Schreie und Flüstern - Lisa Kreißler - E-Book

Schreie und Flüstern E-Book

Lisa Kreißler

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Beschreibung

"Ich bin keine Freundin von Gewissheiten, aber eine Sache will ich dir doch schon jetzt, ganz am Anfang, mit auf den Weg geben: Egal, was die anderen sagen: Nichts, was du fühlst, ist banal. Die Welt ist voller Zeichen. Und du hast die Gabe, sie zu lesen." Die Schriftstellerin Vera und der Maler Claus leben mit ihrem Sohn Siggi in Leipzig. Doch in der Stadt sind ihre Ideen ins Stocken geraten. Überraschend bekommt Claus von seinen Eltern eine große Summe Geld geschenkt. Kurzerhand entscheiden sich die beiden, einen alten Hof in der westdeutschen Provinz zu kaufen und ihn von Grund auf zu renovieren. Während Claus sich in der neuen Umgebung befreit fühlt, fehlen Vera ihre Freunde, die Zerstreuung des städtischen Lebens, die unverbindliche Leichtigkeit. Das Dorf, die Landschaft, Claus – alles scheint sich ihr entgegenzustellen. Doch als Vera wieder schwanger wird, wächst nicht nur ein neuer Mensch in ihrem Innern heran, auf wundersame Weise verbindet sie sich auch mit der Natur. Frühling, Sommer, Herbst und Winter weisen ihr den Weg zur Versöhnung mit der eigenen Vergänglichkeit. Mit einem guten Gespür für Dialoge und Details erzählt Lisa Kreißler in ihrem neuen Roman SCHREIE & FLÜSTERN von einer Wirklichkeit im Wandel und davon, wie wichtig es ist, den eigenen Gefühlen zu vertrauen.

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Seitenzahl: 252

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Table of Contents

Widmung

Prolog - Lieber Siggi

1. Kapitel - Blut

2. Kapitel - Die Baustelle

3. Kapitel - Der Garten

Danksagung

Biografie - Lisa Kreißler

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Impressum

Widmung

 

 

Für Brandt

 

 

 

»Dir will ich mich entgegenwerfen,

unbesiegt und ungebeugt, O Tod!«

Virginia Woolf: Die Wellen

 

 

»Ich

verlasse die Stadt

es ist immer gut aus einer Stadt

zu gehen durch die Vororte

mit ihren Einkaufszentren Parkplätzen Tankstellen

und plötzlich den Übergang von Stadt zu Land zu spüren

ein neuer Geruch eine Stille eine neue Aufmerksamkeit

als hätte ein ganz neuer Blick sich in den Augen festgesetzt

und du sähst alles zum ersten Mal einen Schwarm Vögel

im Wind auffliegen der die Bäume bewegt das Licht im Fluss

der dort fließt all das Alltägliche und Einfache

das sich wiederholt

so oft dass man kaum darauf schaut.«

Tomas Espedal: Das Jahr

Lieber Siggi,

nächsten Monat wirst du fünf. Du fragst jetzt immer öfter, wann es so weit ist. Und wie deine Augen glänzen und wie du lächelst, wenn ich zu weinen vorgebe, weil du nächstes Jahr sogar schon in die Schule gehen sollst. Vor ein paar Tagen habe ich dir von Klaus Manns Roman »Mephisto« erzählt. Mein Gott, hast du mich ausgefragt! Du hast das Böse gewittert. Was haben die Nazis denn gemacht? Ich habe versucht, dir die Wahrheit zu sagen. Die Nazis wollten, dass alle so denken wie sie, und die, die nicht so denken wollten, alle die, die anders waren, haben sie bekämpft. Getötet? Ja, auch das. Mit der Axt? Mit einer Pistole? Aber ich konnte es nicht hineinsprechen in deine leicht zerstörbaren Augen. Im Bett, kurz vorm Einschlafen, hast du mich gefragt, ob ich dir all das erzähle, wenn du fünf bist. Und weil ich das Thema beenden wollte, habe ich »Ja« gesagt.

Wenn du dies hier liest, wirst du wissen, was die Nazis gemacht haben. Womit die Welt um dich herum gerade ringt, in was für eine Landschaft du blickst, was dir Mut macht, wer dich hält und wer ich heute für dich bin. All das weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass ich etwas festhalten möchte für dich. Hier, in diesem Album. Es soll dir ermöglichen, dir die Zeit anzusehen, an die du dich nicht erinnern wirst können, die Zeit unserer Verwandlung.

