Schöpfung - eine Vision von Gerechtigkeit - Andreas Benk - E-Book

Schöpfung - eine Vision von Gerechtigkeit E-Book

Andreas Benk

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Beschreibung

Biblische Schöpfungstexte sind Hoffnungsgedichte, Sehnsuchtsbilder und Widerstandsliteratur. Die herrschenden Verhältnisse konfrontieren sie mit einer lebensfreundlichen Utopie. Andreas Benk entwirft deshalb eine visionäre, befreiungstheologisch orientierte Schöpfungstheologie als Alternative zu globaler Ungerechtigkeit. Damit überwindet er ihre Fixierung auf die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften. Stattdessen wird deutlich: Schöpfungstheologie hat radikale Folgen für Lebensstil, Bildung und Politik.

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Cover

Haupttitel

Inhalt

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Andreas Benk

Schöpfung – eine Vision von Gerechtigkeit

Was niemals war, doch möglich ist

Matthias Grünewald Verlag

Inhalt

Vorwort

Einführung

Visionäre Schöpfungstheologie

Übersicht

1. Schöpfungstheologische Restbestände: angepasst, schwer vermittelbar und ideologieanfällig

Schöpfung vom Kindergarten bis zum Schulabschluss

Schöpfung in neueren theologischen Lehrbüchern

Schöpfungsglaube auf Harmonie getrimmt

Blockaden und Vorbehalte gegenüber dem Schöpfungsglauben

Blick ins Archiv: die Engel

Schöpfungstheologie als Sakralisierung der Macht

Notwendige Dekonstruktionen: Autonomie statt Ideologie

Fazit

2. Bis zur Neuzeit: Weltwissen illustriert Schöpfungsglauben

Interkulturelle Brüche

Verschränkung von Religion und Kosmologie

Biblische »Kosmologie«

Platonische und aristotelische Kosmologien

Ptolemäisches System und seine theologische Integration

Vorneuzeitliche Kosmologien und Schöpfungsglaube

3. Seit der Neuzeit: Weltwissen konterkariert Schöpfungsglauben

Emanzipation der Naturwissenschaften von Theologie und Kirche

Verlust der zentralen Stellung von Erde und Mensch

Verlust von Himmel und Erde

Verlust des Paradieses

Verlust einer anschaulichen Wirklichkeit

Fazit

4. Reaktionen von Theologie und Kirchen: Von der Konfrontation zur Immunisierung

Konfrontative Machtdemonstration und Fundamentalismus

Neuscholastische Restauration und Antimodernismus

Theologische Polemik gegen die moderne Physik

Abkopplung und Selbstbehauptung

Anknüpfung und Vereinnahmung

Gottes Geist in der Physik?

Urknall und anthropisches Prinzip – eine Spur Gottes?

Aktuelles Standardmodell: Immunisierung statt Transformation

5. Theologie unter den Bedingungen der Gegenwart

Theologischer Aufbruch und kirchliche Stagnation

Polyvalenz des Christlichen

Fragwürdigkeit

Vielstimmige Bibel und »Wort Gottes«

Theologie unter Vorbehalt

Humanität als Maß der Religionen

Irrelevanz des Gottesglaubens

Übersetzungen in säkulare Sprache

6. Schöpfungstheologische Kontexte der Bibel

Rekonstruktion ursprünglicher Kontexte

Kontext I: Exodustheologie

Schöpfungsvorstellungen in Befreiungsperspektive

Kontext II: Prophetie

Prophetische Visionen: Gericht und Heil

7. Schöpfungstheologie als visionäre Theologie

Schöpfungstexte als Visionen

Die Erde als inklusives Wohnprojekt

Schöpfung als Befreiung

Jesu Botschaft als visionäre Prophetie

Diesseitigkeit: Gerechtigkeit hier und jetzt

Schöpfung in säkularer Sprache

8. Konsequenzen visionärer Schöpfungstheologie

Theologische Weichenstellungen

Sozialethische Kontexte

Geschärfte Aufmerksamkeit und Aktion

Aufdeckung unserer Verstrickung

Politische Relevanz

Gerechtigkeitsbildung in globaler Perspektive

Widerstand

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Für Benjamin und seine Eltern, seine drei Tanten und seinen Onkel: Louisa und Philipp, Anni, Lea, Judith und David

Vorwort

Schöpfung? Ein Missverständnis. Bei Schöpfung geht es nicht um ­Weltentstehung und längst nicht nur um Umweltschutz. Wer Schöpfung sagt, fordert globale Gerechtigkeit. Wer auf Schöpfung setzt, entscheidet sich zum Widerstand gegen eine verkehrte Welt und besteht darauf, dass es zu ihr eine lebens- und menschenfreundliche Alternative gibt. Das ist der Inhalt des vorliegenden Buches.

Christlichem Glauben gelingt es in unserer Gesellschaft immer weniger, sich verständlich zu machen. Was Christinnen und Christen glauben – oder präziser: was man meint, dass sie glauben – halten viele für so naiv, rückständig und unaufgeklärt, dass es Menschen unserer Zeit nicht mehr zumutbar erscheint. Ein besonderes Reizwort ist dabei der Begriff Schöpfung, der die Vorbehalte gegenüber religiösen Vorstellungen gebündelt auf sich zieht. Vielen, denen religiöser Glaube unzugänglich bleibt, belegt gerade die Rede von Welt und Mensch als Schöpfung Gottes die Unzumutbarkeit solchen Glaubens. Alle Beteuerungen von theologischer Seite, dass sich der Schöpfungsgedanke durchaus mit einem modernen Weltbild vereinbaren lasse, konnten nichts daran ändern.

Die zahllosen Versuche der Theologie, in den vergangenen Jahrzehnten die gegenseitige Ergänzung oder Komplementarität von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und biblischem Schöpfungsglauben zu ­verdeutlichen, blieben erfolglos. Nach innen konnten sie zwar die Spannungen zwischen modernem Weltbild und herkömmlichem Glauben mildern, nach außen blieben sie aber weitgehend ohne Wirkung. Die Publikationen, Arbeitskreise und Akademietagungen zu »Schöpfung und Evolution«, »Religion und Naturwissenschaft« oder auch »Urknall oder Schöpfung?« zeitigten keinen Erfolg. Stattdessen macht sich Überdruss breit. Die ständige Wiederholung, dass Schöpfungsglaube und naturwissenschaftliches Wissen sich bereichern können und je unterschiedliche Dimensionen der Wirklichkeit aufdecken, ermüdet die einen und vermag die anderen nicht zu überzeugen. Der sogenannte Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften steckt genauso in einer Sackgasse wie der zwischen traditionell Gläubigen und Areligiösen. Das Scheitern, den Begriff Schöpfung für unsere Zeit und Gesellschaft in nachvollziehbarer Weise zu übersetzen, ist ein Indiz dafür.

Vorliegende Publikation benennt zunächst die verständlichen Gründe, warum die traditionelle Vorstellung, dass Welt und Mensch Gottes Schöpfung seien, heute – anders als zu früheren Zeiten – keine schiere Selbstverständlichkeit bedeutet, sondern als Zumutung empfunden wird. Im Anschluss daran wird gezeigt, wie der Schöpfungsgedanke aus neuer Perspektive – die zugleich eine ursprünglich biblische ist – Sinn zurückgewinnt und in heutige Sprache übersetzt werden kann. So verstandener Schöpfungsglaube bedeutet weiterhin eine Zumutung, aber diese Zumutung ist von neuer Qualität. »Schöpfung« drückt die Hoffnung aus, dass alles ganz anders sein könnte: gerechter, lebensfreundlicher, menschlicher. Der Schöpfungsgedanke ruft damit auf zu organisiertem Widerstand gegen ein globales Apartheidsystem, das mit teils brutalen, teils perfiden Methoden die Welt in Profiteure und Opfer separiert. Es hängt von uns ab, ob sich etwas ändert. Ob aber alles je gut, uneingeschränkt gut werden könnte, liegt nicht mehr in unseren Händen und weiß kein Mensch. –

Diese Publikation wurde von vielen Seiten unterstützt: Der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd danke ich für die Gewährung eines Forschungssemesters im Sommersemester 2015. Diese Entlastung für mich bedeutete in unserem kleinen »Ökumenischen Institut für Theologie und Religionspädagogik« eine zusätzliche Belastung meiner Kolleginnen und Kollegen. Dafür bedanke ich mich genauso wie für die hilfreichen Hinweise unserer gemeinsamen »Theologischen Sozietät«, der ich Grundgedanken meiner Arbeit vorstellte. Unser starkes Team, das gegenwärtig in alle Winde zerstreut ist, sei ausdrücklich genannt: Dr. Anke Edelbrock, PD Dr. Iris Mandl-Schmidt, Dr. Gabriele Theuer, Prof. Dr. Martin Weyer-Menkhoff und PD Dr. Axel Wiemer. Besonderer Dank gilt dem Leiter unserer Bibliothek, Jörg Geske, der mir für einige Monate Sonderkonditionen bei der Ausleihe einräumte, sowie seinen engagierten Mitarbeiterinnen, denen meine Fernleihwünsche Kontakte zu ungezählten Bibliotheken bescherten.

Akademische Arbeit an einer Hochschule kennt keine festen Arbeitszeiten. Dieses Privileg geht auch zu Lasten meiner Familie – ich danke ihr einmal mehr für die diesbezügliche Nachsicht, meiner Frau Dr. Monika Benk überdies für kritische Rückfragen und zahlreiche Anregungen, die Spuren in dieser Arbeit hinterlassen haben. Bei Frau Veronika Fischer bedanke ich mich wieder für die sorgfältige Lektüre und Korrektur des Manuskripts. Dem Lektor des Verlags, Herrn Dipl.-Theol. Volker Sühs, danke ich für die sehr angenehme Zusammenarbeit und seine kompetente Unterstützung. Ein ganz spezieller Dank geht an unser erstes Enkelkind Benjamin, neben dessen Gitterbettchen einige Wochen mein Schreibtisch stand. Benjamins (meist zuverlässig schlafende) Präsenz hielt mir vor Augen, dass es visionärer Schöpfungstheologie um die Welt geht, in die er hineinwachsen wird.

Sprache bildet gewollt oder ungewollt Wirklichkeit ab – auch ungerechte Verhältnisse. Sprache kann sich damit begnügen, Wirklichkeit nur zu reproduzieren und in Worte geronnene Ordnungen und Unordnungen insgeheim zu bestätigen. Sprache kann aber auch eine umgestaltete Wirklichkeit vorwegnehmen und die Vision einer lebens- und menschenfreundlichen Welt widerspiegeln. Sprache ist schöpferisch: Sie kann in den Prozess eingebracht werden, der in diesem Buch unter Schöpfung verstanden wird. In diesem Sinn bemühe ich mich um eine faire Sprache. Oft stoße ich dabei an Grenzen. Wo dies der Fall ist, kann es wenigstens zum Nachdenken anregen.

