Scholem, Arendt, Klemperer - Steven E. Aschheim - E-Book

Scholem, Arendt, Klemperer E-Book

Steven E. Aschheim

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Beschreibung

»Wer die europäische Geschichte im 20. Jahrhundert verstehen will, kommt an Steven Aschheims Werk nicht vorbei. Seine elegante Prosa zeugt von philologischer Sorgfalt, weltläufiger Bildung und Humanismus. So unterschiedlich die drei Protagonisten waren, denen sich Aschheim widmet, so originell, einfühlsam und fruchtbar ist seine Deutung.« Till van Rahden Jüdisch- und Deutschsein prägten schicksalhaft die Leben dreier herausragender Intellektueller – Gershom Scholem, Hannah Arendt und Victor Klemperer. Der israelische Historiker Steven Aschheim berichtet von der schwierigen Suche nach Identität in der Epoche der Shoah in Form einer komplexen "Geschichte von innen". Sein Blick in die Briefe und Tagebücher offenbart die Kämpfe, Konflikte und persönlichen Schwankungen der drei Protagonisten, die erstaunliche Verbindungslinien ebenso zulassen wie den Blick auf gewagte Denkexperimente. Mit großer Sensibilität und interpretatorischer Finesse lädt Aschheim dazu ein, diese Dokumente als elaborierte Ausdrucksformen für die Komplexität des deutsch-jüdischen Verhältnisses neu zu lesen. Die spirituelle jüdische Selbstgewissheit Scholems, Arendts reflektierende und changierende Haltung zwischen Zionismus und deutsch-jüdischem Dialog sowie Klemperers verzweifelte Einsicht in das Scheitern jüdischer Assimilation bieten in ihrer geistigen Tiefe bis heute essenzielle Orientierungsmarken, um in der Gegenwart neue Möglichkeitsräume für deutsch-jüdisches Leben zu sichern.

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Seitenzahl: 201

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Steven E. Aschheim

Scholem, Arendt, Klemperer

Steven E. Aschheim, geb. 1942, ist Historiker und emeritierter Professor der Hebräischen Universität Jerusalem, wo er Kultur- und Ideengeschichte lehrte. Seine Forschungsgebiete umfassen die Intellektuellengeschichte, die moderne deutsche und jüdische Geschichte. Er war Inhaber zahlreicher Gastprofessuren an renommierten amerikanischen und europäischen Universitäten (u.a. New York, Toronto, Berlin, Budapest, Dublin, Amsterdam).

Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German-Jewish Consciousness, 1800–1923, Madison 1982; Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart 1996; Hannah Arendt in Jerusalem, Princeton 2001 (als Herausgeber); Beyond the Border. The German-Jewish Legacy Abroad, Princeton 2007.

Steven E. Aschheim

Scholem, Arendt, Klemperer

Deutsch-jüdische Identität in Krisenzeiten

Aus dem Englischen von Jan Eike Dunkhase

Europäische Verlagsanstalt

Titel der Originalausgabe:

Scholem, Arendt, Klemperer

Intimate Chronicles in Turbulent Times

Indiana University Press © 2001 by Steven E. Aschheim

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

E-Book (EPUB)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2023

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Alle Rechte vorbehalten.

EPUB: ISBN 978-3-86393-652-5

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

ISBN 978-3-86393-165-0

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeischeverlagsanstalt.de

Inhalt

Einleitung

1 Gershom Scholem und die Erzeugung jüdischer Selbstgewissheit

2 Hannah Arendt und die Komplexität jüdischen Selbstseins

3 Victor Klemperer und der Schock multipler Identitäten

Anmerkungen

Dank

In Erinnerung an George L. Mosse –einen außergewöhnlichen Menschen

Einleitung

ALGERNON: Sie führen ein Tagebuch? Oh, ich gäbe alle Schätze dieser Erde, wenn ich es lesen dürfte. Gestatten Sie?

CECILY: Oh, nein! Es enthält lediglich die Gedanken und Eindrücke eines sehr jungen Mädchens und ist folglich zur Publikation bestimmt.

– Oscar Wilde, The Importance of Being Earnest

… den messianischen Moment: die Zeit des Briefes.

