Schöne Welt, böse Leut - Claus Gatterer - E-Book

Schöne Welt, böse Leut E-Book

Claus Gatterer

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Beschreibung

Eine Kindheit unter dem Faschismus in Südtirol, ironisch, schelmisch, erhellend. Der Klassiker der Südtirol-Literatur. Die "schöne Welt" ist Südtirol, das 1919 von Österreich zu Italien kam. Zu der Zeit, da Gatterers Erzählung einsetzt, hat sich die jahrhundertealte bäuerliche Welt scheinbar mit dem neuen Staat und seinen Gesetzeshütern arrangiert. Tatsächlich aber wird täglich der Kampf um die Bewahrung der kulturellen Eigenständigkeit ausgefochten. In diesem Schelmenbericht aus der Kinderperspektive, der die Zeit von 1929 bis 1943 umfasst, bleibt über alles Politische hinweg der einfache Mensch im Mittelpunkt. Alle, die uns begegnen – vom kaisertreuen Großvater bis hin zum stolzen Maresciallo –, sind in Wahrheit keine "bösen Leut", sie sind nur Spielbälle einer verworrenen Zeit. • Longseller seit 1969 mit mehr als 20 Auflagen • Mit einem Nachwort von Arno Dusini • Neu: mit ausführlichem Glossar

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Foto: © privat

Claus Gatterer, geboren 1924 in Sexten/Südtirol. Studium der Philosophie und Geschichte in Padua. 1945–1947 publizistische und politische Tätigkeit in Südtirol, ab 1948 Journalist in Österreich. Zahlreiche Auszeichnungen.

Er verstarb 1984 in Wien. Veröffentlichungen u. a.: Unter seinem Galgen stand Österreich (1967); Im Kampf gegen Rom. Bürger, Minderheiten und Autonomien in Italien (1968); Erbfeindschaft ItalienÖsterreich (1972).

Arno Dusini, geboren 1962 in Meran/Südtirol. Studium der Germanistik und Romanistik. Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien.

EINE KINDHEIT UNTER DEM FASCHISMUS IN SÜDTIROL, IRONISCH, SCHELMISCH, ERHELLEND. DER KLASSIKER DER SÜDTIROL-LITERATUR.

Die „schöne Welt“ ist Südtirol, das 1919 von Österreich zu Italien kam. Zu der Zeit, da Gatterers Erzählung einsetzt, hat sich die jahrhundertealte bäuerliche Welt scheinbar mit dem neuen Staat und seinen Gesetzeshütern arrangiert. Tatsächlich aber wird täglich der Kampf um die Bewahrung der kulturellen Eigenständigkeit ausgefochten.

In diesem Schelmenbericht aus der Kinderperspektive, der die Zeit von 1929 bis 1943 umfasst, bleibt über alles Politische hinweg der einfache Mensch im Mittelpunkt. Alle, die uns begegnen – vom kaisertreuen Großvater bis hin zum stolzen Maresciallo –, sind in Wahrheit keine „bösen Leut“, sie sind nur Spielbälle einer verworrenen Zeit.

„Voller Ab- und Hintergründe, voll von Scherz und tieferer Bedeutung, vollauf modern.“ Die Zeit

„Gute und böse Leut, solche, die sich in dieses Land verkrallen, weil dort ihr Vaterhaus stand; solche, die sich nach dem Wind drehen, der einmal vom Süden, einmal vom Norden her weht; solche, die von der Sprache und vom Geist her Fremdkörper sind; Oktroyierte und Okkupierte.“ Die Presse

CLAUS GATTERER

SCHÖNE WELT, BÖSE LEUT

KINDHEIT IN SÜDTIROL

Mit einer Nachbemerkung von Arno Dusini

FOLIO VERLAGWIEN · BOZEN

Inhalt

Über das Tal, das Dorf und die Schlamperei der Weltgeschichte

Über alte und neue Südtiroler

Über die „Normalisierung der Lage“ und meinen Großvater

Über das neue Dorf und die alten Bauern

Über Geister und außerirdische Kräfte

Über eine Wahl und was ein Bauer darüber erzählt

Über die Taferlklasse und zwei Klosterfrauen

Über Nationalfeiertage, Lehrer und Schüler

Über lausige Zeiten, Krisen und Konkurse

Über das einfache Leben und manches seither Abgekommene

Über die Hebamme, den Herrn Doktor und den Totengräber

Über die „Neunzehnstündige“ und andere Leute mit Übernamen

Über den Taufpaten, die großen Zeiten und die neuen Wegweiser

Über Geografie, Geschichte und den Duce, den man nicht begehren soll

Über Lieder, Arithmetik und einen neuen Lehrer

Über „unsere“ und andere Italiener

Über einen Maresciallo und das Allerheiligste

Über Carabinieri, Finanzieri und das große Versteckenspiel

Über eine Gaststube, einen Wirt und die Würde des Menschen

Über das Rizinusöl und zwei seiner Opfer

Über einen Don Quijote in der Bauernbibliothek

Über Einheimische und zugereiste Kriegsinvalide

Über die „großen Zeiten“

Über zwei Alpini und die Ehre des Alpinikorps

Über Dollfuß, eine Predigt, die Saar und das „Gott erhalte“

Über Ual-Ual, unsere Liebe zum Negus und das „Imperium“

Über die Wiedererstehung der Musikkapelle und einen Cavaliere

Über den Gemeindediener Bartolo und einen „hitzigen“ Beamten

Über neue Häuser und alte Prozesse

Über den Fremdenverkehr als solchen

Über den Fremdenverkehr bei uns zu Hause

Über einen italienischen Pfarrer und was dieser über unsere Pfarrer sagte

Über eine Insel namens „Kiste“

Über den höchsten Parteipriester und das „O du mein Österreich!“

Über die Bauern auf dem Markt und die Neuheiten eines Sommers

Über Österreich und die weltgeschichtlichen Diebstähle

Über eine Heldenmutter vor der Zeit

Über das Pandämonium befohlener und anderer Dummheiten

Über eine Staatsprüfung sowie die ideale Bewältigung eines zeitgenössischen Aufsatzthemas

Über den Führer, der sich endlich unser erinnerte, und darüber, wie er dies tat

Über verschiedene Anschauungen zum Thema „Opfergang und Bekenntnis“

Über das Tappen im Dunkeln und einen politisierenden Apotheker

Über die neuerliche Zerstörung unseres Dorfes

Epilog in Episoden

Nachwort

Arno Dusini: Nachbemerkung

Biografie

Glossar

Über das Tal, das Dorf und die Schlamperei der Weltgeschichte

Die schöne Welt, über die hier berichtet wird, heißt Sexten.

Kennen Sie Sexten, das berühmte Tal in den berühmten Sextener Dolomiten? Jeder, dem das Abc der Bergsteigerei geläufig ist, zieht, wenn er den Namen Sexten hört, respektvoll den Hut, und wer ein patriotisches Herz im Leibe trägt, bekommt feuchte Augen. Sexten: ein stolzes Kapitel in der Geschichte des Alpinismus, ein strahlendes in der Geschichte der Tiroler Landesverteidigung. Nachdem das Tal 1919 infolge einer Schlamperei der Weltgeschichte zu Italien gekommen war, nannte man es offiziell Sesto in Pusteria, und gute zwanzig Jahre lang durfte es überhaupt nur so heißen.

In einem stimmten die gebildeten Sextener und die Italiener überein: Am Ursprung der Geschichte des Tals musste es irgendetwas Römisches namens „Sexta“ gegeben haben, und dieser Name musste von der Zahl sechs abgeleitet sein. Sechs Häuser, meinten die einen; der sechste Meilenstein der Straße, die aus dem Pustertal über den Kreuzberg nach Karnien geführt haben mag, erklärten die andern; und nach einer dritten Version soll Sexta das sechste Außenwerk des römischen Castrum Littamum gewesen sein. In Wahrheit hat man je weder Spuren eines römischen Festungswerkes noch einen Pflasterstein der Römerstraße gefunden. Doch was verschlug’s? Irgendwoher musste der Name ja gekommen sein. Und damals, als ich zur Schule ging, wog ein Name lateinischer Abkunft fast so viel wie ein Adelsprädikat.

Unser Lehrer, ein cholerischer, schwarzhaariger junger Mann, hatte irgendwo die Geschichte vom sechsten Meilenstein aufgeschnappt. Obschon unsere Heimatkunde nicht seine Stärke war, verwandte er eine volle Stunde darauf, um uns zu erklären: „Ragazzi! Kinder! Wir stehen hier auf geheiligtem römischen Boden!“

Er wandte sich um, hüpfend, wie ein Kitz auf der Weide, ging in großen Schritten zum Pult vor und stellte sich habtacht vor das Mussolini-Bild hin, als erwartete er von ihm eine wunderbare Belohnung. Vielleicht würde er lächeln, der Eiserne! Dann fragte er hart:

„Wo stehen wir, Lanzinger?“

„Auf geheiligtem römischen Boden!“

„Bene!“

Wir nannten den Lehrer „das Hupferle“. Wenn wir ihn ärgerten, warf er mit Tintenfässern und Federstielen nach uns. Er fühlte sich als Nachfahre der Römer und war besessen von der zivilisatorischen Mission, die zu erfüllen ihm aufgetragen war.

Der Holzer Niggo zeigte auf.

„Was ist, Olzer?“

„Der Name, sagt der Vater, kommt nicht vom sechsten Meilenstein, sondern von sechs Häusern, die da …“, begann der Niggo in unbeholfenem Italienisch.

Der Hupferle unterbrach ihn, ehe er den Satz zu Ende brachte.

