Schöne alte Welt für alle, die es genauer wissen wollen - Eveline Pawlich - E-Book

Schöne alte Welt für alle, die es genauer wissen wollen E-Book

Eveline Pawlich

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Beschreibung

"Die Schöne alte Welt - für alle, die es genauer wissen wollen" ist mit ihren ausführlichen Texten eine - wenn auch keinesfalls zwingende - Ergänzung zu meiner "Schönen alten Welt". Die Berichte und manchmal fiktiven Texte beziehen sich auf Europa, Asien und Südamerika. Wie auch beim Hauptband sind die Texte aus der Sicht der schönen alten Welt geschrieben und für alle, die die Orte schon bereist haben oder noch bereisen möchten.

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Dieser Zusatzband zu meiner Schönen alten Welt unterscheidet sich gravierend vom Hauptband, denn hier geht es bedeutend ausführlicher in Essays und Reiseberichten um einige Aufenthalte in Europa, Asien und Südamerika. Manchmal geschieht das in einem mehr oder weniger fiktiven Rahmen, meist in umfassenderen Berichten, wobei einiges aus den Reisen bereits im ersten Band in dessen einzelnen Abschnitten knapp angesprochen worden ist. Gleichgeblieben ist jedoch, dass die Texte aus der Sicht der schönen alten Welt geschrieben wurden.

Eveline Pawlich, geboren 1951 in Berlin, arbeitete nach einem Studium in Germanistik und Geschichte als Dramaturgin und an einem Berliner Gymnasium. Sie veröffentlichte neben den beiden Reisebüchern Zeitungsberichte, Gedichte, Kurzgeschichten und Dramen.

INHALT

Vive la Provence (1989)

Notre Auberge (1987)

La bella Toscana

Ein Leben wie im Paradies

(ab 1991)

Hallo, jetzt kommen wir!

Eine Klassenreise nach Rom

(1987)

Weimar

Ein Wintermorgen im Park

(1995)

Mallorca im Winter (1989)

Oswice – Auschwitz (ohne Datum)

Ausflugstipp: DEFA in Potsdam (ohne Datum)

Unterwegs in Indien

Vom Rikshafahrer in Delhi, vom Affendompteur in Bombay und von den Ratten in Rajasthan (1988)

Unterwegs in China

China wie im Bilderbuch

(1992)

Unterwegs in Burma/Myanmar

Gruseldiktatur mit Malariarisiko

(2009)

Allein, aber nicht einsam auf den Galapagos-Inseln (2019)

Abbildungsverzeichnis

VIVE LA PROVENCE

Bettelndes Hühnergegacker zwischen den Beinen der im Garten frühstückenden Gäste einer Auberge, gleißendes Mittagslicht über den duftenden, lila blühenden Lavendelfeldern - van Gogh und Cézanne lassen grüßen -, feuchtdumpfe Stille nach einem heißen Tag in der Krypta von St. Gilles, nur durch das Entlangschleichen einer herrenlosen Katze zwischen den romanischen Pfeilern etwas beeinträchtigt:

C'est la Provence! Vive la Provence! -, denn sie bietet neben einer paradiesischen Landschaft zugleich ein Dorado an kulturellen Kostbarkeiten: seien es nun die sich majestätisch in der Gard spiegelnden hohen Rundbögen der 50 Meter hohen, 242 Meter langen und 4 Meter breiten Pont, die die Römer auf Befehl von Agrippa als Aquädukt errichtet hatten, oder die klassisch schlichten, weniger gewaltigen der ehemals abgelegenen, heute jedoch auf den Autostraßen gut erreichbaren Zisterzienserabteien des 12. Jahrhunderts, in deren Kirchengewölben man, wenn man Glück hat, sogar noch die Gesänge der Mönche hören kann - natürlich auf Platte, von Lautsprechern übertragen.

Aber das tut dem Eindruck vom klassisch einfachen klösterlichen Leben in Silvacane oder Sénanque keinen Abbruch und bestärkt den vom Alltag gestressten Touristen eher in seinem Wunsche, der ihn umgebenden Hektik zu entfliehen, im vor der Mittagshitze geschützten, angenehm kühlen Kreuzgang zu meditieren oder sich mit der Anzucht von Kräutern zu beschäftigen, Arzneien herzustellen - ohne Chemie, ohne Tierversuche.

