Mama, die Tür klemmt! - Eveline Pawlich - E-Book

Mama, die Tür klemmt! E-Book

Eveline Pawlich

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Beschreibung

Weihnachten: Das sind nicht immer nur Plätzchen und leuchtende Kinderaugen. Aber sie sind es natürlich auch. Doch häufig enden diese Feiertage ganz anders, als man es sich vorgestellt hat. Ein Gemisch aus sentimentalen Träumen und beinharter Realität mit einem Schuss Skurrilität spiegelt sich in den 19 Geschichten, die aus der unterschiedlichen Perspektive zahlreicher Weihnachtsfreunde und Weihnachtshasser erzählt werden. Ein biografischer Epilog rundet das Bild ab.

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Weihnachten: Das sind nicht immer nur Plätzchen und leuchtende Kinderaugen. Aber sie sind es natürlich auch. Doch häufig enden diese Feiertage ganz anders, als man es sich vorgestellt hat. Ein Gemisch aus sentimentalen Träumen und beinharter Realität mit einem Schuss Skurrilität spiegelt sich in den 19 Geschichten, die aus der unterschiedlichen Perspektive zahlreicher Weihnachtsfreunde und Weihnachtshasser erzählt werden. Ein biografischer Epilog rundet das Bild ab.

Eveline Pawlich, geboren 1951 in Berlin, arbeitete nach einem Germanistik- und Geschichtsstudium als Dramaturgin und an einem Berliner Gymnasium. Sie veröffentlichte Reiseberichte im Berliner "Tagesspiegel", den Kurzgeschichtenband "Falkenjagd" im Karin Fischer Verlag, den Gedichtband "Kein Halt auf dieser Strecke" bei BoD und Gedichte in Anthologien. Sie schrieb die Komödien "Sternekieken", "Haben Sie Raymond gesehen?" und "Tempus fugit - oder Vikki wird vierzig".

Inhalt

Santa Claus is Coming to Town

Oh Tannenbaum!

Engel im Taxi

Karlis brennendes Knusperhaus

Unterm Mistelzweig

Vom Verlorenen

Karibische Nacht

Hund unterm Tisch

In Vino Veritas

Eines Abends...

Es ist nie zu spät

Drei Engel für Hase

Verspätung

Weihnachtlich Wunderliches

Ein verpatzter Abend

Der Weihnachtsvogel

Eisbein

Kleinigkeit - Geschichte für Computer geschädigte Senioren

-

Christmette

Lazy Christmas Afternoon

Polonaise

Du blöde Tür!

Weihnachten - Wie war das eigentlich?

SANTA CLAUS IS COMING TO TOWN

"Ich habe keinen Weihnachtsmann bestellt.", entschied Klaus kategorisch und wollte die Tür wieder zuknallen. Aber sie fiel nicht ins Schloss, denn der Weihnachtsmann oder besser gesagt der Mann, der sich für den Weihnachtsmann ausgab, hatte seinen Fuß schon in den Türrahmen gesetzt und sein Springerstiefel verschaffte ihm unabwendbaren Einlass. Klaus hatte keinerlei Chance, denn da stand er nun, groß, breitschultrig im Flur, der Weihnachtsmann. Gleich würde er seinen Revolver oder zumindest ein Klappmesser hervorholen. Auch hing sein Jutesack noch schlaff über der Schulter, leer, natürlich nur dazu da, die Beute zu verstauen. Hatte er es allein auf Klaus abgesehen? Oder Serientäter? Ging zu allen, von denen er wusste, dass sie den Weihnachtsabend allein verbrachten, allein verbringen wollten, weil ihnen all dieses Tamtam ganz mächtig auf die Nerven ging, auf jeden Fall zu Leuten, die mit Sicherheit weder Familie noch anderen Besuch erwarteten.

"Verdammt! Was wollen Sie?"