– Gershom Scholem

Dieses Buch ist von einigen bemerkenswerten Dokumenten inspiriert, die von drei außergewöhnlichen und unverwechselbaren deutsch-jüdischen Denkern verfasst wurden: Gershom Scholem, Hannah Arendt und Victor Klemperer. Ihre persönlichen Schriften liefern uns Aufzeichnungen, die die Bildung, Vertiefung und Wandlung ihrer unterschiedlichen Identitäten und Weltsichten angesichts der großen Umbrüche und Verheerungen des 20. Jahrhunderts beleuchten. Besagte Texte sind, ganz unabhängig voneinander, erst lange nach ihrem Ableben veröffentlicht worden. Sie umfassen die aufschlussreichen Jugend- und Nachjugendtagebücher von Gershom Scholem aus der Zeit zwischen 1913 und 19171 und die gigantische Korrespondenz seines gesamten Lebens bis zu seinem Tod im Jahr 1982 (ein wahrhaftes Who’s Who der neueren Literatur); Hannah Arendts Briefwechsel mit einigen kulturellen Berühmtheiten des Jahrhunderts (Karl Jaspers, Martin Heidegger, Mary McCarthy, Hermann Broch und andere); und die atemberaubenden Tagebücher Victor Klemperers, die in pointiertem tagtäglichen Detail ein Leben in Deutschland seit 1918 nachzeichnen, besonders dramatisch aber die finstere Zeit des Dritten Reichs dokumentieren.

Warum diese Texte zusammenfügen und mit welcher Rechtfertigung? War Klemperer doch, unauslöschlich und deutlich sichtbar, ein Geschöpf des Wilhelminischen Reichs, durchdrungen von dessen behäbigen Vorurteilen, Vorlieben und Befangenheiten. 1881 geboren, war seine geistige und politische Welt von jener der rebellischeren Scholem (geb. 1898) und Arendt (geb. 1906) durch eine generationelle Kluft getrennt. Arendt und Scholem waren zwar Kinder der wilhelminischen Zeit, ihr Befinden und Empfinden aber mit einer Epoche von Krise und Bruch verbunden: Ihre formativen Erfahrungen bildeten der Erste Weltkrieg beziehungsweise die radikale Intellektualität der Weimarer Republik. Es ist dieser subversive „Weimar-Impuls“, dem, wenigstens zum Teil, ihre gegenwärtige Resonanz geschuldet ist, und es ist Klemperers störrisch-altmodischer Wilhelminismus, der ihn zugänglich, aber von seinen Einstellungen her zugleich etwas abseitig erscheinen lässt.2 Doch auch im Fall von Scholem und Arendt erwiesen sich letztlich ihre Differenzen als maßgeblich. Ihr Verhältnis war ein stürmisches, das sich von Bewunderung und Freundschaft zu offener Feindschaft entwickelte. (Sie schrieben einander auch Briefe – die inzwischen publiziert sind.)

Tatsächlich waren unsere Protagonisten von sehr unterschiedlichem Temperament und verfolgten offensichtlich inkompatible, bisweilen sogar einander diametral entgegengesetzte philosophische und politische Absichten. Was das Reizthema des Verhältnisses zwischen Deutschtum und Judentum betraf, hatten ihre persönlichen Einstellungen ebenso wie ihre prinzipiellen Urteile wenig miteinander gemein. Scholem, bin ich versucht zu sagen, war ein „ursprünglicher“ Zionist, der auf der Verwirklichung einer kulturellen und politischen jüdischen Renaissance in Palästina beharrte sowie alle deutschen Verbindungen und Einflüsse abkappen wollte; Arendt hingegen, wenngleich eine idiosynkratisch passionierte Jüdin und zeitweilige Zionistin, stand allen kollektiven und ideologischen Zuschreibungen misstrauisch gegenüber und blieb weitaus skeptischer im Blick auf ihre eigenen Gruppenengagements und ihre Vorstellungen individuellen Selbstseins (worüber sie und Scholem bitter stritten); und Victor Klemperer, Romanist und entfernter Cousin des bekannteren Dirigenten Otto Klemperer, war zum Protestantismus konvertiert, ein glühender Vertreter des Deutschtums und der deutsch-jüdischen Assimilation. Ihre letzten geographischen Standorte – Israel, die Vereinigten Staaten, Deutschland – spiegeln die unterschiedlichen Identitäten und Ideologien ihrer Wahl beinahe idealtypisch wider.

