme gleich wieder!“, murmelte er spröde, stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu. Heidi sah durch die Windschutzscheibe in den Geisternebel. Sie fühlte sich ausgeliefert. Vor Angst erstarrt, konnte sie sich nicht bewegen. Draußen nahm der Fahrer sein Handy aus der Brusttasche und telefonierte. Während Heidi im Auto saß und lauschte, ging ihr ein Fluchtgedanke durch den Kopf. Als sie die Tür öffnen wollte, beendete der Mann das Gespräch und stieg wieder ein. Mit einem Lächeln erkundigte er sich freundlich: „Fühlen Sie sich jetzt besser? Darf ich weiterfahren?“

Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Sie atmete tief durch und nickte wortlos.

Bei der Kirche Kyburg angekommen hielt das Taxi. Heidi bezahlte, verabschiedete sich und stieg aus. Sie blieb vor der Kirche stehen, bis die Autolichter in der Dunkelheit verschwunden waren.

Zu Besuch bei Dr. Mori

Die Zeiger der Kirchturmuhr standen auf zwölf Minuten nach neun. Heidi nahm das Smartphone aus ihrer Handtasche, tippte die Adresse von Dr. Ryusuke Mori-Schneider ein und folgte der angezeigten Route. Während sie die Straße hinunterging, nahm sie ein Stück Schokolade aus ihrer Handtasche und steckte es sich in den Mund. Ihre Hände zitterten, sie war aufgeregt. Schneller als gedacht stand sie vor dem Landhaus, aus dem Lichter Leben hauchten. Kindheitserinnerungen kamen hoch. Vor der Eingangstür zog sie ihre Kapuze hinunter und drückte den Klingelknopf. Es vergingen Sekunden, die ihr länger als gewohnt vorkamen. Ihr Blick wanderte zum Küchenfenster, als die Eingangstür aufging. Eine junge Frau mit mandelförmigen Augen und einer Schürze um ihre Taille gewickelt stand vor ihr und schaute sie fragend an.

„Entschuldigen Sie die nächtliche Störung“, sagte Heidi nervös. „Mein Name ist Heidi Robusta, ich bin die Tochter von Dr. Moris ehemaligem bestem Freund. Gern würde ich mit Dr. Mori sprechen.“

Die junge Frau lachte auf. „Bitte tritt ein. Ich weiß, wer du bist, Heidi. Wir beide haben als Kinder oft hier draußen im Garten gespielt.“

„Bist du Yukiko?“ Heidis Stimme klang hell und freudig.

„Ja, das bin ich!“

Die Lampe im Eingangsbereich beleuchtete ihre freudigen Gesichter. Eine warme Atmosphäre breitete sich im rustikalen Flur aus.

„Yukiko, was für eine Überraschung! Wie geht es dir?“

„Mir geht es gut, danke. Sag, Heidi, wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?“

Heidi dachte kurz nach und antwortete: „Bestimmt ist das über zehn Jahre her.“

Plötzlich schoss es aus Yukiko heraus: „Ich habe dich kürzlich im Fernsehen in der Suipon-Quizshow gesehen. Heidi, du bist berühmt! Im Gegensatz zu mir“, setzte sie traurig hinzu. „Die Konditorin, die noch im Elternhaus wohnt und mit 33 Jahren immer noch keinen Freund hat.“

Heidi wurde verlegen. „Mach dir nichts draus, Yukiko, ich bin genauso alt wie du und habe zurzeit auch keinen Freund. Ich lebe in einer einfachen Zweizimmerwohnung. Und ich bin nicht berühmt. Im Gegenteil, ich bin die große Verliererin.“

„Nein, das bist du nicht. Du bist gut, du weißt sehr viel.“

Sie fasste Heidi am Arm und forderte sie auf einzutreten. Am Eingang zog Heidi die Schuhe aus, schlüpfte in die Besucherpantoffeln und folgte Yukiko ins Wohnzimmer.

„Papa, du hast Besuch!“

Eine männliche Stimme drang vom Nebenzimmer in den Wohnraum.

„Hast du mich gerufen, Yukiko?“, und schon stand er da und starrte Heidi an, als ob sie von einem anderen Stern wäre.

Respektvoll positionierte sie sich wie eine Japanerin in strammer Haltung vor ihm. Er musterte sie und forderte sie auf in einem der Sessel, die verteilt im Raum standen, Platz zu nehmen. Nachdem sie sich niedergelassen hatte, setzte er sich auf die linke Seite auf ein Sofa.

„Was führt dich zu so später Stunde zu mir. Ist etwas geschehen?“

„Entschuldigen Sie die Störung, Herr Mori. Es ist alles in Ordnung, ich möchte Sie nur um Ihren Rat bitten.“

„Dann lass mal hören. Übrigens, das letzte Mal, als wir uns gesehen haben, war vor drei Jahren an der Beerdigung deines Vaters.“ Er räusperte sich und fuhr fort. „Ich vermisse ihn sehr. Dein Vater war mein bester Freund. Dank ihm konnte ich in der Schweiz bleiben. Ich stehe tief in seiner Schuld.“

Heidi entgegnete einfühlsam: „Ich verstehe. Papa hat mir oft von Ihnen erzählt.“

„Bis kurz vor seinem Tod haben wir uns regelmäßig verabredet. Wir philosophierten oft bis in die späten Abendstunden. Dein Vater war ein sehr guter Arzt, ein Mensch, der für andere stets das Beste wollte. Nach seinem Ableben hat sich mein Dasein verändert. Auch Claudia, meine Frau, die zurzeit krank im Spital liegt, mochte ihn sehr.“

„Ich hoffe, es ist nichts Ernsthaftes mit ihrer Frau.“

„Bestimmt wird sie wieder gesund. Ich bin oft bei ihr im Krankenhaus. Yukiko ist mir eine große Unterstützung, ich bin ihr sehr dankbar. Sie ist eine gute Tochter.“

Wie gerufen erschien Yukiko mit einem Tablett in den Händen. Sachte stellte sie die Tassen mit Grüntee und eine Schale mit selbstgebackenen Keksen auf den Tisch.