„Taci, macaco! Schweig!“

Der „Olzer“ hatte ihn erst vor ein paar Tagen wegen der Wasserscheide und der Grenzen gewaltig in Rage gebracht. Er, der Herr Lehrer, hatte vorgetragen, dass Italien nach dem Sieg von Vittorio Veneto endlich seine „natürlichen Grenzen an der Wasserscheide der Alpen erreicht“ und damit den Traum der Jahrhunderte erfüllt habe. Der Niggo hatte die Hand gehoben und gesagt, dies stimme nicht, die Wasserscheide verlaufe übers Toblacher Feld, unser Bach fließe in die Drau, und die Drau fließe nicht nach Italien, sondern nach Österreich und dann weiter zum Balkan, in die Donau. Der Lehrer war rot geworden wie ein Osterei; wütend schleuderte er Kreidestücke ziellos in die Klasse. Wir hatten’s nicht leicht mit ihm.

Später schlug ich in der von Mussolini selbst gegründeten Enciclopedia Italiana nach, um die offizielle Version über Sexten, seinen Ursprung und seine „Übersiedlung“ zu Italien zu erfahren. Es war nicht viel:

Sesto in Pusteria … Dorf und Gemeinde in der Venezia Tridentina, in der Provinz Bozen. Das nach dem Weltkrieg fast zur Gänze neu erbauteZentrum liegt in 1311 m Seehöhe in einem Wiesenbecken, durch welches der Sextenbach fließt. Das Becken wird umschlossen von den mächtigen Gipfeln … Das Gebiet der Gemeinde umfasst 80,88 km2; 1931 zählte Sesto 1445 Einwohner, von denen 1115 in Sesto, Moso und Bagni geschlossen siedelnd lebten.

Der Verfasser des Kapitelchens war ein römischer Universitätsdozent, und es ist wahrhaft verwunderlich, dass er nichts über Meilensteine und Festungsaußenwerke schrieb. Vielleicht war es bloß Schlamperei. Er verlor ja auch kein Wort darüber, weshalb das Zentrum nach dem Weltkrieg „fast zur Gänze neu erbaut“ worden war.

Diese Schlamperei enthob jedoch den Herrn Dozenten der Verpflichtung, sich zu jener eingangs erwähnten weltgeschichtlichen Schlamperei zu äußern, durch welche Sexten auf dem Umweg über Saint-Germain – wider den Willen seiner Bewohner – verspätet und, selbst für die Italiener unerwartet, an Italien kam. Als die Entente 1915 Italien aus dem Dreibund herausgekauft hatte, war von Sexten nicht die Rede gewesen; und auch im Neunzehnerjahr wollten die Italiener die Grenze zunächst noch am Toblacher Sattel haben, an der Wasserscheide eben. Bis dann ein Herr Salvatore Barzilai aus Triest – dem ein Freispruch durch ein österreichisches Gericht in Italien zu Irredentistenruhm und einem Abgeordnetensitz verholfen – im letzten Augenblick ein Memorandum auf den Tisch der Friedensschuster gelegt hatte, laut welchem die neue Grenze über die Kämme von Helm und Silvesteralm und hinter Winnebach quer durchs Drautal gezogen werden sollte; aus strategischen Erwägungen, versteht sich. In Saint-Germain wusste man über Sprachgrenzen und Wasserscheiden offenbar nicht mehr als unser Hupferle, und so kamen Sexten, Innichen, Vierschach und Winnebach zu Italien, über Nacht gewissermaßen, denn bis in den hohen Sommer hinein hatten alle damit gerechnet, dass die Italiener bald wieder abziehen würden.

Für die Weltgeschichte ist dies alles nebensächlich. Vier Ortschaften, nicht einmal sechstausend Menschen – was wiegen die schon? Für die sechstausend aber ist genau dies Belanglos-Nebensächliche die Weltgeschichte. Und da sie von einem Mann namens Barzilai nichts wissen, da ihnen strategische Erwägungen nichts sagen, da nach den Denkkategorien ihrer Bauernschädel Grenzen nichts wesentlich anderes sind als Zäune und Marksteine um ihre Felder, verrückbar nur durch Tücke, Bosheit oder Unheil, können sie nicht daran glauben, dass in Saint-Germain alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Sie suchen Sündenböcke, und sie suchen sie unter sich.

„Ich will nichts gesagt haben. Aber woher hat er denn das Geld für das neue Auto?“, fragte der Taufpate an einem Sonntag, als er nach dem Essen mit Vater und Mutter am Stubentisch saß.

Er hatte sich eine lange Geschichte über das Neunzehnerjahr zurechtgelegt: Die Reichen im Tal, die Händler, die „Pfeffersäcke“, hatten einen Brief an die Herren in Versailles geschrieben (für den Taufpaten heißt der Friede Versailles, sonst kannte er nichts!), und in dem Brief hatten sie mitgeteilt, die Bewohner der vier Gemeinden wünschten den Anschluss an Italien. Niemand hatte den Brief je gesehen, geschweige denn gelesen. Aber das Gerücht kroch giftig von Haus zu Haus, man erging sich in dunklen Andeutungen, sprach von Verrätern und „Raffln“, man kleidete die boshaftesten Beschuldigungen in scheinheilige Fragen und ließ mögliche Motive als handfeste Beweise gelten. Hatten diese Pfeffersäcke nicht immer schon mit „denen drüben“ Handel getrieben? Waren ihre Häuser beim Wiederaufbau nicht als Erste drangekommen? Keine Auskunft, und wäre sie noch so erschöpfend gewesen, hätte die Frager und Zweifler zu belehren vermocht.

Den letzten „Beweis“ gegen die Schuldigen holte der Taufpate – wiederum als Frage – aus den Bereichen des Übernatürlichen:

„Hast du nicht gesehen, dass der Josef, der Sekretär, jetzt auf einmal so ein Zucken ums Maul hat? Er kann nicht einmal mehr beichten, ohne dass es zuckt. Das ist die Strafe Gottes. Klar, dass das die Strafe Gottes ist. Ich will nichts gesagt haben, aber was wahr ist, ist wahr.“

Er zwirbelte seinen schwarzen Schnurrbart auf, dessen Spitzen bläulich schimmerten wie Stahlfedern. Sein Gesicht strahlte sieghaft. Wer hätte gegen solche Logik etwas vorzubringen vermocht?

Nur beim alten Sonner kam der Taufpate mit seinen Verdächtigungen und Fragen nicht an. Dieser schweigsame, graue Bauer, dem sie im Krieg das Haus neben der Festung zusammengeschossen hatten, rettete sich angesichts des Neuen, das über Mensch und Vieh hereingebrochen war, in eine Philosophie, die ihm erlaubte, die Menschen gut sein zu lassen und sich selbst den Lohn für vierjähriges tapferes Verhalten vor dem Feind in barer Selbstachtung auszuzahlen. Eines Abends, als die Bauern in der „Mondschein“-Stube wieder einmal die alten Verratsgeschichten wiederkauten, sagte er trocken:

„Alles papperlapapp. Dass wir den Krieg gewonnen haben, weiß jedes Kind. Aber dass wir gleich ganz Italien bekommen würden, das hätte ich mir nicht gedacht!“

Über alte und neue Südtiroler

Die Geschichte, die uns Sextener betrifft, ist schrecklich kompliziert. Man pflegt „Südtirol“ zu sagen und meint, damit wäre alles gesagt.

Aber wenn der Vater oder der Großvater damals, als ich ein Kind war, von jemandem sagten: „Der ist aus Südtirol“, dann meinten sie einen, der aus dem Trentino kam, aus Welschtirol. Von dort kamen die Krämer, die Steuereintreiber, die Versicherungsagenten, die Gemeindeschreiber, zuweilen auch Ärzte, Lehrer und andere Amtspersonen. Man redete eher despektierlich über diese Südtiroler (anders verhielt es sich mit dem „Südtiroler Wein“, dem schweren, dunklen), obschon die meisten von ihnen Deutsch konnten und genau wie unsre Leute dem neuen Staat den Betrug mit der Kronenumwechslung nicht verziehen. Auch sitze bei ihnen, den Südtirolern, das Messer locker, hieß es.

Auch Bozen oder Brixen waren nicht Südtirol; reiste man dorthin, so fuhr man „ins Land“. Und das Gebiet um Meran bezeichnete man als das Burggrafenamt und die Leute dort als die Burggräfler, denen man im Übrigen wie den Überetschern und den Unterländern – also den Tirolern zwischen Bozen und Salurner Klause – eine beinahe südtirolische Heißblütigkeit nachsagte.

Wir im obersten Pustertal waren also kurzerhand Tiroler, ohne jeden schmückenden Zusatz, obschon man uns jenseits der Grenzen, auch in Österreich, insgesamt als „Südtiroler“ ansprach. Erst in den Dreißigerjahren setzte sich der neue Gattungsbegriff auch bei uns im Dorf und selbst bei Bauersleuten allmählich durch.

„Wir Südtiroler …“, raunte man einander in verschwörerischer Heimlichkeit ins Ohr, wenn keine „Filzlaus“ und kein „Jackele“ (keine italienische Polizei- oder Militärperson) in Hörweite waren.

Das „wir Südtiroler“ war nun freilich etwas ganz anderes als das „wir Tiroler“ von einst. Tiroler zu sein war etwas ganz Natürliches gewesen; man war’s, und keinem Menschen wäre eingefallen zu fragen, weshalb. Tiroler zu sein bedeutete vor allem, Herr im eigenen Hause zu sein, Herr in Gemeinde, Tal und Land; alles andere – beispielsweise Österreicher – war man gewissermaßen nur „von Gnaden Tirols“.