Der Weihnachtsmann antwortete nicht auf Klaus' beherztes Vorpreschen, - "What do you want? Questque voulez-vous?" - konnte entgegengesetzt seines internationalen Rufes offensichtlich auch nicht einmal die gebräuchlichsten Fremdsprachen, sondern schob Klaus nur zur Seite und schritt an diesem wenig ernst zu nehmenden Gegner vorbei geradewegs ins Wohnzimmer.

"Machen Sie, dass Sie rauskommen!", versuchte es Klaus mit einem erneuten Anflug von Heldenhaftigkeit, aber auf seine naive Selbstüberschätzung bekam er nur die Androhung eines Kinnhakens zur Antwort. Eine nicht weniger naive Ankündigung, sofort die Polizei zu rufen, ersparte er sich. Der Bart dieses Mannes schien gefärbt, jedoch echt zu sein. Ansonsten sah er auffallend bleich aus, nahezu wächsern, trotz der roten Wangen. War das alles nur Schminke oder kiffte er, obwohl seine Statur einem dürren Drogenabhängigen eigentlich nicht entsprach? Vielleicht noch nicht Endstadium oder doch Schminke? Ob er eine Pistole hatte? Ein Klappmesser bestimmt. Gleich würde er Klaus bedrohen. Warum packte der denn nicht all das, was so rumstand, ein: die Stereoanlage, den Laptop, den DVD-Player...? So alt war das Zeug doch noch gar nicht. Auch nach Bargeld oder Schmuck hatte er bislang nicht gefragt. Er blieb einfach nur stehen. Vielleicht war er ja auch Alkoholiker? Kiffer und Alkoholiker! Klaus' Mut war wieder steigerbar, auch wenn er ganz offensichtlich diesem Weihnachtsmann körperlich unterlegen sein würde. So versuchte er es mit Taktik und bot ihm einen Kognak an, den dieser nicht ausschlug, einen zweiten Schnaps, und schließlich packte er ihn zielstrebig am Arm, was dieser mit dem bereits angekündigten Kinnhaken beantwortete. Das genügte, Klaus eine realistischere Sichtweise der Rollenverteilung einnehmen zu lassen. So hatte er sich den Abend fern allen Weihnachtsgedusels nicht vorgestellt, er der Weihnachtshasser, der sämtliche Einladungen an diesen Festtagen zurückgewiesen hatte. Nicht einmal der Kinder wegen hatte er sich breitschlagen lassen, die schließlich die von ihm erwarteten Geschenke ebenso gut von ihrer Mutter ausgehändigt bekommen konnten. Sollten sie sich doch gefälligst ohne ihn diese weihnachtliche Harmonie in die Tasche lügen, die er in diesem Moment allerdings nur allzu gern geteilt hätte. Doch jetzt saß dieser Weihnachtsmann mitten in seinem Wohnzimmer, ließ Sterne aufsprühen und Glocken erklingen und ließ ihn vor allem nicht aus den Augen. Mit Sicherheit hatte der ein Messer. Da blieb wirklich nur eines: die Polizei.

Das Telefon stand direkt vor ihnen auf dem Tisch. Unmöglich. Spätestens jetzt würde der Ganove sich nicht mehr auf Kinnhaken beschränken, zumal ihn Klaus bereits provoziert hatte. Blieb noch das Handy draußen im Mantel. Klaus murmelte etwas von "... auf die Verdauung geschlagen" und gelangte zu seiner eigenen Verwunderung zwar unter einem äußerst misstrauischen Blick, aber ohne Behelligung hinaus auf den Flur, wo er zielstrebig nach dem Handy griff und sich mit diesem auf dem Klo verbarrikadierte. Der Weihnachtsmann würde bestimmt nicht sofort ohne Beute die Wohnung verlassen. War froh, endlich unbeobachtet zu sein. Sollte Klaus vielleicht doch besser zurück ins Wohnzimmer? Das Kinn schmerzte noch immer. Mit Sicherheit ein Psychopath! Wer weiß, was so einem noch einfiel? Ein Messer hatte der auf jeden Fall, wenn nicht sogar doch eine Pistole. Besser nicht umkehren. Gut, dass er diese stabile Vorrichtung zum Absperren der Badezimmertür damals angebracht hatte.