„Bitte bedient euch“, sagte sie mit einem Lächeln.

Als sich Yukiko setzen wollte, klingelte das Telefon am anderen Ende des Wohnzimmers. Schnell huschte sie hinüber, nahm den Hörer in die Hand und meldete sich: „Yukiko Mori.“

Sie stand mit dem Rücken zur Wand und blickte zu ihrem Vater. Ab und zu sagte sie: „Ich verstehe … Jawohl … Okay …“

Während der Arzt den Worten seiner Tochter lauschte, öffnete er eine Schublade in der Kommode neben dem Sofa, entnahm ihr eine Schachtel und stellte sie auf den Tisch.

Das Telefongespräch zog sich in die Länge.

„Was kann ich für dich tun?“, fragte er Heidi unvermittelt.

„Nun,“ begann Heidi, „ich, ich war kürzlich … Bestimmt wissen Sie schon, dass ich die Verliererin der letzten Suipon-Quizshow bin, oder vielleicht haben Sie die Show wie Yukiko auch im Fernsehen mitverfolgt?“

Der Arzt nickte.

„Als Verliererin steht mir als Trostpreis eine Reise nach Japan zu. Die Frau vom Impfzentrum empfahl mir, die Reise anzutreten, weil mich die Presse, wenn ich hierbleibe, als Verliererin zur Närrin der Nation machen könnte. Davor habe ich Angst.“

„Ich verstehe. Du möchtest also, um dem Medienrummel zu entgehen, nach Japan reisen, stimmt’s?“

„Genau. Aber was mir noch mehr Angst macht als die unangenehme Aufmerksamkeit der Presse ist diese YOUKOSO-Impfung, die seit kurzem für die Einreise nach Japan Pflicht ist.“

Dr. Mori klappte den Deckel von der Schachtel auf, nahm seine Tabakspfeife heraus und fragte: „Gestattest du?“

„Selbstverständlich! Ich liebe Tabakduft.“

Er legte seine Bruyere-Pfeife auf den Tisch, öffnete die Dose und griff mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger ins Innere der Büchse. Gekonnt zog er einen Büschel Tabak heraus, ließ ihn in den Pfeifenkopf fallen und wiederholte das Prozedere mehrere Male. Als der Kopf gefüllt war, drückte er den bereits vorhandenen Tabak mit weiteren Büscheln nach unten. Mit dem Pfeifenfeuerzeug zündete er sie sich schließlich an. Während des Nachstopfens zog er immer wieder an der Pfeife, bis sich der süßduftende Rauch im ganzen Raum ausbreitete.

Wehmütig murmelte Heidi: „Jetzt habe ich das Gefühl, Papa ist da.“

Der Doktor nickte schweigend und zog erneut an der Tabakspfeife, die er fest mit seinen Fingern umklammert hielt. Er kam auf Heidis Erklärung zurück.

„Von der Quizshow habe ich in der Zeitung gelesen. Du wurdest also bereits vom Impfzentrum informiert. Das ist ja interessant.“

„Jawohl, heute Nachmittag hat mich Frau Grob vom Impfzentrum Goldstern angerufen. Sie wiederum wurde vom Reiseunternehmen informiert. Die Abreise soll bereits kommenden Freitag stattfinden. Ich gehe davon aus, dass es noch ein paar Tage dauert, bis alles erledigt ist.“

„Dem ist so. Wie du sagtest, ist die YOUKOSO-Impfung für die Einreise nach Japan Pflicht. Die öffentliche Erklärung begründet dies mit Terrorismusbekämpfung. Es ist eine Zusammenarbeit zwischen Japan und der Schweiz.“

Inzwischen hatte sich Yukiko schweigend neben ihren Vater gesetzt.

„Yukiko, was ist los?“

Mit verlorenem Blick schaute sie in den Raum und berichtete traurig: „Mama muss ins Universitätsspital Zürich verlegt werden.“

Der Arzt drückte mit dem Pfeifenstopfer mehrere Male in den Pfeifenkopf und sagte mit ruhiger Stimme: „Ich werde morgen früh Albert vom Universitätsspital anrufen. Er ist ein guter Arzt und wird sich um Mama kümmern.“

Für einen Moment herrschte Stille, bis Dr. Mori wieder das Wort ergriff. „Heidi, ich werde dir helfen. Wenn du möchtest, kann ich veranlassen, dass du mit einer von mir entwickelten Scheinimpfung geimpft wirst. Das genaue Vorgehen werde ich dir morgen erklären.“

„Vielleicht ist es doch besser, wenn ich nicht nach Japan reise. Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie meinetwegen in Schwierigkeiten geraten.“

„Mach dir keine Sorgen.“

„Gut, dann nehme ich Ihr Angebot an. Vielen Dank!“

„Es ist schon spät, ich bitte dich unser Gast zu sein. Du kannst im Gästezimmer übernachten. Yukiko wird dir alles Nötige bereitlegen. Morgen nach dem Frühstück werde ich dir erklären, was es mit der YOUKOSO-Impfung auf sich hat und welche Vorkehrungen wir für deine Reise treffen müssen. Ich wünsche dir eine gute Nacht!“

Heidi richtete sich auf und verneigte sich tief. Danach verschwanden die beiden Frauen im oberen Stock, während Dr. Mori auf dem Sofa sitzen blieb.

JAPAN

Dienstag , 18. November 2025

Das Erdbeben

„Ken, wach auf! Spürst du es?“, hörte ich Emikos Stimme aus der Ferne rufen. „Bitte wach auf! Ein Erdbeben!“, schrie sie verzweifelt.

Erschrocken öffnete ich die Augen. Mich traf fast der Schlag, als ich ihr Gesicht sah – kreidebleich.

„Hast du das Beben nicht gespürt?“

„Beruhige dich. Ist ja gut, es ist vorüber“, erwiderte ich mit heiserer Stimme, da setzte das Beben erneut ein.

„Ken, wir müssen das Haus verlassen, zieh dich schnell an! Ich muss hier raus! Ich habe fürchterliche Angst!“

Sofort sprang ich auf die Beine und nahm meine Geliebte in die Arme. Sie zitterte wie Espenlaub.