Du denkst viel über den Tod nach. Ich kenne deine Angst. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und höre dieselbe Stimme, die du wahrscheinlich hörst, mir ins Ohr flüstern: Irgendwann gibt es dich nicht mehr. Der Gedanke lässt sich nicht in Verbindung bringen mit den Dingen, die wir im Tageslicht verhandeln. Nur manchmal, wenn ich allein im Garten bin, der Dschungel so dicht, dass nichts Menschgemachtes zu sehen ist, habe ich das Gefühl, gar nicht da zu sein. Seltsam, oder? Ja, Siggi, dieses Album ist eine Sammlung wichtiger Dinge, die mit unserem Umzug aufs Land zu tun haben. Es erzählt kein Märchen. All das gehört dir. Du kannst dich selbst darin betrachten, wie in einem Bild deines Vaters. Ich bin keine Freundin von Gewissheiten, aber eine Sache will ich dir doch schon jetzt, ganz am Anfang, mit auf den Weg geben: Egal, was die anderen sagen: Nichts, was du fühlst, ist banal! Die Welt ist voller Zeichen. Und du hast die Gabe, sie zu lesen.

Eben warst du noch mal hier, barfuß, mit einer lilafarbenen Sonnenbrille, hast sie mir anvertraut, ich solle sie für dich aufbewahren, damit niemand sie stiehlt. Jetzt liegt sie neben mir auf dem Schreibtisch, so schmal wie dein Gesicht, so dunkel wie deine Vorahnungen. Siggi, mein schönes zweifelndes Kind, zu deinem fünften Geburtstag bekommst du einen ferngesteuerten Monstertruck, wie gewünscht, und zu deinem 25. bekommst du dieses Album, in der Hoffnung, es möge dir Türen öffnen.

 

Es küsst dich

deine Vera

Blut

»Also«, Harry hebt die Hände vom Tisch und wackelt dämonisch mit den Fingern: »Ich habe die Firma jetzt doch verkauft. Und da habe ich mir gedacht: Davon müssen doch auch meine Kinder profitieren. Ihr bekommt jeder 200 000 Euro. Dafür kauft ihr euch eine Wohnung oder ein Haus! Sucht euch einfach was Schönes aus!«

 

*

 

Ich sitze in der Notaufnahme des Uniklinikums Eppendorf. »Monika, der Drucker spinnt wieder.« Die Stimmen der Schwestern klingen beschwingt. »Musste draufhauen. Guck mal, so!« Die unverbrauchte Energie des neuen Tages ist ihren Schritten anzuhören. Das Telefon klingelt. Ein Lachen fliegt hinter dem Tresen auf, vermengt sich mit der Luft, die vom scharfen Geruch der Desinfektionsmittel erfüllt ist. Und von oben fällt dieses schneidende künstliche Licht herab, das keiner Zeit des Tages ähnelt.

Ein Pfleger läuft an mir vorüber. Seine Kleidung knistert, seine Dusche weht ihm hinterher. Ich bin mir sicher, dass er mich bemerkt hat. Nur ist es ihm zu anstrengend, den Blick zu heben und in dieses Gesicht zu schauen, das ihn schon ein paar Schritte weiter nichts mehr angehen wird.

Die Uhr an der Decke zeigt 7:06. Ich sitze allein auf dem langen Flur und fühle mich gleichzeitig todkrank und wie eine Simulantin. Wer rennt denn sofort in die Notaufnahme wegen dem bisschen Blut? Aber da ist dieser Schmerz in meinem Rücken. Ich blute nun schon seit drei Tagen – und habe kein Gefühl für die Wahrheit. Wenn ich es jetzt entscheiden müsste, würde ich sagen, dass kalte Luft hereinströmt, dass etwas Dunkles sich in mir ausbreitet wie ein Tintenfleck.

Die Ärztin, die mich schließlich bittet, ihr zu folgen, ist nett. Sie hat etwas von der sinnlichen Schönheit Scarlett Johanssons. Durch viele Flure laufe ich ihr hinterher, bis sie in eine Tür abbiegt und sich in den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch schwingt. Ich sinke in den Stuhl ihr gegenüber, meinen Rucksack auf dem Schoß wie ein Kuscheltier. Ein blasses Mädchen im Kittel betritt den Raum durch eine andere Tür und positioniert sich hinter der Ärztin.

»Setz dich doch«, sagt die Ärztin sanft, und das Mädchen setzt sich.

»Dann erzählen Sie mal!«

»Ich bin nur zu Besuch hier«, sage ich.

»Ist das Ihre erste Schwangerschaft?«

»Nein!«, sage ich. »Ich habe einen Sohn.«

»Wie alt ist er?«

»Zwei.«

Die Ärztin macht sich Notizen.

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Schriftstellerin.«

»Ah, und was schreiben Sie?« Da liege ich schon auf dem Stuhl und suche mit hitzigem Blick nach einer Form auf dem Bildschirm des Ultraschallgerätes.

»Briefe«, antworte ich leise.

»Was?«

Über den Bildschirm wabern unlesbare Zeichen.

»Ich schreibe Briefe«, sage ich. Meine Stimme ist noch leiser geworden.

»Aha.« Die Ärztin hört mir nicht zu. Sie ist ganz bei den Tatsachen auf dem Bildschirm.

