Schuld ohne Sühne - Angelica Netz - E-Book

Schuld ohne Sühne E-Book

Angelica Netz

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein junger Ermittler und ein grausamer alter Mordfall Als der frischgebackene Kommissar Rudolf Wafzig 1964 den Dienst beim LKA Koblenz antritt, erscheint es ihm zunächst wie eine Art Strafarbeit, als man ihm mehrere Akten vorlegt, die er sichten soll, um einige jahrzehntealte Fälle aus der Zeit der Besatzung möglicherweise doch noch aufzuklären. Dann stößt er auf eine Meldung, die aufgrund ihrer Grausamkeit sofort sein Interesse weckt: »Überfall auf das Burgerhaus bei Andernach am 1. April 1946 – neun Tote, keine erhärtbaren Spuren, Einstellung der Ermittlungen 1956!« Mehrere Familienmitglieder sowie Gäste des Burgerhauses in Plaidt bei Andernach wurden von den Tätern regelrecht hingerichtet. Diese barbarische Tat wird Wafzig sein Leben lang nicht mehr loslassen. Er macht sich auf die Suche nach dem Motiv – und nach den grausamen Tätern. Die Zeit drängt, denn schon bald läuft unweigerlich die Verjährungsfrist ab. Ein realer historischer Kriminalfall, mit all seinen erschütternden Details verpackt in einem aufwühlenden Roman.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 226

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Im Laufe ihrer langjährigen Tätigkeit im öffentlichrechtlichen Hörfunk hat Angelica Netz aus vielen Ländern dieser Welt berichtet. Nun hat sie hier in der Heimat einen erschütternden Stoff gefunden. Im Nachlass ihres Vaters entdeckte sie eine Todesanzeige aus dem Jahr 1946. Die realen Burgerhausmorde zu Kriegsende hat sie nach akribischer Recherche in eine aufwühlende Kriminalgeschichte gepackt.

ANGELICA NETZ

Schuld ohne Sühne

Kriminalroman

Originalausgabe

© 2024 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-681-3

E-Book-ISBN 978-3-95441-692-9

Für Dille

INHALT

2. JUNI 1964 – LKA KOBLENZ

4. JUNI 1964 – LKA KOBLENZ

5. JUNI 1964 – STAATSANWALTSCHAFT KOBLENZ

31. MÄRZ 1946 – WLADIMIR

9. JUNI 1964 – ANDERNACH

9. JUNI 1964 – BURGERHAUS

1. APRIL 1946 – WLADIMIR

10. JUNI 1964 – ANDERNACH

13. JULI 1946 – WLADIMIR

11. JUNI 1964 – NICKENICH

23. SEPTEMBER 1946 – WLADIMIR

15. JUNI 1964 – KOBLENZ

19. JUNI 1964 – KÖLN

22. JUNI 1964 – KOBLENZ

15. MAI 1948 – WLADIMIR

28. JULI 1964 – LKA KOBLENZ

25. MÄRZ 1949 – WLADIMIR

3. NOVEMBER 1964 – ZUCHTHAUS DIEZ

12. FEBRUAR 1950 – WLADIMIR

23. MÄRZ 1965 – LKA KOBLENZ

2. FEBRUAR 1951 – WLADIMIR

26. JULI 1965 – RATINGEN

24. SEPTEMBER 1965 – ZUCHTHAUS RHEINBACH

29. SEPTEMBER 1965 – LKA KOBLENZ

3. FEBRUAR 1956 – WLADIMIR

18. OKTOBER 1965 – LKA KOBLENZ

4. NOVEMBER 1965 – OBERLANDESGERICHT KOBLENZ

30. MÄRZ 1957 – WLADIMIR

7. MÄRZ 1966 – LKA KOBLENZ

13. MAI 1966 – LKA KOBLENZ

21. JUNI 1966 – BURGERHAUS

28. JULI 1990 – MAINZ

3. AUGUST 1983 – WLADIMIR

27. SEPTEMBER 1993 – SARATOW

NACHWORT

DANK

2. JUNI 1964

LKA KOBLENZ

Auf dem schlichten Schreibtisch des Büros liegen zwei Stapel leicht verblasster, roter Aktendeckel. Bei ihrem Anblick fragt sich Rudolf Wafzig zum wiederholten Mal an diesem Tag, ob es die richtige Entscheidung war, sich ins Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz versetzen zu lassen. So schlecht ist es doch bislang für ihn, den fünfunddreißigjährigen ehemaligen Polizeiobermeister aus Bad Ems, nicht gelaufen. Vor fünf Jahren hat er seine Prüfung zum Kriminalkommissar abgelegt, danach ist er ins Kriminalamt Mainz gewechselt. Dort hat er zuletzt einen spektakulären Überfall auf ein Juweliergeschäft aufgeklärt. Wenig später kam das Angebot vom LKA. Natürlich hat er zugesagt.