Eins - eins - null. Na komm schon! Die Polizei am Ende der Leitung ließ auf sich warten. Weihnachtsfeier. Vielleicht gerade beim Julklapp.

"Revier 42. Oberwachtmeister Fromm."

Endlich!

"Martens. Kommen Sie, um Himmels Willen, kommen Sie! Ich werde bedroht."

"Sie können telefonieren?"

"Habe mich eingeschlossen."

"Also nicht bedroht."

"Was reden Sie? Natürlich werde ich bedroht. Das Schloss! Kann aufgebrochen werden! Jederzeit!"

"Aha."

"Was soll das?"

"Es wird also aufgebrochen?"

"Nein."

"Warum rufen Sie dann an?"

"Sind Sie verrückt? Ich bin in Lebensgefahr!"

"Guter Mann, beruhigen Sie sich. Wer bedroht Sie denn?"

"Irgend so ein Weihnachtsmann."

"Na dann, frohe Weihnachten!"

Der Polizist am anderen Ende legte den Hörer auf. Das durfte nicht wahr sein! Klaus wählte noch einmal die Nummer. Draußen vernahm er Schritte.

"Polizeiwachtmeister Fromm am Apparat."

"Hier Martens. Verdammt, so fahren Sie doch endlich los!"

"Weshalb?"

"Hab ich doch gesagt. Dieser Weihnachtsmann! Ich meine, der Mann in meiner Wohnung, der sich für den Weihnachtsmann ausgibt."

"Was ist mit dem?"

"Ich höre ihn. Er kommt!"

"Dann seien Sie doch zufrieden. Mein Schwager hat einen bei der Tusma bestellt. Der kommt nicht. Stellen Sie sich vor, hat einfach abgesagt. Haben es heute gar nicht nötig, die Herren Studenten. Aber bei uns werden die Stellen gekürzt..."

"Begreifen Sie nicht? Er ist schon an der Tür!"

"Dann lassen Sie ihn doch herein, Sie Glückspilz!"

Es klickte in der Leitung. Nicht zu fassen! Einfach nicht zu fassen! Die Schritte waren verstummt. Vermutlich durchsuchte der Ganove schon die Wohnung. Der Schreibtisch! Nicht abgeschlossen. Die Fotos! Und draußen im Flur sein Mantel! In der Brieftasche noch mehr Fotos! Die Schuld- oder besser die Unschuldsfrage bei der bevorstehenden Scheidung konnte er vergessen. Also nochmals: eins - eins - null.

"Revier..."

"Ihren Vorgesetzten! Hören Sie? Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen!"

"Weshalb?"

"Sie Idiot! Mein Leben ist in Gefahr und Sie - "

"Ist ja gut, ist ja gut. Das mit dem Idioten habe ich überhört. Wo wohnen Sie denn?"

"Engelsallee 19."

"Also, ich lass mich doch von Ihnen nicht verarschen!"

Oberwachtmeister Fromm knallte den Hörer auf. Draußen im Flur war es still. Sollte Klaus hinaus? Vielleicht war er ja gegangen, dieser Psychopath. Unwahrscheinlich. Außerdem zu gefährlich. Bestimmt hatte er schon seine Kanone entsichert (Er hatte bestimmt eine.). Auf jeden Fall ein Messer, um über Klaus herzufallen, sobald der ihm in die Quere kam. Klaus wählte ein viertes Mal die Nummer.

"Oberwachtmeister Fromm. Guten Abend!"

"Martens."

"Nicht schon wieder! Die Polizei hat anderes zu tun, als sich auf den Arm nehmen zu lassen von so ein paar Spinnern, die aus purer Langeweile zum Telefon greifen."

"Ich habe nicht im mindesten vor, Sie auf den Arm zu nehmen. Verflucht noch mal, so kommen Sie doch endlich! Dieser Mann, dieser Gangster! Die Tür! Keinen Moment mehr -! Hören Sie!"

Klaus trat mit dem Fuß gegen die Tür.