»Also, eine achte Woche ist es nicht. Hier, die Fruchthöhle ist leer, kein Herzschlag.«

Als wir uns wieder gegenübersitzen, sagt sie: »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie sind später schwanger geworden, als Sie annehmen, oder die Chromosomenkombination ist nicht lebensfähig. In dem Fall wird alles in den nächsten Tagen abbluten.«

Das Mädchen im Kittel hat das Ultraschallgerät zurück in die Ecke des Zimmers geschoben. Jetzt baut es sich wieder hinter der Ärztin auf und schaut mich ausdruckslos an. Die Ärztin hingegen fängt meinen fragenden Blick so liebevoll auf, dass ich einen Moment lang damit rechne, sie würde gleich nach meiner Hand greifen.

»Was denken Sie denn?«, frage ich. »Sie ganz persönlich?«

»Ich habe eher das Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung ist«, sagt sie.

»Mhm.« Ich schaue runter auf meine bunten Turnschuhe. Und je weiter sich das Schweigen zwischen der Ärztin und mir im Raum ausbereitet, desto mehr habe ich das Gefühl, diese Schuhe würden jemand anderem gehören, nicht mir.

»Wenn Sie dann keine Fragen mehr haben …« Die Ärztin ist aufgestanden. Lächelnd streckt sie mir die Hand entgegen.

»Danke«, sage ich und lächele zurück.

Erst als ich ihr den Rücken zudrehe, aus dem Krankenhaus hinauslaufe in einen karggrünen Parkabschnitt und in meinem Rucksack nach dem Handy suche, kommt die Botschaft bei mir an: Niemand kann dir sagen, wie es weitergeht.

 

*

 

»Stau? ... Ja, ich bin jetzt auf dem Weg zum Bahnhof! … Nein, ich will da nicht alleine hin! … Es ist dein Vater, Claus! Ich kenne ihn doch überhaupt nicht. Ich bin ganz durcheinander … Schläft Siggi? Nein, ja, ich höre ihn … Sollen wir Schluss machen? … Keine Ahnung! … Ich weiß es wirklich nicht … Ach, die Buchhändlerin tat mir so leid. Sie hat sogar ihren Mann gezwungen, sich in die leeren Reihen zu setzen. Der Arme hat tapfer durchgehalten. Ich konnte ihm ansehen, wie sehr er gelitten hat. All die Gefühle! All das Pathos! Nein, das war nichts für ihn. Er ist Jurist ... Sechs Personen, insgesamt. Die Mitarbeiterinnen aus der Buchhandlung, eine verwirrte ältere Dame und zwei angetrunkene Mütter. Ich habe die Vermutung, die Buchhändlerin hat die beiden Frauen für ihre Anwesenheit bezahlt. Nach der Lesung kamen sie zum Signieren zu mir, waren dabei aber ganz distanziert, irgendwie angeekelt sogar … Es war schlimm! Ich habe gelesen und mich in jeder Sekunde für alles geschämt. Claus, weißt du was? Ich glaube, ich höre jetzt wirklich auf zu schreiben … Wie geht es dir denn? … Ja, … ja. Wirklich? … Ja, okay … Jahaaa ... Wo wohnen sie denn? ... Nein, er soll mich auf keinen Fall vom Bahnhof abholen ... Claus? ... Bist du noch da? Wir fahren jetzt in einen Tunnel. Es ist ganz dunkel hier – und still.«

 

*

 

Willst du in diesem Garten Brombeeren pflücken, mach dich darauf gefasst, dich zu verletzen. Denn obwohl die Sträucher schwer behangen sind mit Früchten, ist ihre Gestalt alles andere als zuvorkommend. Die Dornen halten sich an allem fest, was sie zu fassen kriegen. Sie wachsen hoch empor und fließen weit über die Erde hin, um dir die Füße zu fesseln. Streckst du die Arme aus, sind sie nicht lang genug. Die schönen dunklen Beeren glänzen. Du hast bei ihrem Anblick schon die erdige Süße auf der Zunge, spürst die Steinchen sich zwischen den Zähnen verhaken. Wag dich langsam vor, gegen den Widerstand der Zweige. Wie ein Haken dringt dir der Dorn in die Haut. Du musst dich losreißen, auch wenn es wehtut. Und wenn du deine blutende Hand dann einer Stelle näherst, wo deine Finger die Beeren endlich berühren, dann pflücke so viel du kannst und lass die Beeren in dir verschwinden wie eine kostbare Medizin.

 

*

 

Als ich einen Motor wie einen Orkan auf den Bahnhof zustürmen höre, weiß ich sofort, dass ich gemeint bin. Ich drehe mich um und sehe den goldenen Maserati, seine Kräfte drosselnd, in eine Parklücke gleiten, dann Harrys gelharte Igelfrisur, seine winkende Hand. Ich laufe auf seinen Sportwagen zu, ich laufe direkt in seine Arme, schmiege mich an seinen großen Bauch, an seine schwer parfümierte Brust – und fange sofort an zu weinen (als wäre er mein Papa). Dann rasen wir durch die Straßen von Bremen. Der Maserati ist ein brüllendes, schlecht erzogenes Raubtier, das an jeder Ampel Bewunderern und Feinden begegnet. Harry plappert und lässt mich weinen.