Seit ihrer Kindheit litt sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Emiko war als Sechsjährige durch ein starkes Erdbeben unter den Trümmern ihres Elternhauses begraben worden. Wie durch ein Wunder konnte sie nach stundenlanger Suche der Rettungskräfte lebend geborgen werden. Ich hielt sie immer noch fest in meinen Armen und löste mich erst von ihr, als es vorbei war.

„Emiko, es ist jetzt gut. Lass uns hinunter in den Speisesaal gehen.“ Tatsächlich beruhigte sie sich. Sie nickte und ließ sich widerstandslos von mir führen. Es war kurz vor sieben, wir waren die ersten Gäste im Speiseraum und setzten uns an denselben Tisch wie am Vorabend. Ein typisches japanisches Frühstück mit einer Miso-Suppe, Tofu, gebratenem Lachs, Reis, Nori-Algen, einem rohen Ei und Natto war gedeckt. Hätte ich auf etwas verzichten müssen, dann auf keinen Fall auf Natto.

Natto sind stark riechende, fermentierte Sojabohnen. Nicht alle Japaner mögen sie. Entweder man liebt sie oder man hasst sie. Ich liebte sie. Saß ich mit Emiko am Frühstückstisch und hielt mir mit der linken Hand die Nase zu, während ich mit den Stäbchen in der Rechten die fadenziehenden Natto-Böhnchen in den Mund schob, konnte sie sich das Lachen nicht verkneifen.

Doch an diesem Morgen nach dem traumatischen Schock war sie weit von einem Lachen entfernt. Mit ernster Miene betrachtete sie das Essen auf dem Tisch, legte die einzelnen Komponenten in gewohnter Manier zurecht und begann zu speisen. Der Tag hätte nicht schlechter beginnen können. Mein Herz schmerzte. Endlich, nach Monaten hatten wir wieder mal die Gelegenheit, gemeinsam ein Wochenende zu verbringen und dann die Sache von gestern Abend und heute, noch vor dem Aufwachen das Erdbeben. Nichts passte, einfach nichts.

„Ken, was ist los, warum schaust du mich so an?“

„Ich … Wie meinst du das?“

„Du starrst mich geradezu an.“

„Entschuldige, ich bin immer noch müde.“

Nach einem Schluck Grüntee öffnete ich das Natto-Schächtelchen und ließ mir den Spaß, Emiko zum Lachen zu bringen, nicht entgehen.

Jetzt erst recht, dachte ich.

Es funktionierte, selbst heute. Sie hielt ihre rechte Hand vor den Mund und mahnte: „Ken, lass das. Du weißt doch, dass ich immer lachen muss, wenn du Natto so isst.“

„Darum tue ich es ja, ich möchte dich glücklich machen, mein Schatz.“

„Das ist lieb von dir. Und du hast es wieder einmal geschafft. Weil du mir ein Lachen geschenkt hast, überlasse ich dir die Wahl, wohin wir heute gehen. An die Küste oder in die Berge?“

„Wenn du mich so fragst, lieber an die Küste.“

„Gut, abgemacht! Auch ich war schon länger nicht mehr am Strand. Du weißt schon, der kleine Strandabschnitt unterhalb der Straße.“

„Gute Idee! Lass uns nach dem Frühstück dort hingehen und eine gute Zeit verbringen.“

In der Toilette

Nach dem Frühstück gingen wir gemeinsam ins Zimmer und machten uns für den Tag bereit. In der Toilette entdeckte ich ein Otohime-Gerät, das mir gestern Abend nicht aufgefallen war. Ich drückte auf den Knopf des Kästchens an der Wand. Ein herzhaftes Gelächter wie aus einem Lachsack ertönte. Ich staunte nicht schlecht, denn üblicherweise hörte man ein Spülgeräusch, das die körpereigenen Toilettengeräusche übertönen sollte. Freudig drückte ich gleich mehrere Male auf den Knopf und dachte über die Herkunft des Namens „otohime“ nach, der heutzutage für das Wort „Geräuschprinzessin“ verwendet wurde. Ein lustiges Wortspiel. Der Name für das Gerät bestand aus zwei japanischen Zeichen, das erste, „oto“, bedeutete „Geräusch“ und das zweite, „hime“, stand für „Prinzessin“, demzufolge „Geräuschprinzessin“. Schaute man sich aber die ursprüngliche Zeichenkombination von früher an, war das erste Zeichen „oto“, ein anderes und bedeutete „jüngere“, also „jüngere Prinzessin“. Otohime, die jüngere Prinzessin, war eine Göttin aus der japanischen Mythologie, wohnte im Drachenpalast unter dem Meer und war die Tochter von Ryujin, dem Drachengott des Meeres. Was war unsere Sprache doch kompliziert! Aber das war es ja, was wir Japaner liebten, es konnte nicht kompliziert genug sein.

Emiko stand unweit der Toilettentür und ich drückte auf den Knopf. Es lachte, ich drückte nochmals und es lachte wieder.

„Ken, hörst du das auch?“

„Ja, es kommt aus der Toilette! Ich glaube, da ist einer drin. Stilles Örtchen kann man das wohl nicht nennen.“

„Mach keine Scherze!“

„Ich trau mich nicht in die Toilette“, alberte ich herum.

Sie kam näher zum Eingang und ich betätigte nochmals die Geräuschprinzessin. Emiko sah das Kästchen und fing auch an zu lachen. Immer wieder drückte ich auf den Knopf und wir lachten „zu dritt“, bis es uns beiden die Tränen in die Augen trieb. Als ich das letzte Mal drückte und danach das künstliche Lachen verstummte, nahm ich Emiko in die Arme. Wir küssten uns leidenschaftlich und alles wieder in Ordnung.

Spaziergang zum Strand

Während Emiko noch ihre Sachen packte, stand ich mit meinen wenigen Habseligkeiten bereits an der Tür.

„Ich gehe schon hinunter und checke aus“, bemerkte ich. Emiko nickte.

