Schon wieder hat Max ... - Anna Maria Sanders - E-Book

Schon wieder hat Max ... E-Book

Anna Maria Sanders

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Beschreibung

Immer Stress mit ADHS? Mit dem elfjährigen Max kommt nicht mal in den Ferien Entspannung auf. Denn auch außerhalb der Schule mischt der sympathische Rotschopf alle kräftig auf, sehr zum Leidwesen seiner Eltern, dem leidgeplagten Bruder Smartie, seinem strengen Opa, genervter Feriengäste... Parallel zu Max' Malheuren beginnt ein Untersuchungsmarathon, um der Frage auf den Grund zu gehen, warum der Junge in der Schule nur noch "Mr. Ameisen im Po" genannt wird. Bald stehen seine Eltern vor einer Reihe schwieriger Entscheidungen: Welche Therapie kommt für uns infrage? Medikamente ja oder nein? Wem berichten wir von der Diagnose und vor allem: Wie bringen wir sie Max bei? Erneut schreibt sich die ganze Familie Bergmann von der Seele, wie der Alltag mit einem ADHS-Kind läuft. Nach "Ich dreh gleich durch!" erzählt Anna Maria Sanders gewohnt humorvoll und einfühlsam vom Leben mit einem ADHS-Kind, von der Diagnose über die Therapiemöglichkeiten bis hin zu den zauberhaften positiven Seiten, die bei diesen Kindern viel zu oft übersehen werden. Anschaulich und mit der wichtigsten Fachliteratur kompetent unterfüttert. Ein Buch, das voller Emotionen steckt und in dem viele Eltern ihr Kind mit AD(H)S wiederfinden werden. Trotz erzählender Tagebuchform wird der Leser umfassend über Symptomatik sowie Diagnoseprozess und Therapiemöglichkeiten informiert. Außerdem bietet die Autorin eine fundierte Entscheidungsgrundlage bezüglich der immer noch heiß diskutierten medikamentösen Behandlung von betroffenen Kindern. Absolute Leseempfehlung! Cordula Neuhaus

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Für Benjamin …

deine Liebe hat deinen Bruder

mit in ein glückliches

Erwachsenenleben getragen

INHALT

Vorwort von Cordula Neuhaus

Diagnose und Therapieentscheidungen – ein steiniger und kräfteraubender Weg

Einführung

Kapitel 1 „SYMPTOM“, „DIAGNOSE“ UND ANDERE KOMISCHE WÖRTER

Kapitel 2 WER BRAUCHT SCHON SOLCHE GENE?

Kapitel 3 ALTER, IST DER AGGRO … DANKE FÜR ALL DIE ARSCHTRITTE, MUM!

Kapitel 4 UND NOCH MEHR MACKEN

Kapitel 5 ERGO-MARBURG-NEUROFEEDBACK-HÄÄ??

Kapitel 6 WAS, ES KANN NOCH SCHLIMMER KOMMEN?

Kapitel 7 HEY, ICH KANN DOCH MEHR ALS NUR NERVEN!

Kapitel 8 ALSO DOCH DIE DENKPILLE? ODER LIEBER NICHT?

Kapitel 9 UND WIE GEHT ES JETZT WEITER?

Nachwort

Wie es mit Benji weitergeht

Dank

Literatur

Anmerkungen

Register

Zur Autorin

VORWORT von Cordula Neuhaus

Die ausgesprochen lebendigen und anschaulichen Schilderungen des Erlebens eines Kindes mit ADHS, seine Reizoffenheit bei Reizfilterschwäche sowie die Affektlabilität und hohe Impulsivität lassen gut nachvollziehen, dass Max keinesfalls „aus dem Rahmen fallen will“.

Typischerweise ausgesprochen tierlieb und spontan, hochempathisch, helfen oder „retten“ wollend, passieren Max immer wieder unbedacht kleinere oder größere Missgeschicke. Ein „Projekt“ oder ein Ziel vor Augen wird einfach losgelegt, mit Elan und (großem) Krafteinsatz – in der Not jedoch ist er typischerweise präsent und effektiv!

Die Mutter schildert rückblickend auf ihre Kinderzeit, wie sehr verletzende Kommentare z. B. über die motorische Ungeschicklichkeit und Langsamkeit Betroffene im Erwachsenenalter noch immer belasten, was stimmig mit der klinischen Erfahrung bei der Behandlung Erwachsener mit ADHS ist.

Durch die Liebe und das Verständnis zu Max wird in den Tagebuchaufzeichnungen beider Elternteile deutlich, wie jeder auf seine Art und Weise versucht, Max zu verstehen und ihm gerecht zu werden, so gut ihm das möglich ist.

Besonders prägnant wird aus der Sichtweise von Max und der seines älteren Bruders die typische Geschwisterrivalität gezeichnet: Die beiden „nerven“ einander gegenseitig – der Jüngere den Älteren durch seine „Aktionen“, der Ältere den Jüngeren durch seine Überheblichkeit – beide leiden ...

Anna Maria Sanders beschreibt beeindruckend das typische Hin- und Hergerissenwerden von Eltern auf dem Weg zu einer zielführenden Hilfestellung für ihr Kind. Zu unterschiedlich (und teilweise sehr verwirrenden) sind die Informationen zu den Hintergründen bezüglich des Störungsbilds sowie dem, was nun tatsächlich helfen soll.

Im Spannungsfeld der typischen Vorurteile bezüglich Max’ Verhalten und des häufig angetroffenen Unverständnisses bei angeblich „völlig unzureichender Erziehung“ durch die Eltern werden der mühsame Weg bis zur Diagnosestellung und die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Behandlung beschrieben.

Dieses Buch zeigt auf, wie schwer sich die meisten Eltern tatsächlich mit der Option einer medikamentösen Therapie tun – bei dem leider immer noch gängigen Vorurteil, sie wollten sich damit nur ihrer erzieherischen Verpflichtung entledigen ...

Fazit:

Ein mutiges und ermutigendes Buch, passagenweise auch gut für Kinder und Jugendliche lesbar!

Esslingen, im März 2019

Cordula Neuhaus

DIAGNOSE UND THERAPIE ENTSCHEIDUNGEN – EIN STEINIGER UND KRÄFTERAUBENDER WEG

Heute ist es so weit …

Ich sitze im Wartezimmer von Dr. Steiner, mein Mann neben mir, vertieft in ein angeregtes, wenn auch im Flüsterton geführtes Gespräch mit einem Arbeitskollegen. In Kürze werden wir erfahren, ob bei unserem Kind eine ADHS vorliegt oder nicht.

ADHS … für mich ist diese Abkürzung zu vier sehr bedeutungstragenden Buchstaben geworden, denn unser Sohn könnte genau das haben, wofür sie steht: das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Aber noch ist es nicht so weit, noch sind alles nur Vermutungen.

Nervös knete ich das Tuch, mit dem ich gerade meine Brille geputzt habe. Dabei weiß ich gar nicht, was ich von dem Arzt überhaupt hören möchte. Einerseits könnte sich eine diagnostizierte Störung (ja, das S kann auch für „Störung“ stehen) zu einem Stigma entwickeln: Mobbing in der Schule, Abstempeln als hoffnungsloser Fall seitens der Lehrkräfte, der Vorwurf der „faulen Ausreden“ von Familie und Freunden – alles mögliche Szenarien. Andererseits brächte eine Diagnose endlich eine Erklärung für das Verhalten unseres Zweitgeborenen, das völlig von dem seines Bruders abweicht. Und schließlich könnte unserem Sohnemann höchstwahrscheinlich geholfen werden, wenn man endlich weiß, woran man ist, und warum die Dinge immer wieder aus dem Ruder laufen.