„Südtiroler“ hingegen war man gezwungenermaßen. Der Weg vom Tiroler zum Südtiroler war ein Abstieg, eine Deklassierung. Es war der Weg vom Herrn zum Knecht, vom Bürger zum Untertan. Und obendrein war’s verboten, sich selbst und das Land beim alten oder neuen Namen zu nennen. In der Gemeindestube schalteten und walteten Italiener; die Fraktion lebte nur noch in der Gemeinschaft der Rinder fort, die wie eh und je vom Fraktionshirten – der einzigen Instanz, die weiterhin von den Bauern gewählt werden durfte – auf die alten Weiden getrieben wurden. Das Land gab es nicht mehr. Da der tirolische Inhalt zerstört und die tirolische Form verboten war, wurde das Südtirolersein zum Ausdruck von Legende und Mythos, von Schmerz und Martyrium, ein aus Seufzern und Flüchen gefügtes Gefühl, mehr Zeugnis des Leides als aus dem Leiden geborenes Programm der Selbstbehauptung – denn die bürgerliche Selbstzucht blieb auch jetzt, da keines der Bürgerrechte mehr galt, die Kardinaltugend dieses zwar eigenwilligen, aber gleichwohl störrisch-gesetzesfrommen Volkes.

„Alles halte Ruhe und Ordnung!“, hatten die tirolischen Parteien in jenem grauen November des Achtzehnerjahres angesichts der einrückenden italienischen Truppen empfohlen.

Man hielt Ruhe und Ordnung, was immer geschah.

Und man erhielt sich damit, abseits der Straßen, über welche die Staatsmacht wandelte, hinter den von Regen und Sonne versilberten Hofzäunen und den mit Geranien geschmückten Fenstern auch einen Rest an eigener Ordnung, zuweilen gespenstisch erstarrt, Relikt einer Vergangenheit, die auch jenseits der Grenzen, dort, wo Tirol noch Tirol war, absterben musste, um das Neue ans Licht zu lassen. Nur dass bei uns das Neue das Fremde war und das Alte daher nicht absterben durfte.

Aber wir? Was waren wir, die Jungen? Wir waren hineingeboren in die babylonische Verwirrung von Empfindungen und Begriffen; wir waren hin- und hergerissen zwischen der versteinerten Ordnung des bäuerlichen Elternhauses und der entfremdenden Dressur der Schule, und niemand half uns, uns selbst zu bestimmen. Wer und was war gemeint, wenn wir „wir“ sagten?

Wir – das waren die Leute im Tal, jene, die zu „uns“ gehörten, und zu „uns“ gehörten natürlich alle, die deutsch waren, die Tiroler, im Tal und darüber hinaus.

Doch wenn ich’s recht bedenke, ist diese sozusagen nationale Beschränkung nicht richtig. In das dörfliche „Wir“ wurden, auch von den Alten, ein paar Italiener einbezogen, die seit Langem im Tal lebten und hier heimisch geworden waren: der Scherenschleifer, der Pfannenflicker und ein Wegmacher. Hingegen gehörten der Amtsbürgermeister (er nannte sich Podestà), die Lehrer, die Carabinieri, die Finanzer, die Gemeindeschreiber und der Briefträger nicht zu uns. Sie konnten somit nicht gemeint sein, wenn wir „wir“ sagten.

Im weiteren Sinne aber umschloss das „Wir“ alle jene Menschen zwischen Brenner und Salurn, die so waren und dachten wie wir – alle Tiroler also. Dieses erweiterte „Wir“ wird sich seiner gewissermaßen in der Begegnung mit dem „Nicht-Wir“ bewusst, mit den Italienern. Gleichwohl liegt auch hier keine nationale oder sprachliche Begrenzung vor: Die Ladiner, die man ein wenig überheblich als „Krautwalsche“ bezeichnete, waren „wir“, sie gehörten zu uns. Da überlebte also der alte, offene Tyrolismus, der eine Gemeinschaft in drei Sprachen gewesen war. Doch blieb nur die eine Tür zu den Ladinern offen. Gegenüber den Italienern war der Gegensatz unüberbrückbar: Ein tiefer Graben trennte das südtirolische „Wir“ unerbittlich vom „Sie“, von „denen dort“. Konnten der Scherenschleifer, der Pfannenflicker und der Wegmacher ohne Schwierigkeit ins dörfliche „Wir“ integriert werden, so war bei dem als Antithese zum Nicht-Wir bestimmten, das ganze Land einschließenden südtirolischen Wir eine derartige Integration nicht mehr möglich.

Warum legte das kollektive Selbstbewusstsein im einen Fall andere Maßstäbe an als im andern? Die mehr oder minder bewusste Selbstdeutung im Dorf scheint vertikal hierarchisch erfolgt zu sein: „Wir“ waren die Regierten, die Untertanen; „sie“, „die andern“, waren die Vertreter des Staates und der Regierung im weitesten Sinn. Im weiteren Rahmen des Landes erfolgte die Selbstdeutung zwar nicht ausschließlich nach sprachlichen, aber doch nach „nationalen“ Gesichtspunkten, ohne Berücksichtigung der vertikalen Dimension. Überdies wurde dieses südtirolische „Wir“ von außen mitbestimmt: von den extirolischen Trientinern, die 1918 im ersten Rausch der Erlösung sogar ihre Hunde grün-weiß-rot angestrichen und sich, möglicherweise etwas voreilig, alles Tirolischen entledigt hatten.

Doch sind damit die Sinngehalte unseres „Wir“ bei Weitem nicht erschöpft. In der Schule und in den Schulaufsätzen hieß das „noi“ schlicht: „wir, die Italiener“, und es durfte auch gar nichts anderes heißen. Dieses offizielle „Wir“ stieß die beiden zuvor explizierten „Wir“ als etwas Fremdartiges, Feindseliges, dem Ganzen Schädliches kurzerhand aus; besser: Es hätte sie ausgestoßen, wenn wir dem offiziellen „Wir“ erlaubt hätten, in uns einzudringen und von innen her als neue conscientia im Sinn von Bewusstsein und Gewissen von uns Besitz zu ergreifen. Dieses „Wir“ streifte bei den allermeisten nur die Haut, es hatte weder mit dem Ich noch mit dem Über-Ich etwas gemein, es war eine Schuluniform und ein verlogenes Hilfsfürwort, um das zu bezeichnen, was die Italiener meinten, wenn sie, uns einbeziehend, „wir“ sagten und schrieben. Es war ein fremdes Wir, welches das unsere annektiert hatte, aber gleichwohl nicht imstande war, es in uns auszulöschen – ein egoistisches, eifersüchtiges Wir, das, wie Gottvater, kein anderes Wir neben sich, in sich und unter sich duldete. Es war das Wir der totalitären nationalen Gemeinschaft.

Das alles waren „wir“, damals. Eine verwirrende Menschenlandschaft, Spiegelung einer verworrenen Zeit. „Werde, was du bist“, lehrt Pindar aus Theben. Ach, was sind wir nicht alles gewesen! Und wie schwer war es zuweilen, das zu sein, „was man ist“: Mensch.

Über die „Normalisierung der Lage“ und meinen Großvater

Irgendwann zwischen dem Sommer 1923 und dem Frühjahr 1924 muss sich die Lage in Sexten normalisiert haben. Das Dorf war wiederaufgebaut; der Handel blühte; im Sommer waren wieder Herrschaften gekommen; die Ställe füllten sich, und der Staat begann Kriegsentschädigungen zu zahlen. Mit den neuen Behörden hatte man sich so weit angefreundet, dass man dem Kommandanten der Finanzwachegarnison, als er „nach fast zweijährigem Wirken in der hiesigen Gemeinde“ an einen anderen Posten versetzt wurde, einen ehrenden Abschiedsartikel in der Zeitung widmete: „… hat in dieser Zeit Gelegenheit gehabt, sich das Vertrauen der Bevölkerung zu erwerben … Auf Wiedersehen!“ Die Zeitung hieß zwar nicht mehr wie früher Der Tiroler, sondern nur noch Der Landsmann, doch wusste jeder, was gemeint war. Im Januar 1924 hatte das Unterrichtsministerium in aller Eile „neue Normen für den Volksschulunterricht im nichtitalienischen Teil Italiens“ herausgegeben, nach welchen die deutsche Sprache nur noch im Religionsunterricht und in der ersten Volksschulklasse „vorgeschrieben“ war, während die italienische Sprache von der zweiten bis zur fünften Volksschulklasse als Unterrichtssprache galt. Aber noch gab es ja unsere Lehrer, und dass die Kinder Italienisch lernten, konnte gewiss nicht schaden. Schließlich war da noch die Geschichte mit der „Italianisierung der Ortschaftsnamen“, wodurch, wie Der Landsmann zu berichten weiß, „große Verwirrung durch falsche Adressierung und falsche Zustellung der Post verursacht wurde … Es scheint diesbezüglich nicht nur bei Privaten, sondern auch bei Ämtern keine volle Sicherheit und Klarheit zu herrschen.“

Gleichviel, die Post mochte hingehen, wo sie wollte, und die Privaten mochten sich in ihrem von einem Ende zum andern neu benannten Land zurechtfinden oder nicht – „die Lage in den fremdsprachigen Provinzen hatte sich normalisiert“.

Der Begriff Normalisierung war tatsächlich damals schon gebräuchlich und er bezeichnete nicht anders als heute die Beständigkeit der Abnormität, die Gewöhnung an die Abnormität. Und wie heutigentags zögerte man auch damals nicht, aus der Gewöhnung Zustimmung abzuleiten. Aber für die meisten Sextener, besonders für die Bauern, war die „Normalisierung“ nichts anderes als die grollende Einordnung in einen Zustand, den sie einfach nicht ändern konnten. Sie ertrugen und erlitten ihn. Was immer man in Rom und anderswo von der Normalisierung halten mochte, für sie, die Sextener, stand fest, dass die im Herbst achtzehn ins Tal eingebrochenen Heerscharen, vor denen sie Frauen, Kühe und Hennen eiligst in Waldverstecke getrieben hatten, Kolonnen einer hartnäckigen, tiefgründigen Unordnung waren. Man ließ sie nicht einmal als Sendboten einer anderen, fremdartigen Ordnung gelten.