Abrupt wird man jedoch aus diesen Träumen gerissen, wenn man erfährt, dass das Durchschnittsalter dieser beneideten Berufsgruppe kaum 28 Jahre betrug oder dass das Frühstück - in Frankreich zwar nicht üppig, aber doch zum morgendlichen Wohlbefinden dazugehörend - den Mönchen gänzlich unbekannt war. Auch dürften die unbeheizten Räume kaum zur Behaglichkeit klösterlicher Winter beigetragen, der Wärmeraum allenfalls zum Auftauen rheumatischer Glieder gedient haben, wenn man nicht gerade aufgrund seiner Schreibarbeit das Privileg hatte, sich im Scriptorium eine längere Zeit aufzuhalten. Da scheint dem Menschen des 20. Jahrhunderts denn doch der inbrünstige Glaube zu fehlen, sich einem derartigen Leben zu verschreiben, wie es viele Tausende im 12. Jahrhundert taten, als sie sich der Reformbewegung des Heiligen Bernhards von Clairvaux anschlossen und mit Weltflucht, Armuts- und Stillegebot gegen fürstliches Gebaren, Simonie und Nepotismus der alteingesessenen Geistlichkeit protestierten.

Also kein Leben als Mönch, aber doch Bewunderung für die einfachen, vornehmen Kalksteinbögen und -gewölbe, die bereits zum Stil der Gotik hinüberleiten.

Bewunderung auch für die mehr als 1000 Jahre älteren Bauwerke, die weniger Ausdruck einer Weltflucht als der weltlicher Unterhaltung waren: Brot und Spiele in den Arenen der Provinz Gallia Narbonensis, die seit 61 vor Christus vier Jahrhunderte hindurch römischem Herrschaftsanspruch unterlag; Fünf-Gänge-Menu und keineswegs völlig andersgeartete Spiele für den Ferieninvasoren des 20. Jahrhunderts an eben diesen Orten.

Immer noch finden in den besterhaltensten antiken Arenen von Nemausus (Nimes) und Arelate (Arles) die Tierkämpfe statt. Wohl gewachsene, in der Camargue extra dafür gezüchtete, schwarze Stiere bevölkern die Arenen und entkommen dem Jubel der Menge keineswegs immer lebendig. Antike Wurzeln auch hier: Stieropfer im Mithras- und Kybele-Kult.

Weniger blutrünstig geht es im Theater von Arausio (Orange) zu, dessen berühmtester Abonnent, der 3.55 Meter hohe Augustus, seit Jahrhunderten das Spiel auf der Bühne weit unter sich sowie auch das Spiel des sich wandelnden und doch immer gleichbleibenden Publikums sich gegenüber mit marmornen Blicken verfolgt. Er nimmt seinen Platz in der einzig erhaltenen, 37 Meter hohen Szenenwand dieses antiken Theaters ein.

Nutzung der Bauwerke, Nutzung der schnurgeraden, oft Hunderte von Metern mit Platanen gesäumten Römerstraßen - heute wie einst. Aber der vollmotorisierte Bildungstourist mit vierwöchigem Urlaubsanspruch kann seinen Kleinwagen noch tiefer über holprige und enge Straßen in die Vergangenheit steuern und dabei den Staub von Jahrtausenden aufwirbeln (Wer noch nicht Autofahren kann, der lernt es spätestens hier - oder kehrt mit einem der öffentlichen Verkehrsmittel nach Hause zurück.). So ist es dem Bildungshungrigen möglich, die aus Feldsteinen errichteten Rundhütten, genannt Bories, eines rekonstruierten Steinzeitdorfes unweit von Sénanque zu besichtigen, deren Bauweise die Jahrtausende bis hinein in unser Jahrhundert überdauert hat und die noch vor wenigen Jahren die Hirten vor Wind und Wetter schützte.

Kaum 20 Kilometer davon entfernt erwartet ihn dann schon wieder die Moderne. Hier birgt das trutzige Schloss von Gordes das Oeuvre des Malers Victor Vasarely, dessen Bilder streng aus Quadraten, Rechtecken und Kreisen konstruiert sind. Als Wandteppiche an den nüchtern weiß gekalkten Wänden hängend oder zu Serien in Guckkästen zusammengestellt, kann sie der Besucher betrachten. Auf seinem Gang durch die Ausstellungsräume begleitet ihn leise Jazzmusik, ebenso unaufdringlich und emotionslos wie die Bilder des Ungarn, der ursprünglich seinen Lebensunterhalt als Gebrauchsgrafiker verdient hatte. Will man sich noch eingehender über diesen Maler informieren, so bietet die Fondation Vasarely im provencalischen Schmuckkästchen Aix oder "Athen des Südens", wie der Dichter Frederic Mistral diese Stadt nannte, dazu Gelegenheit.