All diese Gedanken gehen mir durch den Kopf und ich studiere zum x-ten Mal die Bilder an der Wand, starre wieder in mein Buch, ohne auch nur eine einzige Zeile zu lesen, und wundere mich, wie sich mein Mann überhaupt noch auf etwas anderes konzentrieren kann als auf die Frage, was wir nun gleich zu hören bekommen werden.

Eine Tür geht auf. Man teilt uns mit, wir mögen noch etwas Geduld haben, Dr. Steiner sei aufgehalten worden und würde sich ein paar Minuten verspäten. Ein paar Minuten? Welchen Unterschied machen ein paar Minuten nach dem Diagnosemarathon, den wir in den letzten Monaten hinter uns gebracht haben? Und wenn man die Zeit dazurechnet, die wir davor im Dunklen getappt und von einer Beratung zur anderen gelaufen sind, reden wir nicht mehr von Monaten, sondern von Jahren.

Wir warten also. Wieder ein Blick auf die Bilder an der Wand, dann abermals in mein Buch. Sinnlos. In der Zwischenzeit sind knapp 20 Minuten vergangen, seit wir die Praxis betreten haben, und nach und nach machen die paar Minuten doch einen Unterschied. Denn ich merke, dass ich immer angespannter werde, nervös auf meinem Stuhl hin- und herrutsche und meinem Mann anklagende Blicke zuwerfe, weil ich nicht verstehen kann, dass er offenbar vollkommen unberührt von dem, was uns erwartet, ein berufliches Telefonat führt.

Um ihm zu signalisieren, dass wir uns nun auf das Gespräch konzentrieren sollten, das vor uns liegt, packe ich mein Buch weg und sehe ihn noch mal bohrend an. Dabei stelle ich mir zum wiederholten Male die Fragen, die uns Dr. Steiner im Fall einer ADHS-Diagnose hoffentlich wird beantworten können: Was genau ist ADHS eigentlich? Welche Folgen wird eine derartige Diagnose für die ganze Familie, aber noch viel wichtiger: für unser Kind haben? Wie sieht es mit der Prognose für die nächsten Jahre aus? Wird man uns in der mit Sicherheit notwendigen Therapie unseres Kindes unterstützen oder müssen wir uns alleine im Dschungel der Behandlungsmöglichkeiten zurechtfinden? Wem sollen wir von der Diagnose erzählen? Den Verwandten, den Nachbarn, den Lehrkräften, den Mitschülern? Und wie wird unser Kind die Nachricht aufnehmen, dass sich bei ihm offenbar doch einige Rädchen anders drehen als bei seinen Altersgenossen?

Allein schon bei diesem Gedanken würde ich mich am liebsten auf der Stelle in das Zimmer unseres Sohnes beamen, ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, dass wir ihn GENAU SO lieben, wie er ist, dass er das wunderbarste Kind ist, Rädchen hin oder her!

Denn er weiß, dass er anders ist. Er erlebt es jeden Tag aufs Neue: die merkwürdigen Blicke der anderen, wenn er wieder einmal nicht bemerkt hat, dass er angesprochen wurde. Die Falten auf der Stirn der Lehrkräfte, wenn er zum wiederholten Mal seine Bücher nicht dabei hat. Die wenig freundlichen Worte des Bruders, wenn er ihm zum dritten Mal innerhalb von zwei Minuten mit seinen zappelnden Füßen unter dem Tisch gegen das Schienbein tritt. Die nicht ausgesprochene Einladung zur Feier eines Schulkameraden, zu der fast alle aus der Klasse kommen. Die beißenden Kommentare der Mitspieler beim Fußball, wenn er wieder nur die Hälfte der geplanten Spielstrategie beim entscheidenden Match mitbekommen hat … all das hinterlässt Kratzer auf der Seele, ist Gift für Selbstbewusstsein und Selbstwert und macht immer wieder unendlich traurig.

Plötzlich öffnet sich die Tür und wir werden in das Besprechungszimmer gebeten. Zögerlich erheben wir uns und betreten den Raum. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt …

Der eine oder andere Leser wird sich in dieser Erzählung vermutlich wiederfinden, zumindest ein Großteil jener, die die ADHS1 ihres Kindes2 bereits haben diagnostizieren lassen. Als Elternteil ist man verunsichert bei der Suche nach Antworten auf die Frage, warum das eigene Kind so auffallend anders als seine Altersgenossen ist. Man sehnt einerseits Klarheit herbei, fürchtet aber auch das „finale Urteil“, die Aussage des Arztes, dass das Kind eine psychiatrische Erkrankung hat. Denn damit wäre besiegelt, dass es nicht „normal“ ist.

Aus diesen und anderen Gründen scheuen viele oft über Jahre hinweg den Weg zum Diagnostiker und versuchen, ohne Hilfe irgendwie mit ihrem „besonderen Kind“ zurechtzukommen. Bis es einfach nicht mehr geht und der Gang zum Spezialisten3 unausweichlich wird. Dann ist aber oft schon viel wertvolle Zeit vergangen, Zeit, die für Therapien und Unterstützungsmöglichkeiten für Kind und Umfeld hätte genutzt werden können. Daher sei an dieser Stelle bereits eindringlich auf die Wichtigkeit der Früherkennung hingewiesen (vgl. dazu vor allem Kapitel 6).

Genau hier liegt eines der Hauptziele dieses Buches sowie seines Vorgängers „Ich dreh gleich durch!“: Menschen, die kaum oder wenig über ADHS wissen, eine Entscheidungshilfe an die Hand zu geben, ob dem auffälligen Verhalten des Kindes bzw. der Kinder, mit dem/ denen sie zu tun haben, eine ADHS zugrunde liegen könnte und wenn ja, wie der Verdacht abgesichert und die betroffenen Heranwachsenden begleitet werden können.

ZU DEN SCHWERPUNKTEN DES VORLIEGENDEN BUCHS (BAND II)

Obwohl dieser Band, wie auch sein Vorgänger „Ich dreh gleich durch!“ (Band I) ein eigenständiges, in sich abgeschlossenes Werk ist, möchte ich kurz die Themen umreißen, auf die die jeweiligen Bände fokussieren.

Da für eine Diagnose und Behandlung zunächst das Erkennen einiger Auffälligkeiten – oder zumindest der Verdacht auf ADHS – sehr wesentlich ist, widmet sich Band I vor allem den Symptomen des Syndroms. Der zweite Schwerpunkt, der sich wie ein roter Faden durch das erste Buch zieht, ist die Frage, wie ein Kind mit ADHS von seinen wichtigsten Bezugspersonen (i. d. R. den Eltern) durch klare, aber liebevolle Erziehung begleitet werden kann. Außerdem werden in einem Kapitel die Ursachen der Erkrankung näher beleuchtet, während sich ein weiteres Kapitel der Frage widmet, wie man sich gegen Angriffe, man habe sein Kind nicht im Griff, zur Wehr setzen kann. Schließlich werden auch die Themen „mangelnder Selbstwert“, „Chaosverhalten“, „Fehlen eines Sinns für Gefahren“, „häufige Verletzungen“ und „auffallend positive Eigenschaften von Kindern mit ADHS“ aufgegriffen.

Band II, d. h. das vorliegende Buch, konzentriert sich auf den Diagnoseprozess und Therapiemöglichkeiten. Da, wie weiter unten noch genauer beschrieben, die Frage zur Medikation jene ist, die in der ADHS-Szene die Gemüter am stärksten aufheizt, ist diesem Thema ein eigenes, sehr umfassendes Kapitel gewidmet. Außerdem wird auch in diesem Buch – ausführlicher als im letzten – auf all die bemerkenswerten Eigenschaften und Fähigkeiten eingegangen, die Kinder mit ADHS in der Regel haben. Sie sollen betroffenen Eltern Mut machen und die Augen für all das Wunderbare an ihrem Kind öffnen, das oft von dem doch sehr herausfordernden Problemverhalten überlagert und dadurch „unsichtbar“ wird. Zum anderen können dem Kind genau diese Dinge kommuniziert werden, um auch ihm zu zeigen, dass es ein ganz wunderbarer Mensch ist, mit vielen Begabungen und Fähigkeiten, die das Syndrom häufig mit sich bringt, seine ADHS also keineswegs nur Fluch ist.

