Schule der Diktatur - Kurt-Ingo Flessau - E-Book

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Kurt-Ingo Flessau

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Beschreibung

Der Band informiert über die Theorie und Praxis des Schulsystems im ›Dritten Reich‹. Er zeigt, wie die nationalsozialistischen Machthaber über den 1927 gegründeten NS-Lehrerbund die Erziehung der Jugend beeinflußten. Darüber hinaus beschreibt der Autor anhand von Richtlinien für den Unterricht, von Lehrplänen und Schulbüchern, wie die Schule nach der Machtübernahme im Jahre 1933 zum Indoktrinationsinstrument degradiert wurde, mit dem der Staat aus den Schülern angepaßte und gefügige Zeitgenossen zu machen suchte. Dieser Staat scheute nicht davor zurück, selbst Mathematikbücher in den Dienst nationalsozialistischer Propaganda zu stellen und Rechenaufgabn dazu zu verwenden, das politische Weltbild der Schüler im Sinne der Parteidoktrin zu formen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Kurt-Ingo Flessau

Schule der Diktatur

Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus

FISCHER Digital

Mit einem Vorwort von Professor Dr. Hans-Jochen Gamm

Inhalt

Meinen ElternVorwort (H.J. Gamm)EinleitungErster Teil: Die Grundlagen nationalsozialistischer Erziehung und Schulpolitik1. Die Machtübernahme in den Schulen1.1 Die Vereinheitlichung des Schulsystems1.2 Umerziehung der Lehrer1.3 Neue Lehrpläne und Richtlinien1.4 Änderungen im Stundenplan1.5 Vereinheitlichung des Bildungsangebots1.6 Rassismus in der Schule2. Hitlers Ansichten über Erziehung3. Hitlers Vorbilder4. Bemerkungen zum Lehrplanbegriff und zu seiner nationalsozialistischen Deutung5. Exkurs über Ideologie5.1 Zur Geschichte und Bedeutung des Ideologiebegriffs5.2 Formen politischer Ideologien6. Mythen und Mythologeme als Bestandteil der nationalsozialistischen IdeologieZweiter Teil: Richtlinien und Lehrpläne des Nationalsozialismus1. Ideologie und Politik in der Volksschule der Weimarer Republik2. Nationalsozialistische Richtlinien und Lehrpläne für die Volksschule2.1 Der Erlaß aus dem Jahr 19372.2 Die Richtlinien aus dem Jahr 19392.3 Ziel des Deutschunterrichts: »Stolz auf deutsche Art«2.4 Geschichtsunterricht als Fundament der politischen Indoktrination2.5 Chauvinistische Aufladung im Erdkundeunterricht2.6 Naturlehre: Geistige Beschränkung2.7 Von der völkischen Kraft der Musik2.8 Rechnen: »Errungenschaften des nationalen Lebens von der Zahl her«2.9 Zusammenfassung3. Nationalsozialistische Richtlinien und Lehrpläne für die höhere Schule3.1 Nationalsozialistische Weltanschauung als Fundament jedes Unterrichts3.2 »Deutschbewußtsein« als Ziel des Deutschunterrichts3.3 Geschichtsunterricht: Glauben an die »Deutsche Größe«3.4 »Erziehung zum ganzen Deutschen« im Erdkundeunterricht3.5 Bildende Kunst und Musik: Erziehung zum »gesunden Volksempfinden«3.6 Fremdsprachenunterricht aus dem Geist der »Rassenverwandtschaft«3.7 Mathematisch-naturwissenschaftlicher Unterricht als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln3.8 Die Fächer des »Frauenschaffens«3.9 ZusammenfassungDritter Teil: Nationalsozialistische Schulbücher1. Vorbemerkungen zur Auswahl und Präsentation der Schulbücher2. Schulbuch und Ideologie3. Mythen und Mythologeme in Schulbüchern der NS-Zeit4. Lesebücher für die Schule der Diktatur4.1 »Ewiges Volk« Band 74.2 »Ewiges Volk« Band 85. Ein unpolitisches Schulbuch für den Englischunterricht6. Wehrerziehung im Physikbuch7. Parteiisches Rechnen7.1 »Aufgaben aus nationalpolitischen Sachgebieten«7.2 Propaganda für den neuen Staat7.3 Mythen im Gewand von Rechenaufgaben8. Biologie als Weltanschauung8.1 Die unaufdringliche Indoktrination8.2 Das Biologiebuch als Sprachrohr der nationalsozialistischen Ideologie9. Nationalpolitische Erziehung der LandjugendNachwortAnmerkungenVerzeichnis der Schulbücher aus der Zeit des NationalsozialismusLiteraturverzeichnisNamenregisterSachregister