Als er gestern vor dem Gebäude des LKA ankam, das, wie alle Häuser in der Koblenzer Neustadt, im hellen Gelb des Kurfürstlichen Schlosses gestrichen ist, musste er erst einmal tief durchatmen. Nun soll er künftig also zu der Mannschaft von ausgezeichneten Kriminalisten gehören, die für die ganz großen Fälle in Rheinland-Pfalz zuständig ist. Mit einem leicht flauen Gefühl in der Magengrube, aber auch voll Stolz hat er durch die hohe Glastür das moderne vierstöckige Bürogebäude betreten, in das die Beamten des LKA erst vor zwei Jahren eingezogen sind. Zu seiner Überraschung hat ihn der stellvertretende Leiter des Landeskriminalamts, Rudolf Schmücker, sogar persönlich begrüßt.

»Wunderbar, Herr Wafzig, dass Sie jetzt bei uns sind! Sie werden sehen, es wird Ihnen gefallen.«

Jovial hat Schmücker ihn am Arm genommen und ihn durch alle Abteilungen des LKA geführt. Mit weit ausholender Geste zeigte er auf die über hundertfünfzigtausend Fallakten, die das Archiv des LKA füllen. In einer weiteren Abteilung durfte Wafzig die Kartei mit über siebzigtausend Fingerabdrücken bewundern. Sie werden, so erklärte ihm Schmücker, von Spezialisten katalogisiert und zur Spurensicherung ausgewertet. Im Keller ging es dann zu der speziell für die ballistischen Untersuchungen gebauten Schießanlage. Wafzig bestaunte beeindruckt den mit Sand gefüllten Kasten, in den die Kugeln aus einer mutmaßlichen Tatwaffe abgefeuert werden, um sie anschließend mit den Projektilen zu vergleichen, die am Tatort sichergestellt werden.

Leider erfuhr Wafzig auf seinem Rundgang auch, dass es im LKA keine Betriebsfußballmannschaft gibt. Im Kriminalamt Mainz war er ein gefürchteter Innenverteidiger, der »Eisenfuß« der Mannschaft. Auf seinen Lieblingssport wird er künftig also verzichten müssen, ebenso auf das eine oder andere Glas Bier mit den Kollegen nach dem Spiel. Aber daraus hat er sich ohnehin nie viel gemacht. Er ist nicht der Typ für gesellige Männerrunden. Er könne ja stattdessen Mitglied im Koblenzer Ruderclub Rhenania werden, hat Schmücker gemeint. Dort ruderten mehrere Kollegen, und Wafzig mit seiner Größe und seiner schlanken Figur sei doch wie gemacht für die schmalen, schnellen Boote.

Nach einem Besuch in der Kantine, wo es Eintopf mit Mettenden gab, bat Schmücker ihn dann noch einmal in sein geräumiges, mit dunklem Mobiliar ausgestattetes Büro. Gespannt wartete Wafzig darauf, in welche Abteilung der Kriminalrat ihn beordern würde. Vielleicht zum Rauschgift, Mord oder zur Bandenkriminalität?

»Nun, Kommissar Wafzig«, begann Schmücker das Gespräch, »man hat mir gesagt, dass Sie hartnäckig sind und sehr systematisch an Ihre Fälle herangehen. Solche Leute brauchen wir. Sie haben ja unser umfangreiches Archiv gesehen. Darunter gibt es eine ganze Reihe von Akten, bei denen wir Sorge haben, dass die Fälle schon bald verjähren könnten. Sie wissen ja, in Bonn wird gerade darüber debattiert, ob die Verjährungsfrist von zwanzig Jahren bei Kapitalverbrechen wie Mord und Völkermord aufgehoben wird oder bestehen bleibt.«

Wafzig erinnerte sich, dass er im Rheinischen Merkur kürzlich über die sogenannte Verjährungsdebatte gelesen hatte. Nach geltendem Recht verjähren solche Kapitalverbrechen nach zwanzig Jahren. Diese Frist war von den Besatzungsmächten jedoch für die Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 ruhend gestellt worden. Als Stichtag für den Beginn der Verjährung wurde in der französischen Zone der 9. Mai 1945 festgelegt, also der Tag nach der deutschen Kapitulation. Ohne eine Gesetzesänderung droht nun also, dass alle nationalsozialistischen Verbrechen im nächsten Jahr, zum 9. Mai 1965, verjähren könnten.

Der frischgebackene LKA-Beamte fragte sich allerdings, was die anstehende Debatte in Bonn mit seiner künftigen Tätigkeit zu tun hat. Schmücker sollte ihn jedoch umgehend aufklären. Die Verjährungsfrist könne nicht nur die Verbrechen der Nazis straffrei stellen, sondern auch die zahlreichen Verbrechen, die in den chaotischen Zeiten nach Kriegsende, während der französischen Besatzung, in Rheinland-Pfalz geschehen waren.