Da, wie bereits erwähnt, die zwei Bände unabhängig voneinander gelesen werden können, war es wichtig, in beiden ein einigermaßen umfassendes Bild von ADHS zu geben. Gewisse Überschneidungen – vor allem in der Darlegung der Symptomatik und dem wichtigsten aller Themen für eine erfolgreiche Unterstützung dieser jungen Menschen: einer liebevollen, aber klaren und konsequenten Begleitung – waren daher unvermeidbar. Sie wurden aber selbstverständlich in neue Geschichten verpackt.

DIE EWIGE SUCHE NACH EINER ANTWORT AUF DIE FRAGE: MEDIKAMENTE JA ODER NEIN?

Viele Menschen erhoffen sich von Ratgebern und Sachbüchern verbindliche Antworten auf ihre Probleme und Fragen. Doch gerade in den Bereichen der Pädagogik, der Psychologie und der Medizin sind allgemeingültige Patentlösungen schlicht unmöglich. Daher sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es auch bei ADHS die „richtige“ Behandlung nicht geben kann. Jedes Kind ist ein Individuum mit speziellen Persönlichkeitsmerkmalen, nicht jede ADHS hat denselben Ausprägungsgrad, und vor allem ist das Umfeld jedes Kindes unterschiedlich: Manche leben in Fremdbetreuung, viele mit ihren Familien, manche Familien sind Singlehaushalte, in einigen gibt es keine Geschwister, in anderen nur ein Geschwisterkind, in einigen wiederum mehrere Geschwister.

Manche Mütter oder Väter sind nicht berufstätig und können viel Zeit mit ihrem Spross verbringen, andere sind selten zu Hause. Die einen wohnen in einer Stadt mit wenigen unmittelbar erreichbaren Möglichkeiten für Bewegung, die anderen sind auf dem Land daheim, wo viel Platz in der freien Natur gegeben ist, dafür aber meist wenige Behandlungsangebote vorhanden sind.

Die Vielfalt an individuellen Gegebenheiten kann hier gar nicht erschöpfend beschrieben werden. Daher wird es in diesem Buch auch keine Antwort auf die Frage „medikamentöse Behandlung ja oder nein“ geben, denn diese Frage kann nicht endgültig beantwortet werden, ohne in ein Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen. Ich werde jedoch versuchen, durch Max’ Weg einen Überblick über die Argumente dafür und dagegen zu geben, um so dem Leser eine Entscheidungsgrundlage für seine eigene, spezifische Situation zu bieten.

Insgesamt muss man bei allem Rat Suchen, sich Tipps Holen und sich mit Betroffenen Austauschen am Ende aber seinem Bauchgefühl und seinem Herzen folgen und das tun, von dem man spürt, dass es für sein Kind das Beste ist. Und das wissen immer jene Personen am ehesten, die zum Kind die engste Beziehung haben, es am besten kennen: in der Regel Mama und Papa.

ASOZIALE KINDER?

Zu Band I haben mich in der Zwischenzeit hunderte Rückmeldungen erreicht. Einige davon haben sich auf etwas bezogen, das mich sehr traurig gemacht und mir einmal mehr die Wichtigkeit einer liebevollen, aber dennoch klaren und konsequenten Begleitung dieser sehr herausfordernden Kinder gezeigt hat. Manche Leser schreiben, sie hätten ihr Kind zwar durchaus in Max wiedererkannt, aber ihr Sprössling wäre bei Weitem nicht so sozial, mitfühlend und empathisch. Stattdessen verhalte er sich oft aggressiv gegen Eltern, Geschwister, Mitschüler etc.

Nun, die Figur des Max ist keine schriftstellerisch zurechtgefeilte Ausnahmeerscheinung, sondern ein völlig normales Kind, wenn auch eines mit ADHS. Jeder Mensch wird mit der Fähigkeit geboren, mit anderen mitzufühlen, sich in andere hineinzuversetzen, Menschen und Tieren Hilfe zu leisten, Dinge zu teilen oder zu verschenken, die Regeln des Miteinanders in Gemeinschaften zu achten – mit anderen Worten: sich sozial zu verhalten. Diese Fähigkeit, oder vielmehr: diese Bereitschaft kann aber durch zwei Faktoren regelrecht sabotiert werden und dahinschmelzen, so lange, bis nichts mehr davon übrig ist.

Zum einen ist mangelndes Sozialverhalten häufig bei Kindern zu beobachten, denen die oben erwähnte Führung eines verlässlichen Erwachsenen fehlt. Wenn ein Kind nicht liebevoll und dennoch klar begleitet wird (unsere Eltern würden sagen „erzogen“), muss es täglich eine Vielzahl von Entscheidungen treffen, mit denen es in seiner Weltunerfahrenheit überfordert ist. Das macht unsicher, oft auch ängstlich und schlussendlich aufgrund der ständigen Überforderung aggressiv. Und auch die Tatsache, dass Mama und Papa nicht die nötige Kraft aufbringen (wollen), zum Wohl des Kindes unliebsame, aber notwendige Entscheidungen zu treffen (also auch mal ein Verbot auszusprechen, das Einhalten einer vereinbarten Regel einzufordern etc.), macht unseren Nachwuchs verzagt und in der Folge aggressiv.

Außerdem müssen diese Kinder, die mit ihrem meist sehr herausfordernden Verhalten für ihr Umfeld zu einer echten Geduldsprobe werden, ständig abfällige Bemerkungen, Zurechtweisungen und oft auch Demütigungen hinnehmen. Sie erfahren bereits in jungen Jahren so viel Abwertung, dass für manche nur noch die Strategie bleibt, (a) eine innere Mauer zu errichten (wodurch sie herzlos wirken können), (b) sich von der Gesellschaft, die sie nicht so akzeptiert, wie sie sind, das zu nehmen, was anderen auch zugestanden wird oder was ihnen in ihren Augen zu Unrecht vorenthalten wird (durch Lügen oder Stehlen), oder (c) „zurückzuschlagen“, indem sie mit vernichtenden Worten zutiefst verletzen oder gar tatsächlich körperlich aggressiv werden.

Die gute Nachricht ist, dass dieses Verhalten abgelegt werden kann, wenn entsprechende Veränderungen im Lebensumfeld dieser Kinder stattfinden. Dies kann zum einen damit gelingen, dass diese jungen Menschen wieder das Vertrauen fassen, dass auf die wichtigsten Bezugspersonen (in der Regel die Eltern) doch Verlass ist und diese ab nun der Fels in der Brandung sind, den sie zur Orientierung sowie für ihre Entwicklung und innere Stabilität brauchen. Zum anderen kann auch dafür gesorgt werden, dass diesen Kindern wieder mehr Wertschätzung zuteilwird, sie wieder mehr Vertrauen zu sich selbst und in ihre Fähigkeiten erlangen und sie nach und nach das Gefühl bekommen, als Mensch und in ihren Leistungen anerkannt und vor allem geliebt zu werden.

Wie das gelingen kann, wurde bereits in „Ich dreh gleich durch!“ aufgezeigt und soll in diesem Band weiter ausgeführt werden.