Unten angekommen wurde ich von den Angestellten begrüßt. Mein Gepäck deponierte ich beim Eingang und bezahlte anschließend die Rechnung an der Rezeption. Danach verabschiedete ich mich und verließ das Gebäude. Der Sonnenschein hatte die nächtliche Umgebung von gestern Abend in ein malerisches Dörfchen verwandelt. Ich hatte den Eindruck, die Zeit sei in der Feudalherrschaft stehengeblieben.

So muss es schon damals hier ausgesehen haben, dachte ich.

Gemütlich ließ ich mich auf der Bank vor dem Gebäude nieder und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Nach kurzer Zeit war ich eingedöst. Das Knarren der Eingangstür holte mich bald darauf wieder zurück ins Hier und Jetzt.

Bestimmt ist es Emiko, spekulierte ich. Ich öffnete die Augen und sah zu meinem Erstaunen die Rezeptionistin vor mir stehen.

„Herr Sakamoto, entschuldigen Sie die Störung. Ich möchte Sie wissen lassen, dass Frau Ishikawa ihr Gepäck in der Lobby deponiert und das Gebäude durch die Hintertür verlassen hat.“

Wie von der Tarantel gestochen, schnellte ich hoch. „Sind Sie sicher, dass es Emiko Ishikawa war?“

„Ja, Ihre Begleitung mit dem rosa Koffer.“

„Vielen Dank. Ich denke, ich weiß, wo sie hingegangen ist.“

Sofort entschied ich mich für denselben Weg, den ich gestern Abend gegangen war. Ich rannte die Straße hinunter, bis ich am Fuße des Schreins anlangte. Kraftvoll nahm ich drei Stufen auf einmal, bis ich zuoberst unter dem roten Torii stand. Außer Atem wartete ich kurz vor dem Eingang. Dann ging ich weiter über den Kies direkt zum Hauptschrein. Dort, wo ich Emiko gestern Abend hatte stehen sehen, befand sich keine Menschenseele. Ratlos stand ich da und dachte nach. Seltsam, wohin ist sie nur gegangen?

Bevor ich das Areal verließ, machte ich einen kurzen Rundgang um das Gebäude - keine Spur von Emiko. Kein Mensch war zugegen, so entschied ich, den Rückzug anzutreten. Unten angelangt bog ich in die Straße ein und rannte zur Unterkunft zurück. Zu meinem Erstaunen sah ich Emiko auf der Bank am Eingang sitzen. „Wo bist du gewesen?“, fragte ich hechelnd. „Ich habe mir Sorgen um dich gemacht und nach dir gesucht!“

„Entschuldige, Ken, ich wollte dich überraschen. Ich habe für uns beide unten beim Bäcker zwei Anpan gekauft.“

Emikos lieblicher Blick besänftigte mich sogleich und die Welt schien wieder in Ordnung.

„Das ist aber lieb von dir, Emiko! Anpan, meine Lieblingsbrötchen, gefüllt mit süßer Bohnenpaste – das Krönchen für den heutigen Ausflug.“

Ich fasste sie an der Hand und zog sie an mich.

„Lass uns gehen und am Strand die frische Meeresluft genießen.“

Nach einem halbstündigen Spaziergang erreichten wir die Küste, wo wir ein hübsches Plätzchen unter einer Kiefer für uns in Beschlag nahmen. Der Sand war noch nicht ganz durchgetrocknet, sodass ich meine Jeansjacke auslegte und wir darauf Platz nahmen. Gemeinsam lauschten wir den Wellen und aßen unsere Anpan-Brötchen. Ich wünschte, dieser Moment würde ewig dauern. Sanft legte ich meinen Arm um Emikos Schulter, sah ihr tief in die Augen und fragte: „Wann werden wir heiraten?“

„Am liebsten schon morgen“, antwortete sie lächelnd, als uns plötzlich eine krächzende Männerstimme aufschreckte: „Guten Tag.“

Ein kleinwüchsiger Mann, schwarz gekleidet mit roter Mütze auf dem Kopf, stand direkt vor uns.

„Guten Tag“, erwiderte ich genervt und hoffte, dass er sich schnell wieder trollen würde. Doch er blieb vor uns stehen und schrieb mit einem Holzstock zwei japanische Schriftzeichen in den Sand, die das Wort „shinpai“ ergaben. Er machte einen besorgten Eindruck. Die Wortbedeutung der beiden Kanji-Schriftzeichen standen für Angst, Sorge und Befürchtung. Noch bevor ich etwas sagen konnte, kehrte er uns den Rücken und humpelte davon.

Emiko und ich schauten uns fragend an.

„Was hat das zu bedeuten?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen.“

„Wäre es nicht besser, ihm zu folgen und zu fragen, ob er unsere Hilfe braucht? Er hat wohl kaum nur so zum Spaß ,shinpai’ geschrieben. Ich spüre seltsame Energien. Ist das nicht unheimlich?“

„Lass dich nicht verrückt machen. Denke daran, wie viele Menschen heutzutage psychische Probleme haben und sich in unserer zivilisierten Welt nicht mehr zurechtfinden. Vergessen wir einfach den kleinen Mann und sind dankbar für diesen wunderschönen Moment zu zweit.“

„Aber ich fürchte mich! Ich habe das Gefühl, irgendetwas stimmt nicht. Letzte Nacht habe ich geträumt, im Nebel beim Schrein gewesen zu sein. Du weißt schon, der Schrein ganz in der Nähe unserer Unterkunft, den wir letztes Jahr im Winter gemeinsam besucht haben. Erinnerst du dich?“

Mir stockte das Blut in den Adern. Einen Moment saß ich schweigend da.

„Ich habe geträumt, dass mich Ujigamis im Schrein vor einer Katastrophe gewarnt haben“, fuhr Emiko fort. „An die Einzelheiten kann ich mich aber nicht mehr erinnern.“

„Mein Liebling, du weißt doch, dass wir oft seltsame Dinge träumen, an die wir uns nicht mehr erinnern können. Dass dein Traum mit diesem seltsamen Kleinwüchsigen in Verbindung steht, ist doch mehr als abwegig. Denkst du nicht auch?“

„Du glaubst mir also nicht“, erwiderte sie beleidigt und drehte sich von mir ab.