»Das LKA«, eröffnete ihm Schmücker, »ist gebeten worden, die nicht gelösten Fälle aus jener Zeit noch einmal zu sichten und sie vielleicht doch noch einer Aufklärung zuzuführen.«

Langsam begriff Wafzig, was Schmücker ihm in seinem Bürokratendeutsch da gerade eröffnete. Er sollte also diese Aufgabe übernehmen. Wafzig hatte Mühe, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Der stellvertretende LKA-Leiter wollte tatsächlich, dass er, der leidenschaftliche und bislang durchaus erfolgreiche Kriminalkommissar, sich mit Altlasten in den Archiven des LKA beschäftigt. Er schluckte, räusperte sich und meinte dann: »Ich hoffe sehr, dass dies nur vorübergehend ist.« Allerdings hat er darauf gestern keine Antwort mehr bekommen.

Nun sitzt Wafzig an seinem schlichten Schreibtisch auf einem Stuhl der Marke Raumwunder, dessen mangelnde Ergonomie er schon in Mainz kennenlernen durfte. Für seine Größe ist der Stuhl viel zu klein. Aber ein komfortableres Sitzmöbel hätte kaum Platz in der kleinen Kammer gefunden, die man ihm gestern als Büro zugewiesen hat. Unschlüssig, ob er den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch weiter ignorieren soll, testet er die Tasten der Olympia-Schreibmaschine, die er allerdings lediglich im Zweifingersystem beherrscht. Dann sucht er nach Papier und Stiften, findet alles in einer Schreibtischschublade – und sogar einen Aschenbecher! Er platziert alles sorgsam vor sich auf den Tisch. Auf dem Seitenregal haben bereits seine Thermosflasche mit Kaffee und ein Becher Platz gefunden; sein leichter Mantel hängt samt der karierten Schirmmütze an einem Haken neben der Tür.

Jetzt fehlt nur noch das gerahmte Foto von Erika. Mit der Sekretärin aus dem Kriminalamt Mainz ist er seit der Weihnachtsfeier vor zwei Jahren, die er ausnahmsweise einmal besucht hatte, liiert. Er stellt Erikas Foto seitlich hinter die Olympia und betrachtet seine hübsche Freundin, die im gepunkteten Sommerkleid freundlich in die Kamera lächelt. Dabei fällt ihm ein, dass er gestern vergessen hat, Erika anzurufen. Nun wird sie sicher eingeschnappt sein. Schließlich hätte sie gern gewusst, wie sein erster Tag in Koblenz gelaufen ist. Er wird das Telefonat am Abend nachholen und sie hoffentlich besänftigen können.

Er schiebt die Olympia zur Seite und lockert seine Krawatte. Er kann die Enge um seinen Hals jetzt gerade schlecht ertragen. Nachdem er sich eine Stuyvesant, seine Lieblingszigarettenmarke, angezündet hat, legt er schließlich widerwillig den ersten Aktenstapel vor sich auf den Tisch. Sein neuer Vorgesetzter, Hauptkommissar Seiters, hat ihm heute Morgen nach dem unbefriedigenden Gespräch mit Schmücker noch erklärt, er solle prüfen, ob sich in den Akten eventuell neue Ansatzpunkte für eine Wiederaufnahme der Ermittlungen finden lassen. Wafzig hat allerdings keine Ahnung, wie er das nach so vielen Jahren anstellen soll. Zumal Seiters ihm verraten hat, dass all die Akten vor nicht einmal zehn Jahren schon einmal von Beamten des LKA gesichtet worden waren. Danach verschwanden die meisten mit dem Vermerk »Aufklärung unwahrscheinlich« im Archiv.

Während der Besatzungszeit, so erläuterte ihm Seiters, waren in erster Linie die Alliierten für die Verbrechensaufklärung zuständig, vor allem bei Straftaten, die von sogenannten »Displaced Persons« begangen worden waren. Zu diesen DPs, wie die Alliierten sie nannten, zählten ehemalige Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, aber auch KZ-Häftlinge. Sie alle unterstanden nach dem Krieg der Hoheit der Alliierten. Die deutschen Behörden hatten so gut wie keine Handhabe, Verbrechen dieser »verschleppten Personen« zu verfolgen. Die Ermittlungsakten wurden damals alle beim französischen Obertribunal in Rastatt aufbewahrt. Erst mit der Auflösung des Tribunals 1955/56 wurde ein Teil an die deutschen Justizbehörden übergeben.