Bei Bibelzitaten folge ich in der Regel der Einheitsübersetzung. Der Gottesname הוהי wird dabei aber nicht als »Herr« wiedergegeben, sondern als transkribiertes Tetragramm JHWH belassen.

Herlikofen, im Januar 2016 Andreas Benk

Einführung

»Schöpfung« ist nicht ein beliebiges theologisches Thema neben anderen Themen, sondern theologisches Schlüsselthema. Das Alte Testament beginnt mit einem feierlichen Schöpfungshymnus: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; […] Gott schuf also den Menschen als sein Abbild […]. Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut« (Gen 1,1.27a.31a). Es folgt die Erzählung vom Garten Eden, in den Gott den Menschen setzt, damit er ihn bebaue und hüte (vgl. Gen 2,15). Bedeutende Schöpfungstexte finden sich unter den Psalmen, im Buch Jesaja, im Buch der Sprichwörter sowie in den Büchern Ijob und Kohelet. Schöpfung und Neuschöpfung spielen auch im Neuen Testament eine zentrale Rolle. Die Hoffnung auf das schöpferische Handeln Gottes und das Vertrauen auf Gottes Fürsorge für seine Geschöpfe bilden den Horizont für Jesu Botschaft vom »Reich Gottes« und für seine ethischen Weisungen. Nach Paulus ist Gott aufgrund seiner Schöpfungswerke für jeden Menschen erkennbar (vgl. Röm 1,19f.); die gegenwärtige Schöpfung liege in Wehen und schreie unter Geburtsschmerzen (vgl. Röm 8,22), doch mit Jesus sei eine neue Schöpfung bereits angebrochen (vgl. 2 Kor 5,17). Der Kolosserhymnus entfaltet den Gedanken von Christus als Erstgeborenem der ganzen Schöpfung: in ihm, durch ihn und auf ihn hin wurde alles erschaffen (vgl. Kol 1,15–17, vgl. Joh 1,1–3). Das letzte Buch des Neuen Testaments entwirft schließlich die Vision eines »neuen Himmels und einer neuen Erde« (Offb 21,1); in dieser neuen Schöpfung »wohnt« die Gerechtigkeit (vgl. 2 Petr 3,13).

Angesichts der biblischen Bedeutung der Schöpfungsthematik ist es nicht verwunderlich, dass der Schöpfungsglaube auch einen prominenten Platz in den christlichen Bekenntnissen einnimmt. Im Apostolischen Glaubensbekenntnis, das fast allen christlichen Konfessionen gemeinsam ist, heißt es gleich zu Beginn: »Ich glaube an Gott, den Vater, den allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde«; ähnlich im nicäno-konstantinopolitanischen Bekenntnis, das auf das 4. Jahrhundert zurückgeht: »Wir glauben an den einen Gott, den allmächtigen Vater, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt.« Dies belegt: christlicher Glaube kann der Frage, wie die biblischen Schöpfungstexte verstanden wurden und wie Schöpfungsglaube heute gedeutet werden kann, nicht ausweichen. Es besteht für die christliche Theologie diesbezüglich Auskunftspflicht.

Darüber hinaus ist Schöpfung nicht nur ein theologisches, sondern auch ein religionspädagogisches Schlüsselthema. An der Frage, ob Mensch und Welt Schöpfung Gottes sind, entscheidet sich für viele Menschen, wie sie insgesamt zum Gottesglauben stehen. Für Kinder bis zum frühen Grundschulalter ist der Glaube an einen Schöpfergott meist noch unproblematisch, da sie entwicklungspsychologisch zum Artifizialismus tendieren: Alles, was ist, ist demnach künstlich hergestellt. Auf diese Weise können sich Kinder auch die Herkunft der Welt am einfachsten erklären. Die wortwörtlich verstandenen biblischen Schöpfungserzählungen passen genau in dieses Bild: Alles, was ist, Himmel und Erde mitsamt den Menschen, Tieren und Pflanzen hat Gott gemacht. Spätestens in der Jugendzeit erweist sich dieser Glaube unter dem Eindruck erweiterter naturwissenschaftlicher Kenntnisse nicht mehr als trag- und entwicklungsfähig. »Also wenn jemand so sagt: ›Gott hat die Welt erschaffen‹«, meint zum Beispiel ein achtzehnjähriger römisch-katholisch getaufter Gymnasiast, »dann sag’ ich eben: ›Tut mir leid, das kann nicht sein, es ist inzwischen bewiesen, dass Gott die Welt nicht erschaffen hat.‹« Die Behauptung, biblische Schöpfungsaussagen und Evolution seien vereinbar, qualifiziert er rundheraus als »Schmarrn, weil man […] das nicht unter einen Hut bringen [kann]«1. Nicht nur der kindliche Schöpfungsglaube, sondern christlicher Glaube überhaupt verliert in der Folge seine Glaubwürdigkeit. Über diese Sicht kommen viele Menschen ihr Leben lang nicht mehr hinaus. Während früher vor allem die Theodizeefrage Glaubenszweifel auslöste, scheint heute eher die Infragestellung Gottes als Schöpfer von Welt und Mensch ein maßgeblicher Grund für den Abschied vom Gottesglauben zu sein.2 Bleibt christliche Religionspädagogik hier eine glaubwürdige und nachvollziehbare Antwort schuldig, ist christlicher Glaube unter den Bedingungen der Gegenwart nicht mehr vermittelbar.

Visionäre Schöpfungstheologie

Heute werden die Schöpfungstexte der Bibel unvermeidlich im Kontext naturwissenschaftlicher Erkenntnisse über die Entstehung der Welt und des Menschen gelesen. Im Religionsunterricht suchen engagierte Lehrkräfte bei der Schöpfungsthematik die Kooperation mit den naturwissenschaftlichen Fächern. Im Physikunterricht können dann begleitend die gängigen Modelle zur Entstehung des Kosmos behandelt werden, im Biologieunterricht die Evolution des Lebens. Doch die naturwissenschaftliche Einbettung des Themas führt die Schülerinnen und Schüler auf die falsche Fährte und verfehlt den ursprünglichen Sinn biblischer Schöpfungstexte. Um diesen Sinn freizulegen, müssen diese Texte wieder in ihrem entstehungsgeschichtlichen und biblischen Zusammenhang verstanden werden.

Wichtige Schöpfungstexte sind im babylonischen Exil entstanden. Nach der Eroberung Jerusalems und der Zerstörung des Tempels im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde die politische und wirtschaftliche Elite Judas nach Babylon deportiert. Die Exilierten lebten dort nicht nur in schlechteren wirtschaftlichen Verhältnissen als zuvor in Jerusalem, sondern sie litten vor allem unter ihrer kulturellen Entwurzelung und dem Verlust ihrer sozialen Stellung. Angesichts derart bedrückender Umstände diente Schöpfungstheologie nun als eine Theologie der Hoffnung. Die großen biblischen Erzählungen von Schöpfung und Neuschöpfung der Welt illustrierten den Deportierten die Vision einer gottgewollten Welt, die ganz anders gestaltet ist, als sie von ihnen erlebt wurde.

Biblische Schöpfungstexte sind Ausdruck der Sehnsucht nach einem guten Leben. Sie sind Hoffnungsgedichte, Sehnsuchtsbilder und Protestgesänge angesichts einer unerträglichen Gegenwart. Den herrschenden Verhältnissen setzen sie kontrafaktisch visionäre Utopien entgegen – darin liegt ihre kritische Pointe. Schöpfungstexte sind nicht daran interessiert, wie die Welt und der Mensch entstanden sind. In Schöpfungstexten spiegeln sich die Visionen alttestamentlicher Prophetie, dass wider allen Anschein und »trotz allem« eine andere, eine gute und gerechte Welt möglich ist. Diese Welt ist zugleich die eigentlich gottgewollte Welt. In scharfem Kontrast zur Wirklichkeit malen die Hymnen von der Schöpfung und die Erzählung vom Garten Eden aus, wie die Verhältnisse auf Erden sein sollten, sein könnten und Gott sei Dank sein werden. Sie sind keine weltflüchtigen Illusionen, sondern orientierende, praxis- und politikrelevante Widerstandsliteratur und Hoffnungstexte.

Wie zu biblischen Zeiten zielt Schöpfungstheologie auch heute auf die Gegenwart: Visionäre Schöpfungstheologie deutet die Schöpfungstexte als utopische, das heißt als noch nie und nirgendwo realisierte Gegenentwürfe zu den herrschenden Verhältnissen und liest sie in diesem Sinn als gegenwartskritische politische Manifeste. Diese Texte stehen in der Tradition prophetischer Empörung über die lebensfeindlichen und menschenverachtenden Machenschaften dieser Welt und entwerfen stattdessen das Bild einer gottgewollten, lebensfreundlichen Welt. Visionäre Schöpfungstheologie proklamiert: eine Alternative ist möglich – hier und jetzt. Die angeblich alternativlosen Reaktionen auf die globalen Krisen und die damit verbundenen extremen sozialen Ungerechtigkeiten konfrontiert sie mit einem Denken, das sich konsequent am Weltgemeinwohl und nicht nur an privaten und nationalen Interessen orientiert. Schöpfungstheologie hält damit an der biblischen Vision fest, dass die Erde tatsächlich als gemeinschaftliches Haus für alles Leben gestaltet werden kann. Das ist eine ungleich größere Herausforderung und Zumutung als der akademische Streit, der schöpfungstheologisch völlig irrelevant ist, wie die Welt entstanden ist. Das Thema, das visionäre Schöpfungstheologie aufschlägt, ist das Projekt einer wahrhaft befreiten Weltgemeinschaft: Dieses Projekt betrifft uns alle, bringt uns in Verlegenheit und setzt uns unter Zugzwang, weil es uns eine radikale Umkehr zumutet.