Diese an heißen Sommertagen im Talkessel vor sich hin brütende Universitätsstadt (seit 1413) gewann unter der Regierung des guten Königs René im 15. Jahrhundert an Bedeutung, während die Papstresidenz Avignon zu eben dieser Zeit langsam ihre Bedeutung verlor, nachdem ihr letzter Hausherr samt Gefolge 1376 aus dem Exil nach Rom zurückgekehrt war. René war ein Renaissancefürst, der sich nicht nur durch viele Interessen auszeichnete, sondern seinen Beinamen zu Recht der Tatsache verdankte, dass er sich ebenso um das Wohl seiner Untertanen sorgte. Das unter ihm erblühte goldene Zeitalter endete jedoch sechs Jahre nach seinem Tod, als die Provence zur Provinz des französischen Staates herabsank, mit dem sie 1486 vereinigt wurde. Weit ab vom französischen Hof pflegte Aix fortan als eine Art Landeshauptstadt zweiten Grades die Vornehmheit einer verlassenen Geliebten und schmückte sich im 17. und 18. Jahrhundert mit respektablen Stadtwohnungen von Adel und Parlamentariern auf dem Cours Mirabeaux. Wie in der Hauptstadt Paris sitzt man hier in Straßencafés unter schattenspendenden Platanen, trinkt seinen überteuerten Kaffee und beobachtet die vorbeiflanierenden Passanten sowie den vom Rauschen der Brunnen begleiteten Autoverkehr.

Sind die Lebensgeister geweckt, so sollte man nicht versäumen, das etwas außerhalb liegende Atelier Cézannes zu besichtigen, der in Aix nicht nur geboren wurde, sondern hier auch den größten Teil seines Lebens verbrachte. Man gelangt zur Schaffensstätte dieses seinen Zeitgenossen als Querkopf erschienenen Malers über die recht steil ansteigende Avenue Cézanne. Hierbei kann es jedoch vorkommen, dass man, durstig und geschwitzt oben angekommen, vor verschlossenem Tor steht, da gerade an diesem Tag das inzwischen zum Museum gewordene Atelier aus irgendeinem wichtigen Grunde geschlossen ist. "Une grand Porcerie!", wie ein Tourist mit Filzstift auf dem Tor - zwar in Grammatik und Rechtschreibung falsch, aber doch sehr treffend - bemerkt hatte.

Sind Vasarely und Cézanne Museen gewidmet, so wird dem holländischen Maler der Brücke von Arles, dessen Ohr zu seinen Lebzeiten wohl schon mehr Aufsehen erregte als seine Bilder, nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In einer Buchhandlung mal ein Buch für Liebhaber und Kenner, sonst nichts: kein Bild, kein Poster, keine Postkarte, seit kurzem sogar nicht einmal mehr sein Zimmer im Krankenhaus von St. Remy, das einem Erweiterungsbau des Gebäudes weichen musste. Und doch wird man ständig von seinen grellen Farben und deftigen Pinselstrichen verfolgt. Die Zypressen, die abgeernteten Felder, das Flirren der Luft, all das lässt einen nachempfinden, dass man hier einfach zum Malen gezwungen wird, und zwar mit eben den fast zentimeterdick aufgetragenen Farben, wie sie van Gogh im Sommer 1888 hier fiebernd verwandte.

Ein Mittag in paradiesischer Umgebung - wenn nicht wie van Gogh inmitten von Malfarben und Staffelei, so doch wenigstens zwischen Rotwein und französischem Käse. Als Nachspeise Brombeeren, die an jeder Hecke zu finden sind. Dann ein wenig im keilförmigen Schatten der Zypressen lesen oder auf den Spuren des Insektenforschers Henry Fabre wandeln, mit der Lupe den sich in ihrem Netz sonnenden Spinnen und über den Sandweg krabbelnden Käfern hinterher. Bei jedem noch so vorsichtigen Schritt fliegen dabei die nie ermüdenden Zikaden in Schwärmen auf und verfangen sich manchmal in Sherlock Holmes Beinkleidern, wobei ihre Panik keineswegs geringer einzuschätzen ist als die ihres Beobachters.