„Etwas Unrechtes hält sich nicht!“, wiederholte der Großvater mit der Verstocktheit des gerade in den Jahren der allmählichen Verkalkung um all seine Hoffnungen und Anleihepapiere Betrogenen. Beharrlich hatte er sich geweigert, die österreichischen Kronen zu dem von der Regierung festgesetzten Kurs in italienische Lire umzuwechseln.

„Wenn mir die Walschen etwas stehlen wollen, dann trag ich’s ihnen nicht auch noch nach.“

Die Kronen lagen nun als graue, vergilbte Papierbündel in seinem Nachtkastel, traurige Erinnerungen an die „gute alte Zeit“, bis er sie eines Tages uns Kindern als Spielzeug überließ. Wir rührten unter seiner Anleitung Mehlpapp und tapezierten mit dem wertlos gewordenen papierenen Reichtum die ungehobelten Holzwände im Häusl.

Das Unglück mit den Kronen brachte den alten Mann vollends aus der Fassung. „Ich werd mir doch nicht das Feuer ins Haus leiten!“, sagte er, als unser Haus an den elektrischen Strom angeschlossen werden sollte. Er hatte von Anschlüssen genug, und nur unter allerlei betrügerischen Vorkehrungen war es möglich, „das Elektrische“ trotz des Widerstands des Alten ins Haus zu bringen.

Das Unrechte, die Unordnung hielten sich. Aber es wurde keine Gerechtigkeit und keine Ordnung daraus. In muselmanischer Trägheit schickte sich der Großvater ins Unabwendbare. Er war längst über siebzig. Die Wassersucht plagte ihn. Wenn er am Morgen vors Haus ging, um mit dem von der Frühmesse kommenden Rogger Jörgl, dem alten, einen kurzen Plausch zu machen (an sonnigen Sommertagen setzten sich die beiden auf die Bank unterm Kreuz und hatten da, im schattigen Frieden der Eschen, das ganze Tal vor Augen: die Rotwand, den Elfer, den Schuster, den Gsell), dann klagte er schon nach ein paar Schritten über die schweren Beine und den kurzen Atem. Zur Feldarbeit taugte der Großvater längst nicht mehr. Hin und wieder werkelte er in der Holzhütte oder in der Küche herum, bis die Großmutter oder die Mutter ihn fortschickte, zu uns, zu den Kindern. Wenn er mit uns „Bauern-Abhausen“ spielte, ein primitives Kartenspiel zum Zählenlernen, wie er sagte, vergaß er für eine Weile seinen finsteren Groll über die verkehrte Welt, in der nichts mehr seine Ordnung hatte.

„Auch die Felder tun nicht mehr wie früher!“, sagte er zum Jörgl. Der Nachbar sog an seiner langen Pfeife mit dem bunten Porzellankopf und nickte.

„Warum tun die Felder nicht, Nöhne?“ fragten wir.

Der Großvater war um Auskunft nicht verlegen. Die neue Grenze hatte Sexten von unserer Muttergottes abgeschnitten, die drüben lag, in Österreich. Früher war man, um eine gute Ernte zu erbitten, in einer langen Pilgerfahrt nach Maria Luggau im kärntnerischen Lesachtal gewandert, einen weiten, mühevollen Weg über Almen und Berge, ein bisschen Speck, Wurst, Käse und Schnaps als Wegzehrung im Rucksack.

„Und heut? Heut gehn sie nach Aufkirchen, zweieinhalb Stunden hin, zweieinhalb zurück, über brettelebene Straßen, und kein Mensch muss mehr um Mitternacht aufstehen wie wir früher. Eine solche Kirchfahrt kann nicht ausgeben!“

Der Jörgl nickte ernst.

Jedes Mal, wenn alte Leute zusammenkamen, gingen sie im Geist „in die Luggau“. Der Verlust der für sie zuständigen Muttergottes schien sie schwerer getroffen zu haben als der Verlust des Kaisers und des Bezirkshauptmanns. Nie habe ich darüber klagen gehört, dass man nun zum Grundbuch und zum Gericht nach Welsberg musste, dass man gezwungen war, sich den Advokaten in Bruneck statt in Lienz zu suchen; derartige Veränderungen betrafen ja auch nur die Äußerlichkeiten des bäuerlichen Lebens. Wenn aber die Felder nicht mehr „taten“, weil die Wallfahrten zur näheren und inkompetenten Muttergottes „nicht mehr ausgaben“, so griff dies ans Wesen der Dinge. Da lag die eigentliche Störung der Ordnung und da konnte es auch keine Normalisierung geben.

Die Dorfgemeinschaft lebt ja nicht nur im bitteren Schweiß der Werktage und im gottgewollten Frieden der Sonn- und Feiertage; was an Überbrachtem und Tradition in ihr wirkt, wird nicht nur in der Farbenpracht der Prozessionen, in der Heiterkeit des Spiels oder im Lärmen der Hochzeits- und Fastnachtsbräuche spürbar; es webt als unsichtbare, unhörbare Atmosphäre um die Menschen. Sie schwimmen in ihr wie der Fisch im Wasser. Die eigentliche Tradition ist das, was nicht wahrnehmbar und folglich auch nicht mitteilbar ist – zu vergleichen etwa dem Gezwitscher der Vögel, dem fernen Krähen eines Hahns und dem Rauschen des Waldes, die um einen sind, auch wenn man meint, es herrsche lautlose Stille.

Der Fremde, der ins Dorf siedelt, wird erst dann zum Einheimischen, wenn er das Nichtwahrnehmbare verspürt, wenn er die Laute des Tals in seine Sprache einschmilzt und die Geschichten des Tals in sein Bewusstsein. Nicht Märchen oder Geistergeschichten. Ein anderes scheint mir wesentlich: Jede Landschaft, die mehr ist als ein willkürlich zusammengebasteltes Verwaltungsgebiet, hat ihr eigenes Schilda, irgendeinen Nachbarort, dem man in gutmütigem Spott alle Schildbürgerstreiche anhängt und dessen Name außerdem dazu dient, die Dummen im eigenen Ort zu bezeichnen. Unser Schilda war Villgraten, jenseits der neuen Grenzen in Osttirol gelegen. Die Villgrater hatten, um im Winter nicht immer Kälte leiden zu müssen, im Hochsommer die Sonne in Kisten eingenagelt, aber vor lauter Eifer nicht bemerkt, dass sie ihnen durch ein Astloch wieder entwischt war. Als auf dem Kirchturm Gras wuchs, hatten sie dem Gemeindestier dicke Stricke um den Hals gelegt und ihn dann an einer „Radltasche“, einer Art Flaschenzug, hinaufgezogen; auf halber Turmhöhe streckte der Stier röchelnd die Zunge aus dem Maul. „Zieht fester! Fester ziehn!“, schrie der Bürgermeister. „Es gelüstet ihn schon.“

Die Männer zogen, der Stier stieg höher; als er jedoch das Gras vor der Nase hatte, war’s aus mit dem Appetit und mit dem Röcheln. Die Villgrater warteten eine Weile, dann seilten sie das Tier ab. Und wie es nun, gescheckt und mausetot, zu ihren Füßen lag, beschlossen sie traurig, das Unternehmen im nächsten Jahr mit einem Ziegenbock zu wiederholen. Der, meinten sie, habe einen längeren Hals. Wenn man zu jemandem „du Villgrater“ sagte, so hatte dies einen ganz bestimmten Sinn (der indessen nicht die achtbaren Bürger unseres Dorfes betraf, die sich Villgrater schrieben). Die Villgrater waren jedoch, wenn es darauf ankam, auch schlagfertig und wortgewandt. Als der Sillianer Dechant eines Tages beim Brevierbeten ein Bübl in schweren, wasserscheuen Lodenhosen vor sich sah, fragte er: „Na, Bübl, woher kommst du denn?“

„Aus Villgraten.“

„Aha, du bist so ein dummer Villgrater?“

„So dumm müssen wir nicht sein, Hochwürden“, antwortete der Bub. „Wir haben erst einen zum Studieren schicken müssen und der ist Pfarrer geworden.“

Das waren die Villgratergeschichten, die der Großvater und die Großmutter uns erzählten. Villgraten war für uns ein wundersamer Ort, halbwegs zwischen Märchen und Wirklichkeit, dessen grasbewachsenen Kirchturm wir gerne einmal gesehen hätten, auch auf die Gefahr hin, uns durch solche Wünsche als dumme Villgrater auszuweisen.

Österreich war für mich in jenen Jahren, ehe ich zur Schule ging, Maria Luggau mit den feierlichen Gewölben und dem strahlenden Muttergottesaltar, dem schönsten, den man sich denken konnte, und Villgraten mit seinen lustigen Menschen, über die es so viele seltsame Geschichten gab. Österreich waren die Zuckerhüte, welche die Großmutter, im Kittelsack versteckt, heimlich über die Grenze schmuggelte – für uns Kinder. Österreich waren der Schnupftabak des Paters Kassian, das Feuerzeug des Vetters Michl, Vaters Bauernzeitung und der fein duftende Zigarrenrauch, der als lichte Wolke über dem Stubentisch schwebte, wenn der Vetter Franz „von drüben“ zu uns kam. Und in diesem Rauchwölkchen thronte der gute Kaiser, halb Großvater und halb weißbärtiger lieber Gott, huldvoll lächelnd, genauso wie er in der oberen rechten Ecke jener Fotografie abgebildet war, die den Vater in Kaiserjägeruniform zeigte.

Noch eins wusste ich: Österreich war verboten.