Schöpfungstheologie erweist sich somit als eine Variante der Befreiungstheologie. Die mit »Befreiung« und »Schöpfung« verbundenen biblischen Vorstellungen weisen nach traditioneller Lesart allerdings in verschiedene Richtungen.3 Schöpfung scheint zurückzuweisen in eine ursprünglich heile Welt, der nachgetrauert wird, die aber unwiederbringlich verloren ist. Der Schöpfungsgedanke wirkt dann als lähmende Erinnerung, die an geschichtlich Überholtem festhält, ohne Kräfte für eine tatsächliche Erneuerung zu mobilisieren. Das Urbild biblischer Befreiungserfahrung ist dagegen der Exodus, der Aufbruch Israels aus dem »Sklavenhaus« in die Freiheit. Befreiung im Sinne biblischer Exodustradition weist nach vorne, protestiert gegen bestehende Knechtschaft, weckt Hoffnung auf Veränderung und ruft zum Aufbruch. Viele, die von Schöpfung sprechen, wollen dagegen nur retten, was noch zu retten ist. Dies ist oft gerade zum Nachteil derer, die unter den herrschenden Verhältnissen besonders darben und leiden. Wer stattdessen einen Exodus fordert, setzt darauf, dass der Auszug aus den gegebenen ausbeuterischen Strukturen und eine tatsächliche Befreiung möglich sind. Unter dem Zeichen des Exodus steht die prophetische Kritik an einer desolaten Gegenwart, die für Wenige unbefriedigenden Luxus und für Viele das Verderben bereithält.

Wie unversöhnt biblische Schöpfungs- und Befreiungstheologie nebeneinander zu stehen scheinen, belegen die diesbezüglich unabgeglichenen Äußerungen von Papst Franziskus. Mit scharfen prophetischen Worten geißelt er schonungslos die wirtschaftlichen und politischen Missstände unserer Zeit, ergreift Partei für die Opfer eines Systems, dessen Profiteure über Leichen gehen. Das ist Exodustheologie, Befreiungstheologie, die zum Widerstand und zur Umkehr bläst. Doch Franziskus, der sich in diesem Zusammenhang so unbeirrt für Menschenrechte einsetzt, irritiert zugleich durch verletzende Bemerkungen zur Rolle der Frauen und zu Homosexuellen. Der Papst argumentiert dabei teils ausdrücklich, teils implizit schöpfungstheologisch: das eine sei so in der Schöpfungsordnung festgelegt, das andere hingegen schlicht nicht vorgesehen und nur noch ein Fall für christliche Barmherzigkeit. Franziskus veranschaulicht damit in seinen auseinanderdriftenden Äußerungen die unterschiedlichen Zielrichtungen, die sich mit »Schöpfung« und »Befreiung« bzw. »Exodus« zu verbinden scheinen – und es ist ein Segen, dass die prophetische Exodustheologie von Franziskus bislang seine Schöpfungstheologie in den Schatten stellt und dass selbst seine Schöpfungsenzyklika »Laudato si« befreiungstheologisch inspiriert ist.

Denn es stellt sich ja die Frage, ob ein unvereinbares Gegeneinander von Exodus- und Schöpfungstheologie tatsächlich auch biblisch begründet ist. Die These des vorliegenden Buches ist, dass dies keineswegs der Fall ist.4 Schöpfungstheologie für die Rechtfertigung geschichtlich gewordener und damit immer auch fragwürdiger Verhältnisse in Anspruch zu nehmen, widerspricht der Intention biblischer Schöpfungstexte. Ganz im Gegensatz dazu kann und muss biblische Schöpfungstheologie aus der Perspektive des Exodus verstanden werden. Angesichts entmutigender bzw. empörender Umstände eröffnen biblische Schöpfungstexte wie die Exodustradition und die alttestamentliche Prophetie eine Hoffnungsperspektive. Schöpfungs- und Befreiungstheologie arbeiten einander nicht entgegen, sondern zielen in ein und dieselbe Richtung: Es geht ihnen um die Überwindung untragbarer Verhältnisse und um die Gestaltung einer wahrhaft gerechten Welt. In religiöser Terminologie ausgedrückt heißt dies: Es geht ihnen um eine Welt, wie sie von Gott gewollt ist.

Doch wer heute von Schöpfung spricht, kommt meist gar nicht dazu, vorstehende Gedanken zu begründen und zu entfalten. Denn die Vorstellungen, die bei dem Begriff Schöpfung unweigerlich aufgerufen werden, stoßen bei vielen Menschen umgehend auf bares Unverständnis und werden als intellektuelle Zumutung empfunden. Das hat gute Gründe, die benannt werden können und anerkannt werden müssen. Dies geschieht in den ersten Kapiteln der vorliegenden Arbeit. Im Anschluss daran sind grundsätzliche Überlegungen notwendig, wie unter den Bedingungen der Gegenwart überhaupt noch christliche Theologie betrieben werden kann. Dann erst kann das Konzept einer befreiungstheologisch orientierten Schöpfungstheologie biblisch begründet, theologisch entfaltet und in seinen Konsequenzen skizziert werden.

Übersicht

Daraus ergibt sich für vorliegendes Buch folgender Gedankengang:

Das erste Kapitel dient einer knappen Bestandsaufnahme, was heute unter Schöpfung gelehrt und verstanden wird. Eine auf Harmonie getrimmte Schöpfungstheologie ist demnach zwar bemüht, Konflikte mit dem intellektuellen Mainstream zu vermeiden, stößt aber dennoch auf Skepsis. Die heute gelehrte Schöpfungstheologie stellt freilich nur noch einen Restbestand traditioneller Schöpfungslehren dar. Insbesondere die in älteren Schöpfungstraktaten breit ausgeführte Lehre von den Engeln fristet heute ein Schattendasein. Am Beispiel dieser Lehre, der sogenannten Angelologie, kann aber gezeigt werden, wie Schöpfungstheologie zur Legitimierung und Sakralisierung gegebener Machtverhältnisse missbraucht wurde – mit Folgen, die die hierarchische Ämterstruktur der römisch-katholischen Kirche bis heute prägen. Dies mahnt zur Vorsicht auch für vorliegende Arbeit: Schöpfungstheologien sind ideologieanfällig.

Das zweite Kapitel führt aus, dass die maßgeblichen vorneuzeitlichen Weltbilder bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsame Züge aufweisen, die einzelne Aspekte des herkömmlichen Schöpfungsglaubens anschaulich illustrieren konnten. Wer sich seiner Stellung und besonderen Bedeutung in Gottes großer Schöpfung vergewissern wollte, musste nur zum Himmel blicken. Was dort gesehen wurde, bestätigte, was geschrieben stand und was Astronomie und Philosophie über den Kosmos lehrten. Kosmologie und Schöpfungsglaube passten zusammen und ergänzten sich: Im kosmischen Standort des Menschen spiegelte sich seine Wertschätzung durch Gott. Der Mensch ist gewollt, wichtig und bedeutsam, er steht unter der Obhut Gottes im Zentrum einer von Gott wohlgeordneten Welt.

Das dritte Kapitel zeigt, dass sich diese Entsprechungen von Schöpfungsglauben und Kosmologie seit der Neuzeit durch naturwissenschaftliche Entdeckungen Zug um Zug verflüchtigten. Verloren ging nicht nur die zentrale Stellung des Menschen durch die Entgrenzung des Weltalls. Verloren gingen auch die kosmologische Unterscheidung von irdischer und lokalisierbarer himmlischer Sphäre sowie die Vorstellung eines ursprünglich guten und gewaltfreien Anfangs des Lebens auf der Erde. Anders als einst illustriert heutiges Weltwissen bestimmte Aspekte des Schöpfungsglaubens nicht mehr, sondern konterkariert diese. Insbesondere die Bedeutung des Menschen als Sinnziel von Gottes Schöpfung findet in der Geschichte und in der räumlichen Gestalt des Universums keine anschauliche Entsprechung mehr. Genau dies ist der Grund, warum heute Schöpfungsglaube immer mehr Menschen nicht mehr plausibel erscheint.

Das vierte Kapitel befasst sich mit den kirchlichen und theologischen Reaktionen auf das neue naturwissenschaftliche Wissen. Diese reichten von konfrontativen Machtdemonstrationen verbunden mit einem fundamentalistischen Bibelverständnis bis zur heute üblichen Immunisierung gegen jedwede neue naturwissenschaftliche Erkenntnis durch ihre schöpfungstheologische Vereinnahmung. Allen Reaktionen ist gemeinsam, dass die Verteidigung des Schöpfungsglaubens vornehmlich in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften gesucht wurde. Die Schöpfungstheologien arbeiten sich seit Jahrhunderten an diesen Wissenschaften ab, versuchen deren Kritik zu entkräften und entwickeln immer neue Modelle der Verträglichkeit von Theologie und Naturwissenschaft. Trotz wechselnder Verteidigungsstrategien ist es christlicher Theologie aber bis heute nicht gelungen, eine Vorstellung von unserer Welt als Schöpfung Gottes zu entwerfen, die sich angesichts der zunehmenden Bestreitung des Schöpfungsgedankens behaupten konnte. Durch ihre Fixierung auf die Naturwissenschaften wurden die Schöpfungstheologien überdies verleitet, Akzente zu setzen, die die ursprüngliche Intention biblischer Schöpfungstheologie verdunkelten.

Schöpfungstheologie ist eingebunden in das Ganze der Theologie. Das fünfte Kapitel befasst sich darum mit grundsätzlichen Erwägungen, wie unter den Verhältnissen der Gegenwart christliche (Schöpfungs-)Theologie überhaupt noch betrieben werden kann und welche Voraussetzungen Theologie beachten muss, wenn sie sich in der gegenwärtigen Weltsituation bewähren und Glaubwürdigkeit verdienen will. Dazu zählt insbesondere die Anerkennung von Humanität als die einzige im strengen Sinn kategorische, das heißt bedingungslose Voraussetzung jeder christlichen Theologie. Alle möglichen anderen Ansprüche werden dadurch begrenzt: was Menschlichkeit schmälert, hat in Theologie und Religionspädagogik nichts verloren. Als eine Konsequenz wird sich daraus ergeben, dass Gottesglaube weder notwendige noch hinreichende Bedingung für das ist, worum es christlicher Theologie im Kern geht. Darum ist christliche Theologie heute aufgefordert zu erläutern, was sie meint, wenn sie von der Welt als »Gottes Schöpfung« spricht, und inwiefern dadurch das Wesentliche christlicher Hoffnung zum Ausdruck gebracht wird. Diese Erläuterung muss in einer Sprache geschehen, die verständlich ist – verständlich nicht allein den theologisch Geschulten und den Frommen, sondern auch denen, die sich selbst als religionslos oder areligiös verstehen, und denen religiöse Sprache unzugänglich ist.

