Schongebiet - Gartmann Edith - E-Book

Schongebiet E-Book

Gartmann Edith

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Beschreibung

Im Frühling ist der Fuchs am hungrigsten. Dann sehen die zehnjährige Lisa und ihr kleiner Bruder Paul ihn überall an den steilen Hängen, mit aufgerissenem Maul und langem Schwanz. Gegen die Furcht hilft das Lachen in den fremden Sprachen, die Roman, der den Schuljeep fährt, spricht. In Lisas Familie wird mehr geschwiegen als gesprochen, Lisa muss genau beobachten. Sie liest in Vaters Holzhacken, in Mutters Blick zur Wand. Die Sprache sucht sie in den fantasie-vollen Spielen mit Paul, in Großvaters Jagd-geschichten und in den paar Büchern der Bibliothekskiste, die sie notfalls ein zweites Mal liest. Als sie eines Tages auf versteckte Briefe über ein verstorbenes und verschwiegenes Kind stößt, wachsen ihr die Ängste und Fragen über den Kopf. Lisa legt eine Sammlung von zu heiklen Fragen an und hofft, sie damit zum Verschwinden zu bringen.

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Edith Gartmann

Schongebiet

Roman

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Dank

Meine Lehrerin kommt aus dem Unterland. Ihre Hand ist weich wie Alpbutter.

Wenn wir uns im Kreis aufstellen, versuche ich, den Platz neben Frau Bader zu ergattern und ihre Hand zu halten. Eigentlich bin ich schon zu alt dafür, aber zum Glück lacht niemand.

Ich kenne keine Hand wie die von Frau Bader. Mutters Hand ist groß und fest. An der Innenseite gibt es harte, kratzige Stellen. Unten an den Fingern wachsen kleine Hügel aus Hornhaut. An der Innenseite des Daumens ist meist eine aufgeplatzte und eingetrocknete Blase. Die Fingerkuppen sind rissig. Wenn Mutters Hand über meinen Arm streichelt, verfängt sich die rissige Haut der Fingerkuppen in meinem Wollpulloverärmel und das Streicheln stockt.

Die Hände meiner Großmutter sind wie Mutters Hände.

Frau Bader stimmt jetzt das Morgenlied an und behält meine Hand in ihrer butterzarten Handhöhle. Da drin fühlt es sich warm an, jede Ritze ist weich ausgestrichen und abgerundet. Meine Hand liegt in der Höhle, mein Mund singt, doch meine Augen sehen nur noch die Kiste.

Die Kiste liegt in der Mitte unseres Kreises auf dem Schulzimmerboden. Sie ist aus Holz gemacht und hat ein Schloss. Wir singen die dritte Strophe. Der Deckel der Kiste ist ebenfalls aus Holz, darauf ist ein Schweizerwappen aufgemalt.

Endlich verklingt unser Lied. Frau Baders helle Hand zeigt auf die Kiste. »Lisa«, sagt sie, »du darfst dann in der Pause als Erste aus der neuen Kiste auswählen. Du wartest schon lange darauf, nicht wahr?« Sie schaut mich lächelnd an. »Und nun setzt euch bitte an eure Tische.«

In der glänzenden Holzkiste sind die Bücher. In jedem Buch ist eine Welt. Die nehme ich mit nach Hause. An den Stubentisch, auf den Nachttisch, unter das Kissen. Wenn ich alle Bücher gelesen habe, muss ich warten, bis die Klassenkameraden auch genug Zeit zum Lesen hatten oder die Ausleihzeit der Kiste abläuft. Das dauert.

Zu Hause gibt es den Bündner Bauer, den Bauernkalender und Das Bündner Tagblatt. Manchmal blättere ich etwas darin. Dann lese ich die besten Bücher der Kiste ein zweites Mal.