Meinen Eltern

Vorwort

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem, was die einen beharrlich Nationalsozialismus, andere entschieden Faschismus nennen, bedarf nach mehr als dreißig Jahren seit seiner militärischen Niederlage einer hinlänglichen Begründung, zumindest in der Bundesrepublik. Im Hin und Her um die systematische Bezeichnung eines Abschnitts deutscher Zeitgeschichte – im Faschismusstreit – spiegelt sich deutlich die Ungewißheit, wie wir es mit der Einordnung einer Epoche in die politisch-ökonomischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts halten sollen.

Dem aufmerksamen Beobachter kann kaum entgehen, daß im öffentlichen Bewußtsein der Trend zunimmt, die Epoche zwischen 1933 und 1945 zu isolieren oder mit dem Phänomen der Demagogie und der Massensuggestibilität zu erklären. Die auf die Weltwirtschaftskrise folgende Arbeitslosigkeit von Millionen Menschen wird allenfalls als auslösendes Moment für den Aufstieg der NSDAP seit 1930 genannt. Das ist eine wahrlich unzulängliche Analyse für das damalige Syndrom aus ökonomischer Verelendung, fehlender gesellschaftlicher Gesamtorientierung, völkischromantischer Propaganda, gänzlich unterentwickelten Vorstellungen über mögliche internationale Solidarität und schließlich der präfaschistischen Politik aus den Kreisen der deutschen Hochfinanz und der Großindustrie. Es ist auch nicht zu vergessen, daß die auslaufenden zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre noch keine Transparenz innerhalb einer westeuropäischen Gesamtszene kannten: Was politisch in Paris oder London damals geschah, schien oftmals von böswilligen Feinden und Deutschenhassern gegen das Reich geplant und folgerichtig dem »Geist von Versailles« entsprungen. Das Fehlen der Medien und damit der visuellen Teilhabe an den Schlüsselereignissen jener Zeit ergab ein kognitiv-emotionales Vakuum, das die Rechtspresse mit ihren nationalistischen Stereotypen nutzen konnte. Das Zusammenwirken von Information und Emotion, Politik und Geschichtserwartung warf Probleme auf, die mit unseren bisherigen wissenschaftlichen Instrumenten nur unzulänglich erfaßt werden.

Eigenständige Begründung von wissenschaftlichen Studien über die Zeit zwischen 1933 und 1945 ist unerläßlich, da es bezeichnenderweise nicht an Erscheinungen fehlt, die braune Diktatur publizistisch zu vermarkten. Über Hitler und seine Agenten gibt es dafür reichlich Bildmaterial, und an Histörchen mit Gänsehauteffekt mangelt es nicht. Der angloamerikanische Film sucht mit Vorliebe sadistische Passagen aus jener Geschichte oder klittert sie, um ein auf Thriller geprägtes Publikum geneigt zu machen. In vielen Illustrierten geraten die Jahre nach 1933 zum Rummel, und das Mörderische verkommt zur psychischen Abartigkeit. Die mentale Verelendung – anstelle des materiellen Pauperismus –, die Werner HOFMANN scharf gekennzeichnet hat[1], individualisiert die weltgeschichtlichen Verbrechen des deutschen Faschismus. Mittels geschickter Dramaturgie entsteht so der Dauerbrenner einer Superkriminalserie. Subjektive Verantwortlichkeit ist im Privatkapitalismus fast unbekannt. Das Rechtssystem kann dafür kein Äquivalent bieten, denn auch ein Wall aus Paragraphen bleibt für findiges Profitstreben allemal porös.