Das sechste Kapitel entfaltet in großen Zügen die biblischen Kontexte, in denen die Schöpfungstexte zu lesen sind. Dazu wird gezeigt, dass der biblische Gott zuerst und vor allem ein Befreiergott ist und dass die Exodustradition im Alten und Neuen Testament eine ganz hervorgehobene Stellung einnimmt. Es wird weiter ausgeführt, dass Israels Propheten und Prophetinnen maßgeblich daran mitwirkten, den Grundbestand der Tora JHWHs zu formulieren. Sie deckten Missstände ihrer Zeit auf, unterzogen sie scharfer Kritik, drohten den Verantwortlichen mit den heillosen Konsequenzen ihres Tuns, die sich daraus ergeben würden. Die alttestamentliche Prophetie beließ es aber nicht bei Kritik und Straf­androhung. Der deprimierenden Gegenwart stellte sie Visionen entgegen, wie alles ganz anders werden könnte: fair, menschlich, lebensfreundlich. Mehr noch, diese Prophetie setzte darauf, dass diese Alternative zum Bestehenden nicht nur möglich ist, sondern tatsächlich wirklich werden würde.

Damit ist nun der biblische Horizont aufgespannt, vor dem im siebten Kapitel Schöpfungstexte als visionäre Theologie verstanden werden können. Wie die prophetischen Visionen illustrieren auch die großen biblischen Erzählungen von Schöpfung und Neuschöpfung der Welt die Hoffnung, dass die Welt ganz anders sein könnte, als sie gegenwärtig ist. Schöpfungstexte sprechen zwar von den Anfängen des Kosmos, aber sie wollen die Gegenwart gestalten im Horizont eines gottgewollten utopischen Entwurfs: einer lebensfreundlichen und gerechten Welt. Biblische Schöpfungstheologie hofft auf Rettung und Befreiung. Damit ist ihre Botschaft eben kein Gegenprogramm zur Exodustradition und zur alttestamentlichen Prophetie, sondern teilt in einem ganz entscheidenden Punkt deren Anliegen. Des Weiteren wird in diesem Kapitel ausgeführt, dass auch Jesu Botschaft vom nahenden und schon angebrochenen Gottesreich, seine Gleichnisse und sein heilendes Wirken genauso wie das von ihm als Konsequenz geforderte Ethos auf der Linie biblischer Prophetie und Schöpfungstheologie liegen. Jesu Reich-Gottes-Prophetie kann verstanden werden als aktualisierende Dramatisierung visionärer Schöpfungstheologie. So wie sich Exodustheologie, biblische Prophetie und Jesu Botschaft nicht auf ein weltfernes Jenseits, sondern auf unsere gegenwärtige Welt beziehen, weisen auch die biblischen Schöpfungstexte weder zurück in eine längst verlorene Vergangenheit noch fort in eine illusionäre, unerreichbare Zukunft. Schöpfungstexte sind vielmehr Visionen, die unsere Welt im Blick haben und diese umgestalten wollen. Hier und jetzt soll Gottes gerechte Welt Wirklichkeit werden.

Das achte Kapitel beschreibt Konsequenzen, die sich aus Perspektive visionärer Schöpfungstheologie ergeben. Wer für den Wahrheitsanspruch biblischer Schöpfungstexte eintritt, braucht sich nicht an astrophysikalischen Weltmodellen oder an den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie abzuarbeiten. Es geht bei Schöpfung nicht um kosmische oder biologische Evolution, sondern um Gerechtigkeit und Befreiung, das heißt, es geht nicht um naturwissenschaftliche Fragen, sondern um sozialethische Herausforderungen. Kontext heutiger Schöpfungstheologie ist damit die politische und wirtschaftliche Situation der Gegenwart. Maßgebliche Bezugswissenschaft unter den theologischen Disziplinen ist die christliche Sozialethik, Bezugswissenschaften jenseits der Theologie sind nicht in erster Linie die Naturwissenschaften, sondern die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Des Weiteren wird in diesem Kapitel ausgeführt, dass visionäre Schöpfungstheologie eine Form politischer Theologie darstellt, weil sie geradezu zwangsläufig in politisches Engagement zugunsten der Menschenrechte einmünden muss und sich nicht in einer Nische privater Frömmigkeit und religiöser Behaglichkeit einrichten darf. Schließlich wird deutlich gemacht, dass dort, wo die schöpfungstheologische Vision einer befreiten Welt nicht nur rein illusionärer Fluchtpunkt bleiben soll, konkreter und aktiver Widerstand gegen bestehende menschenfeindliche Verhältnisse geboten ist.

Das Konzept visionärer Schöpfungstheologie hat konkrete Auswirkungen, wie Schöpfung in der religiösen Bildung zur Sprache kommt. Durchgängig wird beim Gedankengang dieses Buches Bezug genommen auf Erfahrungen und Beobachtungen im Religionsunterricht, im Theologiestudium und in der Erwachsenenbildung. Wenn es gelingt, in diesen Bildungsprozessen die Schöpfungsthematik aus dem gegenwärtig noch dominierenden naturwissenschaftlichen Kontext herauszulösen und wieder an ihren gesamtbiblischen Zusammenhang heranzuführen, wird der Schöpfungsgedanke in der religiösen Bildungsarbeit wieder die ihm zukommende Brisanz gewinnen. Dann lässt sich in einfachen Worten, die auch nichtreligiösen Menschen verständlich sind, ausdrücken, worum es beim Thema Schöpfung geht: um die Gestaltung einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft, die unsere Erde als gemeinschaftliches Haus allen Lebens begreift.

Globalem Lernen und der Bildung zur Gerechtigkeit wird in der Konsequenz visionärer Schöpfungstheologie eine ungleich gewichtigere Rolle im Rahmen religiöser Bildung zukommen. Diese Form religiöser Bildung steht quer zu allen gesellschaftlichen Entwicklungen, die auf rücksichtslose Profitmaximierung, fortgesetztes Wirtschaftswachstum sowie ungebrochene Konsumorientierung setzen und dabei von unseren Bildungseinrichtungen die Förderung entsprechender Kompetenzen erwarten. Religiöse Bildung sieht sich stattdessen ganz besonders durch den ursächlichen Zusammenhang zwischen den Verhältnissen bei uns und extremer Verelendung in anderen Regionen der Welt herausgefordert. Vordringlich zu erwerbende religiöse Kompetenzen sind in dieser Perspektive: fremdes Leid wahrzunehmen, entmenschlichende Strukturen und Ausbeutungsmechanismen zu identifizieren, systematische Verschleierung von Interessen zu entlarven sowie verdeckten und offenen Bemächtigungsstrategien zu widerstehen. Darüber hinaus zählen dazu auch die Kompetenzen, Formen effektiven Widerstands gegen lebenszerstörende Strukturen zu erkennen, zu beurteilen, neu zu entwickeln und zu praktizieren, mögliche Bündnisse einzugehen und darin ungeachtet sonstiger weltanschaulicher Differenzen zu kooperieren. Junge Menschen dazu in nicht manipulativer Weise zu befähigen, ist nicht nur schöpfungstheologisch begründet, sondern entspricht auch der urpädagogischen Aufgabe, Kinder und Jugendliche bei ihrer Subjektwerdung zu unterstützen. Derartige leidsensible Bildung zum Widerstand ist kein freudloses Entzugsprogramm, sondern ein erlebnispädagogisches Alternativkonzept, das der Humanisierung von Bildung und Gesellschaft dient. Dieses Bildungsprogramm kann alle Beteiligten mit der Erfahrung beschenken, sich wenigstens partiell dem Anpassungsdruck einer verkehrten Welt entziehen zu können und, »soweit es nur irgend möglich ist, so [zu] leben, wie man in einer befreiten Welt glaubt leben zu sollen«5.

1. Schöpfungstheologische Restbestände: angepasst, schwer vermittelbar und ideologieanfällig

Schöpfung vom Kindergarten bis zum Schulabschluss

Der Einfluss der Kirchen auf die Bildung von Kindern und Jugendlichen ging in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland rapide zurück, so dass mit Blick auf die ausfallende Weitergabe des christlichen Glaubens von einem Traditionsabbruch gesprochen wird. Im Bereich der frühen Kindheit, das heißt für Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren, ist den Kirchen bislang allerdings ein Feld geblieben, in dem sie nach wie vor stark präsent sind. Denn während das Schulsystem in Deutschland zum weitaus größten Teil von staatlicher Seite getragen wird, gilt dies (noch) nicht für die Kindertageseinrichtungen. Hier besteht eine bunte und unübersichtliche Trägervielfalt, bei der aber die beiden christlichen Großkirchen fast unverändert die dominierende Rolle spielen. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes ist bundesweit der Anteil der Kitas in kirchlicher Trägerschaft höher als der in öffentlicher,6 in manchen Regionen, vor allem im Süden Deutschlands, liegt dieser Anteil sogar bei mehr als 75%. In diesen kirchlichen Einrichtungen wird besonderer Wert darauf gelegt, dass die Kinder die Welt als Gottes Schöpfung verstehen lernen. Was im Leitbild des evangelischen Kindergartens St. Jakobi in Wietzendorf formuliert ist, findet sich in ähnlicher Weise in den meisten christlichen Kindertageseinrichtungen: »Jeder Mensch ist einzigartig und von Gott geliebt. Von dieser Zusage Gottes lassen wir uns in unserer pädagogischen Arbeit leiten. Wir achten Kinder in ihrer Persönlichkeit, begegnen ihnen mit Wertschätzung und Respekt, unabhängig von Religion, Herkunft und Weltanschauung. Gemeinsam mit den Kindern entdecken wir die täglichen kleinen Wunder der Schöpfung und gehen achtsam und verantwortlich damit um.«7 »Schöpfung« ist darum auch ein beliebtes Thema für die regelmäßigen Kindergottesdienste, die von den Erzieherinnen (und sehr seltenen Erziehern) gemeinsam mit den Kindern gestaltet werden und zu denen auch die Eltern eingeladen werden.

Wer je einen solchen Kinder- oder Familiengottesdienst besucht hat, weiß, dass diese Veranstaltungen ein besonderes Spektakel im Leben einer Gemeinde sind. Ansonsten meist gleichförmig ablaufende Sonntagsgottesdienste werden dann aufgemischt durch quicklebendige Kinder, mehr oder weniger kindgerechte Lieder und Gebete. Nicht nur die Gestaltung dieser Gottesdienste fällt aus dem üblichen Rahmen, sondern auch das Publikum. Viele Eltern wollen den Auftritt ihrer Kinder nicht verpassen und wagen sich wieder einmal in einen Gottesdienst. Kirchenferne Menschen erfahren auf diesem Weg, wie sich das christliche Profil ihres Kindergartens auswirkt und was den Kirchen bei der religiösen Bildung wichtig ist. Insbesondere können sie erleben, was gemeint ist, wenn die deutschen katholischen Bischöfe betonen, dass »in einer katholischen Kindertageseinrichtung […] Natur als Gottes Schöpfung betrachtet [wird]«8, oder wie zu verstehen ist, wenn es in einer Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland heißt, dass den Kindern in Kindertageseinrichtungen das Angebot gemacht werde, die »Welt als Schöpfung Gottes und sich selbst als Geschöpf Gottes zu begreifen«9.

