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Was haben Schafe mit Spiritualität zu tun? Wie hängen Nebelwanderungen in Schottland mit der Unendlichkeit zusammen? Und wieso kann einem ein Knoten im Karma völlig egal sein? ln ihrem Buch zeichnet die Schweizer Autorin Tanja Angelina Bischofberger die wichtigsten Stationen ihres spirituellen Weges nach. Mit eindrücklichen Erzählungen aus ihrer Biografie lässt sie uns daran teilhaben, wie ihre Geschichte als Adoptivkind aus Bangladesch und die frühe Auseinandersetzung mit den Themen Tod und Sterben ihr spirituelles Empfinden auf eine ganz eigene Weise geprägt haben. Mit viel Gespür und einem leichten Augenzwinkern schildert sie ihre Wahrnehmung des einen schöpferischen Seins, das sich in unterschiedlichen Facetten zeigt. Wir werden eingeladen, uns ohne Dogma und ohne Guru auf den Weg zu machen, um in uns selbst ein bisschen Ewigkeit zu finden.
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Tanja Angelina Bischofberger wurde 1978 in Bangladesch geboren und wuchs als Adoptivkind in der Schweiz auf. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Bern. Als Solo-Selbständige arbeitet sie zurzeit in den Bereichen Websites, Datenschutz & Co. Sie ist nicht nur technikaffin, sondern hat auch eine starke intuitive Ader, ein Gespür für Menschen – und sie liebt die Stille.
EINSTIMMUNG
TEIL I
WOHER KOMME ICH?
ALS ICH VOM HIMMEL FIEL
DER MOSE-KOMPLEX
DAS ERSTE FENSTER IN DIE EWIGKEIT
TEIL II
WOHIN GEHE ICH?
STERBEN, OHNE TOT ZU SEIN
DAS ZWEITE FENSTER IN DIE EWIGKEIT
TEIL III
WER BIN ICH?
EINE UNERWARTETE PROPHEZEIUNG
IM AUGE DES STURMS
WARTEN AUF DEN GURU
DAS JENSEITS UND DER KNOTEN IN MEINEM KARMA
VON BENGALISCHEN STREICHHÖLZERN UND ANDEREN ERLEUCHTUNGEN
EINMAL KÄSESOUFFLÉ, BITTE!
DAS DRITTE FENSTER IN DIE EWIGKEIT
AUSKLANG
»Dein Blick wird nur klar werden, wenn du in dein Herz schaust. Wer nach außen schaut, träumt. Wer nach innen schaut, erwacht.«Carl Gustav Jung
Da du diese Zeilen liest, interessierst du dich sehr wahrscheinlich in irgendeiner Form für Spiritualität (oder für schottische Schafe, wobei diese erst im dritten Teil dieses Buches ihren großen Auftritt haben).
Vielleicht bezeichnest du dich nicht ausdrücklich als spirituell, sondern vielmehr als entdeckungsfreudig, dem Leben zugewandt und bist offen für Dinge, die sich nicht immer wissenschaftlich erklären lassen. Oder aber du suchst schon seit Jahren nach erhellenden Erkenntnissen und hast das Gefühl, in einem spirituellen Hamsterrad gefangen zu sein. Oder du hast ganz andere Gründe, warum du dieses Buch in den Händen hältst. Jedenfalls scheint jetzt der Moment zu sein, da sich unsere Wege auf einer unsichtbaren Ebene kreuzen. Irgendwie krass. Und wunderschön.
Heute bedeutet Spiritualität für mich, das eine schöpferische Sein in mir zu erkennen, aus dem alles entsteht und das in allem und jedem als ewige pulsierende Lebenskraft wirkt. Das ist weit mehr als lediglich der Glaube an eine höhere Macht, denn es gibt keine Trennung mehr zwischen einem Ich und der Göttlichkeit. Alles ist eins, alles ist jetzt. So klar fassen konnte ich die Spiritualität allerdings lange Zeit nicht. Dazu musste ich erst meinen Weg und auch einige Umwege gehen. Sie sind elementarer Bestandteil meiner spirituellen Entwicklung. Ebenso wie die Blicke aus dem Fenster, christliche Gottesdienste, indische Gurus und schottisches Wetter.