Eine auf wissenschaftlicher Basis arbeitende Faschismusuntersuchung muß sich im Rahmen von politischer Bildung verantworten, genauer: Sie muß unter einem von ihr zu vertretenden Bildungsbegriff aufweisen können, wie sich das einzelne Element zum System des Faschismus fügte und wie das System als ganzes wiederum jede seiner Einzelheiten charakterisierte. Nur so kann aus dem Studium von Quellen und Dokumenten der Epoche nach 1933 eine klare Vorstellung über die inhumanen Absichten hervorgehen, die der braunen Ideologie von Anfang bis Ende innewohnten und sich zur Stoßkraft des deutschen Imperialismus besonders in Richtung Osten anließen.

Die geschichtlichen Folgen werden in der Präambel des Grundgesetzes mit dem Postulat von der Einheit und Freiheit unseres Volkes nur mühsam kompensiert. Die Ursprünge für die Zerrissenheit der Nation aufzusuchen und zu vermitteln, dem immer wieder drohenden gedanklichen Kurzschluß zu entgehen, unser Elend den Siegermächten, möglichst den Sowjets allein anzulasten, ist die vorrangige Aufgabe der politischen Bildung in der Bundesrepublik. Politische Bildung wird sich um so klarer begründen können, je differenzierter die faschistische Epoche in Ursprung und Verlauf quellenmäßig erschlossen ist und den Nachwachsenden dokumentarisch zur eigenen Bearbeitung anheimgegeben werden kann. Die Landkarte Mittel- und Osteuropas nach 1945 gibt spiegelverkehrt die deutsche Invasion fremder Territorien wieder. Das biblische Wort: »Wer Wind sät, wird Sturm ernten« ist wohl auch historisch nicht ohne Sinn.

Aber noch eine weitere Folge, die das alltägliche Dasein jedes Menschen betrifft, geht mittelbar aus dem Faschismus hervor: die Teilung der Welt in die Interessenbereiche der beiden Supermächte USA und UdSSR und deren Rüstungsanstrengungen. Die oft zitierte und selten bis zu Ende durchdachte Formel vom Gleichgewicht des Schreckens, vom Erst- und Zweitschlag, von Megatod und Overkill sowie gezielten Neutronenbomben, die lediglich Menschen zergehen lassen, aber nur geringe Sachschäden anrichten und als »saubere Bomben« keine langwährenden radioaktiven lokalen Verseuchungen zurücklassen, ist Konsequenz aus dem Duopol und dem latenten Kampf um die Hegemonie, den Carl Friedrich von WEIZSÄCKER samt der Drift zum neuen Weltkrieg darstellt.[2] Ohne den deutschen Faschismus wäre die Welt heute kein Duopol, die Atombombe 1945 nicht auf Menschen geworfen und die radikale Mentalität, auch die weiterentwickelten Massenvernichtungsmittel anzuwenden, wohl kaum ausgebrütet worden.