Innerlich aufgewühlt stand ich auf, ging ein paar Schritte näher zum Meer und grub mit meinen Red Wing-Schuhen ein Loch in den Sand. Warum ich das tat, wusste ich beim besten Willen nicht. Hätte ich Emiko erzählen sollen, was gestern Abend vorgefallen war? Würde sie mir glauben? Vielleicht hatte sie recht und es gab tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem Schreinbesuch von gestern Abend und dem kleinwüchsigen Mann. Wenn ich ihr beipflichtete, war der heutige Tag ruiniert, das war glasklar.

Den Ball flach halten ist die vernünftigste Variante, dachte ich.

Das Plätschern der Wellen beruhigte mich. Aus dem Augenwinkel nahm ich Emikos Schatten wahr, der langsam auf mich zukam. Absichtlich bewegte ich mich nicht und wartete, bis sie direkt hinter mir stand, erst dann drehte ich mich um.

Ihr Lächeln überraschte mich.

„Ken, du hast recht. Ich habe mich in etwas hineingesteigert. Lassen wir es hinter uns und sprechen besser über unsere Hochzeit.“

„Sehr gern, meine Liebste. Ich habe schon wieder Hunger. Magst du auch eine Nudelsuppe? Dabei können wir uns unseren großen gemeinsam Tag in allen erdenklichen Farben ausmalen. Was meinst du?“

„Gute Idee! Ich kenne ein Ramen-Restaurant ganz in der Nähe vom Hafen, zu Fuß keine fünfzehn Minuten von hier“, erwiderte sie.

Bald saßen wir gut gelaunt im Ramen-Lokal und beschäftigten uns mit der Auswahl einer Nudelsuppe. Wie immer entschied ich mich für Sapporo-Ramen und Emiko für Kitakata-Ramen, eine Spezialität aus der Stadt Kitakata in der Präfektur Fukushima.

Elternbesuch

Gesättigt verließen wir das Restaurant und schlenderten zu Emikos Elternhaus, das sich drei Straßen westlich und zwei Häuserblocks in südlicher Richtung befand. Ich hatte meinen Arm um ihre Schultern gelegt. Wir redeten über unsere gemeinsame Zukunft und waren glücklich. Plötzlich bemerkte ich etwas Erschreckendes vor uns auf dem Boden. Ich drückte sie an mich und rief: „Pass auf!“

Ein rostroter Brei quellte in unregelmäßigen Abständen aus einem Straßenablauf. Die Farbe dieser Masse erinnerte mich an die Chinoike-Jigoku, die Bluthölle von Beppu, ein Teich mit blutrotem Wasser, der im Süden Japans jährlich von tausenden Touristen besucht wurde. Fragend standen wir davor und beobachteten, wie sich der Brei, der sich über die Straße ausbreitete, abwärts bewegte. Es sah furchterregend aus, wie in einem Horrorfilm, in dem sich eine Art Monsterqualle aus dem Untergrund an die Oberfläche bewegte.

Wir schauten erschrocken auf diese ekelhafte Erscheinung. „Was meinst du“, fragte ich Emiko, „ob dieses Zeug irgendwie im Zusammenhang mit dem Erdbeben von heute Morgen steht?“

„Das glaube ich nicht. Bestimmt handelt es sich nur um ein Leck in einer der umliegenden Kanalleitungen. Wie ich dir letzthin erzählte, die Gemeinden an der Küste sind arm. Die Kanalisation ist alt und die Wartungen sind schlecht. Sowas gibt es immer wieder, mit Sicherheit werden sie den Schaden morgen beheben.“

„Weil ich ein Stadtmensch bin, denke ich immer, alles müsse überall perfekt sein, wie in Tokio.“

Schweigend gingen wir weiter. Das Haus ihrer Eltern war bereits in Sichtweite. Am Eingang angekommen, öffnete Emikos Mutter sogleich die Tür, als hätte sie schon auf uns gewartet. „Guten Tag, bitte kommt herein.“

Wortlos, mit einer Handbewegung forderte mich Emiko auf, als erster einzutreten.

„Guten Tag, Yoko-san. Wie geht es dir?“, erkundigte ich mich bei Emikos Mutter.

„Mir geht es gut, danke. Ich habe für uns alle Dango-Spieße gemacht. Bitte geht schon ins Wohnzimmer, Papa ist auch gleich da.“

Wir zogen unsere Schuhe aus und deponierten sie vor dem Eingang.

„Warst du beim Friseur?“, fragte Emiko ihre Mutter, die ohne zu antworten schon wieder in der Küche verschwunden war.

Im Wohnzimmer nahmen wir auf einem Sitzkissen am geheizten Kotatsu-Bodentisch Platz. Die Raumtemperatur war kühl und ich deckte mich mit der großen Wolldecke zu, die über den Tisch, von einer dicken Glasplatte fixiert, bis zum Boden reichte.

„Die ist schön kuschelig“, bemerkte ich freudig.

Emikos Mutter kam herein, stellte eine Kanne Grüntee und einen Teller voller verschiedener Dango-Spieße auf den Tisch.

Je länger ich auf die köstlichen Spieße schaute, desto schwieriger wurde es zu widerstehen. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ein Besuch bei meinen zukünftigen Schwiegereltern war für mich ohne die selbstgemachten Dango undenkbar. Dango war eine Art Reisknödel, sie schmeckten in Kombination mit Grüntee besonders gut. Dango mit Azuki-Bohnen waren meine Favoriten.

Ein Knarren, die Eingangstür ging auf und Hiroshi-san, Emikos Vater, trat ein.

„Guten Tag, ihr beiden, ich bin gleich bei euch.“

„Hallo Papa. Beeil dich, Ken hat schon fast alle Dango verschlungen!“

Hiroshi-san legte im Flur seinen Mantel ab, zog die Schuhe aus und schlüpfte in seine Hauspantoffeln. Dann kam er ins Wohnzimmer, legte drei Sitzkissen aufeinander und platzierte sich darauf am Kotatsu.