Wer auch dafür nicht den genügenden Elan aufbringt, der hält einfach nur eine Siesta - wie der alte Provencale unter dem Schutz der Markise eines kleinen Bistros: der Kopf auf die Brust fallend, die Hand auf den Stock gestützt, mit dem Mischlingshund zu seinen Füßen um die Wette schnarchend, das gute provencalische Essen (sicher mit reichlich Knoblauch) verdauend. Wenn die Hitze nicht mehr so brennend ist, wird er aufwachen und ebenso freundlich wie alle hier seine Schiebermütze zum Gruße lüften und bereit zu einem Schwätzchen sein. Sehnsuchtsvoll betrachtet der Germane aus dem rauen Norden dieses sich ihm bietende Bild des Midi. Das ist das Leben! Oder ist es das ebenso wenig wie das des Zisterziensermönchs? Hat dieser alte Herr tatsächlich nur die einzige Sorge, sorglos unter dem blauen Himmel zu leben? Kann er so sorglos leben auf dem kargen Boden der oberen Provence wie in den ertragreichen Tälern von Rhone und Durance? Unsere nordische Zurückhaltung verbietet, ihm diese Fragen zu stellen, und unser mangelhaftes Französisch tut das übrige.

An Stelle von Kommunikation lieber Kommerz! Man findet ihn völlig unvermutet in riesigen unterirdischen Caves, in denen ameisenartige Geschäftigkeit bei schummriger Beleuchtung und Hammondorgelmusik herrscht. Hier wird der 85er Rosé, Rouge oder Blanc aus riesigen Fässern abgezapft und wie an der Tankstelle in kleine Plastikkanister umgefüllt. Ist der Kofferraum dann erst mal voll des Weines - der Chauffeur hoffentlich weniger -, geht es weiter auf der Route Merkurs. So erreicht man unweit einiger Caves das Touristenzentrum Les Baux, dessen wichtigstes Anliegen der Verkauf von Kräutern, Lavendel und Seife zu sein scheint. Oktoberfest in engen mittelalterlichen Gassen für Amerikaner und Bundesrepublikaner, für Briten und Italiener, und natürlich auch für Franzosen. Dort, wo einst die Troubadours ihre Herrin zum Lautenton besangen - natürlich auch schon für Tantiemen -, dort klimpern jetzt die Franc-Stücke in den Kassen der kleinen mit z.T. sogar geschmackvollen Andenken vollgestopften Läden.

Ähnlicher Ringelpiez zum Anfassen auch in Aigues-Mortes, das sich dem heutigen Touristen von weitem noch ebenso darbietet mit seiner das quadratische Städtchen umgebenden wehrhaften Mauer wie dem mittelalterlichen Kreuzfahrer, der sich von hieraus auf seine Fahrt begab. Noch heute steht der Heilige Ludwig, der den Hafen für eben dieses Unternehmen bauen ließ und selbst nie das Heilige Land erreichte (Er starb an der Pest in Tunis.), auf dem Marktplatz und belächelt mit der Lauterkeit seines Charakters die sich in den Souvenirläden drängenden Touristen. Hier wird alles gekauft: Kunstvolles und weniger Kunstvolles, vom Tontopf über das zum x-ten Male reproduzierte Bild bis hin zur Metallmaus. Export des Glaubens wird zum Export der Kitschartikel. Welch Abstieg!

Das hatte aber sicher schon Michel de Notre Dame vorausgesehen, jener hochgebildete provencalische Jude aus Salon, einer kleinen Provinzstadt zwischen Aix und Arles, dessen einzige Attraktion eben jener Mediziner und Prophet des 16. Jahrhunderts ist. Überdimensional blickt er von der Häuserwand auf das Städtchen - in Farbe-, überdimensional steht er im kleinen Innenhof seines Wohnhauses - in Metall - und zu überdimensionalen Preisen wird sein Name als Zierde eines Gebäckstückes in den kleinen Patisserien der Hauptstraße angeboten. Er hatte vorausgesehen, dass die Provence beliebtes Reiseziel für von der Kälte geplagte nordländische Touristen sein wird, so wie er auch voraussah, dass gerade Du diesen Aufsatz gelesen hast.