Kurt-Ingo FLESSAU führt mit seinem Buch in die Epoche zurück, in der die jetzige Konstellation hergestellt wurde, der niemand zu entrinnen vermag. »Schule der Diktatur« ist nach meiner Kenntnis die erste ausführliche Darstellung des Lehrgefüges in den deutschen Schulen nach 1933, der beabsichtigten pädagogischen Ziele und entsprechender didaktischer Ansätze. Wer diesen Band gründlich studiert, wird genauer als zuvor die Indoktrinationsprozesse erkennen, mit denen eine politische Partei Einfluß auf ein Bildungssystem nahm, um den deutschen »Herrenmenschen« hervorzubringen, der doch nur als Befehlsvollstrecker des Führerwillens zu dienen hatte. Darüber hinaus aber ist zu erkennen, daß Einstellungen und Gesinnungen nicht naturwüchsig sind, sondern manipuliert werden. Die »neue Aufklärung«, die Carl Friedrich von WEIZSÄCKER fordert (aaO. S. 264f), zielt darauf ab, sensibel auf die Indizien von Indoktrination und Präfaschismus in der jeweiligen Gegenwart zu reagieren. Durch eindringendes Verständnis in diesem Sinne wird auch erst erkennbar, daß Umstände von Menschen geschaffen und darum von ihnen auch wieder verändert werden können. Auch der zuvor skizzierte weltweite Hegemoniekonflikt in der Nachfolge des deutschen Faschismus ist nicht in der Perspektive eines lähmenden Systemzwangs zu mißdeuten. Alle Herrschaftseliten sind von ihren Völkern wieder ablösbar. Organisierte Bildungsprozesse gewähren dafür eine Voraussetzung.

 

Darmstadt, im Juli 1977

Hans-Jochen Gamm

Einleitung

»Wer die Jugend hat, hat die Zukunft.« Nach diesem Wahlspruch hat der Nationalsozialismus, hat auch seine Pädagogik erklärtermaßen gehandelt. Die Jugend hat er gehabt, doch die Zukunft nicht, und die Jugend, die die Machthaber erzogen haben, hat ihrerseits vielfach keine Zukunft gehabt. Sie starb auf den Schlachtfeldern, in den Bombennächten, im sinnlosen Einsatz an der »Heimatfront«. Soweit sie überlebte, sollte sie nach dem Willen der Alliierten ein Gegenstand radikaler Umerziehung, der reeducation, werden. Damit vollzog sich ein Bruch in ihrer Entwicklung. Geordnete und regelrechte Selbstentfaltung wurde ihr, die Hitler »meine« Jugend nannte und doch nur als sein Werkzeug verstand, weithin und über lange Zeit verwehrt.[1][3]

Die Schrecken des Nationalsozialismus sind vergangen, doch seine Spuren noch immer nicht verweht, trotz aller Versuche, Vergangenes totzuschweigen, Gegebenes zu ignorieren.[2] Was geschehen ist, darf nicht schon vergessen sein: »Wer Menschen von der Geschichte abschneiden will, der schneidet Menschen von der Wahrheit ab; beraubt sie prinzipiell ihrer Handlungsfähigkeit unter Bezug auf Wahrheit. Sinnvolles Handeln wird unmöglich.«[3] Zwar behauptet man gern, Völker lernten nichts aus ihrer Geschichte – vielen fragwürdiger Anlaß, jedes historische Bewußtsein zu vermeiden, Geschehenes unbefragt auf sich beruhen zu lassen. Doch kann die Behauptung nicht allgemein gelten. Zumindest einzelne nämlich werden klug aus geschichtlicher Erfahrung und Kenntnis, lernen aus der Vergangenheit, wie sich an den geistigen Urhebern des Bonner Grundgesetzes beispielhaft belegen läßt.[4] Politisches Interesse und Verständnis lassen sich bilden, politisches Gewissen läßt sich wecken. Schon deshalb scheint es gerechtfertigt, sich mit der Historie, so unfreundlich, ja abschreckend sie immer sein mag, auseinanderzusetzen und die Ergebnisse dieses Erkenntnis- und Denkprozesses weiterzugeben.

Dabei sei erinnert an ein Wort aus Schillers Jenaer Antrittsvorlesung vom Mai 1789, das auch heute noch gilt: »Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: kostbare teure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen.«[5] Aus der Geschichte des Nationalsozialismus zu lernen, kann zu politischen Einsichten und womöglich zu einsichtigem politischen Verhalten führen. Damit würde erfüllt, was vom Historiker und seiner Wissenschaft zu fordern ist, nämlich Vergangenes im Bewußtsein zu bewahren und die Spätergeborenen vor unbedachtem Handeln zu schützen, das aus Unkenntnis geschichtlicher Vorgänge, Fakten und Folgen erwächst. Geschichte, so verstanden, kann der Zukunft einen Sinn geben und den dann Lebenden diesen Sinn erschließen.