Wafzig erinnert sich, dass er als vierzehnjähriger Hitlerjunge bei den Großeltern in Andernach einmal einen Zug von ausgezehrten Männern, Frauen und Kindern gesehen hat, die in ärmlicher Kleidung und mit armseligem Gepäck von Polizisten zum Marktplatz geführt wurden. Das war 1942 oder 43. »Sie sind Fremdarbeiter aus dem Osten«, hat ihm der Großvater damals erklärt, »sie müssen jetzt für uns Deutsche in den Fabriken und in der Landwirtschaft arbeiten. Unsere Männer sind ja fast alle an der Front.«

Später, als der Krieg vorüber war, erfuhr Wafzig aus den Radionachrichten der Alliierten, dass mehr als dreizehn Millionen Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge und Deportierte aus den von Deutschen besetzten Gebieten zur Arbeit für die Kriegswirtschaft im Deutschen Reich gezwungen worden waren. Nach ihrer Befreiung wurden sie von den Besatzungsmächten zunächst in Lagern untergebracht und sollten baldmöglichst mithilfe von Flüchtlingsorganisationen in ihre Heimat zurückgeführt werden. Was offenbar nicht gelungen ist, denkt Wafzig. Denn nun soll er sich mit den Straftaten einiger dieser Displaced Persons beschäftigen.

Noch immer leicht verärgert über Schmückers Entscheidung, nimmt er das Deckblatt des ersten Aktenstapels. Es ist eine Liste aller Fälle, die er bearbeiten soll. Sie reichen von April 1945 bis Ende 1946. Wafzig beginnt zu lesen.

Überfall auf den Eckeberger Hof am 26. April 1945

Mord an den Eheleuten Alois und Maria Brinkmann im Hof Assmannshöhe bei Koblenz am 14. Juli 1945

Überfall auf den Aussiedlerhof Hühnerberg bei Nievern im Oktober 1945, Ermordung des Bauern

Erschießung des Pächters des Hofs Liebeneck bei Osterspai am 4. Mai 1946.

Die Liste ist lang. Aber bei allen Taten entdeckt Wafzig, dass die mutmaßlichen Täter tatsächlich immer Displaced Persons aus nahe gelegenen Lagern waren. Er nimmt sich einen Becher Kaffee aus seiner Thermosflasche auf dem Seitenregal. Warum haben die damals zuständigen französischen Behörden die Täter nicht überführt, wenn es doch in allen Fällen Verdächtige im Umfeld der DP-Lager gab? Das will er herausfinden, ehe er bewertet, ob sich in dem einen oder anderen Fall die Wiederaufnahme von Ermittlungen lohnt. Seine kriminalistische Neugier ist auf jeden Fall geweckt!

Er blättert durch die ersten Akten und stellt fest, dass alle offenbar ordentlich chronologisch geordnet sind. Aber was die Aufzeichnungen zu den Ermittlungen angeht, erscheinen ihm die meisten mehr als dürftig. In einigen Aktendeckeln sind nicht mehr als ein paar Dutzend Seiten. Er beginnt trotzdem zu lesen. In den ersten Akten findet er keinerlei Hinweise, die eine Wiederaufnahme rechtfertigen würden. Es gab in keinem Fall eine systematische Spurensuche durch die französischen Ermittler, keinen Abgleich von Waffen mit den am Tatort sichergestellten Projektilen. Die Angaben der Zeugen sind ebenfalls mehr als ungenau und weichen stark voneinander ab. Noch während er darüber nachdenkt, ob in allen Fällen so schlampig ermittelt wurde, schlägt er den nächsten Aktendeckel auf.

Überfall auf das Burgerhaus bei Andernach am 1. April 1946: neun Tote, keine erhärtbaren Spuren, Einstellung der Ermittlungen 1956.

Neun Tote, das Ausmaß des Verbrechens übertrifft bei Weitem alle vorherigen Fälle! Wafzig öffnet die Akte, die sehr viel umfangreicher ist als alle anderen. Es müssen, so schätzt er, mehrere Hundert Seiten sein. Beim ersten Durchblättern entdeckt er Dutzende von Tatortfotos und -skizzen, Fotos von offenbar achtlos zugedeckten Leichen, dann die Opfer mit ihren tödlichen Verletzungen – wohl die Dokumentation der Leichenschau.

Schließlich stößt er auf eine Todesanzeige:

Aus der Fastenzeit dieser Welt voller Bangen und Schrecken rief Gott der Herr unsere lieben Angehörigen und Hausgenossen plötzlich zu sich in das ewige Ostern der Liebe und des Friedens. Es starben als Opfer eines furchtbaren Verbrechens …

Es folgen sechs Namen. Wafzig atmet hörbar ein. Die Todesanzeige in ihrer Unmittelbarkeit berührt ihn unerwartet heftig. Er betrachtet noch einmal die Fotos der Opfer und liest den Bericht der Leichenschau. Demnach haben die Täter den Besitzer des Burgerhauses, Walter Windheuser, regelrecht hingerichtet. Außerdem töteten sie seine alte Mutter, die Tante, seinen Schwiegervater und zwei Knechte des Hofes. Der Amtsarzt vermerkte zudem die tödlichen Schüsse auf zwei Frauen. Eine von ihnen erlag ebenso wie ein dreizehnjähriger Junge aus Köln und einer der Knechte des Hofes erst in den Stunden nach der Tat ihren schweren Verletzungen.