„Versteckt ’s Österreichische!“, schrie die Großmutter vom Brunnen ins Haus, wenn sie mehr als zwei Finanzer daherkommen sah. Wir versteckten alles, Feuerzeug, Sacharin und Zigaretten, sogar die Spielkarten, denn auch die brauchten einen staatlichen Stempel und für den Stempel war eine Steuer zu zahlen.

„Das hält sich nicht!“, brummte der Großvater, während er die Karten in den Nähkorb räumte. „Es kann sich nicht halten.“

Über das neue Dorf und die alten Bauern

Draußen, außerhalb des Tals, galten die Sextener als „besondere Rasse“. Man sprach halb verächtlich, halb respektvoll von der „Republik Sexten“. Und was man der besonderen Rasse in dieser Republik nachsagte, war nach den allgemeingültigen Maßstäben nicht eben löblich: Geschäftstüchtigkeit, Opportunismus, Schmuggel, politische Unzuverlässigkeit. Lang vor dem Weltkrieg hatte ein bedeutsamer Tiroler Autor geschrieben, die Sextener wären überhaupt Italiener. In Wahrheit waren die Sextener nichts weniger als dies, obschon sie wie die italienischen Nachbarn drüben im Cadore Frösche aßen, und im Weltkrieg hatten sie ja auch allen gezeigt, wohin sie wirklich gehörten.

Trotzdem waren – und sind – sie anders als die Nachbarn: eben ein von den Grenzen, den Sprach- und Staatsgrenzen, geprägtes Volk. Sie haben gelernt, dass Sprachen zum Miteinanderreden nicht minder taugen als zum Streiten und dass man jenseits der Grenzen auch wieder auf Menschen trifft. Was man draußen den Sextenern besonders übelnahm, waren aber das neue, schöne Dorf, der stolze Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Krieges, der Wohlstand und schließlich die Geschäftigkeit, welche Wiederaufbau und Kriegsentschädigungen dem Tal beschert hatten.

Das Dorf sah, verglichen mit anderen, älteren und vordem glücklicheren, wirklich prachtvoll aus. Großteils neue Häuser, blitzblanke Hausfronten, ein großzügiger Platz und breite, wenngleich noch staubige Straßen. Das Glück der neuen Häuser war ihm widerfahren, weil es vorher, im Krieg, das Unglück gehabt hatte, von der italienischen Artillerie in Schutt und Asche geschossen zu werden. Und dieses Unglück wiederum war ihm zugestoßen, weil Sexten vorher, im Frieden, das Glück gehabt hatte, Grenztal zu sein (vom Jahr 1866 an, als Österreich nach einem gewohnterweise gewonnenen Krieg dank den Preußen und durch Vermittlung des dritten Napoleon Venetien und Friaul an Italien verloren hatte). Und nun kam zum Glück der neuen Häuser, der neuen Kirche und der neuen Schule auch noch jenes, dass Sexten wiederum Grenztal war, in verkehrter Richtung freilich, sodass auch das Glück sozusagen einen verkehrten Drall erhielt. Früher war die Grenze über den Kreuzberg und die reichlich unwegsamen Dolomitengipfel und -kare verlaufen; jetzt zog sie sich über die Verlängerung des Karnischen Kamms bis zur Helmspitze. Für die Schmuggler war das kein schlechter Tausch. Sie hätten ganze Viehherden über den Helm treiben können, wären nicht so viele Finanzer und Carabinieri im Tal gewesen.

Eines musste man den Italienern nämlich lassen: So knausrig der neue Staat seine Bürger mit Rechten bedachte, so großzügig war er auf dem Gebiet der Exekutive. Allein in Sexten saßen, mitten im Frieden, zeitweise annähernd so viele Carabinieri, Finanzer und später Milizler, wie im Mai 1915 – als Italien in den Krieg eingetreten war – Österreicher und Sextener zur Verteidigung des gesamten Frontabschnitts aufgeboten werden konnten. Damals hätten die Italiener, so erzählten die alten Leute, mit Landauern vom Kreuzberg durchs Tal nach Innichen fahren können, so dünn war die Front besetzt. In den beiden Festungswerken, am Mitterberg und am Eingang zum Fischleintal, stand kein einziges Geschütz, doch entzündete man mehrmals täglich Feuer, um den Italienern starke Besatzungen mit gewaltigem Küchenbedarf vorzutäuschen.

Aber es waren nicht nur die vielen Finanzer, die „Filzläuse“, die die neuen Grenzen odioser erscheinen ließen als die einstigen. Die alte Grenze war eins gewesen mit der Sprachgrenze: Hüben hatte man Deutsch geredet, drüben Italienisch; und manche Väter hüben und drüben hatten die Buben ausgetauscht, um sie die andere Sprache lernen zu lassen. Obschon die alte Grenze zwei Völker schied, war sie doch recht durchlässig gewesen. Von der Nemes-Alm konnte man jederzeit hinübergehen in die „walsche Kaser“, wo die notigen Bauern aus dem Comelico ihre Wiesen und Weiden hatten, und dort einen lauen Juliabend vertratschen. Und über den Kreuzberg kamen scharenweise Italiener aus dem Cadore zur Arbeitssuche ins Österreichische. Jetzt aber, da die Grenze mitten durch die jahrhundertealte Nachbarschaft ging, mitten durch die Landschaft unserer Geschichten, unserer Wallfahrten und unserer Verwandtschaften, gab es diese Durchlässigkeit nicht mehr. Grenzscheine waren teuer und rar, zeitweise gab es überhaupt keine oder man bekam sie nur gnadenhalber in besonders dringenden familiären Fällen. Auch das war ein Zeichen der neuen Zeit, dass der Wahnsinn der Kriegsfronten in den Frieden hinein prolongiert wurde.

Die Sextener achteten zunächst nicht darauf. Die nackte Not der Abbrändler, das Elend der Bauern, die bei der Heimkehr verwüstete Häuser, leere Ställe und verheerte Felder angetroffen hatten, und schließlich der allgemeine Wunsch, endlich wieder ein Dach überm Kopf und ein Trumm Gselchtes im Topf zu haben; das alles war in den ersten Jahren nach Kriegsende und Anschluss stärker als das Unheil der Grenzen und jene großpolitischen Umwälzungen, die man in heil gebliebenen Dörfern viel intensiver empfand. Dann folgte die hektische Geschäftigkeit des Wiederaufbaus, in welcher jeder jedem half, wie es in Notzeiten üblich ist. Jeder leistete seine Fronschichten für die gemeinschaftlichen Bauten, vor allem für Notkirche, Kirche, Schule und Gemeindehaus. Jeder baute, oft unaufgefordert und auch auf die Verköstigung verzichtend, in Robotschichten an den neuen Häusern der Abbrändler mit, sodass ein jeder mit Fug und Recht auf all das Neue stolz sein konnte: Es hatte ja jeder mit Hand angelegt. Gewiss, für den Wiederaufbau der zerstörten Gemeinde war auch von anderer Seite viel geleistet worden: Freunde des Dorfes hatten in Österreich, besonders in Wien, große Geldmittel aufgebracht. Der italienische Staat griff gleichfalls tief in die Kassen und bezahlte den Sextenern die Kriegsschäden rascher als anderen, selbst italienischen Gemeinden. Aber meinen Sie, das hätte etwas genützt, wenn sich die Sextener nicht selbst gerührt, wenn sie wegen der politischen Umwälzungen nur Trübsal geblasen hätten? Im Gegenteil, den Leuten im Tal gebührt das erste Verdienst an der stolzen Wiederaufbauleistung, namentlich jenen Männern, die – entweder als Vorsteher oder in andrer Hinsicht einflussreich – den Behörden einzureden vermochten, wie wichtig der Bau neuer Häuser anstelle der rußigen Ruinen sei, zumal alles Neue ihren, der Behörden, Großmut beweisen würde, die Ruinen aber die stete Erinnerung an erlittene Unbill wachhielten. Man muss sich nur vorstellen, was einem richtigen Vieh- und Fellhändler an diplomatischen Kniffen und heuchlerischen Schnörkeln alles einfällt, wenn er beschließt, das vorderhand ohnehin darniederliegende Gewerbe einstweilen mit der Politik zu vertauschen.

Schon in den letzten Oktobertagen von 1923 hatte Sexten, wie der Chronist an die Zeitung in Bozen meldete, das „große Weiheund Dankfest beziehungsweise das Wiegenfest für Neu-Sexten gefeiert“. Doch hatte die Bautätigkeit im Tal nach dem nämlichen Chronisten auch im Februar 1924 „noch nicht ihren Abschluss gefunden“. Da es an Geld nicht mangelte, ließ man sich die Sache etwas kosten: Die Pläne stammten von erstklassigen jungen Architekten; junge Maler und Bildhauer wurden berufen, die Kirchen in Sankt Veit und in Moos sowie die Arkaden des Friedhofs, der sich in drei aufsteigenden Terrassen an den sonnseitigen Berghang schmiegt, auszuschmücken.

Man war wahrhaft avantgardistisch, wie sich’s für Sexten gehörte. Die alten Bauern dachten mit einiger Wehmut an die Fresken in der alten, im Krieg zerschossenen Kirche und an die marmorne Faltenpracht alter Apostelstatuen. Das Neue war zu neu für sie. Kein Lebender hätte beispielsweise gewagt, im Unbekannten Soldaten vom Kriegerdenkmal einen der Toten des Dorfes wiederzuerkennen, so sehr wäre ihm jede Ähnlichkeit mit dem wesenlos kalten Helden aus rötlichem Sandstein als Schimpf erschienen. Aber draußen, außerhalb des Tals, trat auch der ärgste Fanatiker des Alten für den steinernen Helden ein.