Auch die Pädagogik verfolgt diese Absicht. Für sie gilt als Beweggrund: sie gibt sich alle Tage mit Erziehungsprozessen ab, belehrt, bildet junge Menschen und erlegt sich damit eine gesellschaftsgegebene Verantwortung auf, die erheblich über die Gegenwart der Schüler und Lernenden mit ihren Aufgaben und Problemen, erheblich auch über bloße Stoffvermittlurig hinausgeht. Die Zukunft der Jugend wie des Staates, in dem sie lebt, und der Gesellschaft, zu der sie gehört, steht auf dem Spiel. Die Jugendlichen selbst, blieben sie unbelehrt, könnten diese Zukunft zerstören, nicht zuletzt dadurch, daß auch sie sich zu Werkzeugen machen ließen, guten Glaubens, in höherem Auftrag das Richtige zu tun. Die jüngste Geschichte hat solche Konsequenz hinreichend verdeutlicht.

Nun versteht sich die vorliegende Untersuchung nicht vornehmlich als erzieherische Schrift. Vielmehr dient sie der Absicht, geschichtliche Gegebenheiten und Zusammenhänge, soweit sie für Pädagogik und Schulpädagogik relevant waren und noch relevant sind, nachzuzeichnen und wenn möglich zu erklären. Hinter solcher Absicht verbirgt sich aber doch auch eine erzieherische, nämlich dem Lehrer, dem Schüler und dem Studenten, ja jedem Leser die Augen für Vergangenes zu öffnen, der pädagogischhistorischen Wissenschaft einige Mosaiksteine für ihr Geschichtsbild zu liefern und schließlich zu zeigen, wie Erzieher und Wissenschaftler sich in der Vergangenheit autoritären Einflüssen gebeugt haben. Beschäftigung mit der Vergangenheit beeinflußt die Erziehung – eine Einsicht, die sich auch der Nationalsozialismus zunutze gemacht hat. Der Historiker wird zum Erzieher, der zum Verstehen – in dem von Dilthey gemeinten Sinn – führt und menschliche Haltungen wie Handlungen beeinflussen will, indem er Menschen in ihren technischen, sozialen, politischen, kulturellen, kurz: in ihren geschichtlichen Daseinsbezügen und -bedingungen zeigt. »Die Vergangenheit«, so erklärt der englische Historiker Plumb, »kann benutzt werden, nicht um Autorität oder Moral zu rechtfertigen, sondern solche Qualitäten des menschlichen Geistes, die uns aus dem Urwald und Morast in die Stadt geführt haben, um festes Zutrauen in die Fähigkeit des Menschen zu gewinnen, sein eigenes Leben zu ordnen und die Tugenden des Intellekts, des vernünftigen Verhaltens, aufzubieten.«[6]

Wie notwendig Informationen über den Nationalsozialismus sind, beweist ein prüfender Blick in die pädagogischen wie schulpädagogischen Standardwerke der Gegenwart, in Wörterbücher, Lexika, Geschichten der Pädagogik. Von ihnen erwartet man drei Jahrzehnte nach Kriegsende mancherlei Hinweise, genaue Aufschlüsse und differenzierte Erklärungen über die nationalsozialistische Pädagogik, über die Beziehungen zwischen dem nationalsozialistischen Staat und den damals wirksamen Erziehungsinstitutionen. Was man in diesen Werken tatsächlich erfährt, ist insgesamt wenig und ungenau.

Eine Untersuchung über die wechselseitigen Beziehungen zwischen einem Staatswesen samt der in ihm herrschenden Ideologie einerseits und dem Lehrplan mit den Lehrinhalten andererseits bedeutet weiter das Bemühen, die Geschichte der deutschen Schule während zweier Jahrzehnte zu betrachten und ihre Wandlungen nachzuzeichnen.