„Erzählt, wie läuft es bei der Arbeit?“

Emiko arbeitete als Personalassistentin im Bereich Human Resources. Ihre Fähigkeit im Umgang mit Menschen war nebst dem Wissen im Personalmanagement sehr gefragt. Das Railway Museum Omiya, wo sie angestellt war, plante eine Umstrukturierung. Es waren viele personelle Rochaden vorgesehen, was für Emiko mehr Arbeit bedeutete. Überstunden bis am Abend um zehn Uhr waren zurzeit keine Seltenheit.

Emiko erzählte von ihrer Arbeit. Derweil betrachtete ich seine Hände, die auf der Glasplatte ruhten. Die Haut, zerfurcht wie die einer Echse, und Narben an den Gelenkknöcheln ließen erahnen, mit welcher Kraft und Beharrlichkeit dieser Mann sein Leben lang gearbeitet hatte. Erst vor wenigen Monaten war Hiroshi-san in den Ruhestand getreten und konnte nun endlich mit seiner Frau den Lebensabend genießen.

„Hiroshi-san, wie geht es deiner Hüfte, kannst du wieder beschwerdefrei gehen?“, fragte ich.

„Danke, nur das Sitzen auf dem Boden bereitet mir noch ein bisschen Mühe. Aber mit drei Sitzkissen geht es schon ganz ordentlich“, erklärte er und ließ ein Dango-Bällchen in seinem Mund verschwinden.

Ich hielt einen Dango-Spieß in die Luft und lobte Emikos Mutter: „Die schmecken herrlich, ich kann nicht genug davon bekommen!“

Hiroshi-san wurde unruhig und bewegte seine Beine unter dem Tisch. Er richtete sich auf und blieb für einen Moment mit schmerzverzerrtem Gesicht vor uns stehen.

„Papa, hast du Schmerzen?“, fragte Emiko besorgt.

„Nein, mach dir keine Sorgen, alles bestens“, antwortete er und ging langsam zum Ausgang. „Meine Hüftmuskeln brauchen Bewegung, ich mache einen Rundgang ums Haus und bin gleich wieder da“, entschuldigte er sich.

Das Knarren und ein darauffolgendes Knallen der Tür war noch zu hören, dann wurde es still. Ich war mir sicher, dass er nicht hinausgegangen war, um sich zu bewegen. Als wir vorhin das Haus erreicht hatten, hatte ich einen Spaten mit rostfarbener Schlacke, überzogen vor einem kleinen Aushub, auf dem Rasen liegen sehen. Der wahre Grund für sein Hinausgehen war der rostrote Brei, der nicht nur auf der Straße, sondern auch in seinem Garten aus dem Boden drückte. Nach wenigen Minuten war er zurück und setzte sich wieder zu uns an den Tisch. Er schwieg und schaute nachdenklich. Am liebsten hätte ich ihn auf das Problem angesprochen, doch dann wäre eine gedrückte Stimmung aufgekommen und das wollte ich auf keinen Fall. Tochter und Mutter unterhielten sich eifrig über Kücheneinrichtungen und Kochgerichte, während ich einen Dango-Spieß nach dem anderen verspeiste. Ohne Ankündigung riss Yoko-san ihre Arme in die Höhe und rief freudestrahlend: „Dein Vater hat mir einen neuen Gasherd geschenkt, Emiko. Willst du ihn dir ansehen?“ Schon waren die beiden in der Küche verschwunden.

Jetzt ergab sich doch noch eine Gelegenheit, um den Vater auf das Problem im Garten anzusprechen.

„Hiroshi-san, hast du eine Ahnung, warum dieser rostrote Brei aus dem Boden quillt? Gibt es womöglich ein Leck in der Kanalisation?“

Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass meine Frage für ihn wenig überraschend kam.

„Das hat nichts mit der Kanalisation zu tun. Erzähl aber bitte Emiko nichts davon, sie würde sich fürchterlich ängstigen. Es ist noch nichts bewiesen“, bemerkte er. „Als ich den Wasserausstoß am Morgen im Garten entdeckte, ging ich sofort zur Straße hinunter. Dort stellte ich das Gleiche fest. Aus allen Ritzen floss rostrotes Wasser. Jetzt ist es kein Wasser mehr, sondern Bodensatz, der auf natürliche Weise aus der Tiefe heraufgepumpt wird. Als ich das verfärbte Wasser sah, wurde ich an die Erzählungen meines Großvaters erinnert, der das Meiji-Sanriku-Erdbeben mit dem großen Tsunami vom 15. Juni 1896 überlebt hat.“

Bedächtig legte er seine Hände auf die Glastischplatte und lauschte. Er vergewisserte sich, dass die beiden Frauen noch in der Küche weilten. Erst als Gesprächsfetzen zu uns drangen, sprach er weiter.

„Damals, zu Großvaters Zeiten, kam es vor, dass sich Tage vor dem großen Beben das Brunnenwasser in vielen Ortschaften weiß-rötlich verfärbte. Niemand wusste warum, niemand ahnte, dass es die Vorzeichen des katastrophalen Seebebens waren. Es gab noch mehrere solcher Phänomene, von denen berichtet wurde. Ab März jenes Jahres traten an der gesamten Sanriku-Küste ungewöhnlich viele Aale auf. Um den 12. und 13. Juni wurden Unregelmäßigkeiten der Gezeitenströmungen festgestellt und das Fischvorkommen war ungewöhnlich hoch. An gewissen Orten wurden über mehrere Tage am Abend Lichter am Himmel gesichtet, welche die Dorfbewohner als Irrlichter deuteten. Niemand wusste, was das alles zu bedeuten hatte.“

Er lauschte einen kurzen Moment und sprach weiter.