"So hören Sie doch!"

Klaus trat ein weiteres Mal gegen die Tür.

"Ist ja gut. Wir kommen."

Genau dreiundzwanzig Minuten später klingelte es. Klaus schob den Riegel im Bad beiseite, stürzte in den Flur und riss die Tür auf. Vor ihm unter dem Strahlenkranz der Vierzig-Watt-Beleuchtung vom Hausflur stand ein Mann in rotem Mantel, weißem Bart und silbern funkelnden Handschellen, flankiert von zwei Männern in Uniform. Der eine von ihnen zeigte seinen Ausweis: Oberwachtmeister Fromm.

"Und das ist unser Weihnachtsmann, den wir nicht allein im Wagen lassen konnten, bevor wir ihn zum Revier mitnehmen."

Es handelte sich hier um einen wahren Philanthropen, der es trotz des einsetzenden Frostwetters wacker auf sich nahm, die Menschen, die ihm unterwegs begegneten, je nach Jahreszeit mit allem, womit ihn die Natur großzügigerweise ausgestattet hatte, zu erfreuen: Weihnachten in Bart und Stiefeln, Ostern in langen Ohren und Inline-Skates.

"Wo ist er, Ihr...?", fagte Oberwachtmeister Fromm, und ohne eine Antwort abzuwarten, schritten die beiden Polizisten, ihren Weihnachtsmann hinter sich herziehend, zielstrebig ins Wohnzimmer. Klaus folgte.

"Nichts. Habe ich mir doch gedacht.", schnarrte die vorwurfsvolle Stimme Oberwachtmeister Fromms.

"Wir haben wahrlich anderes zu tun. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, wie viele Stellen schon gestrichen sind, und dann..."

Klaus eilte voran in die Küche, nichts, voran ins Schlafzimmer, nichts, voran ins Bad, natürlich nichts (Dort hatte er sich ja bis soeben selbst versteckt.). Oberwachtmeister Fromm holte unüberhörbar Luft, während sein Kollege Frei ein vorwurfsvolles Räuspern vernehmen ließ, nicht ohne sich zuvor bei seinem Vorgesetzen mit einem Blick abgesichert zu haben. Und der von der Natur so begünstigte Weihnachtsmann bekam einen Hustenanfall. Da! Die Balkontür hatte sich bewegt. Klaus war erleichtert. Hier war der Beweis: Auf dem Balkon stand er, sein Weihnachtsmann, gerade dabei, seinen Sack unter dem Mantel verschwinden zu lassen.

"Na, da ist er ja.", konstatierte Wachtmeister Frei.

"Kommen Sie mal her!"

Zur Besiegelung seiner Glaubwürdigkeit bot Klaus den beiden Beamten einen Schnaps an, den diese gern annahmen. Es war ja schließlich Weihnachten. Und da der nackte Weihnachtsmann ihn dauerte, bekam der auch einen. Und weil der Weihnachtsmann auf dem Balkon total durchgefroren war, bekam auch er einen. Klaus goss sich selbstverständlich auch einen ein. Und da das Gebräu so gut schmeckte und so vortrefflich wärmte, kredenzte Klaus dann aus einer oder zwei weiteren Flaschen allen Männern noch einen und noch einen und noch einen...