Sichtet man das reichhaltige Material, das zur Gestaltung von Kinder- oder Familiengottesdiensten zum Thema Schöpfung zur Verfügung steht, so begegnen immer wieder zwei Grundgedanken, die zugleich auch die Titel von Liedern sind, die bei dieser Gelegenheit gern gesungen werden: »Gott hat die Welt gemacht« (Jonathan Böttcher) bzw. »Gott hat die Welt so schön gemacht« (Bernhard Krol) und »Wir sind alle Gottes Kinder« (Mireille Mathieu).

Die erste Lied lobt die Schönheit der Natur und regt zum Staunen darüber an, was sich »Gott gut ausgedacht [hat]«: »Den Sonnenschein nach langem Regen, den hellen Mond in dunkler Nacht. Den Himmel und den Sternensegen, die hat sich Gott gut ausgedacht. Den leichten Wind am frühen Morgen. Die Sonne, die vom Himmel lacht. Und auch die kleinen Regentropfen, die hat sich Gott gut ausgedacht. Den offenen Blick, das klare Lachen. Das nette Wort, das Mut mir macht. Und Hände, die mich zärtlich streicheln, die hat sich Gott gut ausgedacht.« Das Lied mündet dann in den mehrfach wiederholten Refrain ein: »Gott hat die Welt gemacht. Gott hat sie sich ausgedacht. Gott wohnt im Himmelszelt und in der ganzen Welt.«10

Das Lied »Wir sind alle Kinder Gottes« von Mireille Mathieu bringt nicht nur Gottes Wertschätzung jedes einzelnen Menschen zum Ausdruck, sondern darüber hinaus auch die Verbundenheit der Menschen untereinander und zugleich mit der gesamten Schöpfung: »Wir sind alle Kinder Gottes und wir werden‘s immer sein, jeder Mensch und jede Blume, jedes Tier und jeder Stein.«11 Häufig wird dies dann zum Beispiel durch einen Tanz mit bunten Tüchern oder durch das gemeinsame Knüpfen eines Netzes in Szene gesetzt bzw. in bunten Bildern und Collagen ausgedrückt: mit lachenden Kindern unterschiedlicher Hautfarbe, großen und kleinen, dicken und dünnen, mit farbenprächtigen Blumen, friedlich grasenden Tieren, strahlender Sonne, funkelnden Sternen etc.

Der Blick auf die wunderbare Welt und die unterschiedlichen Gotteskinder verbindet sich in den Gottesdiensten regelmäßig mit der Aufforderung, Gott für die gute Schöpfung zu danken. Daran schließen sich ethische Appelle an: Die einen beziehen sich auf den sorgsamen Umgang mit der Natur und die »Bewahrung« der Schöpfung Gottes, die anderen auf gegenseitige Achtung der Menschen untereinander. In den Fürbitten wird manchmal noch (aber meist nur vorsichtig dosiert) derer gedacht, denen es in unserer Welt nicht so gut geht wie uns.

Ökologisches Verantwortungsbewusstsein und die unbedingte Achtung der Menschenwürde sind ethische Werte, die gerade auch unter nichtreligiösen Menschen hohe Akzeptanz genießen. Diese ethische Ausrichtung der meisten Kindergottesdienste zum Thema Schöpfung baut auch kirchendistanzierten Erzieherinnen, die aber zur Loyalität gegenüber ihrem kirchlichen Arbeitgeber verpflichtet sind, eine Brücke, um bei der Gestaltung dieser Gottesdienste mitwirken zu können. Zugleich kann diese Zielrichtung Eltern beruhigen, die das christliche Profil ihres Kindergartens eher skeptisch beurteilen. Doch wenn Schöpfungsglaube auf diese Weise einer verantwortungsvollen Umwelt- und Menschenrechtsbildung ihrer Kinder dient, kann es ihnen nur recht sein. Dass darüber hinaus Welt und Mensch als »Schöpfung Gottes« begriffen werden sollen, mag ihnen dagegen als zusätzlicher, aber letztlich verzichtbarer Gedanke erscheinen.

Die Erfahrungen aus der Kindergartenzeit – sei es der eigenen, sei es der ihrer Kinder – bleiben heute für viele Menschen ein eindrücklicher und für nicht wenige auch der einzige direkte Kontakt mit christlichem Schöpfungsglauben. Darum kann es auch nicht wundern, dass Menschen, die den Schöpfungsglauben ablehnen, sich damit vor allem von der in Kindergarten und Kindergottesdiensten erlebten Form des Schöpfungsglaubens distanzieren wollen. »Gott hat die Welt gemacht«? Stimmt doch gar nicht. »Gott hat die Welt so schön gemacht«? Solche einseitige Schönmalerei widerspricht jeder Lebenserfahrung.

Für einen Teil der Kinder wird religiöse Bildung nach der Kindergartenzeit im Religionsunterricht der Grundschule fortgeführt. Dort zählt das Thema Schöpfung seit jeher zum Kernbestand der Lehrpläne. »Der katholische Religionsunterricht lädt die Schülerinnen und Schüler dazu ein«, heißt es beispielsweise im Baden-Württembergischen Bildungsplan für die Grundschule, »sich als von Gott geliebtes Geschöpf und sein Ebenbild zu verstehen. Er fördert den respektvollen Umgang miteinander.«12 Nun sollen die Gedanken, die bereits im Kindergarten angeregt wurden, anhand von ausgewählten biblischen Texten vertieft werden. Als zu vermittelnde Kompetenz nennt der Bildungsplan: »Die Schülerinnen und Schüler haben an einer biblischen Schöpfungsgeschichte gelernt: Gott hat die Welt erschaffen und liebt sie vorbehaltlos und können dies in Bildern, Liedern und Geschichten darstellen.«13 Auch hier findet sich der Hinweis auf die ethischen Implikationen des Schöpfungsgedankens, wenn gefordert wird, dass die »Schülerinnen und Schüler […] um Gefährdungen der Natur [wissen] und […] in ihrem Lebenskreis zum ­Erhalt der Schöpfung beitragen [können]«14. In Kenntnis der Miss­verständnisse, die namentlich der fälschlich so genannte erste »Schöpfungsbericht« auslöst, wünscht der reformierte Bildungsplan 2016 in Baden-Württemberg, dass die Schülerinnen und Schüler in dem Verständnis gefördert werden sollen, »dass der biblische Schöpfungshymnus nicht im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Erklärungen der Entstehung der Welt steht«15. Auch greift dieser neue Bildungsplan schon von Kindern vorgebrachte Einwände auf, unsere Welt sei keinesfalls nur gut oder sogar sehr gut, und formuliert als zu erwerbende Teilkompetenz, dass die Schülerinnen und Schüler »reflektieren, wie Menschen Freude, Lob und Dank, aber auch Klage und Bitte in Bezug auf die Schöpfung ausdrücken«16. Die Bildungspläne für den Religionsunterricht der weiterführenden Schularten bleiben auf dieser Linie, wenn beispielsweise für die Schülerinnen und Schüler der 6. Klasse gefordert wird, zu »wissen, dass im christlichen Verständnis der Mensch von Gott geschaffen, angesprochen und zur verantwortlichen Mitgestaltung der Schöpfung berufen ist«, sowie zu »wissen, dass das Bekenntnis zum Schöpfergott eine Antwort auf die Frage ist, woher alles kommt und wohin alles geht«17. Wieder bringt der baden-württembergische Bildungsplan 2016 hier ausdrücklich die Teilkompetenz ein, dass die Schülerinnen und Schüler »erläutern [können], dass biblische Schöpfungstexte (Gen 1,1–2,4a; Ps 104) im Unterschied zu naturwissenschaftlichen Aus­sagen zur Weltentstehung Lob und Dank für Gottes Schöpfung zum Ausdruck bringen«18.

Die Themenbereiche Umweltbildung, Menschenwürde sowie das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft sind beim Großthema Schöpfung auch in der gymnasialen Ober- bzw. Kursstufe dominierend. Im evangelischen Religionsunterricht soll zum Beispiel in Rheinland-Pfalz bei dem Teilthema »‘Ich habe mich nicht selbst gemacht‘ – Geschöpf und Ebenbild Gottes« folgende Kompetenz verbindlich angeeignet werden: »Die Schülerinnen und Schüler können auf der Grundlage von Genesis 1 und 2 aufzeigen, dass das biblische Verständnis des Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes ihn als Beziehungswesen definiert und ihm eine unantastbare Würde zuspricht.«19 Im Rahmen des Themenbereichs »Christsein in der pluralen Welt« sollen die jungen Erwachsenen beim Teilthema »Theologie und Naturwissenschaften« befähigt werden, den naturwissenschaftlichen Zugang zur Wirklichkeit [zu] beschreiben und sich damit aus theologischer Perspektive auseinander[zu]setzen« sowie »fruchtbare Möglichkeiten des Dialogs zwischen Naturwissenschaften und Theologie sowie Perspektiven für das gemeinsame Handeln im Hinblick auf ökologische Zukunftsfähigkeit und humane Entwicklung auf[zu]zeigen«20.

Diese kurzen Hinweise mögen genügen, um zu illustrieren, dass die Schöpfungsthematik schon im Kindergarten und dann im evangelischen und katholischen Religionsunterricht von Anfang an bis zum Schulabschluss durchgängig als ein wesentliches Thema präsent ist. Die Welt als Schöpfung Gottes und der Mensch als Geschöpf Gottes werden dabei vor allem im Kontext von drei Themenkreisen behandelt: erstens im Zusammenhang mit der Würde und Wertschätzung jedes Menschen, zweitens im Hinblick auf eine verantwortungsvolle Weltgestaltung mit besonderer Gewichtung ökologischer Herausforderungen und drittens im Kontext einer Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaften und Theologie, wobei es regelmäßig auch um die Abgrenzung zu kreationistischen Einstellungen geht. Dabei wird der dritte Themenkreis im tatsächlichen Religionsunterricht noch deutlich häufiger angesprochen, als es die Lehrpläne ohnehin schon vorsehen, weil die diesbezüglichen Fragen umgehend von Kindern und Jugendlichen eingebracht werden, sobald im Unterricht auch nur das Stichwort Schöpfung fällt.

Schöpfung in neueren theologischen Lehrbüchern

Was die Bildungspläne an Kompetenzen und Inhalten fordern, steht im Wesentlichen in Einklang mit neueren schöpfungstheologischen Entwürfen.