Am ehesten freundeten sich die Alten noch mit den heiteren Pastelltönen des Totentanzes von Rudolf Stolz an. Wenn man vom Kirchplatz die breite, granitene Treppe zur Kirche hinaufsteigt, erreicht man oben, vier oder fünf Stufen unter dem Niveau der ersten Friedhofterrasse, eine Plattform, über der sich eine Kuppel wölbt. Und hier ist man von den Bildern des Totentanzes umgeben. An Sonn- und Feiertagen, nach dem Hauptgottesdienst, verweilten die Männer ein paar Minuten lang unter dieser Kuppel, gerade so lange, um die Pfeife zu stopfen oder eine Zigarette zu wuzeln; dann kam der breite Strom dunkel gekleideter Bauern, behäbig und lärmend und ohne Spur von Eile, die Treppen herab bis zum kleinen Kirchplatz. Viele blieben auf den Stufen stehen: Da tauschte man Kundschaft über Vieh und Mensch und beredete Händel und Heiraten, bis der Gemeindeschreiber oder, in späteren Zeiten, der Lehrer auf der unteren Plattform neben dem hölzernen Sankt Christophorus seine Papiere entfaltete und mit lauter Stimme verlas, was die Behörde den Untertanen an Amtlichem mitzuteilen hatte: Steuertermine, neue standesamtliche Bestimmungen für Heiraten und Taufen, Stierkörungen, Einschreibungen für die Volksschule und Ausmusterungen fürs Militär. Über all dem feiertäglichen Geschehen (denn auch die Verlesung der vom Lehrer in steifes Beamtendeutsch übersetzten Kundmachungen geschah stets in überaus feierlichem Tone) schwebte wie ein milder Schatten die beinahe heitere Melancholie des Stolzschen Totentanzes: der junge Mann, der mit frohem Mut und vollem Ranzen in die Zukunft aufbrach; das Mädchen, das – selig lächelnd – von einem Leben voller Blüte träumte; das schlummernde Kind in den Armen der Mutter – fürchteten sie den Tod, der hinter ihnen stand? Der Sensenmann war hier viel weniger schreckenerregend als auf anderen Bildern, die ich kannte. Sein Gerippe war nicht von der kalkigen Blässe des toten Gebeins, es sah aus, als wäre Leben in ihm. Und die Sense hatte nicht die unerbittliche Kälte des grauen, tödlichen Stahls. Wie hätte etwas, das lebte, das Ende, den Tod bringen können?

Alles war hier künstlerisch sehr wohlbedacht; jedes Detail hatte seinen Sinn in der ganzen Anlage: die Kirche, die paar Schritte durch die unterste Terrasse des Friedhofs, die Kuppel mit dem Totentanz als der eigentliche Mittelpunkt, wo Leben und Tod, Alltag und Feiertag, Diesseits und Jenseits einander begegneten, und von da ausgehend die festen granitenen Stufen hinab zum Kirchplatz und weiter, am Schul- und Finanzerhaus vorbei, zum Postplatz, wo das Gemeindehaus stand. Welchen Weg man auch ging, ob vom Gemeindehaus zur Kirche oder umgekehrt, man war eingefügt in die Gemeinschaft von Lebenden und Toten, man bewegte sich durch sie hindurch; und die Natürlichkeit der Übergänge von einem Reich ins andere bewirkte, dass man die Toten nicht als etwas Abwesendes, Gewesenes begriff und sich selbst nicht als etwas Flüchtiges, Vorübergehendes, sondern alles als ein System aufsteigender Treppen, in welchem jede Stufe, jeder Stein wesentlich war.

Die Tatsache, dass zur künstlerischen Ausgestaltung der zwei neuen Kirchen und des Friedhofs nicht altbewährte Meister berufen worden waren, sondern junge Talente, die im Neuen auch Neues wagten (wenngleich ihr Wagnis sich nicht mit der Kühnheit der großen Suchenden jener Jahre messen wollte), diese Tatsache also zeigt, dass beim Wiederaufbau autoritative und vielleicht auch autoritäre Männer am Werk waren, die ohne viel zu fragen entschieden, was zu geschehen und was zu unterbleiben hatte, eine Elite, eine Oberschicht. Das Volk stand – murrend oder verwirrt oder auch nur unbeteiligt – abseits. Es wurde von niemandem nach seinem Urteil über die schließlich doch mit Geld der Allgemeinheit bezahlten Kunstwerke befragt. Das hatte dumpfen Unmut zur Folge und gelegentlich kam es am Wirtshaustisch auch zu bösartigen Sticheleien. Der weißhaarige Lahner Göd (alle im Tal nannten ihn Göd) sagte dem Vorsteher, in dessen Amtszeit der Wiederaufbau stattgefunden hatte, vor allen Leuten ins Gesicht, auf den Kreuzwegstationen der Pfarrkirche sei der bravste und frömmste Apostel, nämlich der Johannes, der ja auch der schönste gewesen sei, hässlich wie anderswo der linke Schächer, und unserem linken Schächer wolle er in Gottes Namen niemals bei Nacht begegnen. „In der Sterbestunde soll er dir erscheinen, dein linker Schächer!“, lästerte der Göd.

Die gröbste Kritik kam aber vom Stabinger „Wilden“. Dieser trotz seines Übernamens gutmütige und letztlich auch kluge Kauz (er war ledig, und die ewige Abstinenz macht mit den Jahren alle „alten Buben“ schrullig) hielt dem Pfarrer einmal auf dem Kirchplatz den künstlerischen Unfug der neuen Kirchen vor:

„Wenn die Engel im Himmel wirklich solche Muskeln haben wie die in der Mooser Kirche, dann, Herr Pfarrer, das sag ich Ihnen, dann pfeife ich auf die himmlischen Freuden.“

Aber sogar der „Wilde“, der daheim die Mooser Engel als „fliegende Rösser“ bezeichnete, schwor draußen in Innichen auf dem Markt Stein und Bein, dass unser linker Schächer der freundlichste der Welt und die Mooser Posaunenengel die lieblichsten des Himmels seien.

Es war ja wirklich schwer, den alten Bauern alles recht zu machen. Sogar die neue Straße störte sie, weil nun die „Stinkteufel“, die Autos, ins Dorf kamen, vor denen die Rösser scheuten wie vor dem Leibhaftigen. Wehmütig erzählten sie von den Zeiten vor dem Krieg, da es den Autos verboten gewesen war, nach Sexten zu fahren, und da ein einfacher Gemeindepolizist, das Gamatzmandl, den Generaloberst Dankl an der Lanzinger Säge aufgehalten und zum Umkehren gezwungen hatte. „Nichts da, Euer Gnaden“, hatte er gesagt. „Nach Sexten fährt man nicht per Auto. Nur per Ross.“ Und als das Auto des Generals gewendet hatte, war das Gamatzmandl noch einmal ganz nahe hingegangen und hatte – gewissermaßen zur Erläuterung des Sachverhalts – hinzugefügt:

„Es ist wegen der Herrschaften. Die sind zu fein zum Staubschlucken. Sie ja auch, Euer Gnaden.“

Der hohe Herr hatte seine Inspektion äußerst ungehalten mit einem noblen ärarischen Pferdegespann fortsetzen müssen.

„Sakra, das waren dir Zeiten, früher!“, staunten die Alten und sonnten sich nachträglich in der Machtvollkommenheit des Gemeindepolizisten von einst, der nicht mehr und nichts Besseres gewesen war als sie alle und dennoch außergewöhnlich, wenn man ihn an den neuen Verhältnissen maß.

Die neuen Verhältnisse stellten sich auch mit neuen Namen ein. Der Hauptort, das Zentrum von Sexten, hieß fortab San Vito, das war die wörtliche Übersetzung von Sankt Veit und so weit richtig, obschon die Pfarrkirche den heiligen Aposteln Petrus und Paulus geweiht war und der feuerlöschende Vitus nur als Subalternpatron wirkte. Das Unterdorf, Schmieden, wurde Ferrara getauft. Und Moos, zuinnerst im Tal, wurde je nach Laune der Behörden bald als Moso, bald als San Giuseppe bezeichnet. Erst mit den neuen Namen wurden die Sextener so recht des Unheils gewahr, das sich da – während sie weltvergessen mauerten und zimmerten – eingeschlichen hatte und das sich nun ausbreitete wie die Pest.

Wie hatte das geschehen können? Hatten unsere Vorsteher und die vermögenden Leute im Tal vielleicht die Hand auch dazu geliehen? Die schon erwähnte moderne und autoritäre Elite von Bürgern hatte ja im Namen der Gemeinschaft den Wiederaufbau vollbracht, die Auszahlung der Kriegsentschädigungen in die Wege geleitet, den Bau der Straße erwirkt, ein auch in den Zeitungen gewürdigtes Mäzenatentum initiiert und derart eine gewisse „Normalisierung“ von oben bewirkt. Damit all dies möglich war, mussten sie sich natürlich mit den Behörden gut stellen und diesen in mancherlei Hinsicht auch Dankbarkeit bezeugen. Und wirklich scheint das faschistische Unheil auf solchen Schleichwegen ins Tal gelangt zu sein. Im April 1924, bei der Parlamentswahl, statteten die Sextener ihren Dank ab: Etliche über hundert wählten die Liste Mussolinis, nur um etwa zwanzig mehr hielten dem „Deutschen Verband“ die Treue. Man wählte und vergaß. Später habe ich keinen gefunden, der nach eigener Aussage 1924 nicht „deutsch“ gewählt hätte.