»Ach, Mensch!«, sagt er.

Bei Susi und Harry kommt gekühltes Sprudelwasser direkt aus der Leitung. Sie haben drei Backöfen und einen Weinschrank, der sich automatisch öffnet, wenn er das Gefühl hat, man bräuchte einen Schluck. Alles ist aufgeräumt und sauber, sorgfältig mit Dekoartikeln dekoriert. Claus’ Bilder hängen dort, wo niemand sie sieht. Meine Schuhe hinterlassen sofort Dreck auf dem Parkett, mein Mantel ist alt und knittrig, mein verheultes Gesicht sowieso unordentlich.

»Sag einfach, was du brauchst«, sagt Susi. »Ich könnte es gut verstehen, wenn du jetzt deine Ruhe haben möchtest.«

»Nein, Quatsch!« Ich lache ihr über die Kochinsel hinweg zu, so laut, dass es mich selbst ein wenig erschreckt.

Ehrfurchtsvoll blickt sie mir entgegen.

»Wie du dich der Sache stellst, ist wirklich stark.« Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

»Na ja«, sage ich.

»Es mag dir vielleicht nicht helfen, aber so frühe Fehlgeburten sind nicht ungewöhnlich. Fast jede Frau muss so etwas einmal durchmachen.«

Ich nicke.

»Wir werden für dich beten«, sagt sie. »Aber jetzt machen wir dir erst mal ein bisschen den Fernseher an.«

Ich durchquere die Länge des Neubaulofts und lasse mich auf die weiße Couchgarnitur sinken. In der Küche geht ein Alarm. Kurz darauf ist Susi mit einer Tasse Kamillentee bei mir.

»Was möchtest du denn gucken?«, fragt sie, während sie neben mir Platz nimmt und sich ein Kissen auf den Schoß legt.

Auf dem wandfüllenden Flatscreen läuft eine Kochsendung.

Lächelnd überreicht Susi mir die Fernbedienung.

Ich ziele auf den Koch und schieße.

 

*

 

Das Schaf läuft den Hang hinauf und wieder hinunter. Es legt sich ins Gras und springt wieder hoch. Seine Schreie klingen dunkel. Dabei ist es mitten am Tag. Die Sonne scheint. Die Luft riecht gut. Eine Amsel landet auf dem Zaun. Die Hühner sind bester Laune. Das Schaf schleppt sich in der Nähe des Haselstrauchs umher. Es legt sich in eine Kuhle, streckt die Beine vom Körper weg und schreit – schon wieder. Unter dem Schwanz wölbt sich die Haut. Blut tropft heraus, Schleim, dann zeigt sich etwas Festes. Hufe, Fesseln. Aber die Öffnung ist zu klein. Das Schaf ist wieder aufgestanden. Die Beine gucken aus ihm hervor, aber es fehlt ja noch der ganze Körper, es fehlt ja noch das Gesicht. Wie lange darf das Wesen so feststecken zwischen den Welten, bis es sich entscheidet, wieder umzukehren? Wie lange darf das Schaf so geöffnet und unerlöst umhergehen, bis es hinfällt und liegen bleibt? Lange. Und lange ist nicht sicher, wie diese Geschichte zu Ende geht. Oh, aber dann passiert es: Ein dunkler, glänzender Körper fällt auf die Erde unter dem Haselstrauch. Er rührt sich nicht. Erst die Mutter erweckt ihn zum Leben. Sanft berührt sie mit der Nase ihr Kind, und da ertönt eine zitternde Stimme.

 

*

 

»Nein!«, kommt es aus dem Innern des Fahrstuhls.

Claus steht, die Hand an die Aufzugtür gedrückt, in Harrys und Susis Treppenhaus. Er sieht erschöpft aus, fast krank.

»Na los, Siggi!«

»Nein!«

Mit verschränkten Armen steht Siggi mitten im Aufzug, bockig wie am ersten Tag.

»Siggi?«, frage ich erstaunt. »Was machst du denn hier?«

Siggi lächelt, macht aber keinen Schritt auf uns zu. Hinter mir klatscht Susi begeistert in die Hände: »Siggi! Der Osterhase war hier. Willst du mal gucken?«

Einen Augenblick lang tut Siggi noch so, als könnte er seinen Widerstand aufrechterhalten, dann schießt er in die Wohnung, springt auf den rollenden Tiger, den Susi an der Garderobe für ihn geparkt hat, und fährt neben ihr, einer Riesin auf einer winzigen rollenden Kuh, zu seinem Geschenkeberg im Wohnzimmer.

Claus’ Pupillen sind groß und unruhig.

»Wie geht’s dir?«, fragt er, legt mir die Hand ans Gesicht.

»Keine Ahnung«, sage ich.