NOCH EINE KURZE SCHLUSSBEMERKUNG

Max ist in diesem Buch zwar einige Monate älter als in Band I, verfasst seine Tagebucheinträge aber immer noch auf einem sprachlichen Niveau, das das eines Zwölfjährigen in aller Regel übersteigt. Daher will ich auch hier darauf hinweisen, dass die Hauptzielgruppe der Max-Bücher Erwachsene sind, und Max’ Ausdrucksweise dieser Zielgruppe angepasst ist.

Ungeachtet dessen haben mir unzählige Leser des ersten Bandes rückgemeldet, auch ihr Kind – Altersgruppe ab 10 Jahren aufwärts – habe das Buch verschlungen. Manche haben sogar berichtet, es sei das erste selbstständig und freiwillig gelesene Buch gewesen. Das Buch kann also auch durchaus bereits von älteren Kindern und Teenagern gelesen werden.

Und wie in „Ich dreh gleich durch!“ gilt auch hier: Wer sich mit Fachtexten zum Thema nicht auseinandersetzen möchte, der kann die nachfolgende Einleitung überspringen und gleich in die Welt von Max und seiner Familie ab Seite → eintauchen.

EINFÜHRUNG
Viel Leid um nichts?

Es ist nun knapp drei Jahre her, dass die Leser Max in „Ich dreh gleich durch!“ kennenlernen durften. Seither ist viel passiert und ich hatte die Gelegenheit, im Zuge von Lesungen, Vorträgen und vor allem auch in verschiedenen Facebook-Gruppen mit hunderten von Betroffenen und deren Geschichten Bekanntschaft zu machen.

Geschichten, die Menschen ohne ADHS nicht einmal ansatzweise nachvollziehen oder verstehen können, denen sie mit Kopfschütteln und nicht selten mit abfälligen Bemerkungen begegnen. Geschichten, die Heranwachsende mit ADHS und ihre Familien an den Rand der Verzweiflung bringen, vor allem dann, wenn man das ungewöhnliche Verhalten der Kinder Außenstehenden erklären muss: „Tut mir leid, aber er ist so aufgedreht, denn er hat ADHS – Sie wissen schon, das Zappelphilipp-Syndrom“, „Das hat er mit Sicherheit nicht absichtlich getan, bestimmt hat er wieder mal nicht nachgedacht, bevor er … Das hat mit seiner ADHS zu tun“, „Meine Tochter hat garantiert nicht gehört, dass Sie sie mehrmals angesprochen haben, da hat ihre AHDS wieder zugeschlagen.“

Versucht man dann, so oder ähnlich die Gründe für das Verhalten seines Kindes zu erklären, blickt man entweder in fragende Gesichter, weil der Betreffende noch nie von ADHS gehört hat oder aber eine Diskussion beginnt, in der einem das Gegenüber in nicht selten abfälligem Ton mitteilt, dass es das Syndrom doch gar nicht gebe. Ein Schlag ins Gesicht der betroffenen jungen Menschen und ihres Umfeldes. Denn Untersuchungen zur Belastung bzw. Lebensqualität von Kindern mit ADHS und deren Familien sprechen eine deutlich andere Sprache:

Es ist erschütternd zu sehen, wie viele Kinder betroffen sind und welche Tragödien sich damit verbunden in den involvierten Systemen, wie den Familien, den Kindergärten, den Schulen, den Jugendämtern und den Arztpraxen, abspielen.1

Ein Autor berichtet davon, dass „bisherige Studien belegen, dass ADHS-Kinder in ihrer Lebensqualität in ähnlichem Maße eingeschränkt sind, wie chronisch körperlich erkrankte Kinder“2 und eine andere Autorin führt an, dass „sich Kinder mit ADHS in ihrer Lebensqualität sogar eingeschränkter als Kinder mit Asthma bronchiale [fühlen].“3

Denn diese Kinder sind, wie dieses Buch zeigen wird, in vielfacher Weise beeinträchtigt und diese Beeinträchtigungen führen „bei mindestens 80 Prozent der von ADHS betroffenen Familien zu einer ‚deutlichen bis massiven‘ Belastung […] bzw. erheblichen negativen Auswirkungen auf die Lebensqualität […].“4Somit kann folgender Aussage nur beigepflichtet werden: „Eine Diskussion, die ADHS als Störung ablehnt […], geht daher am tatsächlichen Erleben und Alltag der betroffenen Familien vorbei.“5

Die Zweifler

Umso trauriger ist es, dass die Existenz von ADHS nicht nur von Menschen, die darüber kaum oder gar nicht Bescheid wissen, in Zweifel gezogen wird. Unkenrufe gibt es auch aus theoretisch informierten Kreisen, von Menschen, die sich tatsächlich mit der Materie auseinandergesetzt haben.

Eine der beiden Richtungen, die sich bei den „Zweiflern“ herauskristallisiert hat, ist die Meinung, bei ADHS handle es sich um nichts anderes als eine Ansammlung von Symptomen aus anderen Krankheitsbildern, d. h. wer auch immer mit einer ADHS diagnostiziert würde, habe in Wahrheit eine andere Störung oder Erkrankung wie eine Depression, eine bipolare Störung, eine Tic-Störung, das Tourettesyndrom, Schizophrenie u. a. (vgl. hier v. a. das Buch von Richard Saul, der zwar betont, vermeintlich an ADHS Leidenden auf den Weg zur „richtigen“ Diagnose helfen zu wollen, der aber nicht nur mit dem Titel seines Werkes „Die ADHS-Lüge“, sondern auch mit der Verleugnung der Störung Betroffenen wahrlich keinen Gefallen beim Anerkennen der Erkrankung in der Öffentlichkeit tut).6

Andere sind der Ansicht, ADHS sei eine erworbene Störung,7 denn das Gehirn sei formbar und durch äußere Einflüsse wie das Verhalten des Umfeldes veränderbar. Die ADHS-spezifischen Anlagen und Persönlichkeitsmerkmale, die in einem gewissen Prozentsatz der Kinder schlummerten, würden vermutlich erst durch das Einwirken des Umfeldes und der Umwelt zum „Ausbruch“ kommen. Dieser Ansatz wird von geplagten Eltern nachvollziehbarerweise aber dahingehend interpretiert, dass sie die ADHS ihres Sprösslings (mit)verschuldet haben – kein schönes Gefühl für genau jene Menschen, die in der Regel ihr Bestes geben, um ihr Kind so gut wie möglich zu begleiten.

Zu den Fakten

Dabei besteht in der Zwischenzeit absolut kein Zweifel mehr daran, dass es sich bei ADHS tatsächlich um eine eigenständige Erkrankung handelt. Sehen wir uns doch dazu einmal die nicht wegzudiskutierenden Fakten an:8

„Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) stellen zusammen mit den aggressiven Verhaltensstörungen (Störungen des Sozialverhaltens) die häufigsten psychischen Störungen im Kindesalter dar.“

9

Und: „Zu kaum einem anderen klinischen Störungsbild ist wissenschaftlich so umfangreich geforscht und publiziert worden“.

10

Allein zur Erhebung weltweiter Prävalenzraten wurden 9.105 Abstracts von zwischen 1978 und 2005 publizierten wissenschaftlichen Artikeln für eine Metaregressionsanalyse ausgewählt.11 D. h. ADHS wird seit nunmehr rund 50 Jahren intensiv beforscht – mit insgesamt sehr eindeutigen Ergebnissen, die auf eine Gehirnstoffwechselerkrankung als Ursache weisen (vgl. dazu Kapitel 3 in Band I).

Für eine erfundene Krankheit wäre das ein Aufwand, der mit nichts zu rechtfertigen wäre.