Aber ehe hier der Grund- oder Kernbestand heutiger Schöpfungstheologien zusammengefasst wird, ist zu bedenken: Es gibt nicht die christliche Schöpfungslehre und es gibt noch nicht einmal die evangelische oder die katholische Schöpfungslehre. Wo sollte diese auch nachzulesen sein? In einem der Katechismen, die alle dem Thema Schöpfung einen zentralen Platz einräumen? Aber in welchem? In Luthers Kleinem oder Großen Heidelberger Katechismus (1529), im Württembergischen Katechismus (1696) oder im »Evangelischen Erwachsenenkatechismus« (1975)? Im Katechismus von Petrus Canisius (1555), im »Holländischen Katechismus« (1968) oder in dem vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger verantworteten »Katechismus der Katholischen Kirche« (1992)? Sind für katholische ChristInnen die jeweils neuesten römischen Katechismen (samt ihren nachgereichten Erläuterungen) stets die katholischsten? In welchen theologischen Lehrbüchern sollten wir nachschlagen, wenn wir über die christliche Schöpfungstheologie informiert werden wollen? Bei den wirkungsgeschichtlich einflussreichen Theologen der frühen Kirche und der Scholastik wie Aurelius Augustinus, Dionysius Areopagita, Thomas von Aquin oder Meister Eckhart? Bei den bekanntesten Theologen des 19. und 20. Jahrhunderts wie Friedrich Schleiermacher, Karl Barth oder Karl Rahner? Bei Dorothee Sölle, Jürgen Moltmann oder Leonardo Boff? Bei ökofeministischen Theologinnen wie Catharina J. M. Halkes, Sallie McFague, Rosemary Radford Ruether oder Elizabeth Johnson? Sie alle haben sich in zum Teil höchst kontroverser Weise über Schöpfung geäußert – und damit sind nur einige wenige Namen genannt, die für die Vielfalt christlicher Schöpfungstheologie stehen.21

Es hilft alles nichts: Vermeintliche Eindeutigkeit können in Sachen Schöpfungstheologie nur autoritätshörige Fundamentalisten gewinnen. Geschichtlichkeit und Mehrdeutigkeit kennzeichnen auch die Deutung von Schöpfung und insbesondere die jeweilige Interpretation der biblischen Schöpfungstexte zu unterschiedlichen Zeiten von unterschied­lichen Menschen. Der eine betont dies und verschweigt jenes, die andere hält jenes für wichtig, während sie anderes übergeht. Alle aber sind Kinder ihrer Zeit, eingebunden in scheinbare Selbstverständlichkeiten und in den eingeschränkten Wissenshorizont ihrer Kultur mitsamt ­ihren spezifischen Vereinfachungen und Abstraktionen. Von Anfang an wird schöpfungstheologisches Nachdenken von Widersprüchen, Unvereinbarkeiten und Brüchen begleitet; unvermeidlich prägen zeitbedingte Denkfiguren das Verständnis der biblischen Texte. Dies ist keineswegs verwunderlich und auch nicht beklagenswert, sondern eine Selbstverständlichkeit für alle, die mit der Auslegung von Texten zu tun haben. Aber diese, jede Schöpfungstheologie relativierende Selbst­verständlichkeit muss eigens erinnert werden, weil gerade beim Themenbereich Schöpfung von verschiedenen Seiten nachdrücklich der Anspruch erhoben wird, endgültige Antworten zu wissen. Doch solche Antworten stehen keiner Theologie zur Verfügung – davon wird noch zu reden sein.22

Ich begnüge mich darum im Folgenden, erst auf eine auffällige Entwicklung innerhalb der neueren christlichen Schöpfungstheologien hinzuweisen und dann die wichtigsten Elemente der in der Gegenwart maßgeblichen Schöpfungstheologien aufzuzählen. Unter »maßgeblich« verstehe ich hier die schöpfungstheologischen Konzeptionen, die heute an unseren theologischen Fakultäten üblicherweise gelehrt werden und die auch bestimmenden Einfluss auf die gegenwärtigen Bildungspläne für den Religionsunterricht haben. Daneben gibt es eine Vielfalt abweichender und alternativer schöpfungstheologischer Vorstellungen mit einer reichen, oft weit zurückreichenden Tradition; dazu zählen gerade auch die unterschiedlichen befreiungstheologischen Entwürfe. Diese Konzepte wurden bislang allerdings nie tonangebend. Sie blieben Sache meist kleinerer Gruppen und Bewegungen entweder am Rande der Kirchen gerade noch geduldet oder jenseits der traditionellen Großkirchen – auch davon wird weiter unten noch zu reden sein.

Zunächst sei aber auf eine charakteristische Entwicklung innerhalb der Schöpfungstheologie hingewiesen. Während die traditionellen theologischen Traktate und auch noch neuere Katechismen erst von Gott als Schöpfer sowie der Schöpfung im Allgemeinen handelten und sich erst dann dem Menschen als einem Spezialfall widmeten, kehrt die jüngere Theologie diese Reihenfolge um und betont die enge Zusammengehörigkeit von Theologie und Anthropologie, von Gottesfrage und Frage nach dem Menschen. »Die Frage nach der Schöpfung ist immer schon zuerst die Frage nach uns Menschen«23, stellt der systematische Theologe Otto Hermann Pesch dementsprechend in seiner Dogmatik fest. Noch ehe wir nach Sinn und Herkunft der Welt fragen, treibt uns die Frage nach unserer Stellung in der Welt um: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich? Was ist mein Sinn in dieser Welt? Wir sehen uns »von der Leitfrage angetrieben, ob wir uns in dieser Welt vom Kosmos bis zu den Atomen gut aufgehoben, geborgen fühlen dürfen«24.

Aus dieser menschlichen Perspektive entwickelte aber auch schon Martin Luther sein Verständnis von Schöpfung, wenn er in seinem »Kleinen Katechismus« zum ersten Glaubensartikel »Von der Schöpfung« folgende berühmte Auslegung gibt: »Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; mit allem, was not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewißlich wahr.«25 Luther lässt sich bei der Erläuterung dessen, was »Schöpfung« besagt, nicht darüber aus, wie die Kreaturen, er selbst und seine Familie entstanden sind bzw. wer Kleidung, Nahrung und alle Güter produziert, wesentlich ist ihm vielmehr, dass Schöpfung die bedingungslose Zuwendung Gottes zum Menschen ausdrückt und dass wir uns, wie Pesch formuliert, »in dieser Welt vom Kosmos bis zu den Atomen gut aufgehoben, geborgen fühlen dürfen«. Luthers Schöpfungstheologie erweist sich damit als eine Art Beleg für seine Rechtfertigungslehre.26 Gottes zuvorkommende Sorge um den Menschen bewirkt Heil, nicht unsere eigenen Verdienste.

Das vorrangige Interesse an der Frage, was Schöpfung im Hinblick auf uns Menschen auszudrücken versucht, bringt die jüngeren Schöpfungstheologien auch wieder der ursprünglichen Intention der biblischen Schöpfungstexte näher, die »auf die Erschließung gegenwärtiger Lebenswelt hin ausgerichtet sind«27 und darum »bei Licht besehen, ›theologische Anthropologie‹ [sind] und […] erst durch eine Art Rückschlussverfahren den Blick auf Gottes gute Schöpfung [freigeben]«28. Überhaupt kann festgestellt werden, dass gegenwärtige Schöpfungstheologien, ungleich stärker als dies früher vor allem in der katholischen Tradition der Fall war, beanspruchen, sich auf den biblischen Schöpfungsglauben zurückzubeziehen. Dieser Anspruch – bei dem zu fragen sein wird, inwieweit er tatsächlich eingelöst wird – ist auch eine Konsequenz aus der von dem evangelischen Theologen Michael Welker gemachten Beobachtung, »dass und wie weit unsere Konzeptionen von Schöpfung und unsere wichtigsten [biblischen] Schöpfungstexte auseinanderklaffen«29.

Ich komme nun zum Grundbestand der heute maßgeblichen Schöpfungstheologien, der auch den Hintergrund zu den Vorgaben der Bildungspläne bildet. Angesichts der oft dickbändigen Werke zur Schöpfungslehre versteht es sich von selbst, dass im Folgenden davon nur ein ganz knapper Abriss gegeben werden kann. Im Wesentlichen folge ich dabei der Darstellung des bereits zitierten Theologen Otto Hermann Pesch in seiner »Katholischen Dogmatik aus Ökumenischer Erfahrung«.30 Biblischer Schöpfungsglaube wird im Hinblick auf das Verständnis des Menschen als »Geschöpf Gottes« dort mit folgenden Grundaussagen zusammengefasst:31

Verdankt sein: Wie Menschen auch immer entstanden sind, letztendlich verdanken sie sich weder ihrer eigenen Entscheidung noch dem Zufall, sondern allein Gott, der Quelle ihres Seins, von der sie wie alles andere Geschaffene ganz und gar abhängig sind (darauf hebt der Gedanke einer »creatio ex nihilo«, d. h. der »Schöpfung aus dem Nichts« ab) und abhängig bleiben (auf die fortdauernde Schöpfertätigkeit Gottes zielt die »creatio continua«). Das Geschaffensein des Menschen und der gesamten Welt durch Gott ist damit keine Herkunftsaussage über Mensch und Welt, sondern eine Wesensbeschreibung; es geht nicht um irgendwelche Feststellungen über den Anfang (lat. initium) von Mensch und Welt, sondern um deren Grund (lat. principium), der sie trägt und hält.32 Geschaffensein heißt für den Menschen Verdanktsein: d. h. »aufgrund des Willens einer anderen Freiheit sein, radikal kontingent, nicht notwendig, sondern durch und durch abhängig von einer Quelle seines Seins, ohne die er dieses Sein nicht verstehen kann.«33Beschenkt sein: Gott meint es – anders als die Götter in manchen außerbiblischen Schöpfungsmythen – gut mit den Menschen. Die Abhängigkeit des Menschen von Gott ist zum Wohl und zum Heil des Menschen. Gott hat Welt und Menschen in Freiheit und aus Liebe geschaffen. »Verdanktsein heißt zwar abhängig sein – aber für den Menschen heißt das: er ist beschenkt, befreit, aufgehoben, gewollt, geliebt.«34 Der Mensch ist von Gott auch beschenkt durch die nichtmenschliche Natur, die um seinetwillen geschaffen ist.Ausgezeichnet sein: »Für die Bibel ebenso wie später für die Geschichte des christlichen Denkens ist es selbstverständlich, dass der Mensch an der Spitze aller Geschöpfe steht.«35 Der Mensch – »nur wenig geringer gemacht als Gott« (Ps 8,6) – ist hervorgehobenes Ziel der Schöpfung. Ausgezeichnet ist der Mensch als »Bild Gottes« (Gen 1,26), das heißt als Repräsentant Gottes auf Erden. Anders als in einigen anderen altorientalischen Mythen fürchtet Gott den Menschen nicht als Konkurrenten.Verantwortlich sein: Mit seiner gottähnlichen Macht als Bild Gottes ist dem Menschen Verantwortung für die Schöpfung übertragen. Weil dem Menschen Macht anvertraut und Freiheit gegeben ist, ist er für die Welt verantwortlich. In diesem Sinne ist auch der Herrschaftsauftrag (vgl. Gen 1,26.28; sowie Gen 2,15) zu interpretieren.Eingebunden in die Natur, vergänglich und fehlbar sein: Der Mensch ist aber nicht Gott, sondern bleibt kontingente Kreatur und ist als »Adam«, das heißt als »Erdling«, vergänglich und fehlbar. Der Mensch ist von der Natur abhängig und in sie eingebunden, er ist wie die anderen Geschöpfe Kreatur. Der Mensch, aus Erde gemacht, gehört zu dieser, ist Teil von ihr und wird auch zu ihr zurückkehren (vgl. Gen 3,19). Die betonte Erdverbundenheit und Natürlichkeit des Menschen gestatten es nicht, Leibfeindlichkeit und eine Entgegensetzung von Natur und Geist schöpfungstheologisch zu begründen.