Abermals muss gefragt werden: Warum diese Zeugnisse zusammenfügen und mit welcher Rechtfertigung? Es genügt nicht zu antworten, dass sie alle von faszinierenden – dabei willensstarken, eigensinnigen und mitunter nervenstrapazierenden – Persönlichkeiten stammen (obwohl dies unzweifelhaft der Fall ist). Vielmehr soll behauptet werden, dass jeder dieser Texte unser Wissen von der Welt des modernen deutschen Judentums ungemein bereichert und dies aus jeweils unerwarteter Perspektive: Es sind persönliche Dokumente, die die vertraulichsten Aspekte des privaten Selbst im kreativen Umgang mit den Wechselfällen des öffentlichen Geschehens offenbaren. Zusammengenommen ergibt sich ein Mosaik, eine Art Mischporträt der turbulenten Geschichte der deutschen Juden im 20. Jahrhundert – von der wilhelminischen Zeit über den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und den Nazi-Albtraum bis zu dessen Nachwirkungen.

Darüber hinaus gibt es trotz offensichtlicher Unterschiede zwischen ihnen einige wichtige Gemeinsamkeiten. Scholem, Arendt und Klemperer waren wortgewandte deutsch-jüdische Intellektuelle, scharfsinnige Beobachter und Analytiker mit einem besonderen Sensorium für die Pathologien und Konturen ihrer Zeit. Sie teilten eine ungeheure intellektuelle Leidenschaft, einen seltenen Hunger nach Bildung und Erkenntnis. Zusammen mit ihren Zeitgenossen reagierten sie auf die schweren Krisen und historischen Transformationen ihrer Umwelt und versuchten sie zu verstehen; sie waren mit Problemen, Definitionen und Optionen von Identität konfrontiert („deutsch“, „jüdisch“, „zionistisch“, „europäisch“, „kosmopolitisch“ usw.). Anders als viele andere, die mit diesen Fragen rangen, waren sie jedoch in der Lage, mit nachhaltigen Diagnosen, neuen Antworten und alternativen Verstehensweisen aufzuwarten.

Obwohl jeder von ihnen mit einer Reihe eindrucksvoller Publikationen hervortrat (auf die wir uns selbstverständlich beziehen werden), wird der Schwerpunkt hier auf ihren privaten Aufzeichnungen liegen, ihren Briefen und Tagebüchern. Da es sich hier in der Regel um kaum nach außen hin abgesicherte Positionen handelt, werfen sie tendenziell ein helleres Licht auf persönliche Einstellungen und intellektuelle Prozesse als formellere öffentliche Äußerungen. Das bedeutet natürlich nicht, dass man sich immer so ekstatisch geben muss wie der junge Scholem in seinen Tagebucheinträgen von 1918/19 zur Funktion des Tagebuchführens und der Metaphysik des Briefeschreibens, einer Aktivität, die seiner Ansicht nach in ihrer Reinform den „messianischen Moment“ hervorbringen könne:

„Zu den größten und wirklich erhabenen Phänomenen gehört die Befreiung, die ein Brief von irgendwie absoluter Religion in einem erzeugt. Das ist vielleicht die höchste Form der Freiheit die in der Schrift, die nicht Bibel ist, erreicht werden kann. In jedem Brief der den Namen verdient steht die Schechinna (Präsenz Gottes) über dem Anfang und singt unsichtbar den gehörtesten Gesang. Der Brief hat in der Schrift die Funktion der Gerechtigkeit. … Der vollkommene Brief ist unterzeichnet, aus metaphysischer Notwendigkeit. Einen Namen haben ist die tiefste Ordnung der Stellvertretung. … Wäre nicht das innerste Wesen der Welt Schrift und Sprache, so gäbe es den Brief nicht. Im Briefe wird das individuelle Dasein Schrift … Das Tagebuch hat eine völlig andere Funktion. Der Brief ist Religion, das Tagebuch auch Historie, die freilich wesentliche Beziehungen haben. Der Brief a priori ist aber nie ein Tagebuch a priori.“3