Es ist daher Bernd Ahrbeck recht zu geben, wenn dieser meint: „Die Veröffentlichung von Geschichten, nach denen ADHS eine fiktive Störung oder lediglich ein Konflikt zwischen den heutigen Huckleberry Finns und ihren Sorgeberechtigten sei, ist gleichbedeutend mit der Behauptung, die Erde sei flach, die Gesetze der Schwerkraft seien debattierbar und die chemische Periodentabelle sei Betrug.“13

Medikamente für den Zappelphilipp?

Doch nicht nur die Existenz der Störung selbst wirft immer wieder Diskussionen auf. Mindestens ebenso umstritten ist in der Fachwelt das Thema der Behandlung von ADHS. Und dabei meine ich nicht die Diskussion darüber ob z. B. die Konzentration besser durch Neurofeedback oder das Marburger Konzentrationstraining gefördert werden kann (vgl. dazu die in Kapitel 5 angeführten Therapien), sondern die nicht enden wollende Debatte darüber, ob ein Kind mit ADHS auch medikamentös begleitet werden sollte.

Auf der einen Seite stehen in dieser Diskussion jene, die Zeter und Mordio schreien, weil „verantwortungslose Eltern“ ihre Kinder „mit Drogen“ ruhigstellen bzw. gefügig und angepasst machen würden. Auf der anderen Seite werfen jene, die den Einsatz von Medikamenten befürworten, den Medikamentengegnern vor, sie würden – angetrieben von dem falschen Ehrgeiz, es ohne Medikamente schaffen zu wollen – ihren Kindern eine ganz wesentliche Chance für eine seelisch gesunde Entwicklung vorenthalten.

Das Traurige an dieser Diskussion ist, dass durch die Verbissenheit, die die Betroffenen für das Beharren auf ihrer Meinung an den Tag legen, ein regelrechter Grabenkampf entstanden ist und so tatsächlich wertvolle Chancen für Kinder mit ADHS verloren gehen. Gerade die Hardliner der jeweiligen Lager (und das sind bedauernswerterweise sehr viele) sind blind für die Möglichkeiten, die der jeweils andere Weg bieten würde.

So erkennen eingeschworene Medikamentengegner oft nicht (oder zu spät), dass manche Kinder erst durch die Verabreichung des passenden Medikaments für Therapien zugänglich werden. Häufig sind sie dann erst fähig, ihr sozial nachteiliges Verhalten zu ändern, wieder mehr an Selbstwert zu gewinnen etc. Andererseits sind Medikamentenbefürworter oft anderen Therapien oder unterstützenden Maßnahmen gegenüber wenig oder gar nicht offen. Dadurch gehen ebenfalls wertvolle Chancen für Behandlungsmöglichkeiten verloren und es verstreicht viel Zeit, die mit der Kombination mehrerer Therapien (multimodaler Ansatz) optimal hätte genutzt werden können.

Dabei ist die, wie oben bereits erwähnt, im Idealfall möglichst frühe und umfassende Behandlung von ADHS unerlässlich, um sogenannte Komorbiditäten sowie eine häufig zu beobachtende Suizidgefährdung weitestgehend zu vermeiden. Mackowiak & Schramm führen in diesem Zusammenhang eine Längsschnittstudie von Barbaresi et al. aus dem Jahr 2013 an, in der die AutorInnen eindrucksvoll belegen, dass die ADHS-Problematik „die Auftretenswahrscheinlichkeit von anderen psychiatrischen Erkrankungen im Erwachsenenalter [erhöht] […] und mit einer erhöhten Sterblichkeit (aufgrund von Suizid und Unfällen) assoziiert“14 wird.

Auch Helga Simchen hält fest: „Je später der Behandlungsbeginn ist, umso mehr AD(H)S-bedingte Komorbiditäten, wie depressive Verstimmungen, Angst- und Zwangsstörungen, Selbstwertkrisen und Burnout können die Behandlung zusätzlich erschweren.“15 Darüber hinaus ist bei einer ADHS die Gefahr des Abrutschens in Arbeitslosigkeit, Substanzabhängigkeit und Kriminalität im Jugend- und Erwachsenenalter überproportional häufiger zu beobachten als bei Nicht-Betroffenen.16 Eine Nichtbehandlung bzw. auch eine zu späte Behandlung eines mit ADHS diagnostizieren Kindes ist daher mit einer Kindeswohlgefährdung gleichzusetzen.17

Aus all diesen Gründen bleibt zu wünschen, dass Institutionen, Organisationen, Vereine, Selbsthilfegruppen und Personen, die sich in Sachen ADHS einsetzen, in Zukunft (noch) mehr dabei unterstützt werden, Nicht-Betroffene über das Syndrom zu informieren, die Öffentlichkeit auf die Problematik aufmerksam und ADHS endlich gesellschaftsfähig zu machen. Nur in einer gut informierten Gesellschaft können Menschen über das nötige Wissen verfügen, um überhaupt den Verdacht zu schöpfen, dass ihr Kind von dem Syndrom betroffen ist. Nur in einer toleranten Gesellschaft wagen sich betroffene Eltern zum Diagnostiker. Und nur in einer unterstützenden Gesellschaft können seelisch gesunde und zukunftsstarke Kinder heranwachsen.

Denn genau das ist unser aller Ziel: Unsere Kinder auf das Erwachsenenleben optimal vorzubereiten, um den Anforderungen der Gesellschaft, in der wir leben, gerecht zu werden. Wir alle wünschen uns für unser Kind nichts sehnlicher als ein erfülltes, erfolgreiches und vor allem glückliches Leben. Mir bleibt zu hoffen, dass dieses Buch einen kleinen Teil dazu beiträgt.

Kapitel 1
„SYMPTOM“, „DIAGNOSE“ UND ANDERE KOMISCHE WÖRTER
21. Juli, Max

Yesss! Endlich Ferien. Wie das geilste Schokoeis an einem heißen Sommertag schmelzen die sechs Buchstaben in meinem Gehirn und machen so richtig Laune.

Kein stundenlanges Stillsitzen mehr ohne die Möglichkeit, mal kurz ein paar Handstände zu machen, um wenigstens einen Teil der Ameisen im Po loszuwerden. Kein Dauergequassel über mathematische Gehirnakrobatik oder die Hauptstadt von irgendeinem Land, dessen Name dir beim Aussprechen einen Knoten in die Zunge haut. Kein Mitschreiben von solch unnötigem Bullshit (womit überhaupt, wenn alle Stifte fehlen?), kein Einordnen von haufenweise Zetteln in ohnehin vergessene Mappen, keine ständigen Rechtfertigungen, warum ich von diesem oder jenem schon wieder keinen Plan habe, meine Sportkleidung fehlt oder ich die Unterschrift für so megawichtige Events wie den Selbstverteidigungskurs verschwitzt habe. Aber am allerwichtigsten: sechs Wochen nichts lernen, keine Hausaufgaben und keine Klassenarbeiten.

Allerdings – und hier ist schon der erste Wermutstropfen – geht’s morgen doch zu einem Test oder so was Ähnlichem. Mum und Dad haben ja beschlossen, mich zu einer Psychologin zu schleifen, weil nicht nur Tante Alma denkt, mit mir würde was nicht stimmen. Wobei: Die denkt ja, dass mit Mum und Dad was nicht stimmt, weil sie mich nicht richtig erziehen.

Ja, ja, ja, schon klar: Die letzten elf Jahre haben wirklich deutlich gezeigt, dass ich bei Vielem anders ticke als Smartie. Sogar anders als Leo oder Felix oder Mike. Und nachdem Mum und Dad in den vergangenen Monaten stapelweise Bücher zum Thema ADHS gelesen haben, sind sie nun davon überzeugt, dass ich genau das habe. Die Psychologin soll jetzt gucken, ob sie mit ihrer Vermutung richtig liegen.