Im Einzelnen sorgen die hier genannten Aussagen in den schöpfungstheologischen Konzeptionen durchaus noch für Diskussionsstoff und lassen da und dort auch konfessionelle Färbungen erkennen. Inwieweit hat der Mensch seine Auszeichnung als »Bild Gottes« durch seine Verfehlung(en) verloren? Erschöpft sich der Sinn außermenschlicher Natur in ihrem Nutzen für den Menschen oder kommt auch Tieren, Pflanzen, ja dem gesamten Kosmos ein vom Menschen unabhängiger Eigenwert zu? Ist es dementsprechend gerechtfertigt, noch von biblischem Anthropozentrismus zu sprechen, oder wäre die Rede von »unbedingte[r] Theozentrik«, aber nur »bedingte[r] Anthropozentrik«36 bzw. auch von »Biozentrik« oder »Physiozentrik« angemessener? Wie ist in diesem Zusammenhang der in Gen 1,26–28 formulierte »Herrschaftsauftrag« genauer zu verstehen und in welchem Verhältnis steht er zu dem Gebot, den Garten Eden zu bebauen und zu hüten (vgl. Gen 2,15)? Zielt überhaupt der ganze erste Schöpfungstext nicht so sehr auf den Menschen als auf den Sabbat als eigentliche Vollendung der Schöpfung, weil nun Gott »ganz bei sich ist und in sich ruht«37? Ist es sachgemäß, mit Bezug auf die biblischen Schöpfungstexte den Menschen in vollkommener Abhängigkeit von Gott zu sehen, kann die Welt tatsächlich »nichts an sich haben, was seinsmäßig von ihm [Gott] unabhängig wäre«38, oder wird durch die Betonung der absoluten Dependenz die »Eigenaktivität des Geschöpflichen […] ausgeblendet oder zumindest nur bis zur Unkenntlichkeit verzerrt erfaßt«39? Durch diese und ähnliche Diskussionen werden die oben genannten Aussagen zwar variiert, aber der Grundbestand dieses Schöpfungsglaubens bleibt unangetastet, dass nämlich der Mensch, und zwar ausnahmslos jeder Mensch, von Gott eigens gewollt und geliebt, besonders ausgezeichnet und beauftragt ist. Wie weiter oben bereits gezeigt wurde, rücken auch die Bildungspläne des Religionsunterrichts bei der Behandlung des Themas Schöpfung gerade die entsprechenden Gedanken ins Zentrum.

Schöpfungsglaube auf Harmonie getrimmt

Wenn Schöpfungsglaube im Wesentlichen darauf abzielt, dass wir uns als von Gott gewollte und geliebte Geschöpfe verstehen dürfen, die mit der ihnen anvertrauten Welt sorgsam und verantwortungsvoll umgehen sollen, dann werden damit von vornherein mögliche Konfliktherde mit den modernen Wissenschaften vermieden oder wenigstens zu vermeiden versucht: Dies gilt im Hinblick sowohl auf die zeitgenössische Pädagogik als auch auf die Naturwissenschaften.

Kinder und Jugendliche bei ihrer Identitätsfindung zu stärken und ihr Selbstwertgefühl zu fördern, ist auch erklärtes Anliegen heutiger Pädagogik. Genauso ist es allgemein anerkanntes Bildungsziel, junge Menschen dazu zu befähigen, Verantwortung zu übernehmen. Das selbstbewusste, sozial sensible Kind, das sich in die Gemeinschaft einbringt und dort eigene Verantwortung übernimmt, zählt zu dem kaum bestrittenen Leitbild unserer Pädagogik. Bildung will gemäß unseren Bildungsplänen dazu beitragen, »in der gegenwärtigen Welt die Zuversicht junger Menschen, ihr Selbstbewusstsein und ihre Verständigungsbereitschaft zu erhöhen«, sie sollen »Lebenszuversicht [gewinnen]«, ihre »mitgebrachte[n] Ängste [überwinden]« und »Freude am Bewahren und Schützen gefährdeter Güter der Natur, des Kleinen, Schwächeren, Verletzlichen, der vorgefundenen guten Ordnung, der ihnen selbst gewährten Freundlichkeit, Sicherheit und Rechte [gewinnen]«40. Exakt auf dieser Linie liegen auch die oben zusammengestellten schöpfungstheologischen Gedanken, die ihrerseits Eingang in die Bildungspläne für den Religionsunterricht gefunden haben. Das Bewusstsein, ein »Gotteskind« zu sein, kann das Selbstwertgefühl stärken, der »Schöpfungsauftrag« mag an die eigene Verantwortlichkeit gegenüber den Mitmenschen und der Natur erinnern.

Sehr aufregend ist dies freilich nicht. Ein derart abgeschliffener und den Bildungserwartungen der Schule angepasster Schöpfungsglaube eckt im Schulleben und im gesellschaftlichen Leben gewiss nicht an; er dient bestenfalls als ergänzende Bestätigung für eine umwelt- und menschenfreundliche Haltung, die zur political correctness zählt, im Trend liegt und kaum mehr in Frage gestellt wird. Derart pädagogisierender, moralisierender und appellierender Schöpfungsglaube vermeidet zwar Konflikte mit den Bildungswissenschaften, erscheint dabei aber auch als harmlos und auf Dauer – wie das nachlassende Interesse am Thema Schöpfung in der Kursstufe des Gymnasiums zeigt – reichlich langweilig. Gewiss lassen sich damit ohne größere Schwierigkeiten anrührende und farbenfrohe Kindergottesdienste gestalten, die auch von denen nachsichtig gelobt werden können, die ansonsten dem christlichen Glauben distanziert gegenüberstehen. Der Eindruck, den die oben skizzierte Schöpfungstheologie samt den ihr folgenden religionspädagogischen Bemühungen auf Außenstehende hinterlässt, ist wenig nachhaltig: Das alles erscheint sehr brav, ein bisschen naiv und schadet nicht – ist aber auch überflüssig für erwachsene Menschen, die sich ihrer selbst und ihrer Verantwortung schon anderweit bewusst geworden sind. Solange solcher Schöpfungsglaube als »Angebot« und »Einladung« auf dem Markt der Weltanschauungen präsentiert wird und die Kirchen für sich daraus keine Privilegien ableiten wollen, fällt die moderne Pädagogik als mögliche Konfliktpartnerin jedenfalls aus.

Ein wenig anders sieht es im Hinblick auf die Naturwissenschaften aus. Dabei sind jüngere Schöpfungstheologien ganz ausdrücklich darum bemüht, Konflikte auch mit den modernen Naturwissenschaften, insbesondere mit Physik und Biologie, von vornherein zu vermeiden. Dazu wird gleich zu Beginn klarzustellen versucht, dass mit dem Glauben, dass der Mensch als Geschöpf Gottes von Gott gewollt, gehalten und zur Verantwortung berufen sei, keine bestimmten naturwissenschaftlichen Aussagen verbunden seien und dass damit nichts über die Art und Weise der Entstehung von Mensch und Welt behauptet werde. Der Glaube, dass der Mensch sein Dasein Gott verdanke, dass er von Gott beschenkt und vor anderen Geschöpfen ausgezeichnet sei und dass ihm zugleich damit auch eine besondere Verantwortung für unsere Welt zukomme: Das alles könne im Prinzip unabhängig davon geglaubt werden, was wir dank der modernen Naturwissenschaften über unseren Kosmos und uns selbst wissen. Anders ausgedrückt: Diese Form von Schöpfungsglauben könne sich mit jedem naturkundlichen oder auch naturwissenschaftlichen Weltbild verbinden. Theologinnen und Theologen betonen darum heute mit großem Nachdruck, dass Schöpfungsglaube und Weltbild (Weltwissen) »sachlogisch« unabhängig voneinander seien.41 Ein Wandel des ­Weltbilds bzw. sich verändernde kosmologische Modelle oder neue ­Erkenntnisse über die Evolution des Lebens könnten somit auch den Schöpfungsglauben nicht obsolet werden lassen. »Die Auffassung, dass jeder einzelne Mensch sich als Geschöpf Gottes verstehen darf, ist unabhängig davon vertretbar, welche kosmologischen oder evolutionistischen Theorien man für wahrscheinlich oder unwahrscheinlich hält,«42 schreibt der evangelische Theologe Konrad Schmid und gibt damit einen überkonfessionellen Konsens innerhalb der christlichen Theologien wieder, der nur noch von fundamentalistischen Kreationisten, die unbeirrt an der wortwörtlichen Bedeutung der biblischen Texte festhalten, nicht geteilt wird.

Ein eigenes Kapitel mit Titeln wie »Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft«, »Schöpfung und Evolution« oder allgemeiner formuliert »Theologie und Naturwissenschaften« zählt darum zum obligatorischen Bestand heutiger Schöpfungslehren. Darin werden regelmäßig die Konflikte der christlichen Kirchen und Theologien mit Galileo Galilei und Charles Darwin bedauert und es wird herausgestellt, dass Schöpfungsglaube und naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern sich gegenseitig ergänzen können und müssen.43 Unbeschadet der Eigenständigkeit der Naturwissenschaften können deren Erkenntnisse aber theologisch gedeutet werden, das heißt die Welt, die die Physik mit ihren Methoden erforscht, ist ein und dieselbe Welt, die die Theologie als Schöpfung Gottes zum Thema macht. In diesem Sinn befürwortet etwa der katholische Theologe Hans Küng »ein Komplementaritätsmodell kritisch-konstruktiver Interaktion von Naturwissenschaft und Religion, in dem die Eigensphären bewahrt, alle illegitimen Übergänge vermieden und alle Verabsolutierungen abgelehnt werden, in dem man jedoch in gegenseitiger Befragung und Bereicherung der Wirklichkeit als ganzer in allen ihren Dimensionen gerecht zu werden versucht.«44 In diesem Kontext distanziert sich heutige Schöpfungstheologie (fast) unisono sowohl von kreationistischen Vorstellungen, die an der wortwörtlichen Bedeutung der biblischen Schöpfungstexte festhalten, als auch von den Versuchen des »Intelligent design«, naturwissenschaftliche Beweise für einen ursprünglichen »Designer« unseres Kosmos vorlegen zu wollen.