Die Täter waren offenbar mitleidlos und mit äußerster Brutalität vorgegangen. Warum nur, fragt sich Wafzig, was war das Motiv für diese grausame Tat? Gespannt liest er weiter und erfährt, dass es auch Überlebende des Verbrechens gab: Elisabeth, die Frau des Bauern, mit den drei gemeinsamen Kindern sowie zwei Geschwister des Bauern, die damals einundvierzigjährige Katharina und ihr ein Jahr jüngerer, geistig behinderter Bruder Hanni. Überlebt hat außerdem ein Christian Gerb aus Köln. Diese Zeugen, denkt Wafzig, sind ein möglicher Ansatzpunkt für neue Ermittlungen.

Auf einmal empfindet der frischgebackene Kommissar des LKA sein Aktenstudium gar nicht mehr als »Strafarbeit für den Neuen«. Nach seiner Erkenntnis ist dies das größte Verbrechen in Rheinland-Pfalz seit der Nachkriegszeit. Diesen Fall will und muss er aufklären, ein solches Verbrechen darf nicht ungesühnt bleiben. Seite für Seite blättert er sich jetzt durch die Akte. Er liest die Protokolle der ersten Tatortbegehung durch die deutschen Polizeibeamten und auch die anschließenden Aufzeichnungen der französischen Gendarmerie. Wieder kommt es ihm so vor, dass die Franzosen selbst bei dem neunfachen Mord im Burgerhaus eher lax ermittelt haben. Spuren wurden nicht zu Ende verfolgt, und Aussagen von Zeugen blieben unberücksichtigt.

Wafzig schaut auf die Uhr. Es ist schon nach siebzehn Uhr. Er hat die Zeit vollkommen vergessen, er war nicht einmal in der Kantine zum Essen. Er legt die Akte zur Seite und verlässt das Büro.

Wafzig hat sich als Untermieter bei einem alten Witwer einquartiert. Von dessen Wohnung in der Mainzer Straße sind es zu Fuß nur zwanzig Minuten zum LKA in der Koblenzer Neustadt, und das Zimmer genügt seinen bescheidenen Ansprüchen. Es ist sauber und das Bett bequem. Auf dem Weg dorthin wird er sich noch Brot und Schinken zum Abendessen besorgen und dann mit Erika telefonieren.

4. JUNI 1964

LKA KOBLENZ

Wafzig schenkt sich die erste Tasse Kaffee des Tages ein und gönnt sich dazu eine Zigarette. Er betrachtet das gerahmte Foto von Erika. Gestern Abend hat er endlich mit ihr telefoniert. Sie hat ihm natürlich Vorhaltungen gemacht, dass er sie nicht schon am ersten Abend angerufen hatte. Er hat sich ausreichend zerknirscht gezeigt und sich pflichtgemäß entschuldigt. Erika schwärmte ihm dann noch von einem ganz tollen Schnitt für ein Sommerkleid aus dem neuen Burda-Katalog vor, das sie sich auf jeden Fall schneidern will. Es ist ihm gelungen, höfliches Interesse zu zeigen.

Er drückt die Zigarette aus, nimmt noch einen Schluck Kaffee und schaut auf die Akte mit den Aufzeichnungen und Protokollen zu den Burgerhaus-Morden.

Der Fall hat ihn gestern nach seinem Telefonat mit Erika noch länger beschäftigt – ganz gegen seine sonstige Gabe, seine Fälle mit Beginn des Feierabends hinter sich zu lassen. Er schlägt die Akte auf und erfährt, dass der Fall bis in die Fünfzigerjahre verfolgt wurde, und obwohl die Ermittler damals mehrere am Überfall Beteiligte identifizieren konnten, wurde keiner der Täter für diese Tat vor ein Gericht gestellt. Das will und muss Wafzig einfach ändern! Er beschließt, sich nicht nur auf die umfangreichen Akten zu verlassen, sondern sich auch ein eigenes Bild zu machen und daraus seine Schlüsse zu ziehen. Er wird noch einmal ganz von vorn beginnen, mit der Besichtigung des Tatorts und der Befragung der Zeugen. Danach wird er den Faden der Untersuchungen in den Fünfzigerjahren wiederaufnehmen und die Ermittler von damals befragen. Die zuständigen Staatsanwälte hatten sich, wie er der Akte entnommen hat, vor allem auf zwei Hauptverdächtige konzentriert. Aber auch derer wurde man offenbar nicht habhaft. Die Ermittlungen in den Burgerhaus-Morden waren laut der Liste auf seinem Schreibtisch 1956 eingestellt worden. Aber bevor er mit seinen eigenen Ermittlungen beginnen kann, braucht er die Zustimmung der Staatsanwaltschaft Koblenz.