Aber was soll das bringen? Meine Frage nach Gehirn-OPs oder Denkpillen, die mich zu Einstein machen, hat Mum schon verneint. Bestechung der Lehrer scheidet mit Sicherheit auch aus, dasselbe gilt für „nie wieder Schule“. Und an einen Venentropf, der mich mal nachdenken lässt, bevor ich im Skatepark über viel zu große Schanzen springe oder in die steile Bowl droppe, wird die Seelenklempnerin mich sicher auch nicht hängen. Wozu das Ganze also???

Klar hab ich Mum gefragt, warum wir dort überhaupt hingehen, aber da kamen nur so schwammige Aussagen wie „Dann haben wir endlich Klarheit“ oder „Du wirst sehen, das wird spannend“ oder „Wir haben sie schon kennengelernt, die ist echt nett“. Aber bei mir aufregen, wenn ich Antworten gebe, die mit der Frage nichts zu tun haben! Nun ja, hilft ja ohnehin alles nichts. Wenn Mum sich was in den Kopf gesetzt hat, hast du keine Chance. Da könntest du noch eher versuchen, Queen Mum den Gangnam-Style beizubringen. Also, Augen zu und durch.

Was ich mich allerdings doch frage: Wenn schon eine Psychologin für einen Bergmann-Jungen ran muss, warum macht Mum nicht auch mit Smartie einen Abstecher dorthin? Der ist nämlich fast eineinhalb Jahre älter als ich, hat aber oft Anwandlungen, als würde er seine Vormittage in der Kita statt im Gymnasium verbringen.

Wenn ich Mum allerdings erklären will, dass es eigentlich Smartie ist, der so richtig einen an der Klatsche hat, lenkt sie entweder vom Thema ab (wofür ich mir umgekehrt von ihr immer wieder tiefe Stirnfalten einhandle) oder sie hat komplett unnötige Aussagen parat, wie „Max, ich möchte nicht, dass über Smartie so gesprochen wird“ oder „Max, es wundert mich nicht wirklich, wenn Smartie ab und zu mal austickt“. Sie sagt zwar nie „wegen dir“, aber ich hab’s gecheckt, Mum. Die Worte müssen gar nicht ausgesprochen werden, um bei mir anzukommen. Feine Antennen und so.

Egal, ich tröste mich damit, dass mir diese ganze Testerei „nur“ den Vormittag versaut, denn wenn wir wieder zu Hause sind, wartet die geilste Sache der Welt auf mich: Ich werde für meine heiß geliebte Katze Sira, die in etwa einer Woche süße kleine Kätzchen bekommt, eine Entbindungsbox bauen. Angefangen hatte ich damit ja schon, aber anstatt mir vorher zu überlegen, wie ich das am besten angehen sollte, hab ich einfach mal drauflos gemacht und was da dann rauskam, glich eher einem Haufen Brennholz, aus dem ein paar Nägel ragten. Das erste laue Sommerlüftchen hätte das Ding zum Einstürzen gebracht – wie Smartie, der als Kind wohl zu viel Bob der Baumeister geguckt hat, klugscheißerisch anmerken musste.

In Wirklichkeit will er doch eh nur all meine Versuche, die Box alleine zu bauen, schlechtreden. Denn vor ungefähr einer Woche haben wir versucht, das Ding gemeinsam zu bauen, und sind uns dabei so sehr in die Haare geraten, dass Smartie richtig ausgetickt ist. Er hat von Mum und Dad glatt verlangt, mich zu irgendjemandem zu schleppen, der mal in meinem Oberstübchen aufräumt, sonst würde er irgendwann noch wegrennen. Jedes Leben unter der Brücke wäre noch eher zu ertragen, als mit mir Gehirnamputierem (danke Bro!) weiterhin unter einem Dach zu wohnen. Außerdem bin ich sicher, in seinen Augen mehr Flüssigkeit als sonst geortet zu haben.

Alter, was gibt’s da zu heulen? Dann mach ich die Box eben alleine. Nervt ohnehin, ständig einen um mich rum zu haben, der alles besser weiß – oder es zumindest glaubt. Jemanden, der, egal was ich vorschlage, nur die Augen verdreht oder gleich eine der vielen Nettigkeiten von sich gibt, die sich allesamt mit „Max, du bist einfach für alles zu doof“ übersetzen lassen.

Außerdem höre ich ihn bei solchen gemeinsamen Aktivitäten oft von ganz weit weg schreien, woraufhin dann meist in der Sekunde was zu Bruch geht, zu kurz abgeschnitten wird oder sich ein Bohrloch plötzlich an der falschen Stelle befindet. Nö danke, auf das Geplärre hab ich keinen Bock mehr. Also habe ich beschlossen, die Box alleine zu bauen, was mir ein weiteres Augenverdrehen und besserwisserische Aussagen zur fehlenden Stabilität meines Bauwerks von Smartie einbrachte.

Wenn ich nicht tatsächlich Angst um Sira und ihre Jungen hätte, hätte ich das Teil mit Absicht so gelassen. Aber ich fürchte, der Möchtegern-Konstrukteur hat recht. Also hab ich vorgestern mit Dad einen Plan gezeichnet, den Bretterhaufen wieder in seine Einzelteile zerlegt und morgen starte ich den nächsten Versuch.

Jetzt geht’s jedenfalls ab ins Bett, damit ich morgen für den Test (die Tests? … na, hoffentlich nicht!) fit bin. Werde denen allen zeigen, wo der Hammer hängt und was ich drauf hab, wenn ich mich anstrenge. Hoffe ich zumindest, denn ich habe KEINEN BOCK auf die Vier-Buchstaben-Krankheit. Ich mein, dann werden mich doch alle bei jedem kleinsten Fehltritt, jeder noch so kleinen Verarsche, jedem Mal nix Mitkriegen mit einem Blick ansehen, der ausdrückt: „Ach, habt doch Nachsehen, der Arme hat ja ADHS“. Oder noch viel schlimmer: „Uns brauchst du mit der ADHS-Mitleidsmasche nicht zu kommen. Wir wissen, dass du könntest, wenn du dich nur richtig anstrengen würdest. Du hast es doch faustdick hinter den Ohren!“

Ach Menno, ich will einfach nur NORMAL sein!

21. Juli, Mum

Morgen geht es los. Endlich. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass wir auf dem richtigen Weg sind, dass es eine Erklärung, einen Grund für Max’ Anderssein gibt. Am liebsten hätte ich das Ergebnis gleich, aber die Psychologin1 hat mir am Telefon schon erklärt, dass für eine sichere Diagnose mehrere Tests nötig sind und das alles dauern wird. Nun, nach all dem, was wir gelesen haben, steht für mich ohnehin fest, dass unser Sohnemann ADHS hat. Aber ohne offizielle Diagnose gibt es keine individuell auf ihn zugeschnittene Behandlung und genau die ist ja letztendlich das Wichtigste.

ADHS … bis vor einem halben Jahr wusste ich so gut wie gar nichts darüber. Jetzt könnte ich schon fast selbst ein Buch darüber schreiben: Rund 5% der Heranwachsenden sind davon betroffen,2 Jungen deutlich häufiger als Mädchen,3 es gibt drei verschiedene Formen4, es wächst sich im Erwachsenenalter nicht wirklich aus,5 aber am wichtigsten: Die Symptome sind für Betroffene wie auch ihr Umfeld mehr als eine Herausforderung.

Habe ich gerade „Herausforderung“ geschrieben? Korrektur: Sie sind für alle Beteiligten kaum auszuhalten!