„Das Meiji-Sanriku-Erdbeben ereignete sich am Abend des 15. Juni 1896. Es war ein Regentag und bereits dunkel, als das erste Beben um 19:32 Uhr auftrat, das über fünf Minuten andauerte. Durch das Seebeben wurde Energie freigesetzt und die über dem Epizentrum liegende Wassersäule geriet in Schwingung, sodass eine kolossale Welle, die sich, je näher sie auf die Küste zukam, bis auf 25 Meter Höhe auftürmte. Der Tsunami ergoss sich mit ohrenbetäubendem Getöse über die Dörfer entlang der 600 Kilometer langen Sanriku-Küste. Häuser wurden zermalmt, Bäume ausgerissen und Gegenstände weggeschleudert. Innert Minuten wurde das Leben von mehr als 25’000 Menschen ausgelöscht.“

Er schwieg und starrte einen Moment auf seine Hände. Dann hob er den Kopf und schaute mich an. Sein Blick war getrübt und die Stimme traurig, als er wieder zu sprechen begann.

„Den Überlebenden, die noch rechtzeitig in den Hügeln Schutz finden konnten und am nächsten Morgen hinunter zur Küste gingen, bot sich ein Bild des Grauens. Großvater erzählte, dass überall leblose Körper herumlagen. Die Sommerwärme und die hohe Luftfeuchtigkeit während der Regenzeit ließen die Leichen schnell verwesen. Der Gestank war unerträglich.“

Als wäre der üble Geruch von damals im Raum, hob ich automatisch den rechten Handrücken vor meine Nase. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn jetzt die Sirenen losgehen würden. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

„Großvater hatte Glück“, berichtete Emikos Vater weiter, „denn genau an diesem Abend war er noch mit Aufräumarbeiten im Schrein beschäftigt. Du weißt schon, der Schrein auf der Anhöhe, in der Nähe der Unterkunft, wo du mit Emiko gestern Abend übernachtet hast.“

Geistesabwesend schaute ich in sein von Furchen durchzogenes Gesicht. Mit meinen Gedanken war ich beim Schrein von letzter Nacht.

Emiko wurde von den Schutzgöttern gewarnt, schoss es mir durch den Kopf.

„Im Gegensatz zu seinen Eltern und Geschwistern“, fuhr Hiroshi-san fort, „die allesamt umkamen, hatte Großvater unsägliches Glück. Hätte er nicht überlebt, wärst du heute nicht mit Emiko zusammen. Ken-kun, ich habe kein gutes Gefühl. Das Beben von heute Morgen und der rostrote Brei könnten ein Vorzeichen sein.“

„Wären Wasserproben aufschlussreich?“

„Vielleicht. Aber wir haben heute ein gutes Frühwarnsystem, Erdbebenmeldungen und Tsunami-Warnungen werden innert Minuten ausgegeben. Wir leben in Sicherheit. Früher zu Großvaters Zeiten war das noch anders.“

Die herannahenden Stimmen von Mutter und Tochter wurden lauter. Freudig gesellten sie sich wieder zu uns. Wie ein Chamäleon die Farbe wechselte, änderte sich der Gesichtsausdruck des Vaters, der sich bei seiner Tochter mit heiterer Stimme erkundigte: „Und, wie gefällt dir Mamas neuer Gasherd?“

„Eine gute Investition, Papa! Beim nächsten Besuch werdet ihr von uns bekocht. Wir wissen auch schon, was wir zubereiten werden. Eine Überraschung für euch.“

Mit meinen Gedanken in der Zeit von damals gefangen, intensivierten sich die schauderhaften Vorstellungen eines Erdbebens. Diese Erderschütterungen schienen entsetzlich lange zu dauern, wie eine Ewigkeit, in Wirklichkeit waren es aber nur ein paar Sekunden.

„Ken, wann fährt euer Zug?“, fragte Emikos Mutter.

„Um 13:39 Uhr.“

„Gut, dann werde ich euch noch ein paar Dango-Spieße bereitmachen. Papa wird euch zum Bahnhof fahren. Emiko, hol doch bitte noch eine Dose getrocknete Pflaumen aus dem Schrank beim Eingang. Die dürft ihr gern mitnehmen.“

„Vielen Dank für alles“, sagte ich. „Ich freue mich auf den nächsten Besuch. Bestimmt ist eure kulinarische Überraschung für uns Männer Nabemono, mein Lieblingseintopf“, ließ ich neckisch verlauten.

„Stimmt nicht, mein lieber Ken!“, bemerkte Emiko und ging zum Eingang.

Wenig später standen wir draußen im Garten und verabschiedeten uns von ihrer Mutter. Der Spaten lag nicht mehr auf dem Rasen. Wir stiegen in den weißen Toyota und wurden von Vater zum Bahnhof gefahren.

Abschied von Emiko

Wenige Minuten vor der Ankunft in Omiya nahm ich Emikos Koffer von der Gepäckablage und brachte ihn in den Vorraum, wo bereits mehrere Leute zum Aussteigen bereitstanden. Danach ging ich wieder ins Abteil zurück. Während der Shinkansen-Zug die Geschwindigkeit drosselte und im Bahnhof einfuhr, machten wir uns bereit und zogen die Jacken an.

„Ich werde mich am Donnerstagabend bei dir melden“, sagte ich.

„Da bin ich mit Hiromi im Shodo-Kurs, du weißt schon, Hiromi Murayama, die im selben Gebäude direkt unter meiner Wohnung wohnt. Übrigens, letzte Woche hat sie mir Kalligrafie-Rollbilder ihres Großvaters gezeigt, er war ein Shodo-Meister. Wunderschöne Bilder, davon bin ich noch sehr weit entfernt. Gern würde ich …“

„Der Zug hält an, wir müssen aussteigen“, unterbrach ich sie.

Schnell nahm ich meine Habseligkeiten von der Ablage, während sich Emiko mit einem Kontrollblick vergewisserte, dass wir nichts liegengelassen hatten. Im Vorraum des Waggons flüsterte ich ihr ins Ohr: „Dann werde ich dich am Freitagabend anrufen.“

„Prima“, meinte sie mit einem Lächeln.

Die Türen öffneten sich automatisch und der Lärm einfahrender Personenzüge, vermischt mit Ansagen und akustischen Signalen, drang ins Innere unseres Zuges. Alles ging sehr schnell und wir standen auf dem Perron. Rasch nahm ich Emiko an die Hand und zog sie aus der wabernden Menschenmasse.