Claus dreht sich zu Harry, und vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber es klingt, als würde er ihn um etwas bitten, als er seine Arme ausbreitet und sagt: »Hallo Papa!«

Während die anderen Gin Tonic in der Sauna trinken, sitze ich neben der Badewanne im Gästebad und angele mit Siggi Plastikfische aus den duftenden Schaumbergen. Siggis Augen strahlen. Susis und Harrys Welt ist Disneyland für ihn, und auch ich fühle mich verwöhnt und geborgen. Nach dem Bad jage ich dem nackten Kind durch die Wohnung hinterher. Siggi springt auf das Sofa, versteckt sich unterm Couchtisch und kriecht ins Regal. Ich ergebe mich wie ein gefallener Boxer, liege mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Fußboden. Es ist so schön, wieder in Siggis Nähe zu sein, sein Gewicht zu spüren, seinen Duft und seinen Widerstand.

»Hast du denn mal wieder ein Bild verkauft?«, fragt Susi beim Essen.

»Nein«, antwortet Claus.

»Wie schade! Du hast doch früher so reizende Landschaften gemalt. Die kommen doch bestimmt gut an!«

»Das ist altes Zeug.«

»Also bitte, mein Lieber! Alle unsere Freunde beneiden uns um die schönen Bilder im Flur. Vor allem das weiße, ich nenne es immer das japanische Bild, stimmt’s, Harry?«

Harry schlingt einen Bissen Tafelspitz herunter und tupft sich mit der Serviette die Soße von den Lippen. »Ja, die finden’s supi.«

»Wir könnten ja noch mal ins Atelier kommen, bevor ihr umzieht. Ich wünsche mir schon seit Ewigkeiten einen Sonnenaufgang fürs Gästezimmer.« Susi fixiert Claus mit einem hypnotischen Lächeln. »Vielleicht bekommst du ja in eurem neuen Haus einen kreativen Schub. Das Landleben wird sicher ungeheuer inspirierend.«

Claus’ Augen lodern.

»Ich hätte ja gedacht, ihr kauft euch eine schöne Wohnung in Leipzig«, sagt Harry. »Dass ihr euch jetzt für so ein Großprojekt entschieden habt, Hut ab! Aber jetzt habe ich noch mal eine ganz andere Frage: Hättet ihr vielleicht Lust, nächstes Jahr mit uns in Afrika auf Safari zu gehen?«

 

*

 

Ich habe mich angezogen wie für eine Beerdigung. Schwarze Schuhe, schwarze Hose, schwarze Bluse. Obwohl ich mich extra erst kurz vor unserem Aufbruch umgezogen habe, glitzern schon Spuren von Siggis Rotz auf meiner Brust.

Claus und ich sitzen auf der samtgrünen Chaiselongue der Kanzlei Jacobi & Schädlich. Claus hat sich sogar ein Hemd angezogen, gebügelt ist es allerdings nicht. Auf seinen Jeans: Spuren von Farbe und Dreck. Er stützt die Ellbogen auf die Knie. Ein wenig unwohl scheint auch er sich zu fühlen.

»Was hältst du von der Empfangsdame?«, fragt er und nickt in Richtung Tresen.

»Spitze!«, sage ich, und dann lachen wir, und dann werden unsere Gesichter wieder ernst, und ich würde Claus gern küssen, mir seine Hand schnappen und gemeinsam mit ihm fliehen, zurück auf die Straße, zurück in unser improvisiertes Leben auf Laminat, zu unseren Freunden nach Leipzig, Vladi und Constanze, auf den Spielplatz im Knochenpark, in die Kneipen auf der Karl-Heine, in die Galerien, in denen niemand etwas verkauft und niemand die Bilder anschaut, sondern nur die Münder, die von ihren Arbeiten erzählen. Leider sind die Ideen ein wenig ins Stocken geraten, wenn nicht längst tot. Aber das sagt niemand. Natürlich nicht, denn: Wir sind noch jung genug. Wir sehen alle sehr gut aus. Aber von wem wollen wir eigentlich so dringend gesehen werden? Und wofür erwarten wir den Applaus? Sind wir nicht schon am Ende, wenn wir Arbeit sagen und damit ein Bild meinen oder ein Gedicht? Warum sind wir so müde? Warum sind wir so nett zueinander? Warum prügeln wir uns nicht? Und warum tragen, verdammt noch mal, alle den gleichen Lippenstift? So ist es doch, Claus, oder? Durch diese Fragen sind wir überhaupt erst hier gelandet, auf der samtgrünen Chaiselongue der Kanzlei Jacobi & Schädlich, wo die Empfangsdame angestrengt lächelnd zwei Espressi auf dem Glastisch vor uns abstellt.

Herr Schmitz holt uns persönlich aus dem Wartebereich ab. Es geht nach oben, die breite Treppe hinauf, in einen großen, akribisch gesaugten Konferenzraum. Jörn H. Schmitz am Kopfende des Tisches. Wir beide zu seiner Rechten. Jeder von uns bekommt ein Exemplar des Kaufvertrages gereicht. Herr Schmitz setzt seine Brille auf. Er wird uns den Kaufvertrag jetzt vorlesen, erklärt er, von vorne bis hinten, alle zwölf Seiten.