Es beginnt schon beim „A“, dem Aufmerksamkeitsdefizit.6 Man spricht Max an, er kriegt es nicht mit. Harald schickt ihn, einen Schraubendreher zu holen, er kommt nach drei Minuten zurück und fragt, was er denn eigentlich hätte holen sollen. Ich erkläre oder erzähle ihm etwas, er driftet ab. Man fordert ihn auf, den Schulranzen für den nächsten Tag zu packen, doch wenn man 15 Minuten später nachsieht, wo er bleibt, spielt er mit der Katze oder sucht neue Radlager für sein Skateboard.

Wirklich schlimm ist dieses Manko natürlich bei Schulischem. Wenn er seine Sportsachen zusammenpacken soll, kommt er nach 20 Minuten Suche drauf: Er muss sie wohl verloren haben, denn er kann sie nirgendwo finden, und im Spind in der Schule sind sie angeblich auch nicht. Er soll Hausaufgaben machen, nach 30 Minuten: weißes Blatt. Dann stehen nach weiteren gefühlten zwei Stunden endlich mal fünf Sätze drauf, aber man braucht sowohl einen Schriftentzifferungsexperten als auch ein Wörterbuch, um rauszufinden, dass „Schdabilitet“ eigentlich „Stabilität“ und „Aggropath“ in Wirklichkeit „Akrobat“ heißen soll …

Ich könnte noch die nächsten zehn Seiten mit Beispielen vollschreiben, die sich Mütter von Durchschnittskindern nicht annähernd vorstellen können, zumindest nicht in dieser Dichte und Häufigkeit. Dabei sind das ja erst die Symptome des ersten Blocks, der für ADHS sowohl von der Weltgesundheitsorganisation als auch von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung angegeben wird.

Der zweite Block betrifft die Hyperaktivität, und die Symptome sind mindestens genauso nervig (sorry Max!) wie die des ersten. Ständiges Gezappel mit Armen und Beinen, Fußtritte unterm Tisch, in der Freizeit nur am Rennen, Hüpfen, Löcher Graben, Klettern, sich Auspowern. Und in der Schule stillsitzen? Natürlich Fehlanzeige. In einer Tour gibt es einen Grund, warum Max aufstehen „muss“, sei’s, um einen Stift aufzuheben, der jemandem runtergefallen ist (die Mitschüler sind alle offenbar an der Wirbelsäule operiert), sei es ein Taschentuch, das unbedingt sofort in den Müll muss, oder aber auch die klassische „Ich muss mal“-Aktion.

Und wenn sämtliche Möglichkeiten für Bewegung erschöpft sind, summt es auf seinem Platz trotzdem wie 1.000 Hummeln, denn da wird rumgerutscht, geschaukelt, die Beine werden unter die Knie geklemmt, dann wieder ausgestreckt, es wird im Ranzen gekramt … Mir fängt ja fast selbst der Kopf zu brummen an, wenn die Lehrer erzählen, was Max so alles veranstaltet, um sich jede Schulstunde aufs Neue irgendwie seiner überschüssigen Energie während der für ihn wahrscheinlich endlos scheinenden 45 Minuten zu entledigen.

Dann ist da auch noch das nicht abzustellende Sprechloch, aus dem ohne Pause oft minutenlang die Worte wie Geschosse aus einer Maschinenpistole auf das Gegenüber abgefeuert werden. Sogar ich als Mutter, der Gespräche mit ihren Kindern extrem wichtig sind, ertappe mich manchmal dabei, dass meine Ohren unbewusst auf Durchzug schalten, weil ich all der aus Max heraussprudelnden Information teilweise gar nicht mehr folgen kann. Früher hielt sich das noch in Grenzen, aber seit ein paar Wochen scheint er immer häufiger unter „Sprechdurchfall“ zu leiden, wie Harald immer sagt.

Außerdem unterbricht Max einen dauernd, spricht für andere deren Sätze zu Ende und platzt mit Antworten heraus, bevor das Gegenüber überhaupt die Frage gestellt hat – womit wir schon beim dritten Symptomblock, der Impulsivität, wären. (Warum gibt es eigentlich kein I in der Abkürzung ADHS?) „Impulsiv“ … klingt ja ein wenig nach dem Wort „spontan“, nur leider ohne das Positive, das man sich da drunter vorstellt.

Die meisten Symptome, die unter diesem Begriff zusammengefasst werden, bereiten mir eher Angst. Max’ Motto ist nämlich: Machen wir mal und denken – wenn überhaupt – erst hinterher über die Folgen nach. Egal, ob es „nur“ darum geht, mal kurz einen Stein wegzukicken, der dann gegen ein Auto knallt, oder ob er denkt, er sei ein Ninja Turtle und von der drei Meter hohen Mauer neben der Schule springt, oder er sich – wie vor ein paar Monaten – mit Gipsbein ins eisige Wasser stürzt, um schnell mal ein Entlein vor imaginären riesigen Raubfischen zu retten.

Und dann diese Ungeduld! Das Wort „warten“ gibt es in Max’ Welt nicht. Egal, ob er sich irgendwo anstellen muss, ein langsamerer Skifahrer auf einer engen Piste vor ihm herfährt, oder er im Sportunterricht warten soll, bevor er losläuft, es klappt einfach nicht! Beim Anstehen in der Schlange wird gedrängelt und gemogelt, in den Bergen in einem fort auf die „Pistenschnecken“ geschimpft und beim Sport verbringt er die halbe Zeit des Unterrichts damit, am Rand zu sitzen. Dort soll er laut Lehrer nachdenken, welche Regeln vereinbart wurden, um seine und die Sicherheit der anderen zu gewährleisten.

Gerade Letzteres ist ein Beispiel dafür, wie oft bei solch hibbeligen Kindern ein Teufelskreis in Gang kommt, denn sich nicht bewegen zu dürfen, während seine Klassenkameraden nach Herzenslust rennen und springen können, führt nur dazu, dass die aufgestaute Energie noch mehr nach Abbau drängt und Max, kaum dass er wieder mitmachen darf, den nächsten Fehltritt begeht – und erneut im Out landet.

„Kenn ich alles“, sagen dann Mütter, die meinen, ein eben solches Exemplar zu Hause zu haben. „An manchen Tagen ist meiner auch nicht kaputt zu kriegen und vergisst immer wieder mal, seine Hausaufgaben zu erledigen.“ Oder: „Manchmal hab ich auch das Gefühl, sie hört gar nicht richtig zu und wenn es bei großem Hunger noch 20 Minuten bis zum Essen dauert, erzählt sie mir alle paar Minuten, dass die Zeit nicht vergeht.“ Ja, aber genau da liegt ja der feine Unterschied: „An manchen Tagen“, „manchmal“ und „immer wieder mal“ ist etwas anderes als „täglich“, „ständig“ und „dauernd“. Zwei Autoren schreiben mir hier direkt aus der Seele:

Nahezu alle Kinder und Jugendlichen zeigen gelegentlich Verhaltensweisen wie Unruhe, Impulsivität oder Unaufmerksamkeit. Bei einem Kind oder einer/m Jugendlichen mit ADHS unterscheidet sich jedoch das Auftreten dieser Kernsymptome vor allem in der Intensität und dem Ausmaß dieser Auffälligkeiten.7

Und bei Max ist hinsichtlich Intensität und Ausmaß eigentlich keine Steigerung mehr möglich. Daher bin ich mir sicher, dass Max ADHS hat. Aber in ein paar Wochen wissen wir mehr. Obwohl, vielleicht kann Dr. Mannheimer morgen schon eine erste Prognose wagen?

Habe ich gerade geschrieben, Max sei ungeduldig?