Blockaden und Vorbehalte gegenüber dem Schöpfungsglauben

Allerdings gelang es bislang der Theologie trotz all dieser Bemühungen nicht, naturwissenschaftliche Vorbehalte gegen den Schöpfungsglauben auszuräumen und Konflikte zu vermeiden. Spricht die Theologie von Schöpfung im oben genannten Sinn, denken die meisten Menschen weiterhin zuallererst an Weltentstehung bzw. Menschwerdung und formulieren aus dieser Perspektive ihre Einwände gegen schöpfungstheologische Vorstellungen.

Die Kritik von dieser Seite wird zum Teil sehr polemisch, manchmal auch unsachlich vorgetragen.45 Dadurch gestaltet es sich für die Theologie vordergründig leicht, auf die entsprechenden Vorhaltungen zu reagieren und diese zu entkräften. Aber ganz abgesehen von derartigen Attacken: So einfach, wie christliche Schöpfungstheologie suggeriert, können die meisten Menschen den Gedanken der Vereinbarkeit von religiösen Schöpfungsvorstellungen und naturwissenschaftlichen Perspektiven auf unsere Welt offensichtlich nicht nachvollziehen. Ein Indikator dafür ist der Religionsunterricht.

Wie schwer es schon Kindern fällt, »Schöpfung« und naturwissenschaftliche Erkenntnisse zusammenzudenken, belegen mittlerweile mehrere empirische Studien.46 Dies konnte ich auch in meinem Unterricht immer wieder erleben.47 »Lügt die Bibel, wenn sie sagt, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde?« will ein Schüler (Klasse 5) wissen, der tags zuvor einen eindrücklichen Fernsehfilm über die kosmische Evolution gesehen hatte. »Warum steht in der Bibel eigentlich nichts vom Urknall?« fragt ein anderer Schüler (Klasse 8) und wird von einer Mitschülerin belehrt: »Weil die Sache mit dem Urknall auch nur eine Theorie ist und vielleicht gar nicht stimmt.« »Nein«, wird ihr widersprochen, »den Urknall gab‘s schon, aber die Schöpfungsgeschichte wurde eben so geschrieben, dass es die Menschen damals verstehen konnten.« Beim Thema Schöpfung begegnen im Religionsunterricht manchmal zweifelnde und unsichere, vor allem aber viele phantasievolle und originelle Schüleräußerungen, die in den vergangenen Jahren zunehmend Gegenstand von Untersuchungen zur Kinder- und Jugendtheologie wurden.48 Kreativ werden Kinder insbesondere auch dann, wenn sie versuchen, ihnen widersprüchlich Erscheinendes doch irgendwie zu vereinbaren: »Gott hat das beauftragt, ich meine […] er hat den Auftrag gegeben, dass alles so passiert […] mit dem Urknall und den Planeten […] und so«49, meint ein Viertklässler. Die Weltentstehungsversion eines zwölfjährigen Gymnasiasten geht etwas anders: »Gott ließ einen Planeten explodieren. Das war ein lauter Knall, der Urknall. Das Grundgerüst ist der Erdkern[,] der von Feuer/Lava umringt ist. Danach schuf Gott die Elemente.«50 Die Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen, Schöpfungsglaube und moderne Weltentstehungstheorien nicht als sich ausschließenden Widerspruch zu betrachten, ziehen sich durch die gesamte Schulzeit. Ein Schüler in der Kursstufe wandte sich nach einer ausführlichen Unterrichtseinheit über die mögliche Vereinbarkeit von Schöpfungsglaube und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vertraulich an mich: »Nun mal ehrlich, Herr Benk, glauben Sie selbst an die biblische Schöpfungsgeschichte oder an die Urknalltheorie?« Was ich mit meinem Kurs zum Thema Schöpfung behandelt hatte, gab mir dieser Schüler damit zu verstehen, das kann man vielleicht »lernen« und dann in der Klausur korrekt wiedergeben – aber plausibel und verständlich ist es nicht.

Der Frage nach dem Verhältnis von biblischen und naturwissenschaftlichen Aussagen wird von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufen große Bedeutung beigemessen. Die aus ihrer Sicht mit dieser Frage aufgeworfene Problematik gilt mittlerweile als maßgeblicher Grund dafür, dass Jugendliche ihren Gottesglauben verlieren.51 Viele sehen sich dabei vor einen unauflöslichen Konflikt gestellt, bei dem aus ihrer Sicht die Glaubwürdigkeit der biblischen Zeugnisse überhaupt infrage steht. Die jeweilige Lösung, die von Jugendlichen für das Zuordnungsverhältnis von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft akzeptiert werden kann, ist im Hinblick auf deren spätere Haltung zu Fragen des Glaubens kaum zu unterschätzen. Häufig trifft man im Religionsunterricht in diesem Zusammenhang auf nur versuchsweise formulierte Positionen und Haltungen, die sich aber leicht verfestigen können, wenn sie nicht zufriedenstellend aufgearbeitet werden. »Ich glaube nicht an Gott«, meint ein Zwanzigjähriger, »weil ich an die wissenschaftliche Weise der Entstehung der Erde glaube, und weil ich noch keinen Beweis erhalten habe, dass es Gott gibt. Ich glaube nicht, dass die Welt in sieben Tagen geschaffen wurde, weil mir die wissenschaftlichen Ergebnisse über die Entstehung der Erde eher einleuchten und mir deshalb richtig erscheinen.«52 Etwas drastischer drückt es ein Abiturient aus: »Also ich mein’, dass Gott das alles geschaffen hat, […] das ist ja vollkommen klar, dass es nicht so war. Dass die Kirche da so lange noch drauf insistiert hat und gesagt hat: ‚Das kann man doch irgendwie in Vereinbarung bringen, dass es sowohl mit dieser Theorie von den Wissenschaftlern mit der Entstehung der Welt und der Evolution und so war und dass das auch noch auf die Bibel zutrifft.‘ Das ist eigentlich ein Schmarrn, weil man kann das nicht unter einen Hut bringen.«53 Über eine solche Position, die Schöpfungsglauben und Naturwissenschaften als unvereinbar miteinander betrachtet, kommen viele Menschen ein Leben lang nicht mehr hinaus. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse blockieren aus ihrer Sicht schon den Zugang zur Gottesfrage.

Es gibt triftige Gründe und abgründige Erfahrungen, die Menschen an Gott zweifeln, ja verzweifeln lassen. Es gibt darunter Gründe und Erfahrungen, die kein Religionsunterricht und kein Dialog je argumentativ wird ausräumen können. Dass aber jemand glaubt, aufgrund naturwissenschaftlicher Gründe nicht an Gott glauben zu können, und darum keinen Zugang zu diesem Glauben findet, beruht aus Perspektive heutiger Schöpfungstheologie auf einem Missverständnis. Aber warum, so muss man sich doch fragen, hält sich dieses Missverständnis aller religionspädagogischen Bemühungen zum Trotz derart hartnäckig? Woher rühren die Blockaden, auch nur zu verstehen, worum es dem Schöpfungsglauben geht und worum nicht? Warum dieses alle Seiten frustrierende permanente Aneinander-Vorbeireden? Wie erklärt es sich, dass der diesbezügliche Diskurs »sowohl in der Theologie als auch in der Religionspädagogik in jüngerer Zeit in eine Art Sackgasse geraten zu sein [scheint], […] zwar viel wiederholt und theoretisch eingefordert, aber wenig Neues vorgebracht und konkret eingelöst wird«54?

Ernüchternd sind auch die Äußerungen, die mir von katholischen und evangelischen Theologiestudierenden bei Veranstaltungen zum Thema Schöpfung begegnen. In einer kleinen Befragung zu Beginn einer Veranstaltung erinnert sich zwar mehr als die Hälfte von rund hundert Semi­narteilnehmerInnen daran, das Verhältnis von Schöpfung und modernen Naturwissenschaften bereits im Religionsunterricht behandelt zu haben, dennoch macht einem Großteil die Vereinbarung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und biblischen Aussagen, insbesondere von Evolutionstheorie und Schöpfungserzählungen, nach wie vor Schwierigkeiten. Ein Fünftel gesteht unverhohlen, für sich überhaupt noch keine Möglichkeit der Vereinbarung von Glaube und Naturwissenschaft gefunden zu haben. Aber auch die meisten der von den Studierenden genannten Lösungsmöglichkeiten können weder theologisch noch naturwissenschaftlich befriedigen. »Die Bibel sagt, was Gott gemacht hat, und die Naturwissenschaft, wie er es gemacht hat«, lese ich als eine Antwort auf meine anonyme Befragung. Der »Schöpfungsbericht« sei als »Stütze und Ergänzung« zur wissenschaftlichen Erklärung anzusehen, heißt es bei mehreren anderen. In einer anderen Stellungnahme wird dagegen bedauert, dass sich »die Schöpfungsberichte nur teilweise mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen untermauern [lassen]«. »Viele Aussagen von Glauben und Naturwissenschaft müssen sich ja gar nicht widersprechen«, bemerkt jemand, der »mehr Mut zum naiven Glauben fordert«: »Wo sich scheinbar Widersprüche zwischen Bibel und heutiger Naturwissenschaft ergeben, sollten wir uns fragen, ob es nicht an unserer beschränkten Erkenntnis liegt.« Einmal wird darauf hingewiesen, dass die Erde zwar in sechs »Tagen« geschaffen worden sei, bei Gott aber jeder »Tag« mehrere Millionen Jahre währe. Verschiedentlich wird festgestellt, dass man zwar vieles, aber eben nicht alles naturwissenschaftlich beweisen könne, »und daran muss man dann glauben«. »Hinter dem Unbeweisbaren steckt Gott«, formuliert diesbezüglich jemand anderes. Ein größerer Teil der Studierenden hält zwar Glaube und Naturwissenschaft für vereinbar, muss dann aber bei der Erläuterung nach der Art dieser Vereinbarkeit passen. Mehr als ein Viertel bekennt überdies, dass bei ihnen bereits einmal Glaubenszweifel durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere durch die Evolutionstheorie, ausgelöst worden seien.