Sich mit Spiritualität zu beschäftigen, fühlt sich tatsächlich oft wie eine Nebelwanderung in den schottischen Highlands an: ebenso geheimnisvoll und still, weder gänzlich zu durchschauen noch zu fassen und mitunter hart an der Grenze zur Orientierungslosigkeit. Man weiß nie, wann sich der Nebel lichten wird und plötzlich den Blick freigibt auf ein einsames Tal, die Weite des Meeres oder auf eine Herde zotteliger Hochlandrinder. So überraschend, wie diese grandiosen Ausblicke kommen, so schnell sind sie auch wieder verschwunden. Abermals umhüllt von Ungewissheit, wandert man weiter, lediglich einem schmalen Pfad folgend. Nichts lässt sich in dieser rauen und dem Wetter ausgesetzten Landschaft festhalten, alles verändert sich. Es gibt nur diesen steten Wechsel zwischen Sichtbarkeit und Verhüllung, zwischen Gewissheit und Unsicherheit.
Punkto Spiritualität erging es mir ähnlich. Seit meiner Kindheit war ich beständig auf der Suche nach dem Juwel einer schlichten (spirituellen) Wahrheit. Dabei habe ich einen langen und erkenntnisreichen Weg zurückgelegt: beginnend im christlichen Glauben über die Ausbildung als Medium und geistige Heilerin bis zu den östlichen Philosophien wie Kriya-Yoga und Advaita-Vedanta. All diese spirituellen Angebote tauchten wie aus dem Nebel auf, ich betrachtete sie fasziniert und richtete mein Leben darauf aus. Jedes Mal dachte ich, das »Richtige« gefunden zu haben und endlich am Ziel zu sein. Aber so wenig wie ich den Nebel in Schottland daran hindern konnte, eine wunderschöne Aussicht zu verbergen, so wenig konnte ich dauerhaft bei einem dieser Glaubenskonzepte bleiben. Nach einiger Zeit regten sich Zweifel, und ein untrügliches Gefühl meldete sich bei mir, dass hier etwas Wichtiges fehlte. Darüber konnten mich auch die gelehrten, teilweise recht komplizierten Erklärungen nicht hinwegtäuschen. Sie waren ohnehin nicht mit meiner Vorstellung von einer einfachen und bodenständigen Spiritualität kompatibel. Alle Konzepte, die ich kennengelernt hatte, legten nahe, sich furchtbar anstrengen zu müssen, um spirituell zu sein. In der ichlosen Mystik, wo sich die unendliche Fülle im kleinstmöglichen Punkt der Gegenwärtigkeit ausdrückt, zeigte sich mir schließlich eine andere Erfahrung. Ich musste bloß bereit sein, in mir das zu finden, was schon längst vorhanden war. Und das immer wieder aufs Neue. So bin ich, während ich hier schreibe, weiterhin unterwegs.
Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Wohl wissend, dass auch ich keine abschließenden Antworten präsentieren werde, fallen diese drei Fragen sehr passend mit prägenden Ereignissen in meinem Leben zusammen. Ich möchte dich mitnehmen auf meinen spirituellen Weg, der eng verbunden ist mit meiner Geschichte. Nach meinem Verständnis ist das kein Widerspruch, da sich Spiritualität grundsätzlich im menschlichen Leben ausdrückt, so auch in meinem. Willst du etwas über meine spirituelle Entwicklung erfahren, wirst du unweigerlich in meine Biografie eintauchen (keine Sorge, Ereignisse wie den Verlust des ersten Milchzahns lasse ich aus). Ich erzähle dir meine Geschichte, weil ich selbst erleben durfte, wie sehr mich die spirituellen Reisen anderer Menschen inspiriert und ermutigt haben. In gewisser Hinsicht möchte ich dieses Geschenk nun weitergeben, und ich hoffe, dass du beim Lesen ebenfalls Bestärkung und Anregungen finden wirst. Meine Erlebnisse beschreiben eine von zahlreichen Varianten, wie sich die pulsierende Lebenskraft ausdrücken kann. Sie wirkt in jedem Menschen, die einen nehmen sie bewusst wahr, die anderen weniger. Um sie zu spüren, gibt es keinen einzig richtigen, sondern nur deinen eigenen Weg.
Spirituelle Momente erleben wir alle viel häufiger, als wir glauben, manchmal so zart und dezent, dass wir sie für zufällige Erscheinungen halten. Kurze Augenblicke, in denen du dich völlig frei oder ganz verbunden fühlst, in dir, mit der Natur, in der Musik, mit anderen Menschen. Es lohnt sich, da genauer hineinzufühlen. Denn dahinter versteckt sich oft noch viel mehr. Bei mir war es so, als ob sich ein kleines inneres Fenster geöffnet hätte. Es fühlte sich an, als könnte ich einen Blick in die Ewigkeit werfen, die nicht irgendwo oder irgendwann, sondern bereits jetzt präsent und erlebbar ist, in jedem Menschen, auch in dir. Damit meine ich nicht, dass ich alles wüsste. Im Gegenteil. Nach Jahren der Auseinandersetzung mit spirituellen Lehren genieße ich es, mich in einer erfüllenden und befreienden Leere zu befinden. Das klingt etwas mysteriös, ich weiß, aber vielleicht macht es dich auch neugierig.