Der JR-Bahnhof Omiya war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt und Umsteigebahnhof in andere verschiedene Regionen, eine davon ist die Region Tohoku in Nordjapan, von der wir gekommen waren. Wer die Rushhour nicht gewohnt war, dem drohte, vom Menschenstrom erfasst und in eine ungewünschte Richtung gestoßen zu werden. Für Menschen wie Emikos Eltern, die an der Küste lebten, waren große Bahnhöfe sehr anstrengend. Reisen in Richtung Tokio nahmen sie nur im äußersten Notfall auf sich. Wir platzierten uns auf einem freien Fleck neben einem Getränkeautomaten, sodass wir uns ungestört verabschieden konnten. Ich schaute auf die Bahnhofsuhr, die ein paar Meter über unseren Köpfen hing.

„Ken, ich wünsche dir morgen einen guten Start. Komm gut nach Hause und ruf mich Freitagabend an.“

„Das werde ich!“

Wie immer, wenn wir auseinandergingen, hielten wir uns gegenseitig an den Händen und schauten uns tief in die Augen.

Während meine Liebste um die Ecke verschwand, drehte ich mich um und ging zu dem Gleis, auf dem mein Zug wartete.

Zwei Minuten, bevor er losfuhr, saß ich im Shinkansen und beobachtete, wie heraneilende Leute in letzter Sekunde zustiegen. Danach wurden die Türen verriegelt und der Zug rollte aus dem Bahnhof. Während ich aus dem Fenster schaute und die Lichter in der Dunkelheit verschwanden, dachte ich an die Zeit mit Emiko in Otsuchi.

SCHWEIZ

Dienstag , 18. November 2025

Der Plan

Nach einem reichhaltigen japanischen Frühstück nahmen Dr. Mori und Heidi im Wohnzimmer auf dem Sofa Platz. Yukiko bediente die beiden mit Grüntee und Keksen und verschwand gleich wieder in der Küche. Mit übergeschlagenen Beinen und einer Tasse Tee in den Händen saß der Doktor auf dem Sofa Heidi gegenüber.

„Ich erkläre dir nun, was das Ziel der YOUKOSO-Impfung ist, wie sie funktioniert, wer dahintersteckt und was ich damit zu tun habe“, fing er an.

Heidi musterte seine Gesichtszüge und antwortete: „Gern, ich bin ganz Ohr.“

„Das Ziel der YOUKOSO-Impfung ist die totale Überwachung von Menschen. Geimpfte Personen können bis zu ihrem Tod überall in Japan und in der Schweiz überwacht werden. Gewiss wird es nur noch wenige Jahre dauern, bis dieses Kontrollsystem auf der ganzen Welt Realität ist. Das Ziel ist die absolute Kontrolle. Die öffentliche Erklärung beschränkt sich lediglich auf die Terrorismusbekämpfung, alles Weitere bleibt unausgesprochen. Das Vakzin gelangt schnell in den Blutkreislauf. Es funktioniert mit einer neuartigen Elektro-Digital-Synthese-Injektion. Der Impfstoff wirkt innerhalb von Stunden und das Tracking kann mit elektromagnetischen Wellen schnell und zuverlässig aufgezeichnet werden.“

Die Türklingel läutete. Dr. Mori machte eine kurze Pause.

„Ich komme!“, rief Yukiko aus dem Küchenfenster.

Heidi nutzte den Unterbruch für eine Frage. „Warum Japan und die Schweiz? Wäre es für Japan nicht nützlicher, mit ihren Verbündeten, den USA, zusammenzuarbeiten?“

„Eine gute Frage! Nun, die Schweiz ist neutral, hat genügend Geld für Forschungsarbeiten und dazu großes Interesse an einer Zusammenarbeit mit Japan. Denn die beiden Länder vertreten auf der multilateralen Ebene ähnliche Positionen, zum Beispiel in der Friedenspolitik und bezüglich atomarer Abrüstung.“

Auf einmal stand Yukiko vor ihrem Vater und überreichte ihm ein kleines Paket, das er unbeachtet auf den Tisch stellte. Sein Gesichtsausdruck war ernst.

„Heidi vergiss nicht: Was ich dir jetzt erzähle, muss unter uns bleiben.“

„Selbstverständlich werde ich mit keinem Menschen darüber sprechen“, versicherte sie umgehend.

„Damals, noch im selben Jahr nach meiner Niederlassung in der Schweiz, wurde ich von der japanischen Regierung gezwungen, die Forschungsarbeiten für den YOUKOSO-Impfstoff, der vom Forschungsteam Mogari in Japan vorangetrieben wurde, zu unterstützen. Hätte ich die Arbeit verweigert, wäre eine Einreise nach Japan ohne Festnahme nicht möglich gewesen.“

Der Arzt nahm einen Schluck Grüntee und sprach weiter. „Bevor ich in die Schweiz kam, habe ich an meiner Entdeckung, der Elektro-Digital-Synthese, kurz EDS, geforscht. Es war mein Gebiet und meine große Leidenschaft. Bereits mit 32 Jahren leitete ich eine Abteilung mit zwölf Mitarbeitenden an der Universität Tokio. Wir verstanden uns gut und kamen schnell mit der Forschung dieser neuen EDS-Technologie für die Erdbeben-Frühwarnung voran. Nach dem ersten abschließenden Bericht wurde die Regierung auf unsere Arbeiten aufmerksam und wir erhielten zur Förderung unseres Forschungsprojektes zusätzliche Staatsgelder. Ohne Vorwarnung bahnte sich ein Unheil an. Die Regierung wurde von unserem Vorgesetzten, Professor Keita Mogari, über seine persönliche Idee der YOUKOSO-Impfung in Kenntnis gesetzt. Nur mit Hilfe meiner Resultate und Erfahrungen der jahrelangen EDS-Forschungsarbeiten war ihm der Einfall dazu gekommen. Er stahl sozusagen meine erarbeiteten Ergebnisse für sein Vorhaben. Persönlich bin ich gegen diese YOUKOSO-Impfung. So wie Einstein auch nie wollte, dass aufgrund seiner Erkenntnisse und Errungenschaften eine Atombombe gebaut wurde.“