Nun war die Welt wieder in Ordnung: zwei Polizisten, zwei Weihnachtsmänner und Klaus inmitten von ihnen. Eine Pattsituation, mit der alle zufrieden sein konnten. Und sie waren es auch, zumal Oberwachtmeister Fromm sich inzwischen mit der Unterbrechung des heiteren Beisammenseins auf dem Revier abgefunden zu haben schien, auf dem er diesmal ohnehin auf die Rolle des die Geschenke verteilenden Santa Claus verzichten musste zugunsten Kommissar Teufels. Und als der hustende Weihnachtsmann dann auch noch zwischen zwei Anfällen lauten Gebells seinen Mantel öffnete, schmolz sogar das Wachs seines himmlischen Kollegen zu einem Lächeln. Vielleicht überzog sogar ein wenig Farbe dessen gesamtes Gesicht. Bald schon zwinkerten sich alle fünf Männer auf eine ungewöhnlich vertraute Art zu, verwandelten ihr Lächeln zu einem Grinsen, lachten unverhohlen, kamen beherzt einander näher und fielen sich lauthals gröhlend in die Arme, so als ob sie nur auf diesen Augenblick gewartet hätten, nur durch Straßen und Häuser geirrt seien, um nach einem arbeitsreichen Tag in eben diesem 54 Quadratmeter großen Appartment, dritte Etage, Neubau mit Fahrstuhl ihr ureigenstes Fest in gemeinsam fröhlicher Runde ausklingen zu lassen. Von so viel weihnachtlicher Herzlichkeit getragen erwies sich Klaus als vorbildlicher Gastgeber. So feierten sie alle einen ausgelassenen Abend, einen, der den Hausherren für die folgenden Jahre seines langen Lebens zum Glauben an das heilige Fest bekehrte und sich schon Ende September in den Warenhäusern nach Lichterketten und Christbaumkugeln umschauen ließ. Doch jetzt holte er zuerst einmal alle vollen und halbvollen Flaschen aus der Kammer, Wachtmeister Frei schmierte Brote, der wächserne Weihnachtsmann zauberte aus seinem Sack eine Handvoll feinsten Schnees hervor, der leise auf ein paar Blättchen weißen Papiers rieselte, und der hustende Weihnachtsmann knöpfte im Takt von Joy to the World nicht nur seinen Mantel auf, sondern legte auch seine Mütze ab, seinen Schal, seine Stiefel und tanzte mit der schönsten aufrecht stehenden Rute, die Mutter Natur überhaupt jemandem verleihen konnte, zum lauthalsigen Vergnügen aller durchs Wohnzimmer.

Zwischendurch hörte man ab und zu einen Piepton aus dem Flur, wo die beiden Beamten ihre Uniformjacken abgelegt hatten. Aber das kümmerte keinen. Schließlich war die Polizei hoffnungslos unterbesetzt, gerade an Weihnachten.

OH TANNENBAUM!

"Der Baum muss da weg!"

"Aber..."

"Er nimmt die ganze Sonne. Außerdem hatten wir dort den Grillplatz geplant."

"Du hast ihn geplant. Ich könnte noch schnell einen vom Händler..."

"Jetzt? Es ist der 24.! Die haben heute nur noch die übrig gebliebenen Krüppel. Unsere Tanne ist perfekt. Der schönste Weihnachtsbaum, den wir je hatten!"

Widerwillig fügte sich Johannes. Es war ihm in seiner 27jährigen Ehe höchst selten gelungen, seiner Frau Paroli zu bieten. Außerdem musste er eingestehen, dass sie tatsächlich im Sommer darüber gesprochen hatten, dieses Prachtexemplar von einer Blautanne zu fällen. Mindestens vier Meter, kerzengerade gewachsen. Jammerschade! Aber Tilda wollte einen Grillplatz. So trottete er quer über die Wiese in den Holzschuppen hinüber, um eine Säge zu holen.

Tilda wartete derweil ungeduldig. Selbstverständlich müsste sie helfen, damit der Baum auch in die geplante Richtung falle und nicht in ihre Rosenbeete. Tildas ganzer Stolz, diese Königinnen der Blumen: die nostalgische Aloha in Apricot, die gelbe Candlelight oder die von roten Außenblättern umgebene weiße Nostalgia. Wenn sich im Sommer die Knospen öffneten, betörte ihr Duft nicht nur Bienen und Hummeln. Manche dieser Prachtexemplare blühten sogar zweimal im Jahr!

"Hast Du eine Schnur dabei?", rief sie Johannes entgegen.