Wafzig greift deshalb zum Telefon und wählt die Nummer des Vorzimmers von Abteilungsleiter Seiters.

»Bitte, Fräulein Bauer, geben Sie mir den Namen des für meine Abteilung zuständigen Staatsanwalts.«

Fräulein Bauer braucht eine Weile, dann meldet sie sich. »Hohenstein heißt er.«

Dankend legt Wafzig auf, wählt die Nummer der Telefonzentrale und lässt sich mit der Staatsanwaltschaft Koblenz verbinden.

»Hier Wafzig vom LKA, ich möchte bitte mit Staatsanwalt Hohenstein sprechen.« Er wird von der Vermittlung durchgestellt, kurz danach ist Hohenstein in der Leitung. Nachdem Wafzig ihm sein Anliegen geschildert hat, vereinbaren sie einen Termin für den nächsten Tag.

5. JUNI 1964

STAATSANWALTSCHAFT KOBLENZ

Wafzig betritt den grauen neunstöckigen Betonbau in der Karmeliterstraße mit leichtem Unbehagen. Nicht wenige der Staatsanwälte hier waren schon während der NS-Zeit für die deutsche Justiz tätig. Aber auch nach mehr als zwanzig Jahren lässt die Aufarbeitung der Vergangenheit, wie in vielen anderen Behörden und Ämtern, auf sich warten. Wafzig fragt sich, ob Hohenstein auch einer der NS-Anwälte war. Aber er verwirft den Gedanken sofort. Für sein Anliegen muss ihm das schließlich egal sein.

»Herr Wafzig, wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Hohenstein mustert seinen Besucher aufmerksam durch eine randlose Brille. Er ist größer als Wafzig, der mit seinen ein Meter achtzig nicht eben klein ist. Hohensteins offenbar maßgeschneiderter Anzug ist aus dunklem Flanell, Weste, Krawatte und Einstecktuch passend in silbergrauer Seide. Das sehr kurze Haar ist akkurat gescheitelt.

Wafzig fühlt sich plötzlich etwas unwohl in seiner Alltagskombination aus braun kariertem Jackett und dunkler Hose. Doch Hohenstein übersieht geflissentlich seinen eher legeren Aufzug und weist höflich lächelnd auf den Stuhl vor dem großen Mahagonischreibtisch. »Nehmen Sie doch Platz, darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

Wafzig lehnt dankend ab. Er will lieber gleich zur Sache kommen.

»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen«, beginnt er und schildert in groben Zügen die Tat und den Werdegang der Ermittlungen in den Burgerhaus-Morden. Er verweist auf den aus seiner Sicht laxen Umgang der französischen Militärbehörden mit dem Fall und schildert die bescheidenen Möglichkeiten, die die deutschen Ermittler damals hatten.

Hohenstein atmet hörbar ein. Wafzig ist zufrieden, er hat offensichtlich das Interesse des Staatsanwalts geweckt.

»Herr Staatsanwalt, die Franzosen verbrachten 1948 die meisten Unterlagen und Asservate in ihr Archiv nach Rastatt. Als dann unsere eigenen Ermittler in den Fünfzigerjahren den Fall übernahmen, bekamen sie von den Franzosen nur einen Teil der Akten. Sie mussten sich im Wesentlichen mit den damaligen Aufzeichnungen der deutschen Polizisten begnügen, die als Erste am Tatort gewesen waren. Die französischen Akten waren dürftig, es gab nur schlecht übersetzte Durch- und Abschriften der Originalakten. Die Ermittlungen in dem neunfachen Mord wurden jedenfalls 1956 ohne Ergebnis eingestellt.«

Ohne Umschweife bittet er dann Hohenstein, den Fall wiederaufrollen zu dürfen. Er wolle den Tatort noch einmal besichtigen, die Zeugen erneut befragen und alle Spuren systematisch bewerten.