»Stellen Sie Fragen, wenn etwas unklar oder nicht korrekt sein sollte.«

Herr Schmitz liest gewissenhaft und langsam. Er lässt nichts aus. (Nicht einmal das, was in Klammern steht.)

Ich schaue aus dem Fenster. Die Knospen der Eiche sind fest verschlossen und trotzdem kann ich es sehen: Sie sind kurz davor zu platzen.

 

Kaufgegenstand, Grundbuchstand

Der Verkäufer Heinz Braband ist eingetragener Eigentümer des Grundstücks in Pohle, Hauptstr. 56, Im Dorfe, Gebäude- und Freifläche, Landwirtschaftsfläche, Katasterbezeichnung Gemarkung Pohle, Flur 5, Flurstück 76/6, 9.012 qm groß, eingetragen im Grundbuch von Pohle (Amtsgericht Stadthagen), Blatt 737 – nachstehend »der Kaufgegenstand« genannt.

Der Kaufgegenstand umfasst:

Ein zweigeschossiges Wohnhaus, mit Keller und Dachboden, 1911 erbaut, 13 Zimmer, 260 qm Wohnfläche.

Einen geschotterten Hof.

Einen Vorgarten.

Einen schmiedeeisernen Zaun.

Ein Stallgebäude für Kühe, Schweine, Pferde, etc.

Eine Scheune, hoch wie eine Kirche, voll mit Müll und Stroh, ein Loch im Dach, durch das Licht fällt und Regen.

Einen Garten, ansteigend, wild bewachsen, mit Obstbäumen, Haselsträuchern, Brombeeren, Gras.

Einen Gewölbekeller, in den Hang gebaut wie eine Gruft.

Einen Acker, oben auf dem Hügel, mit Blick auf zwei flache Gebirgszüge, Strommasten und die A2.

Der Kaufgegenstand liegt ca. 13 km entfernt vom Elternhaus der Käuferin Vera Bergmann. Frau Bergmann lebt zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bereits seit 16 Jahren in anderen Städten und Ländern. Sie war nach dem Abitur bewusst aufgebrochen, um der Enge der westdeutschen Dorfstruktur zu entkommen. Ihre Eltern besuchte sie weiterhin gern, wenn auch nie länger als fünf Tage. Sie hatte nie in Erwägung gezogen, jemals wieder ... und so weiter und so fort. Das änderte sich mit ihrem neuen Lebensabschnittsgefährten Claus Georg Ritter (Maler, wohnhaft illegal auf einem Leipziger Dachboden, Liebesverhältnisse zu anderen Frauen, zunächst Ängste um seine Autonomie, dann umso verbindlicher, 2012 zog er bei Frau Bergmann ein, in das letzte unsanierte Haus in der Ehrensteinstraße, wo der Ofen zu klein war, um die Wohnung im Winter warm zu halten. Dort zeugten sie ein Kind.)

Die Entscheidung zum Kauf des Kaufgegenstandes fiel spontan, während eines Aufenthaltes im Elternhaus Frau Bergmanns. Das Kind, Siegfried Bergmann, bekam während dieses Aufenthaltes »Hand-Fuß-Mund« und wurde, wegen hohen Fiebers und Geschreis, von seinen Eltern ins Krankenhaus in Neustadt am Rübenberge gefahren. Auf der Fahrt ins Krankenhaus schlief Siegfried ein. Starkregen von oben. Prasseln, viel Wasser auf der Frontscheibe, die Sicht: verschwommen. Vera und Claus hatten nach langem Streiten über den richtigen Einsatz der 200 000 Euro des Privatiers und Vaters von Claus, Harald Walter Ritter, einen Grad der Erschöpfung erreicht, der ganz neue Gefühle in den beiden bewirkte. Vera berührte Claus, der den Wagen fuhr, mit der Hand im Nacken. Dieser schnurrte elektrisiert. Das Geräusch des Regens war laut. Beide wurden überwältigt von der heftigen Lust, etwas ganz und gar Unüberlegtes zu tun. Die letzten Überlegungen in Bezug auf das Geld zielten auf Wahrung des bisherigen Standortes, nur mit mehr Fläche und mehr Licht (Dachgeschosswohnung / Wendeltreppe, etc. pp.). Im Krankenhaus bat eine Schwester die drei Protagonisten, in einem Zimmer mit Panoramafensterscheiben auf den Arzt zu warten. Vera stand mit dem fiebernden Siegfried, genannt Siggi, vor dem Fenster und blickte hinaus auf die flache grüne Ebene, die sich vor dem Krankenhaus bis in die Unendlichkeit auszurollen schien. Claus hatte es sich auf der Behandlungsliege bequem gemacht. Er wippte mit dem Fuß. Auch er sah die grünen Wiesen im Regen. Die Schritte des Arztes näherten sich der Tür, und kurz bevor er den Raum betrat, drehte Vera sich zu Claus um.

In dem Moment fiel die Entscheidung.