Viel für heutiges Erziehungsverständnis Befremdliches wird sich dabei ergeben. Selbstredend sind Objektivität und sachlich distanzierte Darstellung gerade dort vonnöten, wo Pädagogik in den Bereich der Demagogie gerückt und die immer schon gefährdete und eingeschränkte Autonomie der Schule bewußt zugunsten eines – wie man post eventum weiß – verbrecherischen Staatswesens aufgegeben worden ist.

Die nationalsozialistische Schule stellt sich dar, so kann man vorgreifend sagen, als Instrument eines Herrschaftssystems, einer politischen Interessengruppe, nämlich der NSDAP und ihrer Organisationen, die den Staat in ihre Gewalt gebracht und ihn zum totalen Staat gemacht haben. Die Schule wurde zum Vollzugsorgan einer Partei und wichtige, ja wichtigste Instanz im Bildungsbereich, indem sie, teils fast bedingungslos, die Aufträge der Machthaber ausführte und sich der damals gängigen Maxime anbequemte, derzufolge der einzelne nichts, das Volk alles sei.

Damit löste sie sich, wenn auch nicht immer und überall, von jenen pädagogischen Grundsätzen, denen sich bis zum Jahre 1933 viele Lehrer verpflichtet gefühlt hatten, nämlich von den Lehren der deutschen Klassik, insbesondere denen Wilhelm von Humboldts, sowie von den pädagogischen Theorien und Erziehungsvorstellungen der Reformpädagogik. Sie verzichtete auf die von Klassik und Reformpädagogik gewünschte, wenngleich nie völlig verwirklichte Erziehung zu Individualität und zu harmonischer Entfaltung aller dem Menschen gegebenen Anlagen und Kräfte. Der kollektiv denkende und handelnde, der leicht führ- und lenkbare, der unkritische und linientreue, der abgehärtete, blinden soldatischen Gehorsam beweisende und nach vermeintlicher Germanenart verfahrende Volksgenosse war das Ziel dieser Erziehung. Sie wurde von klein auf betrieben.[7] »Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie die Windhunde« dachte der »Führer« Adolf Hitler sich diese Jugend, und er wünschte sie sich hart, wild, erbarmungslos.[8] Aus der übergeordneten Tugend des Selbstvertrauens sollten sich Tat-, Entschluß- und Willenskraft ebenso ergeben wie Opferbereitschaft, Treue und Schweigsamkeit, wie Mut, Angriffsgeist und Durchsetzungskraft. Von diesen Maximen und Postulaten sprechen Lehrpläne und Schulbücher des Dritten Reichs.

Ferner mußte die nationalsozialistische Schule mit Hilfe politisch genehmer Mythen und Legenden der nationalsozialistischen Ideologie, von Hitler als »kühle Wirklichkeitslehre schärfster wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer gedanklichen Ausprägung« bezeichnet[9], Anhänger verschaffen. Sie sollte weiter den Blut-und-Boden-Kult verbreiten, Rassentheorien nachhaltig einprägen und deren Konsequenzen für Kunst, Wissenschaft, Religion erläutern, die Volk-ohne-Raum-Bewegung stärken, kriegerisches Denken schulen und endlich mit alledem ein System verfestigen, das sich als aufeinander bezogene Gemeinschaft von willensmächtigem Führer und willenlosen Geführten verstand.[10]

Schon dieser Katalog der nationalsozialistischen Erziehungsziele zeigt: die Schule hatte sich, nach dem Willen der Parteifunktionäre, ganz in den Dienst der einen Partei und des von ihr beherrschten Staates zu stellen und ihre obrigkeitgesetzten Aufgaben »für Volk und Vaterland« zu erfüllen – ein Ziel der Machthaber, das freilich längst nicht immer erreicht wurde.