NOTRE AUBERGE

Eine Insel - viele hundert Kilometer entfernt: weit entfernt vom ewig schmierigen Seifenfetthimmel, weit entfernt vom lärmenden Gestank, weit entfernt von der rastlosen Aktivität des Geldes. Verschlafen liegt sie vor uns, wohlig in die Mittagshitze ruhend: Notre Auberge Provencale. Ein alter Bauernhof, gesäumt von hohen Platanen, durch deren Blätter das helle Licht hindurchtanzt und Figuren auf den schattigen Boden wirft. Liebevoll angeordnete Tontöpfe mit bunten Sommerblumen stehen vorm Haus, und aus den Kästen unter den Fenstern fließen üppig rote Geranien. Über sie hinweg reckt eine zimtfarbene Mischlingshündin ihre Schnauze empor, ohne jedoch von uns auch nur im geringsten Notiz zu nehmen. Ihre wehmütige Aufmerksamkeit gilt vielmehr den laut gurrenden Tauben, die in den Bodenluken nisten und sich ab und zu hinauf in den blauen Himmel erheben. Ein anderer Vierbeiner döst derweil vor dem Eingangstor. Auch er beachtet uns nicht. Überhaupt scheint uns hier niemand zu beachten, nicht einmal die schweren aufgeplusterten Hennen, die sich in ihrer Siesta auf den grazilen Gartenstühlen nicht im geringsten von uns gestört fühlen. Erst wenn ihnen gegen Abend ihre auserkorene Lagerstätte von den Gästen streitig gemacht wird, beziehen sie ihr mit ausrangierten Sonnenschirmen gestaltetes Luxusheim hinter der Hecke. Noch aber erheben sie Anspruch auf die Plätze an den schon für den Abend gedeckten Tischchen.

Auf der Suche nach dem Hausherrn haben wir also offensichtlich keinen außer einer kleinen buntschillernden Eidechse gestört, die noch eben ein Sonnenbad nahm. Mürrisch gibt sie ihren Platz auf und verschwindet dann flink in der Hecke, während wir uns weitaus weniger flink und mit äußerster Vorsicht am schnarchenden Wachhund vorbei in das kühle Dunkel des Hauses begeben.

Vom Hausherrn ist jedoch auch hier weder etwas zu sehen noch zu hören. Stattdessen kommt uns nur ein kleiner kläffender Corgi entgegen. Aber auch seine Aufmerksamkeit gilt nicht uns, sondern einigen der Tauben, die auf dem Hof gelandet sind. Wir werden im Vorüberhoppeln lediglich mit einem abschätzigen Knurren bedacht.

Nachdem sich unsere Augen an das gedämpfte Licht gewöhnt haben, entdecken wir in der kleinen Halle einen großen massiven Eichentisch. Um ihn reihen sich sechs hochlehnige Stühle, die Bezüge aus eben dem bräunlichgetönten Gobelinstoff tragen, wie wir ihn auch an den Fenstern als schwere, bis zum Boden reichende Schals vorfinden. Auf dem Tisch steht eine bauchige Vase mit Sonnenblumen. Ein kleiner Kristallleuchter hängt von der Decke herab. Das ideale Bild eines stilvoll eingerichteten Landhauses, wenn es nicht verfremdet würde durch eine der supermodernen, gläsernen Telefonzellen, die man gewöhnlich nur auf der Straße findet. Hier jedoch bemächtigt sie sich plump einer Ecke des Raumes.

Unsere Erkundungen werden schließlich doch noch von einem Schlurfen unterbrochen, das das Erscheinen von M. Lampoule signalisiert. Etwas schlaksig kommt er uns entgegen, sich mehr gestört fühlend als erfreut. Er ist mittelgroß, mittelblond und mittleren Alters, wirkt jedoch aufgrund des regelmäßigen Genusses seines eigenen Kellergutes erheblich älter. Goldkettchen umspielen den Ausschnitt seines Hemdes, Goldkettchen zieren auch seine grazilen Handgelenke, ein fein gearbeiteter goldener Siegelring steckt an seinem linken kleinen Finger. Die Begrüßung erfolgt höflich, sehr zurückhaltend, endet mit der Übergabe des Zimmerschlüssels, und ehe wir uns versehen, stehen wir wieder allein in der Halle.