In unserem Zusammenhang müssen diese metaphysischen Grübeleien der Skepsis des Historikers weichen, der sich solchen Quellen nicht in einer derart idealisierenden Art und Weise nähern darf. Tagebuch- und Briefeschreiben – mit ihrer Mischung aus Selbstobjektivierungs-, Selbstentdeckungs- und Selbstauslöschungsmöglichkeiten – unterliegen komplexen psychologischen Bedeutungsschichten und Funktionen.4 Briefe können kunstvoll und gekünstelt sein. Dies war ein explizites Thema im Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Karl Jaspers, die beide in Hannah Arendts Leben und so auch in ihren intimen Aufzeichnungen eine entscheidende Rolle spielten. „Was man zu sagen hat, kommt in Briefen immer unvollständig und ‚geschrieben‘ heraus“, schrieb Heidegger an Jaspers, um die größere Ausdruckskraft und Ehrlichkeit des gesprochenen Worts zu betonen.5 Tagebücher können zudem kompensatorisch-selbstbetrügerisch sein. In beiden Fällen handelt es sich um eigennützige Formen, die, bewusst oder nicht, manche Fragen auch verschleiern oder sogar unterdrücken können, statt sie zu klären.

Wie Scholem andeutet (wenn auch wohl aus anderen Gründen), handelt es sich überdies um recht unterschiedliche Genres. Briefe werden per Definition für einen Empfänger entworfen und an diesen gerichtet; Tagebücher sind typischerweise privat. In der Praxis erweisen sich derartige Unterscheidungen jedoch als zu schlicht:6 Selbst wenn wir Briefe nicht als Dokumente der Selbstoffenbarung wahrnehmen (wie Scholem, der die atemberaubende Zahl von 16.000 hinterließ!), bieten sie doch sehr oft Einblicke in das Innenleben des Selbst, das ansonsten unzugänglich bleiben würde; und bestimmte Tagebücher – Klemperers ist ein klassisches Beispiel – schöpfen ihre Energie aus ihrer untrennbaren Verbindung mit der öffentlichen Sphäre, ohne die sie nicht wiederzuerkennen wären.7

Doch ungeachtet all der notwendigen Einschränkungen und Unterschiede haben Briefe und Tagebücher einige wichtige Gemeinsamkeiten. Beide zeichnen sich durch eine besondere Unmittelbarkeit aus. Aufgrund ihrer speziellen zeitlichen Dimension bieten sie einen privilegierten Zugang: Sie leben in jenem Moment, in dem der Fluss der Ereignisse und die Entfaltung des Selbst im Prozess erfasst wird. In einer Weise, die nachträglich bearbeiteten und reflektierten Publikationen üblicherweise verwehrt bleibt, können Tagebücher, und in großem Maße auch Briefe, „einen Zustand der Unruhe oder Aufregung“ widerspiegeln und fixieren, „eine Unfähigkeit, die Zukunft vorherzusehen, einen Drang, überwältigende Erlebnisse oder intensive Gefühle zu beherrschen und zu bereinigen“.8

Auf die Briefe und Tagebücher von Scholem, Arendt und Klemperer trifft diese Beschreibung gewiss zu. Mehr als andere überlieferte Zeugnisse gewähren sie direkten Zugang zu den Gefühlen und Gedanken ihrer Autoren. Tatsächlich enthalten viele der Briefe und beträchtliche Teile der hier untersuchten Tagebücher sehr vertrauliches Material. Stellenweise mag sich der Leser wie ein Eindringling fühlen, als ob man die Privatsphäre des Autors verletzen würde. Dabei trifft Oscar Wilde es jedoch psychologisch sehr genau. Wie seine Cecily haben unsere Denker – jeweils ausgestattet mit einem gesunden Ego und einem scharfen historischen Bewusstsein – ihre Dokumente in dem Wissen (und wohl auch in der Hoffnung) sorgsam überliefert, dass sie später einmal publiziert werden könnten.9

Selbstverständlich ist der Historiker verpflichtet, Voyeurismus zu vermeiden und diese Quellen nur insoweit sprechen zu lassen, als sie zur Klärung der Fragen beitragen, um die es jeweils geht. Und ganz sicher sind es nicht voyeuristische Motive, die letztlich den Wert jener Dokumente ausmachen. Diese Aufzeichnungen gehen über rein persönliche und vergängliche Belange eindeutig hinaus. Denn sie werfen Licht auf die turbulente Zeit, in der diese Denker lebten, und auf die unterschiedlichen Weisen, Veränderungen und Herausforderungen zu begegnen. Sie liefern uns anschauliche ideologische Landkarten, Weltbilder im Entstehen, Schnappschüsse von skizzierten und verfolgten Optionen. Sie fangen die jeweiligen Konflikte, Kristallisationen und Artikulationen von Identität ein. Sie legen offen, wie auf aktuelle Probleme und Ereignisse reagiert wurde und wie diese interpretiert wurden. Sie liefern eine aufschlussreiche „Geschichte von innen“, private Aufzeichnungen, die den öffentlichen Bereich reflektieren und gleichsam transzendieren, um aus unerwarteten Blickwinkeln die Intensität und das Drama der europäischen und jüdischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts zu registrieren.