 

*

 

Mein Körper kann sich nicht entscheiden. Er blutet, aber er lässt das Kind nicht gehen. Wie eine Attrappe der Person, die ich vorher war, kehre ich nach Hause zurück. Ich trage das Gepäck in unsere Wohnung, koche Nudeln und spiele mit Siggi wilder Tiger. Aber Siggi ist unzufrieden mit mir. »Lauter!«, sagt er. »Du bist nicht gefährlich.«

»Mach eine Pause!«, sagt Claus. »Dein Körper braucht Ruhe.«

Mein Körper ist mir fremd und unverständlich. Mein Körper ist schwer. Er will alleine liegen, nicht aufstehen. Er erträgt keine Stimmen, keine Küsse und keine Gesichter. Ich liege auf dem Sofa in meinem Arbeitszimmer und tue nichts, als immer mal wieder darüber zu weinen, was für eine schlechte Mutter ich bin – und was für eine schlechte Freundin. Vladi hat schon fünfmal angerufen. Sogar Constanze hat eine Nachricht geschickt. Aber ich antworte nicht. Draußen ziehen die Menschen ihre Jacken aus und drehen das Gesicht zur Sonne. Hier drinnen, im Reich der Ungewissheit, gibt es keine Richtung. Alles dreht sich um die Frage, ob jemand geht oder ob jemand kommt.

 

*

 

An der Anmeldung von Dr. Klandt hat sich eine Schlange gebildet. Die Arzthelferin mit den Dreads steht aufgebracht hinter dem Tresen. »Legen Sie Ihre Versichertenkarte einfach hier hin und gehen Sie schon mal ins Wartezimmer!«, ruft sie den Frauen entgegen.

»Ich hatte angerufen, wegen der Blutungen«, sage ich leise, als ich an der Reihe bin. Wütend blickt sie mich an.

»Haben Sie nicht gehört, was ich eben gesagt habe?«

Wie dankbar bin ich dafür, dass Claus mich begleitet. Er sitzt schon im Wartezimmer und blättert in der InTouch. Als gäbe es nur einen einzigen Grund, um zum Frauenarzt zu gehen, sind an diesem Vormittag ausschließlich Schwangere im Wartezimmer zusammengekommen. Jede von ihnen wird von der Anmeldung aus aufgerufen, um Urin abzugeben. Nur ich bekomme keines der kleinen weißen Becherchen. Ich habe nicht einmal meine Versichertenkarte zurückbekommen. Darüber können wir lachen.

Wir warten eine Stunde, anderthalb. »Soll ich mal fragen, ob sie dich vergessen haben?«, fragt Claus.

»Auf keinen Fall!«

Die erbarmungslose Arzthelferin bereitet sich schon auf ihre Mittagspause vor. Ich rechne damit, dass sie uns gleich hinausjagen wird. Da steht plötzlich Frau Dr. Klandt in der Tür. »Frau Bergmann?«

Sie geht mir voraus in das Untersuchungszimmer, es ist hoch und weitläufig wie ein Festsaal. Die Liege, das Ultraschallgerät, der Untersuchungsstuhl, wie dezent gekleidete Gäste aus der Zukunft stehen sie im Raum.

Dr. Klandt liest den Befund aus der Notaufnahme.

»Wie stark sind die Blutungen aktuell?«, fragt sie, ohne mich anzusehen.

»Seit drei Tagen blutet es gar nicht mehr.« Ich kann den hoffnungsvollen Ton in meiner Stimme selbst kaum ertragen.

Frau Dr. Klandt wirbelt von ihrem Stuhl. »Das muss nichts bedeuten.« Mit einer anmutsvollen Handbewegung weist sie mich auf die Umkleidekabine hin.

Es dauert eine Weile, aber dann erkenne ich auf dem Bildschirm die Fruchtblase und den Dottersack. Aber da ist noch etwas anderes, etwas, das beim Ultraschall in der Notaufnahme noch nicht zu sehen war: eine winzige Gestalt, die schon Arme und Beine erkennen lässt. Frau Dr. Klandt blickt irritiert auf das wabernde Wesen, zoomt es heran. In der Mitte der Gestalt brodelt ein winziger Punkt – das Herz meines Kindes.

 

*

 

In those days we spent a lot of time on the Autobahn. In our shabby old white OPEL we drove from Leipzig to Lower Saxony and then back from Lower Saxony to Leipzig. It was as if we were existing on the Autobahn more than anywhere else. The home we came from was a place we would leave soon. The home we were moving to was a strange place with no signs of our presence yet.

The Autobahn was a time tunnel. Our dreams and visions were more than welcome. Our possible death was visible on the Seitenstreifen, where ambulance and policemen were standing next to the racing cars without noticing the heat of the moment. German Vernunft. German Bürokratie. We never saw a body or blood. And when we arrived at my parent’s place, my dad came to say hello to us with binoculars in his hands. He said: »I saw you coming.«

 

*

 

Die Partys im Haus meiner Eltern haben einen unbiegsamen Charakter. Nicht nur der Ablauf, auch die damit verbundenen Emotionen sind seit Jahren identisch. Schon Wochen vorher bereitet meiner Mutter die teuflische Frage, was es zu essen geben soll, schlaflose Nächte. In der Diskussion darüber sind Tränen der Verzweiflung nicht selten. Mein Vater will ihr gerne helfen, aber mit seiner immer gleichen Bemerkung »Wir machen einfach Brezeln!« bringt er sie erst recht auf die Palme.