Also holen wir zunächst einmal unsere Koffer, die wir an der Eingangstür abgestellt hatten, und tragen sie nun - wieder zurückgekehrt - die knarrenden Stufen der Treppe hinauf. Sie führt uns aus der Halle direkt auf einen schmalen endlosen Gang, von dem rechts und links zahlreiche Türen abgehen. Hier ist es noch dunkler, aber da sich unsere Augen bereits an das Dämmerlicht gewöhnt haben, finden wir das Schlüsselloch des uns zugedachten Zimmers ohne allzu große Mühe.

Zimmer 17: klein, elfenbeinfarbene Louis XVI-Möbel, Kristallleuchter, Gobelinstoffe. Blumen auf dem rechten der beiden Nachttischchen. Auch hier der einladende Stil des Hauses. Ebenso schön wie der Gelsenkirchener Barock in Deutschland, wenn auch nicht ganz so proper. Aber wir sind ja auch in Frankreich.

Die schwüle Luft verführt zum Öffnen der Balkontüren, auf den wir nur zu gern hinaustreten würden. Doch eine quer gestellte Pappe versagt uns das, vielleicht um die schon arg ramponierten Bodenkacheln vor einer weiteren Beschädigung zu schützen, vielleicht aber auch, um uns selbst vor einem Unfall zu bewahren. Wenig später beginnt es, wolkenbruchartig zu regnen. Und nun erfahren wir den eigentlichen Grund: Die Dachrinne ist verstopft, das Wasser - kaum gehindert von der Pappe - bahnt sich seinen Weg direkt über den Balkon unter der Tür hindurch ins Zimmer. Auch die schwere Tapete in der Nähe der Balkontüren scheint schon von einigen Regenfällen in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Der aufgekommene Wind muss die Stromleitung unterbrochen haben, so dass das inzwischen angeknipste Licht erlischt. Auch das Wasser im rosa gekachelten Badezimmer versiegt. Die Klospülung scheint ohnehin nicht zu funktionieren, da ein wichtiges Teil, der sogenannte Schwimmer, fehlt, wie handwerklich begabte Ehemänner das sofort zu bemerken pflegen. Nach dem Motto "Rettet diese wundervolle Auberge!" gehen wir sogleich ans Werk und ersetzen sein Fehlen durch einen hellgrünen porösen Bimsstein, der sich in unserer Kulturtasche findet.

Bald schon eröffnet uns der wiederkehrende Strom, dass die im Badezimmer angebrachten beiden Leuchten ebenfalls defekt sind, was vom mit Ausdauer gesuchten Patron ohne Überprüfung sogleich bestätigt wird. Er beschwichtigt uns aber mit einem: "Pas de problème!", denn im Sommer ist es ja lange hell, und wir haben erst Juli. Dank unserer teutonischen Hartnäckigkeit ergattern wir vor dem Abendessen dennoch eine Glühbirne, eigenhändig vom Patron einer Wandleuchte im Speisesaal entnommen. Auch hier natürlich pas de problème (Es gibt ja schließlich mehrere Wandleuchten.).

Der Speisesaal selbst erweckt den gegenteiligen Eindruck der am Mittag erlebten Ruhe. Zwei Familien mit Kindern plaudern hier laut die Geheimnisse ihrer Sprösslinge aus und lachen wohlwollend über deren Abenteuer, während die den Gesprächsstoff Bietenden selbst bemüht sind, ihrer peinlichen Lage zu entkommen. Ein Gefährte, an dem man seine jugendlichen Kräfte messen kann, wartet schon auf sie im Hof, und mit dieser kleinen schwarzen Ziege tollen sie nun draußen herum - ungeachtet des Wetters.

Mehrere Einzelreisende sitzen an kleineren Tischen und tragen zu dem durch häufiges Lachen unterbrochenen Stimmengewirr erheblich bei, indem sie sich quer durch den Raum hindurch zuprosten oder in die Gespräche der beiden Elternpaare mit gutgemeinten Ratschlägen und lustigen Kommentaren einschalten.