Doch waren damals sogar Grafen, Barone und studierte Leute einerseits den wirtschaftlichen Verlockungen, mit denen der Faschismus warb, anderseits dem Parolengetöse vom gerechten, starken Staat, vom „Kampf gegen die Roten“ erlegen – wie hätte dies nicht auch Leuten widerfahren sollen, die wohl ahnen mochten, dass allein das Schwarzhemd sie davor bewahren konnte, die Verwaltung der neu aufgebauten Gemeinde, der schönsten des Landes, in fremde Hände legen zu müssen? Und lag nicht vielen das neue Haus näher als das alte Vaterland? Diese Haltung ist sicherlich nicht patriotisch im landläufigen Verstand, aber sie ist menschlich: denn die Heimat beginnt mit dem Beheimatet-Sein und wer die Treue zum Volk losgelöst von der Heimat verstünde, wäre ein unvernünftiger Schwätzer oder der Patriot einer Abstraktion, eines Wahns.

Nun aber wurden die neuen Verhältnisse wahrhaftig zu bunt.

Alles im Dorf verlor seinen Namen. Der Vorsteher verlor – trotz Wahlausgang und Schwarzhemd – sein Amt. Die alten Lehrer wurden aus dem neuen Schulhaus vertrieben. Die Zukunft hatte begonnen.

Über Geister und außerirdische Kräfte

Wir hatten eine Nachbarin, die Threse hieß. Sie buk das beste Brot weit und breit, und wir Kinder schlichen, sooft wir konnten, in ihre Küche und baten um ein Stück hartes Brot:

„Threse-Mutter, bitt schön um ein paar Brücke!“ „Brücke“ sind kleine Brocken harten Roggenbrots. Die Mutter schalt uns, wenn sie von diesen Brotbittgängen erfuhr.

Viele Leute sagten von der Nachbarin, sie sei bös. Zu uns Kindern war sie’s nie, auch wenn sie mit dem Vater prozessierte. Sie nahm uns sogar gegen die älteren eigenen Kinder in Schutz, von denen vier schon ausgeschult waren, ehe wir in die Schule kamen. Aber wenn der Schattseiter Seppl mit dem Ross bei uns fuhrwerkte, stänkerte er laut, dass die Nachbarin es hören musste:

„Wo eine Liese im Haus ist, braucht’s keinen Hund. Und wo eine Threse ist, braucht die ganze Nachbarschaft keinen.“

Das war eine ausgesprochene Dummheit, denn wir hatten sogar zwei Hunde. Die Nachbarin war Witwe. Ihr Mann war an der Schwindsucht gestorben. Sie musste sich, auch um der Kinder willen, ihrer Haut zu erwehren trachten. Dabei mag sie mitunter übers Ziel geschossen haben, denn ein geschliffenes Maul besaß sie, und sie benützte es auch.

Doch was man der Nachbarin eigentlich ankreidete, betraf gar nicht sie, sondern ihre längst verstorbenen Eltern: Es war eine Geschichte, die weit zurücklag, die man sich jedoch immer noch in allen Stuben erzählte, als hätte sie sich erst gestern zugetragen, und die als grausamer Fluch über dem Nachbarhaus hing.

Irgendwann im vergangenen Jahrhundert, als die Threse noch ein Kind gewesen, das einzige ihrer Eltern, war über der Palmenstadt, einem nach den vielen Palmweiden benannten Ortsteil, eine gewaltige Mure niedergegangen und hatte ein Haus verschüttet; ein Kleinhäuslerehepaar und eines der acht Kinder hatten in den Trümmern den Tod gefunden. Die anderen sieben standen nun hilflos da und der Herr Pfarrer nahm es auf sich, sie bei guten Leuten unterzubringen.

Mit dem Kleinsten, dem vierjährigen Adolf, sprach er eines Morgens beim Nachbarn vor. Er traf den Bauern und die Bäuerin im Stall an; in der Nacht war ein Stierkalb zur Welt gekommen. Der Pfarrer trug den Eheleuten sein Anliegen vor. Der Bauer, Blasius mit Namen, stellte die Mistgabel an die Wand, nahm den Hut vom Kopf und kratzte sich die Glatze. Er überlegte:

„Das Bübl da nehmen?“

Die Bäuerin mischte sich ein:

„Nein, nein, Hochwürden, daraus wird nichts. So dick haben wir’s nicht.“

„Aber es ist ein gutes Werk, und der Himmel wird’s euch lohnen!“, sagte der Pfarrer.

„Nein, Hochwürden, sag ich, so dick haben wir’s nicht, dass wir uns so mir nichts, dir nichts gute Werke leisten können. Das Bübl nehmen? Es gibt bessere Leut im Tal. Das Bübl nehmen? Nein, Blasius, da ziehn wir schon lieber das Stierkalb auf!“

Der Blasius wagte nicht zu widersprechen.

„Recht hat sie, die Mutter. Da ziehen wir schon lieber das Stierkalb auf.“

Der Pfarrer ging. Der Bub kam zu anderen Leuten, studierte und wirkte später als Priester und Schriftsteller in Wien. Er wurde ein berühmter Mann.

Als der Stier vier Jahre alt war, gabelte er die Bäuerin, die ihn von der Tränke zum Barren treiben wollte, auf die Hörner und drückte sie an die Mauer. Die Frau starb noch am selben Tag. Der Blasius überlebte sie nur um ein paar Jährlein, dann erlag er einem „tückischen Lungenleiden“. Den Fleck an der Stallmauer, wo der Stier der alten Nachbarin „die geizige Seele aus dem dürren Leib“ gedrückt hatte, konnte man zu meiner Zeit noch sehen.

Seither war im Nachbarhaus kein Segen mehr. Das Vieh tat nicht und die Menschen starben wie die Fliegen; sie hatten es alle „auf der Lunge“. Und wo der Himmel so offensichtlich grollte, durften die Menschen, die „guten Leute“, doch nicht zurückstehen. Die Nachbarin war also böse geworden ohne ihr Zutun; und obwohl niemand im Tal wusste, ob sich damals mit dem Bübl und dem Stierkalb alles so zugetragen hatte, wie man’s erzählte, so waren doch alle davon überzeugt, dass dieses ferne Ereignis auch ihnen das Recht gab, Steine auf die ohnehin schon schwer Getroffene zu werfen.

Durch unsere Kindheit spukten immerzu Geister, Teufel und das geheimnisvolle Walten überirdischer Kräfte. Wenn die Alten, von denen wir die Geschichten erfahren haben, recht hatten, dann funktionierten die überirdischen Kräfte bisweilen als transzendente, metaphysische Justizbehörde. Für mich ist dabei auch heute noch bedrückend, dass ich all dies von Menschen gehört habe, die von der Wahrheit ihrer Berichte überzeugt waren und die keine Flausen im Kopf hatten. Es erschien ihnen ganz natürlich, dass eine überirdische Justiz, die ja in jedem Fall gründlicher sein musste als die irdische, die Unterlassung einer einzigen guten Tat mit einem Massensterben innerhalb der Familie der Sünder zu ahnden und die Buße bis ins zweite oder dritte Glied auszudehnen bereit sei.

Der Vetter Michl, der Bruder des Vaters – er lebte in jenen Jahren noch bei uns –, lachte über alle landläufigen Geistergeschichten. Für ihn gab es keine Hexen und keinen Zauber, und er hielt auch der Nachbarin die Stange, wenn andere Leute das alte Zeug aufwärmten. Und dennoch stieß ihm eines Tages etwas zu, das ihn bis an sein Lebensende beschäftigte. Er war ein Fuhrmann und Jäger; da musste er schon mit beiden Füßen auf dem Boden stehen.

Der Michl hatte zwei Jagdgefährten, den Ladstätter Franz und den Kalkbrenner Jakob. An einem Abend im Spätherbst kam der Franz und forderte den Michl auf, am nächsten Morgen mit ihm und dem Jakob auf die Gämsen zu gehen. Der Michl aber hatte eine Fuhre versprochen und musste die beiden allein gehen lassen. Am nächsten Abend kam er spät, es war schon dunkel, nach Hause: Verstört und käseweiß im Gesicht trat er zu uns in die Küche. Er habe, erzählte er, zuerst das Ross in den Stall gebracht und versorgt; dann sei er vom Futterhaus zum Feuerhaus gegangen. Plötzlich habe er das Gefühl gehabt, es starre ihn jemand vom Söller aus an, es geschehe einem ja häufig, dass man spüre, auf der Haut sozusagen, wie einen jemand anstarrt. Er habe also zum Söller hinaufgeschaut, und oben, auf dem Geländer, sei der Jakob gesessen, die Büchse im Anschlag, und habe auf ihn, den Michl, gezielt. Er, der Vetter Michl, habe ihm zugerufen:

„Du Narr, was fällt dir ein, das bin doch ich!“

Aber da sei der Kalkbrenner schon verschwunden gewesen, wie von der Nacht verschluckt.

Wir zitterten vor Spannung und Furcht. Niemand wagte, durchs Fenster hinauszusehen. Der Vater sagte:

„Aber geh! Wenn du vor dem Haus geredet hättest, hätten wir es ja gehört.“

„Und die Hunde hätten gebellt. Sie haben aber erst gebellt, wie du das Tor aufgemacht hast“, ergänzte die Mutter.

Der Michl schüttelte den Kopf; er habe den Jakob gesehen, und außerdem habe der Sultan, der Wolfshund, gewinselt und nicht gebellt. Niemand von uns hätte mehr zu sagen gewusst, ob der Sultan wirklich gewinselt hatte. Doch da fiel der Großmutter ein, was längst einem anderen hätte einfallen können:

„Wenn’s der Kalkbrenner gewesen war, was du gesehen hast, Michl, dann hätte es ja der Geist vom Kalkbrenner sein müssen. Aber der Kalkbrenner lebt ja. Es kann also nicht sein Geist gewesen sein.“ Dabei blieb es für den Abend. Schlotternd vor Angst krochen wir Kinder in die Betten. Am Morgen kam die Großmutter von der Frühmesse:

„Sie haben das Sterbegebet für den Jakob gebetet“, sagte sie. „Er ist gestern auf der Jagd in eine Lawine gekommen.“

Der Kalkbrenner hatte sich also doch beim Vetter Michl „angemeldet“. Der Michl ließ für die arme Seele eine Messe lesen und wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, sein Erlebnis als „Geistergeschichte“ einstufen zu lassen. Aber es half nicht viel.