1 Gershom Scholem und die Erzeugung jüdischer Selbstgewissheit

Gershom Scholem war wohl der größte judaistische Gelehrte und Denker im 20. Jahrhundert. Dass er so viele Leser begeisterte, deren Welt ganz abseits der jüdischen Mystik lag, ist auf seine mühelose Beherrschung weiter Wissensfelder und seine Fähigkeit zurückzuführen, die esoterischen Seitenwege der jüdischen Geschichte in einer gut zugänglichen, modernen und wahrhaft radikalen Sprache zu präsentieren. Inzwischen haben wir von der Generation seiner Schüler gelernt, dass viele seiner einzelnen Befunde auf dem Feld der Kabbala-Studien – einer akademischen Disziplin, die er praktisch erfunden hat – gründlicher Revision bedürfen. Seine Stellung als großer Intellektueller wird dies kaum beinträchtigen. Scholem war zugleich Schöpfer wie Getriebener einer Vision. Er besaß einen intuitiven Zugang zum theologischen und metaphysischen Grund der Dinge, was zum Kern seiner Identität zählte.1 Er schuf, was wir in den Zeiten vor der Postmoderne noch zu bewundern pflegten: eine mitreißende Geschichtsphilosophie mit einer übergeordneten Sprachtheorie; eine Vorstellung vom Kommentar als entscheidender Kraft, um eine dynamische Tradition zu formen; und eine große Erzählung, die die Struktur, die Konflikte und die Bedeutungen jüdischer Existenz erhellte – und dabei stets vom Detailwissen philologischer Gelehrsamkeit durchdrungen war.

Scholems Werke sind mittlerweile relativ bekannt, und die Literatur zu seinem Werk ist umfassend und eindrucksvoll (wobei Robert Alters Necessary Angels, die auf seine Efroymson Lectures zurückgehen, in diesem Kontext herausragen).2 Allerdings bin ich in judaistischen Fragen weder als Scholems Exeget noch als sein Gutachter qualifiziert. Ich möchte vor allem verfolgen, wie sich seine unverwechselbare Persönlichkeit herausbildete und er sein einzigartiges deutsch-jüdisches Sensorium entwickelte, indem ich „von innen heraus“ dokumentiere, wie er sein Selbst konstruierte, seine Lebensentscheidungen begründete und die formativen Ereignisse, Probleme, Bewegungen und Persönlichkeiten seiner Zeit wahrnahm und auf sie reagierte.

Scholem wurde 1898, zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs, wie Arendt und Klemperer in eine akkulturierte Familie geboren. Wenngleich Scholems Judentum und Zionismus bald ein höchst idiosynkratisches Gepräge annahmen, werden sie zunächst nur innerhalb jenes Kontexts verständlich, den Kurt Blumenfeld als „Post-Assimilation“ bezeichnet hat.3 Scholem gehörte zu einer Generation „assimilierter“ deutscher Juden, die den jüdischen Quellen weit entrückt waren. Ihr Zionismus verband ein starkes Bewusstsein ihrer Ursprünge mit einem Wissen um den Schwund der eigenen jüdischen Substanz – sofern sie nicht völlig fehlte – und einer leidenschaftlichen Suche nach ihr. Sie wiesen die vorwiegend politische und philanthropische Identifikation ihrer Eltern mit dem Zionismus ebenso zurück wie deren unreflektierten Glauben an die leichte Vereinbarkeit von Deutschtum und Judentum. Diese jüngeren Nationalisten formulierten einen radikaleren Begriff des Zionismus als existentiellem Imperativ, im Sinne einer persönlichen Transformation, die an die Erzeugung einer authentischen jüdisch-kulturellen Einheit geknüpft war. Sie lasen begeistert Martin Bubers Reflexionen über jüdische Ursprünglichkeit und Erneuerung.4 Ihre Wahrnehmung und ihr Impuls waren ausdrücklich „postassimilationistisch“: Während die psychisch-kulturellen und ideellen Dimensionen ihrer „deutschen“ Identität offen zu Tage lagen (und ihnen problematisch erschienen), musste das unzugängliche, aber in ihren Augen ursprüngliche jüdische Selbst wiedererworben, neu entdeckt werden. Wie Scholems engster Freund, Walter Benjamin, es einmal formuliert hat: „Ich lerne Jude, weil ich endlich begriffen habe, daß ich einer bin.“5