In diesen letzten Wendungen klingt schon der nationalsozialistische Wortschatz an, dem u.a. Sternberger, Storz und Süßkind eine eigene Arbeit gewidmet haben.[11] Ihm begegnet der Leser nationalsozialistischer Literatur fortgesetzt, und er erkennt, wie wenig der Sprachschatz originäres Produkt nationalsozialistischen Denkens und wie viel von geistesverwandten Autoren übernommen worden ist, die schon vor 1933 gewirkt und geschrieben haben und auf die sich der Nationalsozialismus gern ausführlich bezogen hat. Seine Ideologie als Ergebnis eines Eklektizismus hat sich nicht nur die überkommenen Gedanken und Theorien angeeignet, sondern auch den Wortschatz von Autoren des 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, zu denen eine geistige oder gefühlsmäßige Affinität bestand. Zu ihnen zählen unter anderem die Philosophen Arndt, Chamberlain, Fichte, Jahn, Lagarde und Riehl; die Pädagogen Baeumler, Giese und Krieck; die Dichter Alverdes, Beumelburg, Burte und Blunck, Eckart, Hans Grimm, Ernst Jünger, Kolbenheyer und Vesper. Sie alle standen bei den Nationalsozialisten in hohem Ansehen, wie die Tatsache beweist, daß ihre Schriften – die der Pädagogen ausgenommen – den Grundbestand vieler Lesebücher ausmachten.

Erster Teil: Die Grundlagen nationalsozialistischer Erziehung und Schulpolitik

1. Die Machtübernahme in den Schulen

Mit dem 30. Januar 1933, dem Tag der Machtübernahme, endeten in Deutschland für zwölf Jahre eine reiche Schultradition und ein tiefgreifender Versuch, Reformpädagogik genannt, Veränderungen in allen Einflußbereichen der Pädagogik, mithin auch in der Schule zu erreichen und die besonders von Neuhumanismus und Idealismus übernommenen Bildungsvorstellungen auf ihre weitere Aktualität und Relevanz zu überprüfen. Was die einzelnen Strömungen der Reformpädagogik und die fast gleichzeitig mit ihnen aufkommende Jugendbewegung vielfältig diskutiert und in mannigfacher Form praktiziert hatten, nahmen die Nationalsozialisten 1933 zwar teilweise an, entwickelten es dann jedoch allenfalls unwesentlich weiter. Den größten Teil überkommener pädagogischer Vorstellungen indessen lehnten sie ab. Insbesondere aus den Traditionen der Jugendbewegung samt denen der Bündischen Jugend akzeptierten sie für ihre politischen Jugendorganisationen, teilweise auch für die Schulen, die Gemeinschaftsformen Feier, Fahrt, Lager und Heimabend, die Vorliebe für Volkslied und Laienspiel, den Dualismus von Führern und Geführten sowie das Verständnis von Erziehung als Aufgabe einer Gemeinschaft, jetzt gedeutet als »Funktion der Volksgemeinschaft«.[12] Auch die in einzelnen Gruppen der Jugendbewegung gültige Maxime, Jugend müsse von Jugend geführt werden, machten sie sich für ihre politische Jugend und für die Schule zu eigen. Die Schule jedoch konnte die Ergebnisse der Reformpädagogik und der Schulreformen insgesamt kaum bewahren. Unter dem Zugriff des totalitären Staates gab sie beispielsweise die eben erst entwickelten Unterrichtsformen wieder auf. Gruppenunterricht und Unterrichtsgespräch, partnerschaftliche Arbeits- und Aktionsformen zogen, als »Prinzip der Anarchie in Kultur und Bildung«, als individualistische, subjektivistische Methoden von Krieck und anderen getadelt[13], nach und nach wieder aus den Schulen aus, desgleichen die noch gar nicht lange geübten partnerschaftlichen Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern. Methoden und Sozialformen der verrufenen »alten Schule«[14] zogen dafür, nach Ausweis von Richtlinien und Unterrichtshilfen, wieder ein. Frontalunterricht galt hinfort als die einer Diktatur angemessene Unterrichtsform. Der Lehrer dozierte, lenkte, leitete; die Schüler waren weitgehend zu bloßer Rezeptivität verurteilt. Der Lehrer fungierte zumal in der Volksschule als Führer; die Schüler mußten sich in die Rolle fügen, Gefolgschaft zu sein, das Verhältnis von Befehl und Gehorsam beschränkte ihre Spontaneität. Die Koedukation galt als nationalsozialistischer Weltanschauung nicht gemäß.[15]