Man weiß nie, wann die Kiste ankommt und wer sie uns schickt, aber sicher ist, dass sie mit dem Postauto transportiert wird. Also muss sie zum Transport im Bauch von Fredi Nerinos Postauto liegen. Was im Bauch von Fredi Nerinos Postauto liegt, bekommt nichts zu sehen von der Reise und vertraut blind auf die Schnauze des Postautos. Der Bauch folgt der Schnauze. Die Postautoschnauze steht deutlich vor. Sie muss immer ein bisschen voraus sein und um die Kurve wittern, ob der Rest des Postautos auf der engen Talstraße folgen kann. Ob das, was nach der Kurve folgt, passierbar ist. Ob da ein Schneerutsch liegt. Herunter gestürzte Felsbrocken etwa. Oder ob es ein entgegenkommendes Auto gibt. Einen Zürcher gar. Das ist das Schlimmste für Fredi Nerino, das weiß jeder, der schon einmal in seinem Postauto mitgefahren ist.

»Ein Zürcher kann nicht rückwärtsfahren«, sagt Fredi Nerino jedes Mal zu den wenigen Passagieren. Ich fahre nicht oft Postauto, aber jedes Mal kommt ein Zürcher entgegen. Je näher Fredi Nerino dem Zürcher die Postautoschnauze vorsetzt, umso weniger kann der rückwärtsfahren. Auch die Anweisungen, die Fredi Nerino mit wild herumfuchtelnden Armen durch das Postautofenster hinaus losschickt, machen es dem Zürcher nicht einfacher. Wir Passagiere schauen zu, wie der Zürcher viele Versuche nahe am Abgrund des Tales macht. Er hebelt nervös an Handbremse und Steuerrad herum. Der Motor heult mehrmals auf und stirbt wieder ab. Der Zürcher dreht seinen Kopf vor und zurück, zum Abgrund schaut er nicht. Sein Auto ruckelt etwas, dann steht es wieder still, doch der Motor heult. Erst wenn die Frau des Zürchers aussteigt, schneeweiß im Gesicht ist und mit ihren viel zu schönen Schuhen mitten auf der Straße im Schneepflotsch steht, erst dann rammt Fredi Nerino den Rückwärtsgang ein und macht fluchend Platz.

Fluchen muss Fredi Nerino auch, wenn zu viele Kinder im Postauto mitfahren wollen, ganze Schulklassen gar. Vor ein paar Wochen machten wir mit unserer Lehrerin einen Ausflug dahin, wo die Kiste herkommt. An diesem Tag besammelten wir uns nicht im Schulzimmer, sondern direkt bei der Posthaltestelle im Dorf. Frau Baders Armreife klimperten, als sie uns durchzählte, und an ihrer Schulter hing eine Handtasche mit goldener Kette.

Fredi Nerino verwarf die Hände als wir einstiegen: »Und wenn jemand das Postauto schmutzig macht, werfe ich ihn raus, mitten auf der Strecke, mit euren eigenen Augen könnt ihr sehen, wie ich den rauswerfe! Mitten auf der Strecke!«, drohte er. Er ließ das Postauto dreimal hintereinander hornen und fuhr los. Gegen Ende der kurvenreichen Fahrt musste ich den Sack brauchen, den mir Mutter mitgegeben hatte. Fredi Nerino merkte zum Glück nichts.

Der Duft in der Kantonsbibliothek war der gleiche, der auch aus der Kiste steigt. Er ist in den Büchern und ich trage ihn mit jedem Buch nach Hause.

Die Frau in der Bibliothek führte uns von Zimmer zu Zimmer und sagte, dass wir nur schauen und nichts anfassen sollen. Die Wände bestanden aus nichts als vollen Bücherregalen. Ich stapelte in Gedanken alle Bücher aus der Schulkiste auf eines dieser Regale. Der Stapel sah verloren aus. Die Bücher standen in langen Reihen und schauten woanders hin, uns zeigten sie den Rücken. Nur einzelne Bücher waren an kleine Ständer angelehnt, so sah man ihre Vorderseite: ein Pferd und roter Himmel, ein Piratenschiff in der Nacht. Aber dann sah ich das Buch mit den drei Fragezeichen drauf!

Ich erinnere mich nicht mehr, wie das Buch vom kleinen Ständer weg und in meine Hände kam. Aber ich weiß noch, dass ich plötzlich die laute Stimme der Frau hörte. Ich stellte das Buch so schnell zurück, dass der kleine Ständer kippte und ich ihn wieder aufstellen musste. Die Frau zeigte uns noch, wie man ganz einfach und das ganze Jahr über Bücher ausleihen kann, wenn man in der Stadt wohnt und eine Mitgliederkarte hat. Dann war es Zeit für die lange Rückfahrt ins Tal.