Die Intensität und Leidenschaft von Scholems Engagement kann ohne seine generationelle Disposition nicht verstanden werden. Es war dieser Kontext, der es Scholem erlaubte, Optionen zu erproben, die noch ein Jahrzehnt zuvor nicht denkbar gewesen wären. Aber Scholem besaß eindeutig Genie. Dieser außergewöhnliche Mann, sein Leben und sein Werk lassen sich nicht allein aus den Umständen erklären. Der Historiker, spekulativen Erklärungen und zweifelhafter Ex-Post-Facto-Psychoanalyse gleichermaßen abhold, kann nur den relevanten Hintergrund liefern. „Zu zeigen, wie ein großes Individuum eine Identität formt, eingebettet in Geschichte und Gesellschaft, doch aus einem nicht austauschbaren Selbst schöpfend“, betont Michael Beddow ganz richtig, „ist eine Ambition, die Biographen oft bekennen, aber selten erreichen“.6 Die Frage der tieferen Kräfte, die Scholem am Ende seine kraftvolle und originelle Persönlichkeit verliehen, sprengt die Grenzen dieses Essays.

Die Veröffentlichung von Scholems Jugendtagebüchern7 – begonnen im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren – und die Korrespondenz seines ganzen Lebens (darunter der Briefwechsel mit seiner Mutter) gewähren uns ein bewegtes Bild davon, wie sich sein Innenleben entfaltete.8 Die Tagebücher zeigen einen auffallend frühreifen, wissbegierigen Intellekt, dessen aufgeladener Eros in einen leidenschaftlichen Geist kanalisiert wurde. Ich schreibe mit Bedacht „kanalisiert“, da die jugendlichen Aufzeichnungen fast gänzlich frei sind von sexuellem Verlangen oder romantischen Begegnungen.9 Diese Auslassungen werden sogar mit ideologischem Glanz überzogen. In einem Brief aus der Kriegszeit an Aharon Heller, in dem er von den für sein Empfinden schlimmen Auswirkungen „sexueller Unreinheit“ schrieb, deren Zeuge er im deutschen Heer geworden war, beschwor Scholem eine Art regenerativer jüdischer Sexualaskese im Dienst des Heiligen: „Wenn wir die Volksgesundheit in dem Sinne erstreben wie etwa die Deutschen, mit denen zusammen ich hier eingezogen bin, ein gesundes Volk sind, so sind wir verloren, denn jeder Zugang zur Heiligkeit ist hier durch die Zote versperrt.“10 Darüber hinaus sind sie von zahllosen negativen Bemerkungen über Frauen und ihre intellektuelle Unzulänglichkeit durchzogen, wie dies in den Hochzeiten der Männerbündelei verbreitet war.11

Scholems Aufzeichnungen offenbaren jedoch Fantasien anderer Art – nationalistische, religiöse und messianische. Seine frühe geistige Welt war nicht amourös, sondern entschieden ideologisch und intellektuell, ja eschatologisch gestimmt. Die Tagebücher nehmen Bezug auf Goethe, Humboldt, Hölderlin, Rilke, Stefan George, Gustav Landauer, Karl Marx, Felix Mauthner, Kierkegaard, Jakob Böhme und andere, teils kleinere Meister. Sie unterstreichen die keineswegs überraschende Tatsache, dass seine vehemente Kritik des Deutschtums und der Assimilation zu ausgiebig aus den Quellen und Kategorien der deutschen Klassik, Romantik und Avantgarde schöpfte. Sie zeigen auch den prägenden Einfluss Martin Bubers, den der junge Scholem sehr verehrte. Zugleich belegen die Tagebücher Scholems wachsende Kritik und Distanzierung von diesem Denker, eine übersteigerte Abneigung gegen dessen romantisch-expressionistischen Erlebniskult. Nicht zuletzt berichten sie von der frühen Hingabe an das Studium und an die Arbeit mit den Quellen, wie Scholem sie zeit seines Lebens pflegte. Auch die Entwicklung seiner Freundschaft mit Walter Benjamin wird diaristisch dokumentiert.12 (Da diese Aspekte relativ bekannt sind, werde ich sie hier nicht in den Mittelpunkt rücken.)