22. Juli, Max

War gar nicht mal so übel bei der Psychotante heute. (Mum hat mir eigentlich verboten, sie so zu nennen, aber in mein Tagebuch schreib ich rein, was ich will.) Zuerst hat sie mir zwar Löcher in den Bauch gefragt, aber es gibt Schlimmeres und wenn ich was nicht beantworten wollte, musste ich auch nicht. Allerdings hat sie’s dann doch hintenrum versucht und dachte, ich würde es nicht merken. Da musst du aber früher aufstehen, meine Liebe, denn wenn ich eins drauf hab, dann ist es, andere zu durchschauen. Meine Antennen orten so was, noch bevor’s mein Gegenüber angedacht hat.

Nachdem ich offenbar alle wichtigen Fragen einigermaßen beantwortet hatte, kamen alle möglichen Tests. Aber zumindest waren das welche, auf die ich mich nicht vorbereiten musste, sonst hätte Mum mich dort kein zweites Mal hingekriegt. Wenn ich das richtig verstanden habe, müssen wir nämlich noch ein paar Mal zu Frau Dr. Mannheimer (da siehste mal, Mum, ich hab mir gemerkt, wie sie heißt!). Ich muss sagen, teilweise haben die Tests fast Spaß gemacht, besonders der mit den Tieren. Manches davon war aber auch sauanstrengend.

Aber alles in allem konnte ich dort eher bei der Sache bleiben als bei Klassenarbeiten. Keiner, der ständig auf seinem Stuhl rumrutscht, niemand, der ewig im Mäppchen nach einem Radiergummi kramt, keine Carina, die sich pro Stunde 27 Mal schnäuzen muss, und auch kein Felix, der sogar während einer Klassenarbeit rausrennt – weil er „aufs Klo muss“. Ich weiß aber, dass er in Wahrheit schnell zum Kiosk sprintet, um sich was Süßes reinzustopfen, weil ihm der Zucker angeblich beim Denken hilft. Laut Mum ist genau das Gegenteil der Fall, aber mir ist das ohnehin egal, mich nerven einfach diese ganzen Ablenkungen. Und davon gab’s heute keine, daher lief das mit den Tests auch wirklich gut.

Trotzdem war das Ganze so anstrengend, dass ich am Nachmittag einfach keine Energie mehr hatte, Siras Entbindungsbox zu zimmern. „Max und keine Energie?“, werdet ihr euch jetzt denken. Nun ja, man muss eben unterscheiden bei mir. Wenn Mike vorbeigekommen wäre und mich gefragt hätte, wie es mit einer Runde Fußball aussieht, hätte ich sofort ja gesagt. Aber die Entbindungsbox zu bauen, hätte ja wieder endlose Gedankenakrobatik bedeutet, denn Dads Plan in die Tat umzusetzen überfordert mich wahrscheinlich schon im ausgeschlafenen Zustand – und erst recht nach dem Testmarathon.

Egal, Sira bekommt ihre Jungen laut Dad ohnehin erst in einer Woche oder so, da kann ich die Box morgen auch noch machen.

22. Juli, Mum

Max hat sich laut Psychologin heute ganz gut geschlagen. Er war kooperativ, hat ihre Fragen recht bereitwillig beantwortet und zeigte sich auch bei den Tests konzentrierter als erwartet. Allerdings hat sie mir gesagt, das würde noch lange nicht heißen, dass er nicht trotzdem eine Konzentrationsschwäche bzw. ADHS hätte, denn gerade in diesen 1:1-Testsituationen zeigen Kinder mit ADHS oft eine viel längere Aufmerksamkeitsspanne und sind konzentrierter als im Gruppengeschehen.

Dort werden sie durch ihre Reizoffenheit nämlich von den vielen visuellen und akustischen Reizen überflutet, bis die Rollläden runtergehen und sie gar nichts mehr mitbekommen. Cordula Neuhaus, eine meiner Lieblingsautorinnen, schreibt dazu Folgendes:

Eine Person mit AD(H)S hat infolge von Fehlregulationen im Gehirn große Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit ohne Anstrengung ausreichend lange aufrechtzuerhalten, ohne sich von ablenkenden Reizen oder inneren Impulsen stören zu lassen. Daraus entstehen die typischen Probleme bei allen Tätigkeiten, die ausdauernde geistige Anstrengung erfordern.8

Aber nicht nur für die Aufmerksamkeit, die ja gerade in der Schule so bitter nötig wäre, ist diese Reizfilterschwäche, also das Unvermögen, Reize auszublenden, nicht gerade förderlich. Auch im Alltag kann sie zum Problem werden. In letzter Zeit beschwert Max sich nämlich immer häufiger über Smarties Geräusche beim Essen.

Dabei isst der eigentlich ganz normal. Kaut vielleicht minimal lauter als Harald und ich und auch wenn er trinkt, gluckst es ein wenig mehr. Aber so wie Max darauf in den vergangenen Wochen reagiert hat, dürften das für ihn Geräusche vergleichbar mit einer Schlagbohrmaschine sein.

Auch als ich vorgestern schon recht müde neben ihm saß und ihm beim Kleben eines Modellhubschrauberteils zusah, bat er mich, doch bitte nicht so laut zu atmen, es würde ihn ablenken. Mein Atmen lenkt ihn ab? Aber wenn ich drei Meter entfernt von ihm seinen Namen rufe, hört er es nicht. Außerdem ist er von uns allen eigentlich der, der am lautesten ist.9 Wie um alles in der Welt passt das zusammen? Das werde ich beim nächsten Mal die Psychologin fragen, sie scheint mir nämlich wirklich sehr kompetent zu sein.

Harald und ich sind wirklich froh, uns endlich entschlossen zu haben, Max’ Verhalten von einer ADHS-Expertin ansehen und bewerten zu lassen. Wobei man aus dem unmittelbaren Umfeld dazu ja die unterschiedlichsten Dinge zu hören bekommt: „Na, endlich unternehmt ihr da mal was, so kann es mit ihm ja nicht weitergehen!“ Zu Deutsch: Wird ja langsam Zeit, dass ihr was tut, um die anderen vor Max’ Verhalten zu schützen. Grrrr! Kaum einer versteht, dass er derjenige ist, für den dieses Verhalten am belastendsten ist!

Oder: „Um Himmels willen, lasst doch all diese Untersuchungen. Stellt euch mal vor, die finden wirklich raus, er hätte ADHS. Dann bleiben nur Medikamente und all ihre schrecklichen Nebenwirkungen. Gerade vorgestern habe ich da wieder was in der Zeitung gelesen …“ Aber ja, klar doch, wahrscheinlich in einer, die mehr Bilder als Text hat. Und wer sagt überhaupt, dass Medikamente zwingend nötig sind? Das werden wir alles zu seiner Zeit mit Dr. Mannheimer besprechen.

Toll auch jene Antwort, bei der ich meinem Gegenüber tatsächlich an die Kehle springen könnte: „Wozu lasst ihr ihn denn auf ADHS testen? Man weiß schon lange, dass das eine erfundene Krankheit ist.“ Und unausgesprochen (oder auch ausgesprochen!) wird vermittelt: „Nehmt ihn doch mal richtig ran. Der braucht nur klare Worte und vielleicht auch ein paar hinten drauf, dann pariert der schon!“

Das letzte Mal, als ich so eine Aussage hören musste, beging ich nicht zum ersten Mal den Fehler, mich auf eine aussichtslose Diskussion zur Thematik einzulassen – und zwar mit einer Dame mit silber-blau schimmernden Dauerwellen und hochgezogenen Augenbrauen. Max hatte sie im Supermarkt nicht wahrgenommen, als sie ihn gebeten hatte, einen Schritt zur Seite zu machen. Nach längerem Hin und Her und wirklich unfreundlichen Worten zu Max wollte ich ihr erklären, unser Junge höre aufgrund seiner vermuteten ADHS oft gar nicht, wenn er angesprochen wird.