Das „Anmelden“ ist aber eine Sache für sich, die nach Auskunft gescheiter Leute, auch unseres Pfarrers, mit dem Geistern nichts zu tun hat.

Insgesamt scheinen diese Geschichten – abgesehen von ihrem Fabulierwert, der darin bestand, dass der Erzähler sich als mehr oder minder unmittelbarer Zeuge einer außergewöhnlichen Begebenheit aufspielen konnte – in der bäuerlichen Gesellschaft eine ethische Funktion erfüllt zu haben. Das zunächst nur „nicht alltägliche“ Ereignis wird durch Ausschmückungen und Ergänzungen so manipuliert, dass es zum „außergewöhnlichen“, „übernatürlichen“ wird, und dann leitet man daraus moralische Schlüsse ab. Diese betreffen in erster Linie wohl den Menschen, welchem die besondere Begebenheit zugestoßen ist, sie erlangen aber durch die Art, in der sie vorgebracht werden, allgemeine Gültigkeit. Die Geschichten werden damit Illustrationen zu Verhaltensmaßregeln. So ist es nicht verwunderlich, dass die folgende über den Tod der Sternwirtskellnerin meiner Schwester und mir von der Nachbarin mit mahnend erhobenem Finger erzählt wurde, als sie uns einmal im Friedhof beim Blumenpflücken ertappt hatte. Beim Sternwirt saßen, wie es an Sonntagabenden üblich war, zu später Stunde noch einige Bauern in der Gaststube und tranken. Die Kellnerin war ein großes, kräftiges Weibsbild mit einem Mundwerk wie ein Schlosshund. Gegen Mitternacht häkelte sie einen reichen Bauern, der die ganze Zeit mit seinen Heldentaten im Krieg aufgeschnitten hatte:

„Na, wenn du schon so schneidig bist, wie du sagst, warum gehst du dann nicht auf den Friedhof und holst ein Kreuz von einem Grab? Geh, hol’s und bring’s in die Gaststube, da her!“

Die Männer lachten. Der reiche Bauer wusste nicht, was er sagen sollte:

„Ich? Jetzt um Mitternacht? Auf den Friedhof?“

„Ja, du!“, bohrte die Kellnerin. „Traust dich oder traust dich nicht? Bei Tag kann das jedes Kind.“

„Du gefällst mir. Zur Geisterstunde ein Kreuz vom Friedhof holen, wo wir erst vor drei Wochen die Nonna begraben haben; du gefällst mir, ein Grabkreuz holen, um Mitternacht!“

Der reiche Bauer war kleinlaut geworden. Die Nonna war seine Großmutter gewesen; manche Leute in Sexten sagten Nonna zur Großmutter, andere Nahndl.

Die Kellnerin lachte spöttisch.

„Maul aufreißen und die Hosen voll haben.“

„Traust du dich?“ fragte der Bauer.

„Wenn’s etwas tragt! Was tragt’s?“

Der Bauer zog seine Brieftasche, legte protzig einen Hunderter auf den Tisch und schrie, plötzlich wieder herrisch-selbstbewusst:

„Da, an Hunderter tragt’s. Gehst du? Wenn du gehst, da ist der Hunderter.“

Die Kellnerin ging. In der Runde wurde es still. Der Hunderter lag auf dem Tisch: Der König, der italienische, lächelte säuerlich von der Banknote. Es dauerte keine zehn Minuten und die Frau trat mit einem Grabkreuz, einem Holzkreuz für arme Leute, in die Stube.

„Bravo! Die traut sich! Die ist kalt!“, schrien die Bauern durcheinander.

„Her mit dem Hunderter!“, sagte die Kellnerin, lehnte das Kreuz an den Tisch und ließ den Geldschein im Kittelsack verschwinden.

„Schäm dich vor der!“, meinte einer zum Bauern, der den Hunderter spendiert hatte.

„Ich mich schämen? Hast du die Nonna begraben oder ich? Kann ich mir ein Sakrileg leisten? Was heißt da: schäm dich!“

Er legte einen Fünfziger auf den Tisch. Seine Augen schimmerten feucht. Er lallte:

„Den bekommst du, wenn du das Kreuz zurückträgst und wieder ins Grab steckst.“

„Gib her!“, erwiderte die Kellnerin. Sie nahm das Geld und steckte es ein. Dann verließ sie mit dem Kreuz die Gaststube.

Die Männer warteten. Es schlug Mitternacht.

Die Männer tranken und lärmten. Schließlich tauchte die Wirtin auf, um nach dem Rechten zu sehen und Sperrstunde zu machen; vielleicht, meinte sie, werde die Kellnerin mit den Gästen nicht fertig. Zögernd berichteten die Gäste, was vorgefallen war. Der reiche Bauer räsonierte:

„Das Luder ist mit meinem Geld auf und davon. Ich zeig sie an, das Luder!“

Als mehr als eine halbe Stunde vergangen war, wurden alle unruhig. Die Wirtin überredete die Männer, auf den Friedhof zu gehen und nachzusehen. Sie gingen, alle mitsammen. Als sie zum Friedhofstor kamen, sahen sie einen dunklen Haufen auf einem Grab ohne Kreuz. Es war die Kellnerin; sie lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Grabkreuz, tot.

Die Nachbarin erzählte weiter:

„Es war das Grab der Huterischen, einer ehrbaren ledigen Jungfrau. Meint ihr, die gute Seele hätte sich diesen Frevel gefallen lassen, die arme Haut? Sie hat herausgegriffen aus dem Grab und das Luderweib an den Füßen gepackt. Und da hat der Teufel die Kellnerin geholt, die sakrilegische. Was den Toten gehört, gehört den Toten.“

Dann mahnte sie:

„Betet ein Vaterunser für die armen Seelen und stehlt nie wieder Totenblumen!“

Ich hörte die Geschichte von der Sternwirtskellnerin noch oft: Seltsamerweise waren sich die Erzähler nur über die Frauensperson einig, die Namen der am Geschehen beteiligten Bauern wechselten dagegen; es wollte offenbar keiner solche Leute in den Fall verwickeln, mit denen er gut stand. Gerade das aber bewirkte bei mir nicht nur Zweifel an der Wahrhaftigkeit, sondern auch eine allmähliche Verschiebung der Sympathien. Zuerst hatte ich in der sakrilegischen Kellnerin nichts als das Teufelsweib gesehen, das alle in ihr sahen. Nach und nach erschien sie mir aber als Opfer. Und als ich größer war, bat ich unsern Gemeindearzt, von dem ich wusste, dass er die Tote untersucht hatte, mir den Sachverhalt zu erläutern. Dr. Habeler sagte:

„Es war ein Herzschlag. Die Frau – sie war aufs Geld aus wie der Teufel auf die unsterbliche Seele – muss schon in großer Erregung auf den Friedhof gekommen sein. Dort versuchte sie, das Kreuz so rasch wie möglich ins Grab zu stecken, sie musste ja zurück zum Sternwirt, Sperrstunde machen. In der Eile verfing sich ihr langer Rock in der Spitze des Holzkreuzes: Ich habe den Rock der Toten untersucht, er war innen und außen erdig und oberhalb des Saumes zerrissen. Dabei muss sie derart erschrocken sein, dass buchstäblich ihr Herz stehenblieb. Wenn gleich ein Arzt dagewesen wäre …“ Dr. Habeler sprach nicht zu Ende, was er dachte.

Ich trumpfte daheim in Anwesenheit der Nachbarin mit dem Wissen des Arztes auf. Die Nachbarin schalt mich wieder:

„Der Bub fragt?! Der getraut sich zu fragen?! Merk dir, bei so etwas fragt man den Pfarrer und nicht den Doktor. Was weiß ein Doktor schon von der ewigen Ruhe!“

Und, an die Mutter gewandt, fügte sie hinzu:

„Der fragt! Da kannst du noch etwas erleben!“

Dr. Habeler fand keinen Glauben.

Über eine Wahl und was ein Bauer darüber erzählt

Ich ging noch nicht zur Schule, als ich die ersten Spottlieder und -gedichte auf die „Walschen“ lernte. Es war der Nachbar Peppe, der sie mir beibrachte, der jüngste Sohn der Nachbarin. Die Lieder und die Spottverse lauteten:

Noi siam’ piccoli balilla,

der capo squadra ist der Müller,

die andern sind nur Scheißer,

und der ärgste ist der Meisser.

Oder:

Giovinezza, walscher Fetzer!

Buona sera, walscher Plärrer!

Wir sangen diese Verse zur Melodie bekannter faschistischer Lieder und bekamen von den Eltern Ohrfeigen dafür. Die Existenz dieser Art primitiver Volksliteratur zeigt indessen, dass der Faschismus sich im Dorf solid etabliert hatte, dass es einheimische Faschisten gab, dass der einheimische Müller die Balilla und der einheimische Meisser die Giovani Italiane anführte.

Als ich viele Jahre danach von einem Mann, der’s hätte wissen müssen, zu erfragen versuchte, wie der Faschismus ins Tal gekommen war, erwiderte er:

„Ich könnt’s nicht sagen. Auf einmal war er da.“

Sicherlich hätte er mehr zu sagen gewusst, wenn er gewollt hätte; doch wollte selbst dieser sorgsam ausgewählte Gewährsmann, der nie das Schwarzhemd angezogen hatte, mit gewissen Dingen nicht