Scholems Tagebücher enthalten ungewöhnlich reife Reflexionen über das Verhältnis von Freiheit und Geschichte, Denkübungen zur Sprachphilosophie (deren Aufgabe die Untersuchung der Sprache als „Offenbarung der Wahrheit“13 war) sowie Mediationen, die Scholems entstehende Faszination für Mystik mit seiner frühen Neigung zur Mathematik verbinden: „Mystik ist … ja, was ist Mystik? Besser, was ist nicht Mystik? […] Mystik ist das Reden vom Göttlichen. Also die Paradoxie schlechthin. Es ist nicht Mystik, wenn einer ohne Ehrfurcht vom Einen, das not ist, spricht. Mystik ist das Erlebnis der Ehrfurcht. Es gibt kein abgründigeres Ding hier auf Erden als die Ehrfurcht, und keiner weiß etwas Wesenhaftes über sie zu sagen. Der Mystiker hat die Ehrfurcht geschaut – wer kann sich dies vorstellen? Der Philosoph schaut etwas, was ist oder wird, der Mystiker schaut etwas, was nicht ist und auch nie wird er schaut das schlechthin Unmögliche (der Mystiker allein weiß, daß Gott nicht ist), er schaut die Ehrfurcht. Die Mathematik ist die Ehrfurcht vor dem Gedachten, Sie ist deshalb die Krone des Menschengeschlechts: Ehrfurcht + Denken, was ist mehr?“14

Viele von Scholems charakteristischen Kategorien, anarchistische und nietzscheanische, die für seine späteren Analysen stilbildend wurden, finden sich schon in den Jugendschriften: die Faszination von Transgression und Gefahr („Wer mag sich selber finden, wenn er nicht hinabsteigt in den Abgrund und sich sucht in der Gefahr?“15), die Neigung zum Paradoxen, zu dialektischer Polarität und zum Antinomismus, der Hang zum Messianischen und die verborgenen Verbindungen zwischen Nihilismus und Erlösung.16

Das Reisetagebuch des jungen Scholem vom August 1914 mit seinen Gipfelreflexionen über Einsamkeit, Ekstase und Offenbarung ist von verblüffender Kühnheit. Es liest sich wie eine religiös gefärbte Fußnote zum Zarathustra.17 Etwas ist hier seltsam und paradox; denn anders als seine in späteren Jahren deutlich zur Schau getragene Abscheu vor Nietzsche18 es vermuten lässt, ist der Philosoph in den Tagebüchern die prägende Figur, ein Schmelztiegel der Inspiration für Scholems radikales und visionäres Empfinden. (Vielleicht hing Scholems spätere Abwehr mit seiner esoterischen Neigung zusammen, seine persönlichen Absichten zu verschleiern.)19 Als er 1915 den Zarathustra las, stimmte ihn das ganz enthusiastisch: „Wieder im Zarathustra gelesen, den man wirklich absolut und in keiner Weise auslesen kann. Immer wieder von vorn und an irgendwelchen Stellen eingehakt, findet man Sätze, die einen im Innersten überraschen und treffen. Immer wieder staunt man vor der Bildgewalt und Wucht der Sprache, die zu uns schreit. Es ist zweifellos ein heiliges Buch, wo ‚heilig‘ recht verstanden werden muß. Denn Nietzsche hätte sich die Heiligkeit wohl sehr verbeten. Und doch ist es so. Es ist ein heiliges Buch, weil es vom Menschen redet, weil es von der Überwindung des Menschen redet, weil es ein revolutionäres Buch ist. Ich liebe es.“20