Nur ein hageres Ehepaar sitzt schweigend in der Mitte des Saales. Während er sich bemüht, mit einem freundlichen Lächeln Kontakt zu dem gemütlichen Einzelreisenden am Nebentisch aufzunehmen, kaut sie eisig an ihrem gedünsteten Lachs in Knoblauchsoße, der zweiten Vorspeise des fünfgängigen Menus. Ihren Mann würdigt sie dabei keines Blickes, ganz im Gegensatz zu dem nicht allein in Ehren ergrauten Zausel, einem weiteren der Wachhunde hier, deren Anzahl unüberblickbar zu sein scheint. Natürlich wirft sie ihm ein Stück Lachs vor die Pfoten, was diesen seine Zutraulichkeit nahezu übertreiben lässt. Schmachtend drängt er sich an ihren Stuhl heran, legt sich ihr zu Füßen, seinen Kopf in ihren Schoß. Ein triumphierender Blick trifft ihren nun wieder ausschließlich mit dem Essen beschäftigten Ehemann. Ja, der Hund mag sie eben. Tiere spüren nämlich, welchen Charakter ein Mensch hat. Diese Feststellung wird sogleich mit einem zweiten Stück Lachs bekräftigt - und einem weiteren Blick des Triumphes in Richtung des Gatten.

Inzwischen haben auch wir unseren Platz gefunden, nicht ohne zuvor beinahe im ländlichen Glück ausgeglitten zu sein, denn einige der kleinen braunen Hühner sind in Anbetracht des noch immer regnerischen Wetters ins Haus geflüchtet und rennen nun wie aufgezogen zwischen den Tischen hin und her, um ebenso wie der alte Zausel noch einige Bissen zu ergattern. Vom Ausdruck des absolut zufriedenen Hundes animiert, entscheiden auch wir uns für den gedünsteten Lachs in Knoblauchsoße als Vorspeise.

Frederic, ein nicht mehr ganz junger Kellner mit Halbglatze, der sich durch seine nie zu beeinträchtigende Schlagfertigkeit auszeichnet, bringt sie an unseren Tisch, nicht ohne einen Scherz auf den Lippen, der natürlich nicht nur uns, sondern auch den Nebentisch belustigt.

Unter dem Lachen der Gäste verscheucht er auf seinem Rückweg zur Küche die auf dem Gang lagernden Hühner, die zeternd und mit ausgebreiteten Flügeln unter die nächstliegenden Tische fliehen.

Schon wieder beladen mit Tellern und Gläsern muss der gute Frederic nun Zausel ausweichen und trifft mit der Schulter an ein Bild, das daraufhin vom Haken fällt. Ohne Schaden genommen zu haben, wird es auf der Heizung abgestellt. Mit Lea Mignon unterzeichnet, zählt es eher zur Sonntags- als zur avantgardistischen Malerei. Mindestens zehn dieser liebevoll in Öl gepinselten Bilder der Dame hängen hier im Speisesaal: ein Blumenstrauß, eine Gasse, das Meer, Zypressen, Felder mit und ohne Lavendel. Lea saß nämlich ebenso wie wir in diesem Restaurant, sie schlief auch ebenso wie wir in einem dieser Zimmer, nur konnte sie nicht ebenso wie wir in barer Münze zahlen. Also pinselte sie in Öl.

Wir sind beim Käse, dem letzten Gang unseres Menus, angelangt. Nach den vorangegangenen üppigen Köstlichkeiten können wir ihn nur noch langsam in uns hineinstopfen. Eine über alle Maßen satte und zufriedene Stimmung breitet sich im Speisesaal aus. Die Gespräche werden gedämpfter. Nur ab und zu mal ein Lachen zwischendurch. Gleichmäßige Untermalung durch das Prasseln des Regens auf dem Hof. Der kleinere der beiden Jungen am Familientisch schläft bereits, den Kopf auf beide Arme gestützt und von den Stimmen seiner Eltern und deren Freunden in den Schlaf gewiegt. Vermutlich gewinnt er gerade den Kampf mit der kleinen schwarzen Ziege. Auch der Tisch, an dem das unterkühlte Ehepaar saß, steht jetzt verlassen. Zwei zusammengeknüllte Servietten, ein paar Krümel neben der noch halb vollen Wasserkaraffe und ein Rotweinfleck - natürlich auf seiner Seite - erinnern noch an die beiden.

Also erheben auch wir uns, um - ein Stück des Weges vom alten Zausel begleitet - auf unser Zimmer zu gelangen.