Endlich läutet die Pausenglocke. Die Sonne scheint schräg ins Schulzimmer, auf den Boden, auf die Kiste. Die Kiste glänzt. Frau Bader hebt den Deckel ab und legt ihn neben der Kiste so auf den Boden, dass das rotweiße Wappen sichtbar bleibt. Die Kiste ist kaum größer als die Holzkiste mit den Äpfeln, die bei uns zu Hause während dem Winter in der kalten Nebenkammer steht. Von Zeit zu Zeit schickt mich Mutter mit einer Schüssel in die Kammer, um Äpfel fürs Apfelmus zu holen. Nebst den Äpfeln lagern hier im Winter auch die Geranien. Der süßliche Duft der Äpfel mischt sich mit dem strengen Geraniengeruch. Ich halte mir mit einer Hand die Nase zu, mit der anderen Hand greife ich in die Apfelkiste. Meine Finger werden immer steifer, bis die Schüssel endlich gefüllt ist. Gegen Ende des Winters fühlen sich die Äpfel schrumpelig an. Manchmal ist die Kiste leer und der Winter noch lang.

»Nun komm schon nach vorne, Lisa, wähle ein Buch aus, und dann ab in die Pause!«

Frau Bader lüftet das Zimmer. Noch bevor ich richtig bei der offenen Kiste ankomme, sehe ich zuoberst ein Buch mit drei Fragezeichen auf dem Umschlag. Ich nehme das Buch heraus und bücke mich dabei so weit nach unten, dass ich mit der Nase auf die Bücher stoße und sie riechen kann. Frau Bader öffnet das letzte Fenster. Ich sehe, wie sie dabei versteckt lächelt.

Mir gefällt alles an der Schule, aber das Beste ist die Heimfahrt im Schuljeep mit Roman.

»Alle acht Geißlein eingestiegen?«, fragt Roman. Wir meckern, er verneigt sich, wirft die hintere Jeeptüre zu, steigt vorne ein und fährt los. Das Fenster lässt er offen, unsere Haare flattern im Fahrwind und seine auch. Roman trägt Locken, im Ohr einen Ring und am Handgelenk ein Lederband. Er trommelt mit den Händen auf das Steuerrad und macht Witze. Obwohl er aus Zürich kommt, kann er problemlos vor- und rückwärts fahren. Ich sehe es von hier hinten nicht genau, aber ich bin mir sicher, dass er dem Fredi Nerino beim Kreuzen die Zunge rausstreckt.

Der Schuljeep fährt nur im Herbst und im Frühling. Im Winter gehen wir zu Fuß oder mit dem Schlitten ins Dorf hinunter und am Abend wieder hinauf. Den Schulranzen bepacken wir dann möglichst knapp, jedes überflüssige Schulheft wiegt schwer, erst recht die Bücher. Ich leihe im Winter vor allem die dünneren Bücher aus der Bibliothekskiste aus, die dicksten nehme ich jetzt mit oder erst im Frühling.

Gestern habe ich die Hausaufgaben unten im Schulhaus vergessen und musste den ganzen Weg hinunter und wieder hinauf gehen. »Ja, ja, was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen, so ist das«, sagte der alte Bartholome als er mich ankommen sah. Mein Kopf war heiß vom langen Marsch. Ich nahm mir vor, in Zukunft alles im Kopf zu haben. Nur ist im Kopf schon so viel drin. Da sind schon die gelesenen Bücher drin. Und die ungelesenen auch. Und viele Fragezeichen, mehr noch als die drei.

Ich glaube, in Romans Kopf hat es unendlichen Platz, obwohl schon so Vieles da ist. Zum Beispiel sind da die drei fremden Sprachen, die er sprechen kann. Ich kenne nur den Dialekt vom Tal und die Sprache in den Büchern. Manchmal betteln wir: »Bitte, bitte, sprich in einer fremden Sprache!« Dann spricht Roman während der ganzen Fahrt eine seiner fremden Sprachen, Englisch, Französisch oder Italienisch. Er redet dann ohne Pause und laut gegen den Fahrlärm an. Wir sitzen mucksmäuschenstill auf den Jeepbänken.