Tatsächlich wurde Also sprach Zarathustra für den jungen Scholem das geniale Vorbild für seinen eigenen Weg: „Ja, dies Buch ist in der Tat, mag man noch so über die Ideen denken, die davon aufgestellt sind, es ist in der Tat eine neue Bibel. Jawohl, so etwas zu schreiben, das ist ein Ideal für mich. Das ist es. Einen Judenzarathustra […] zu schreiben, wer das könnte.“21 Vier Jahre später schrieb Scholem in einem Brief an Aharon Heller nicht weniger bezeichnend: „Ich fange manchmal an zu glauben, daß der einzige Mensch, der in diesen Zeiten irgendwie doch wohl sehr Beträchtliches über Ethik gesagt hat, Friedrich Nietzsche ist“, wobei Scholem sich zu dieser Zeit bereits als unaufrichtig im Hinblick auf seine Verbundenheit mit Nietzsche erweist, wenn er hinzufügt, dass er von diesem „bisher freilich nur sehr wenig, und sicher grade das Schlechteste (den Zarathustra)“ kenne.22 Dies widersprach nicht nur den verschiedenen Huldigungen von Also sprach Zarathustra in Scholems Tagebüchern, sondern auch der Tatsache, dass er bereits 1914 Einiges von Nietzsche gelesen hatte: den Antichrist, verschiedene Schriften zu Richard Wagner und die Unzeitgemäßen Betrachtungen – die seiner damaligen Meinung nach sämtlich hinter dem Zarathustra zurückblieben.23 Neben vielen Werken des Philosophen las er auch frühzeitig den Briefwechsel zwischen Nietzsche und Overbeck, und dies, wie er in einem Brief an Werner Kraft schrieb, in einer einzigen Nacht.24

Doch müssen wir zu dem bemerkenswerten Zeugnis von Scholems Rausch- und Offenbarungserlebnis in den Bergen zurückkehren, da sich hier die Vision, seinem Volk zu dienen, entfaltete. Sie ist nicht nur reich an nietzscheanischen Anklängen,25 sondern auch an religiöser und apokalyptischer Rhetorik. Also sprach der junge Scholem: „Du einsames Menschenkind, was stehst du hier, ruft dir der Donner nicht ein ‚Kehre um‘ zu? Werden nicht Geister und Elemente sich empören gegen dich, der du sie störest und belauschest im Kampfe? Nein, weichen will ich nicht! Denn um des Sturmes Willen kam ich her. Ihr seid das Chaos jetzt, doch ewiger Wille bringt aus euch Erneuerung hervor. In der Gefahr allein wird Gott gefunden.“26

George Mosse hat Scholem, sein Leben, seine Person, sein Werk, als Verkörperung jener Bildungstradition dargestellt, die das ungemein produktive kulturelle und intellektuelle Vermächtnis der deutschen Juden charakterisiert und ihm sein humanes Antlitz verliehen hat.27 Auch ich möchte in dieser Studie behaupten, dass es diese besondere Hingabe an die Gelehrsamkeit war, die Leidenschaft für Wissen und Erkenntnis, die Scholem, Arendt und Klemperer trotz all ihrer Unterschiede charakterisiert. Gleichwohl waren Scholems Faible für das Dämonische, Abgründige, seine Faszination für den nihilistischen Impuls, seine vehemente Kritik des liberal-bürgerlichen Rationalismus ganz offensichtlich nicht das Produkt eines gelassen ordnenden Klassizismus der deutschen (oder sogar jüdischen) Aufklärung, sondern unmittelbar dem „Irrationalismus“ des Fin de Siècle geschuldet (und dann mit einer spezifisch jüdischen Würze versehen). „Vernunft“, heißt es in einem Tagebucheintrag, „ist eine Sehnsucht, aber keine Wirklichkeit. Es ist die Sehnsucht der Dummen. […] Vernünftig sein kann jeder, der Messias ist etwas Besonderes, er ist also unvernünftig.“28 Die eigentümlichen religiös-nationalistischen Bekenntnisse des frühen Scholem waren von den Kategorien der Lebensphilosophie geprägt. Damit ging eine mitunter gewaltsam formulierte Zurückweisung des bürgerlichen Rationalismus einher. So schmähte er etwa die in der „Wissenschaft“ und am Monismus Ernst Haeckels geschulten Atheisten wie seinen Vater und seine Freunde: „Schlagt sie tot, diese Lausebande, töter, am tötesten, dreht ihnen den Hals um. – Ich kann nicht mehr.“29

Bildung, diese auf eine schrittweise Verbesserung angelegte innerliche Lehre von Selbstkultivierung und bürgerlichem Anstand, wird frontal attackiert. In nietzscheanischem Zorn erklärt Scholem im Tagebuch: „An mein Volk. Es ist die Stimme eines Rufers: Wehe denen, die da Kultur an sich gesogen haben und Bildung in ihrem nagenden Herzen, die ihrem