Natürlich hatte er eine dabei. Schließlich konnte man damit die Richtung des Fallens bestimmen. Daran musste sie ihn nun wirklich nicht erinnern. Und somit machte sich das in ihrem Alltag routiniert aufeinander eingespielte Paar ans Werk. Tilda nahm den Strick, klaubte die Äste ihres Opfers auseinander, das sich mit seinen festen Nadeln gegen den bevorstehenden Mord mit aller Kraft wehrte, was ihm letzten Endes jedoch rein gar nichts half und das ihm bestimmte Schicksal weder abwenden noch verzögern konnte. Dann band Tilda auf Kopfhöhe die dicke Schnur um den Stamm, verknotete sie mehrmals und zog sich mit deren fest um ihre Hände gewickelten Enden aus dem Tannenzelt zurück in die Richtung des Rasens, in die der Baum fallen sollte. Johannes erkundigte sich lauthals:

"Fertig?", was lediglich rhetorisch gemeint war.

Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er die Bügelsäge am Fuß des Stammes an und begann in wilder Hast mit seiner Aufgabe. Er tat es lediglich Tildas wegen und kompensierte seinen Groll gegenüber dieser für ihn völlig überflüssigen Aktion in einem kraftvollen Hin-und Herziehen des Sägeblattes. Der Baumstamm hatte in den Jahren einen beträchtlichen Umfang erreicht, so dass die ungewohnte Arbeit dem wenig professionellen Holzfäller den Schweiß nur so die Stirn herunter rinnen ließ, während Tilda sich auf der gegenüber liegenden Seite des Baumes fröstelnd zu langweilen begann. Johannes stöhnte vor Anstrengung, was Tilda dazu bewog, ihn nochmals daran zu erinnern, dass sie ihm schon vor Monaten geraten hatte, eine Motorsäge anzuschaffen.

"Einzig für diese Aktion? Weißt Du, was uns dann dieser Tannenbaum gekostet hätte?"

"Er ist aber doch auch selten schön."

Ja, das war er tatsächlich, so wie er sich den ersten Schneeflocken des Dezembers entgegen streckte. Doch nun begann auch er zu ächzen. Johannes legte sich mächtig ins Zeug. Der Baum verlor sein Gleichgewicht. Tilda träumte vor sich hin. Johannes brüllte:

"Er kommt!"

Seine Frau schreckte hoch. Zu spät. Die riesige Tanne war ohne ihre Hilfe umgestürzt. Ein erbärmlicher Schrei durchschnitt den Garten. Dann Stille.

"Tilda?"

"Ja.", ertönte die Antwort kleinlaut, nicht ohne einen Unterton des Vorwurfs. Gerade noch rechtzeitig hatte sie zur Seite springen können.

"Warst Du das? Hast Du geschrien, Tilda?"

"Nein."

Die Eheleute setzten ihre Arbeit fort, sich noch immer wundernd, woher der herzzerreißende Schrei gekommen war.

"Die Tanne?"

"Quatsch! Spinnst Du?"

Erst als sie den Baum einige Meter beiseite geschleift hatten, entdeckten sie ein gekrümmtes Fellchen im Rasen. Eine kleine rote Pfütze in Höhe des Kopfes davor.

"Scheiße! Das ist Mia. Der Liebling von Frau Kreulert."

"Lebt sie noch?"

"Nein, die ist hin."

"Du wolltest doch auf die Richtung achten."

"Das macht sie jetzt auch nicht wieder lebendig."

Johannes und Tilda unterbrachen ihre Arbeit. Was nun? Sollten sie bei Frau Kreulert klingeln? Ihr den Unfall beichten? Ihre Fahrlässigkeit gestehen? Die arme alte Frau! Was für ein Schock würde das sein. Sie hatte doch niemanden mehr außer ihrem kleinen Liebling. Stolz hatte sie Tilda schon vor Wochen die Geschenke für die Gefährtin ihres einsamen Lebens gezeigt: eine kleine Stoffmaus mit grauem Kaninchenfell bezogen, einen Fressnapf aus Porzellan mit Mias Namen darauf, die leckersten und teuersten Katzenfutterdosen und ein pinkfarbenes Mäntelchen für kalte Tage. Nein, das konnten sie Frau Kreulert nicht antun. Nicht am Heiligen Abend!