Ich lade dich ein, beim Lesen meiner spirituellen Erlebnisse darauf zu achten, ob sie bei dir eine Resonanz auslösen, eine Erinnerung wecken, in die du nochmals eintauchen kannst. Lass dich überraschen, was in dir anklingt. Eine Situation aus deiner Kindheit, eine Empfindung während deiner spirituellen Übung oder ein tiefgreifendes Erlebnis in der Natur. Begib dich auf Spurensuche in deinem Leben und öffne dich für deine eigenen Erfahrungen, bei denen sich Himmel und Erde berührt haben. Meine Schilderungen sind nicht mehr als der Klangkörper eines Instrumentes und transportieren lediglich die Schwingung, ohne die Melodie zu sein. Lauschst du stets in dich hinein, wirst du diese Schwingung aufnehmen und darin das Zeitlose und Kraftvolle erspüren. Mir ist wichtig, dass du in dir selbst die Antworten findest. Du brauchst nichts anderes zu tun, als deinen Blick nach innen zu richten.
Ich freue mich, wenn du meine Texte mit dem Herzen und ohne Erwartungen liest. Dann wirst du mich intuitiv verstehen, obwohl mir an der einen oder anderen Stelle die passenden Worte fehlen. Es gibt hier keine neue Methode zur Glückseligkeit, keine Schritt-für-Schritt-Anleitung für garantiert gelingende Manifestationen, keinen Zehn-Punkte-Plan zur Erleuchtung. Was es gibt, ist Raum für die Magie der schottischen Inselwelten, für eine Prise Humor und ja, auch für ein bisschen Ewigkeit.
»Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.« Es gibt sicherlich viele Bereiche, auf die diese Aussage von August Bebel zutrifft, eine Vielzahl von Menschen bejahen sie zudem auch für sich persönlich: »Man muss doch schließlich seine Wurzeln kennen«, sagen sie.
Bei mir lösen Bebels Worte eine doppelte Reaktion aus: Protest und Belustigung. Zuerst stellen sich mir unwillkürlich ein paar Nackenhärchen auf. Ich merke, wie sich innerlich etwas gegen die Behauptung sträubt, man könne nur wissen, wer man sei, wenn es auf die Frage nach der Herkunft eine vollständige Antwort gebe. Nachdem sich die Nackenhaare wieder beruhigt haben, bringt mich das Herumreiten auf dem »Woher komme ich?« eher zum Schmunzeln, gerade weil mein eigenes Stammbaumwissen mehr als dürftig ist. Ich sehe mich daher als Verkörperung der Antithese zu Bebels Vergangenheitscredo. Vielleicht ist es das Kategorische darin, das mich veranlasst hat, einmal genauer hinzuschauen, um zu verstehen, ob es wirklich stimmt. Ist ein erfülltes, bewusstes und aktives Leben nur den Menschen vorbehalten, die ihre Herkunft kennen? Und was ist mit Herkunft eigentlich gemeint? Auf welches Woher bezieht sich die Frage?
Ich erinnere mich an eine illustre Tischrunde im Kreise einer großen Familie, die im Vorhof eines jahrhundertealten Schlosses stattfand und bei der ich zu Gast war. Das wahrhaft imposante Bauwerk wäre noch im Besitz der versammelten Angehörigen, hätte seine letzte Bewohnerin und Eigentümerin es nicht dem Kanton geschenkt. Niemand erhob damals Einwände gegen diese Schenkung. Auch am Tag der Zusammenkunft zeigte sich keiner der Anwesenden darüber verstimmt. Trotzdem ging es in den Gesprächen um die zwar nicht ausgesprochene, aber sehr präsente Wunschvorstellung, das Schloss wäre im Eigentum der Familie verblieben. Ich lauschte den Dialogen und spürte die Freude der Menschen und ihren verständlichen Stolz, mit so einem weit zurückreichenden Stammbaum direkt und mit diesem Bauwerk immerhin indirekt oder zumindest beinahe verbunden zu sein. Zwischen den Zeilen hörte ich heraus, wie wichtig das Wissen um die eigene Abstammung und die Zugehörigkeit sei, ohne die kein echtes Gefühl von Identität entstehen könne.