»Herr Staatsanwalt, eine Aufklärung oder gar die Festsetzung der Täter mag zwanzig Jahre nach der Tat höchst unwahrscheinlich erscheinen. Aber angesichts der Schwere des Verbrechens sollten wir nichts unversucht lassen, den Tätern doch noch auf die Spur zu kommen. Und vor dem Hintergrund der noch ausstehenden Entscheidung über die Verjährungsfrist von Kapitalverbrechen sollten wir uns dafür keine Zeit lassen.«

Hohenstein hat ihm bis dahin schweigend zugehört. Jetzt nimmt er eine Zigarette aus einem silbernen Etui, betrachtet sie eine Weile und zündet sie dann an. Nach einem tiefen Zug wendet er sich an Wafzig. »Dann, Herr Kommissar Wafzig, versuchen Sie Ihr Glück.«

Nur vier Tage später sitzt Wafzig in seinem schon etwas in die Jahre gekommenen honiggelben Ford Taunus und fährt Richtung Andernach. Hohenstein hat ihn tatsächlich mit der Wiederaufnahme der Ermittlungen beauftragt. Neben ihm auf dem Beifahrersitz liegt seine Aktentasche, darin die dicke rote Mappe mit den Unterlagen zu dem hoffentlich bald gelösten Fall der Burgerhaus-Morde.

31. MÄRZ 1946

WLADIMIR

Wladimir lag auf seiner Pritsche und blies den Rauch seiner Selbstgedrehten gegen die betongraue Decke. Das Leben im Lager war einigermaßen erträglich, seitdem die Franzosen die Besatzungszone von den Amerikanern übernommen hatten. Zwar hatte die Militärbehörde die täglichen Lebensmittelrationen erneut gekürzt, aber die Soldaten, die das Lager bewachten, drückten bei dem einen oder anderen ihrer Raubzüge auf die umliegenden Gehöfte – auf der Suche nach Lebensmitteln oder Wertvollerem – schon mal ein Auge zu.

Wladimir war es trotzdem leid, in dem überfüllten Lager zu leben. Seit ein paar Wochen war er nun in der ehemaligen Kaserne Niederlahnstein. Sie war eines der vielen Lager für die Displaced Persons. Diese hatten alle als Kriegsgefangene, Zwangs- oder Fremdarbeiter in Nazi-Deutschland unter elenden Bedingungen in Fabriken, Bergwerken oder der Landwirtschaft geschuftet. Nach der Befreiung durch die Alliierten sollten sie in Lagern wie Niederlahnstein auf ihre Rückführung in die Heimat warten.

Die meisten DPs waren jetzt, im März ’46, bereits nach Hause zurückgekehrt. Franzosen, Belgier, Italiener – sie alle waren weg. Geblieben waren diejenigen, die wie Wladimir auf keinen Fall zurückwollten: Russen, Polen, Ukrainer und all die anderen, deren Heimat nach dem Krieg plötzlich die Sowjetunion war oder zum Einflussbereich der UdSSR gehörte. Im Lager Koblenz-Horchheim, wo die Amerikaner DPs aus der Gegend um Andernach in der Gneisenau-Kaserne untergebracht hatten, hatte Wladimir mitbekommen, dass die Amerikaner Bürger der Sowjetunion unter Zwang repatriierten. Sie brachten sie in Lager der Sowjets an der Elbe, wo sie vom gefürchteten Geheimdienst des Innenministeriums verhört oder gleich erschossen wurden. Wer konnte, war vor Stalins Schergen geflohen. Nicht wenige hatten sich sogar das Leben genommen, denn die meisten erwartete in der Heimat Schlimmeres als die Kasernierung in den Lagern der Alliierten. Das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten war berüchtigt für seine grausamen Verhöre und die willkürliche Verbannung nach Sibirien. Für Stalin und seine Schergen waren all diejenigen, die den Krieg in Deutschland überlebt hatten, Vaterlandsverräter, Kollaborateure der Nazis.

Auch Wladimir war geflohen und untergetaucht. Jetzt hatte er neue Papiere, was einfach gewesen war, denn er hatte sich in Niederlahnstein neu registrieren lassen müssen. Staatenlos stand nun in seinem Ausweis der IRO, der Internationalen Flüchtlingsorganisation. Jetzt fehlte nur noch das Geld, um in die USA oder nach Kanada auszuwandern. Denn dorthin wollte er, gemeinsam mit seinem Freund Michail.

Den Ukrainer hatte er 1942 in der Stahlfabrik bei Andernach kennengelernt, wo sie als Zwangsarbeiter der Nazis unter glühender Sommersonne und in bitterer Winterkälte Walzstahl für die Rüstungsindustrie schmiedeten. Viele ihrer Leidensgenossen starben an Hunger und Entkräftung, an Krankheiten und Verletzungen, die eigentlich einfach zu behandeln gewesen wären. Andere wurden wegen geringer Vergehen vor aller Augen erschossen. Oft war Wladimir unter denjenigen gewesen, die von den Wachposten gezwungen wurden, die Leiche des toten Kameraden wegzuschaffen und in eines der Massengräber zu werfen. Nur leise sprachen sie ein russisches Gebet, wenn sie den Leichnam mit Sand und Kies bedeckten.