Aus einer üppigen Bandbreite an Ideen wählt meine Mutter, wenn die Feier näher rückt, zwei bis drei Favoriten aus. Weil aber die Unsicherheit, welches Gericht das richtige ist, eher wächst als weicht, macht sie einfach alles: den Pfundstopf, den Jägertopf, Lachsquiche und Zwiebelkuchen, Rote-Bete-Carpaccio und Datteldip. Sie backt Brot, wäscht Trauben, eine Käseplatte gehört einfach auf jedes Büfett, und neben zwei Nachtischvarianten kreiert sie noch ein paar Highlights, von denen sie niemandem erzählt. Später, wenn alle satt sind und schon erste Schnäpse zur Verdauung eingenommen wurden, kommt sie als Überraschung mit einem Tablett Wodka-Wackelpudding oder einer Schale schokolierten Erdbeeren an den Tisch. Zu diesem Zeitpunkt der Party ist ihre Anspannung einer Lässigkeit gewichen, die man in den Stunden, bevor die Gäste eintreffen, nicht für möglich gehalten hätte. Da ist sie gereizt, war noch nicht im Bad und schickt Papa hin und her (»Im Esszimmer fehlen noch Stühle. Denk doch mal mit!«). Der Mann hat tatsächlich die Ruhe weg, sich zehn vor sieben in den Sessel niederzulassen und im Wochenblatt den Artikel über den Auffahrunfall auf der B442 zu lesen, während Mama schwitzt vor Unlust, nein, Angst!, während sie sich in letzter Sekunde die Wimpern tuscht und sich fest vornimmt, beim nächsten Mal einfach Brezeln zu machen.

Bevor es klingelt, gefriert das Haus in andächtiger Stille. Habe ich eben mit Malte noch Witze über unseren Vater gemacht, verändert sich die Atmosphäre schlagartig, als würden wir nicht auf unsere Verwandtschaft warten, sondern auf einen Angriff von Außerirdischen. Dabei wissen wir sogar, in welcher Reihenfolge die Gäste eintreffen. Pünktlich zur vollen Stunde drückt Onkel Gunnar seinen Zeigefinger auf den Klingelknopf, kurz danach kommen Oma und Guido, dann gesammelt die Freunde meiner Eltern, und als Letztes Mamas Schwester Karin und ihr von allen mit heftigem Misstrauen erwarteter Freund Konrad. Mamas zweitgrößte Sorge (neben dem Essen) ist die Ausgewogenheit des Events. Wer soll neben Konrad sitzen? Wer neben Gunnars eisern schweigender neuer Braut? Tatsächlich kommt jedes Mal eine geteilte Gesellschaft zustande. Im Esszimmer wird herrlich gelacht, während es im Wohnzimmer so leise ist, dass das Klimpern des Bestecks bedrohliche Züge annimmt.

Zu später Stunde probiert Mama selbst von ihrem Essen, mit einer Neugier, als hätte ein heimlicher Liebhaber für sie gekocht und in seiner Speise würde sich alles offenbaren, was er ihr nicht sagen darf. Während Mama sich entspannt, beginnt Papa mit zunehmender Stunde nervös zu werden. Er wird grau im Gesicht, rennt hin und her und kann niemandem mehr in die Augen schauen. »Ich bin irgendwie so angespannt!«, sagt er, als ich ihn auf Mamas Geburtstagsparty in der Küche treffe. Er legt sich die Hand an die Brust. »Ich halte es mit diesem Typen in einem Raum einfach nicht aus.« Auch mir wird ein wenig unwohl zumute, als ich Konrad im Wohnzimmer Louis Armstrong imitieren höre. »Ach, Papa«, sage ich und lege ihm den Arm um die Schulter. »So schlimm ist er jetzt auch wieder nicht.« Pfeifend kommt Konrad mit seinem Teller in die Küche. Papa stürmt raus wie ein beleidigter Teenager. Ach, was waren wir einst für eine harmonische Familie, offen für jeden netten Menschen, vereint im Kern, aber das war einmal und ist ein Märchen. Konrad hat seine Chance wohl bekommen. Genau weiß ich es nicht. Aber auch ich fühlte mich von Anfang an in seiner Nähe nicht ganz wohl. Obwohl wir uns kaum kannten, witterte er die Themen, die mir Schmerzen verursachten. Schnell hatte jeder seine Geschichte mit ihm. Er zweifelte das Erbe meines Großvaters an und beleidigte meine Cousine. Wenn er betrunken war, verlor er völlig das Gefühl für die Grenzen seines Gegenübers.