Mich beeindruckte das alles sehr. Die mittelalterliche Kulisse des Schlosses und die Aura einer langen, wechselvollen Geschichte quer durch die Jahrhunderte, an deren jüngstem Zweig nun diese Tischrunde stattfand. Alle Anwesenden schienen im Geist der gemeinsamen Vergangenheit miteinander verwoben zu sein, einander Bedeutung gebend durch ihr bloßes Vorhandensein.
Was ist jedoch, wenn dieses Band der Vergangenheit fehlt? All das, was ich hier bei der Tischrunde vernahm, das geballte Stammbaumwissen und die Wichtigkeit der Familiengeschichte, steht im starken Kontrast zur lückenhaften Information, die ich besitze. Ich weiß weder etwas über meine leiblichen Eltern noch, wo genau und unter welchen Umständen ich zur Welt kam, geschweige denn, wer meine Vorfahren waren. Selbst mein Geburtsdatum ist nur eine Annahme. Was ich weiß, ist, dass ich als Findelkind in einer Art Babyklappe in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, abgelegt und von Ordensschwestern aufgenommen wurde, bevor mich ein Flugzeug in die Schweiz zu meinen Adoptiveltern flog.
Die ersten acht Monate meines Lebens und die Geschichte meiner Herkunftsfamilie liegen in absoluter Dunkelheit. Wie präsent bleibt diese Lücke und welchen Einfluss übt sie aus? Kann auf dem Nichtwissen über die eigenen Wurzeln ein stabiles Leben aufgebaut werden? Rütteln nicht dauernd Zweifel, Ängste und mangelndes Urvertrauen an diesem fragilen Fundament?
Eigentlich hätte ich mir eine spannende und exklusive Geschichte über meine Herkunft zusammenreimen können. Zum Beispiel, eine bengalische Prinzessin zu sein, die zum Schutz vor Erbmördern ins Ausland geschafft wurde. Etwas nicht genau zu wissen, hat schließlich den Vorteil, dass alles möglich sein könnte. Aber obwohl mir als Kind eine rege Phantasie attestiert wurde, neigte ich nicht zu solchen Was-wäre-wenn-Träumereien.
Den vielen vorstellbaren Möglichkeiten zu meiner Geschichte stehen wenige Fakten gegenüber. Diese sprechen eine ziemlich klare und ernüchternde Sprache, weit weg von jeder Bollywood-Romantik oder den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht.
Wie die Adoptionsvermittlungsstelle mitteilte, fanden mich die Schwestern eines Ordens von Mutter Teresa vor der Tür ihres Waisenhauses. Ein Ort, an dem oft Babys abgelegt werden, falls die Eltern keinen anderen Ausweg wissen.
Ich brachte 4,5 Kilogramm auf die Waage und war 55,8 Zentimeter groß (also recht stattlich), machte allerdings einen vernachlässigten Eindruck. Ehrlich gesagt zweifle ich daran, ob mein Geburtsdatum wirklich stimmt oder ob es sich nicht eher um das Funddatum handelte. Aber das spielt keine Rolle. Als Säugling in dieser Situation gefunden zu werden, kommt einem Geburtstag gleich. Von den katholischen Ordensschwestern erhielt ich den Namen Angelina (kleiner Engel). Rückblickend empfinde ich das als einen speziellen Moment. Eine fremde Frau, die nichts von mir wusste, gab mir diesen Namen. Was hatte sie wohl dazu bewogen? Wenn ich mein erstes Bild anschaue, erkenne ich da jetzt nichts Engelhaftes. Vielleicht war alles viel pragmatischer, und das Los hat entschieden oder die alphabetische Reihenfolge. Trotzdem, ein Name hat etwas Prägendes, der bleibt ja ein Leben lang präsent. Mir scheint, dass mir damit bereits ein Versprechen mitgegeben wurde, meine Heimat in der Spiritualität zu finden und mich frei und überall zu Hause zu fühlen. Beflügelt und gleichzeitig verwurzelt und verwoben im Unsichtbaren.
Kurz darauf wurde ich in das Zentrum einer Vermittlungsstelle gebracht. Babys konnten von hier aus einfacher und zügiger ihren künftigen Familien zugeführt werden, also musste ich möglichst bald im passenden Register landen. Danach ging alles recht schnell. Denn auf der anderen Seite der Erdkugel warteten seit zwei Jahren meine späteren Eltern auf ein Adoptivkind. Es sollte unbedingt eines aus dem indischen Raum sein, und es scheint, als habe das Schicksal es tatsächlich so vorgesehen.