Er und Michail hatten überlebt und waren nach der Befreiung durch die Amerikaner zusammengeblieben. Gemeinsam hatten sie seitdem immer wieder Pläne für eine bessere Zukunft geschmiedet – weit weg von Deutschland.

Wladimir vertraute Michail wie einem Bruder. Der Ukrainer war mit seinen dreiundzwanzig Jahren etwas älter als er. Er war nach der Kesselschlacht von Kiew als sowjetischer Kriegsgefangener nach Deutschland gekommen. Michail war klein, kräftig und brutal. Irgendwann hatte man ihm die vorderen Zähne des Oberkiefers ausgeschlagen, sie waren durch Zähne aus Weißmetall ersetzt worden. Da er zusätzlich unten zwei Goldzähne hatte, konnte er einem mit seinem Grinsen durchaus Furcht einflößen. Dazu kamen die Tätowierungen an Händen und Oberarmen. Inzwischen hatte sich Wladimir im Lager die gleichen Tätowierungen wie Michail stechen lassen. Auf dem rechten Handrücken war jetzt ein Anker mit der kyrillischen Aufschrift Freiheit, und auf seiner Brust prangte ein fliegender Adler.

Der Freund war selbstverständlich Anführer ihrer Raubzüge. Keiner wagte es, an seiner Autorität zu zweifeln, auch wenn die von ihm geplanten Überfälle auf die benachbarten Höfe bislang abgesehen von ein paar Lebensmitteln wenig eingebracht hatten. Aber das sollte sich jetzt ändern! »Morgen ist es so weit«, hatte Michail ihm versichert, »bei dem Überfall beschaffen wir uns endlich das nötige Geld für die Überfahrt nach Amerika.«

Bei dem Gedanken dachte Wladimir ein wenig wehmütig an Saratow, seine Heimatstadt an der Wolga. Er würde sie wohl nie wiedersehen. Er dachte an Vater und Mutter, an seine Arbeit in der väterlichen Schmiede, die ihm gut gefallen hatte. Auch an seine Freunde musste er denken, an die Ausflüge mit der wolgadeutschen Jugend, an die Singabende mit deutschen Volksliedern und an die gemeinsamen Kirchgänge. Und er dachte an Valentina, das Mädchen mit den braunen Locken, das er auf dem letzten in der Heimat verbrachten Erntedankfest geküsst hatte.

Vor fünf Jahren war er aus Saratow geflohen. Nach dem Überfall der Deutschen auf Russland im Juni 1941 hatte Stalins Geheimpolizei angefangen, die Wolgadeutschen zu deportieren. Die Bewohner ganzer Dörfer wurden in Züge oder Viehwagons gepfercht und nach Sibirien oder Kasachstan verfrachtet. Die einst freien Bauern, die selbst als Bürger der Sowjetunion noch ihre Sprache und Gebräuche hatten behalten dürfen, waren jetzt in den Augen Stalins Feinde, Kollaborateure der Nazis.

Der Deportation und der Arbeit in den Zwangslagern wollte Wladimir unter allen Umständen entgehen. Denn auch seine Eltern rechneten täglich mit dem Erscheinen der Geheimpolizei. Zwar war Wladimirs Mutter Russin, doch in der patriarchalen Gesellschaft der Sowjetunion entschied die Volkszugehörigkeit des Vaters über das Schicksal der Familie. Sein Vater war Deutscher und sogar Obmann und Sprecher der Wolgadeutschen in Saratow. Damit war die Deportation der Familie sicher. Eines Abends eröffnete Wladimir deshalb dem Vater und der weinenden Mutter, er werde gemeinsam mit Oleg, seinem besten Freund, nach Deutschland fliehen. »Deutschland«, so hatte er ihnen damals beschwichtigend erklärt, »das ist das Land des Führers. Er wird Stalin Einhalt gebieten und uns unsere Heimat und unseren Besitz zurückgeben. Danach komme ich zurück nach Saratow.« Damals war er gerade fünfzehn und hatte fest daran geglaubt.

Nun war er hier in Niederlahnstein, und die Rückkehr in die Heimat lag in weiter Ferne. Aber Michail hatte ihm eine Zukunft in Amerika versprochen, und dafür fehlte nur noch das nötige Geld. Er kannte den Hof, wo sie morgen hinwollten. Er war schon einmal auf dem Anwesen des Burgerhauses gewesen. Damals, im Juli letzten Jahres, war es ihm und seinen Komplizen nur um Lebensmittel gegangen. Sie hatten dabei ein Schwein erschossen und waren mit ihrer Beute unbehelligt entkommen. Ein weiterer Versuch, den Hof einen Monat später noch einmal zu überfallen, schlug allerdings fehl. Hunde schlugen Alarm, und sie hatten unverrichteter Dinge fliehen müssen. Dabei war der Hof, wie er jetzt wusste, eigentlich eine Goldgrube.