Ganz klar. Sie mussten ihre Tannenbaumaktion unterbrechen. Tilda stapfte voraus über den Rasen in den Geräteschuppen und kam mit einem Spaten zurück. Ihr Vorhaben lag auf der Hand. Die Frage lautete nur: Wo? An der Grenze zum Nachbargarten von Frau Kreulert sollte es schon sein. Und die Sonne sollte darauf scheinen. Tilda wollte im Frühjahr einen Rosenbusch auf die Stelle pflanzen. Vielleicht ein weißes Schneewittchen mit einem Stich ins Gelb. Also nahm Johannes seiner Frau den Spaten aus der Hand und grub ein Schuhschachtel großes Loch (für Stiefel geeignet) in den vom ersten Schnee bedeckten Boden. Tilda widersprach. Man konnte Mia doch nicht so zusammenpressen, dass sie da hineinpasste. Total pietätlos! Brummend grub Johannes weiter, was ihm ein weiteres Mal an diesem Tag den Schweiß auf die Stirn trieb, da der Boden bereits gefroren war. Tilda hatte der Weile ein kariertes Wolltuch geholt, das eigentlich schon für die Altkleidersammlung bestimmt war. Jetzt wickelte sie Mia vorsichtig darin ein und trug das Paket hinüber zu Johannes. Der nahm es ihr aus der Hand und probierte die Größe. Ein, zwei Spatenstiche noch, und es passte. Mia wurde beigesetzt unter schlechtem Gewissen der Eheleute, das sich Johannes bemühte mit einem Witz zu überspielen:

"Lief mal eine gestreifte Katze über den Zebrastreifen..."

"Lass das, Johannes! Das ist überhaupt nicht lustig."

Über der Aktion war es Mittag geworden. Zum Glück kamen die Kinder erst am folgenden Feiertag. Also konnten sich Tilda und Johannes zunächst einmal eine Stärkung erlauben, bevor das Projekt Tannenbaum seinen Fortlauf nahm.

Gesättigt von einer deftigen Bohnensuppe und zwei Gläsern besten Beaujolais - es war ja schließlich Weihnachten - kehrten Tilda und Johannes zurück in den Garten, der sich inzwischen zu einem Friedhof gewandelt hatte, jedenfalls aus Sicht Mias und der zu Tode gebrachten Blautanne. Es dauerte nicht lange, und der Baum war im Zimmer. Doch nun kam die Überraschung. Er passte nicht hinein, war mindestens einen halben Meter zu hoch für die gerade im Oktober renovierte Zimmerdecke. Eindeutig. Johannes grauste. Nicht noch mal! Er war froh gewesen, dass Sägeblatt und Körperkraft den ungewohnt anstrengenden Akt des Fällens überstanden hatten. Tildas logische Schlussfolgerung, ihn mindestens um einen Meter, besser noch um anderthalb, zu kürzen, musste er natürlich einsehen, selbst wenn er zunächst witzelte, dass eine schräg aufgestellte Tanne äußerst innovativ sei.

Während Tilda sich in den Keller begab, um Christbaumständer, Lametta, Kugeln und Engel zu holen, machte sich Johannes ans Werk. Es dauerte eine Weile, bis seine Frau zurückkam, denn sie war beim Herumkramen neben dem Weihnachtsschmuck rein zufällig auf die Kisten mit dem alten Kinderspielzeug von Jasper und Theresa gestoßen. Was waren das für Zeiten, als die beiden noch klein waren! Eigentlich könnte sie doch morgen als Überraschung für ihre inzwischen erwachsenen Kinder deren alte Eisenbahn und die Puppenküche heraufholen. Sie würden sich bestimmt freuen. Und da, der große Karton mit all den Stofftieren! Noch fast wie neu. Eigentlich viel zu schade, um ihr Dasein hier unten im Keller Jahr für Jahr zu fristen, bis ihre beiden Sprösslinge endlich einmal ein Einsehen hätten und ihren Eltern die ihnen irgendwie zustehenden Enkel bescherten.