Als meine Adoptivmutter noch ein Schulkind gewesen war, begegnete ihr während eines Ausflugs mit ihrer Klasse auf den Harder Kulm ob Interlaken ein indisches Ehepaar. Er im Anzug mit Krawatte, sie im traditionellen Sari. Die Klasse sang den beiden ein paar Schweizer Lieder vor, und es wurden Fotos geknipst, welche bis heute vorhanden sind. Diese Begegnung hinterließ einen sehr starken Eindruck bei meiner Mutter und beeinflusste noch nach vielen Jahren die Wahl der Herkunftsregion ihres Adoptivkindes. Lange bevor ich existierte, hatte eine geheimnisvolle Anziehungskraft in meiner Mutter so tiefe Wurzeln geschlagen, dass daraus später eine Verbindung im echten Leben entstanden ist. Zu mir.
Nun hielten meine Eltern ein Foto von mir in den Händen. Wie gesagt, ich war etwas pummelig mit einem traurig-ernsten Blick. Sie standen vor der Entscheidung, ob sie dieses Baby als ihr eigenes annehmen wollten. Das war schnell geschehen, zu groß war die Freude nach der langen Wartezeit. So befand ich mich ein paar Monate nach meiner Abgabe vor dem Waisenhaus auf dem Weg bzw. in der Luft in Richtung Schweiz. Nach einem Zwischenstopp im Krankenhaus von Nyon zwecks Quarantäne gelangte ich dann endlich in den Schoß meiner noch unbekannten Familie und erhielt einen neuen Namen: Tanja. Das »Engelchen« durfte bleiben, als zweiter Vorname. Darüber bin ich sehr froh. Angelina ist für mich und meinen Weg bis heute Programm geblieben, verbinde ich doch mit ihm das Gefühl, ein luftiges Wesen zu sein, das mit seinen Flügeln immer und überall die Freiheit suchen kann, im Innen wie im Außen. Als Tanja Angelina startete ich beflügelt in mein Leben in der Schweiz.
Funfact am Rande: Bei der Recherche zu diesem Text habe ich nach den beliebtesten bengalischen Vornamen gesucht: Tania befindet sich auf Platz sieben. Zufall oder ein Augenzwinkern des Universums?
Von dieser frühen Zeit weiß ich natürlich nichts mehr. Woran ich mich erinnern kann, ist eine wirklich glückliche, bunte und abenteuerliche Kindheit mit viel Musik, Natur und Tieren. Wir wohnten an einer Sackgasse am unteren Ende einer Landwirtschaftszone. Nachts war es absolut still, sodass ich dem Atmen der Kühe auf dem Feld lauschen konnte. Spielkameradinnen und Spielkameraden fand ich in der Nachbarschaft zur Genüge, und wir heckten ständig neue Geschichten aus, die wir nachspielten. Ich blieb ein Einzelkind, auf eigenen Wunsch sozusagen. Die Frage meiner Eltern nach einem Geschwisterchen lehnte ich sehr deutlich ab. So gerne ich mich tagsüber im Trubel mit anderen austobte, so wichtig waren mir auch die Momente des Rückzuges und des Alleinseins.
Die Tatsache, dass ich eine dunklere Hautfarbe habe, war in meiner Kinderzeit nie ein Thema. Das Offensichtliche wurde von den anderen Kindern nicht bewertet, was wohl nicht selbstverständlich ist.
Mit ungefähr vier Jahren fragte ich abends kurz vor dem Schlafengehen meine Mutter, ob ich denn auch einmal in ihrem Bauch gewesen sei. An diese Situation kann ich mich glasklar erinnern, vor allem an den vielsagenden Blick, den meine Eltern austauschten, ganz im Sinne von »jetzt ist es so weit«. Daraufhin hörte ich erstmals die Geschichte meiner Herkunft, die meine Eltern in verständlichen Häppchen zusammenfassten. Sie betonten, dass meine leibliche Mutter es gut mit mir meinte und mir ein besseres Leben ermöglichen wollte. Vermutlich war es schwierig, genügend Essen zu bekommen. Aber sie wollte unbedingt, dass ich groß und stark werde. Deshalb gab sie mich ab, damit jemand anderes für mich sorgte. Ich sah das erste Foto von mir und lauschte gespannt der Erzählung, dass ich von weit her mit dem Flugzeug geflogen war, zusammen mit weiteren Babys, die ebenfalls adoptiert worden waren. Nach dieser Geschichte war ich unheimlich stolz, eine so tapfere leibliche Mutter zu haben, die alles für ihr Kind getan hatte, auch wenn es die Trennung bedeutete. An diesem Abend schloss ich sie wohl zum ersten Mal in mein Nachtgebet ein, bedankte mich bei ihr und bat den lieben Gott um genügend Essen für sie und ihre Familie.