Am Ende der Fahrt schaltet Roman den Motor und gleichzeitig seine fremde Rede aus. Motor aus, Sprache aus. »Was hast du gesagt, was hast du gesagt?«, bestürmen wir ihn, doch er verrät es uns nie.

Neben unserem Hof steht das Ferienhaus von Herrn Duvalier. Herr Duvalier ist dünn, nervös und kommt aus Zürich. Er hat Liegestühle. Er hat Instrumente, Geige, Cello, Klavier. Und er hat Bücher! Im Wohnzimmer eine ganze Wand voll davon. Und im Gästezimmer eine dazu. Einmal hat er sie mir gezeigt.

Er lachte, ging vor den Regalen hin und her und rückte da und dort ein Buch zurecht. »Das hier ist nur ein Bruchteil meiner Sammlung, die meisten Bücher stehen in meinem Haus in Zürich. Schau dich ruhig etwas um!«, sagte er. »Du kannst auch gerne jederzeit wiederkommen.« Ich wusste nicht recht, wo ich anfangen sollte, und Vater will sowieso nicht, dass ich zu Herrn Duvalier gehe. Darum schaute ich gar nicht so genau und ging auch nicht wieder hin.

Das Ferienhaus hat eine Terrasse. Heute ist Herr Duvalier nicht da, vielleicht ist es zu kühl oder er hat gar keine Ferien. Aber wenn wir am Heuen sind, sehe ich Herrn Duvalier immer auf der Terrasse im Liegestuhl liegen und lesen.

»Dass der ständig lesen mag«, sagt Vater dann.

Nur die Ferienhäuser haben eine Terrasse. Bei unserem Haus gibt es keine.

»Wozu eine Terrasse«, sagt Vater. »Wer draußen arbeitet, geht zum Mittagessen ins Haus, da ist man geschützt vor Wind und Sonne.«

Wenn die Vormittagsarbeit getan ist, gehen wir nach Hause und steigen für die Mittagspause aus den Bergschuhen. Ich ziehe die verschwitzten Wollsocken von den klebrigen Füßen. Die Haut auf dem Rist sieht gestrickt aus. Ich fasse die Haut und schiebe das eingeprägte Strickmuster hin und her. Die Socken lege ich zum Trocknen auf ein Brett an die Sonne. Drinnen mache ich Barfußschritte auf dem kühlen Küchenboden. Nach dem Essen sind die Füße unangenehm kalt und das Strickmuster auf dem Rist ist verblasst. Die Socken liegen sonnengewärmt da, steif wie das Brett. Ich schlüpfe hinein und schnüre die Schuhe. Im Sommer müssen die Bücher warten, bis es regnet.

Jetzt ist nicht Sommer, noch heute Abend werde ich mit den drei Fragezeichen anfangen. Auf dem letzten Stück des Heimwegs drehe ich meine Schultern heftig hin und her, damit das Buch im Schulranzen rumpelt.

Vater hält sich den großen Brotlaib gegen seine Brust und schneidet für jeden von uns eine Scheibe ab. Dann wischt er sich die Krümel vom Hemd und zerkleinert für Paul den Käse. Ich streiche mir Butter aufs Brot. Weil Mutters Augen zur Wand gehen und aussehen, als ob sie weit weg etwas erkennen müssten, bestreiche ich auch Pauls Brot. Vater trinkt in lauten Schlucken seine Tasse aus. Er schiebt sie über den Tisch. Da kommen Mutters Augen zurück, sie steht auf und holt die Kaffeekanne vom Herd. Die zweite Tasse leert Vater in einem Zug und geht dann in die Stube zum Radio, weil jetzt der Wetterbericht kommt. Ich und Paul essen mit Mutter noch fertig. Ich habe ein banges Gefühl. Es geht beim Abräumen nicht weg und auch nicht beim Abwaschen. Habe ich vielleicht die Hühnerstalltüre nicht richtig zugemacht? Mit der Taschenlampe leuchte ich jede Ecke der Türe aus und auch den Riegel vom Schiebeschloss. Alles ist gut geschlossen, der Fuchs hat kein Glück.