Solche einschneidenden Veränderungen drückten aus, daß der neue Staat die Meißner-Formel nicht anerkannte; er billigte nicht, daß die Jugend ihr Leben »nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit gestalten«[16] wollte.

Genausowenig konnte der Nationalsozialismus sich beispielsweise mit den Lehren der Arbeitsschultheoretiker Gaudig und Kerschensteiner einverstanden erklären. Daß die Schüler handwerklich befähigt werden und selbsttätig arbeiten sollten, hielt auch er für wünschenswert.[17] Doch gegen das Prinzip, der Lehrer sei Führer der Klasse und bestimme damit über deren Tun und Entscheidungen, verstieß das Postulat einer freien geistigen Arbeit als der »Art des Arbeitens, bei der der gesamte Arbeitsvorgang von der Stellung bis zur Lösung der Frage von der Eigenmacht des Schülers getragen wird«.[18]

Musischer Unterricht, von den Reformern der Kunsterziehungsbewegung gefordert als unabdingbarer Bestandteil eines neuzeitlichen, will sagen: humanen Unterrichts und als Äquivalent gegen die allzu einseitige intellektuelle Ausbildung der Schüler, besonders jener der »alten Schule«, hatte sich jetzt einseitig zu befassen mit der sogenannten »arteigenen Kunst« und der volkstümlich-volksverbundenen Musik. Sportunterricht wurde mit dem Ziel der Wehrertüchtigung praktiziert.

Der Deutschunterricht, im 19. Jahrhundert zum Gesinnungsfach denaturiert, von der Deutschkundebewegung zu nationalistisch-politischer Erziehung genötigt, dann von Reformpädagogen wie Jensen und Lamszus, Wolgast, Gansberg und Scharrelmann entpolitisiert und zu kind- und jugendgemäßem Schaffen bestimmt, hatte die Aufgaben politischer Indoktrination und der Vermittlung eines partei-ideologisch fixierten Wertbewußtseins zu erfüllen.

All das kam nicht von ungefähr, sondern war das Ergebnis von langdauernden Entwicklungen voll nationalistisch-chauvinistischer Tendenzen vor der Machtergreifung – Tendenzen, die in der deutschkundlichen Strömung verbunden sind mit den Namen Otto von Greyerz, Martin Havenstein und Severin Rüttgers.[19] Die nationalsozialistische Bewegung brauchte sie nur aufzunehmen, gelegentlich zu modifizieren oder zu intensivieren, auch einiges politisch Mißliebige zu unterdrücken, um Schulen und Bildungsinstitutionen jeglicher Art und über sie dann wesentliche Bereiche des Staates und der Gesellschaft zu »erfassen«.

Auf sechs schulpolitischen Entscheidungsfeldern vollzieht der Nationalsozialismus die Machtübernahme in der Schule, indem er

das Schulsystem vereinheitlicht, die Typen- und Formenvielfalt reduziert und neue spezifisch politische Schulen gründet;

die Lehrerbildung verändert;

neue Lehrpläne und Richtlinien erläßt;

die Stundenpläne revidiert und den Staatsjugendtag einführt;

die Pluralität der Bildungsmächte einschränkt;

Rassismus und Antisemitismus in die Schulen trägt.

1.1 Die Vereinheitlichung des Schulsystems

Der von Anfang an erklärten Absicht der nationalsozialistischen Machthaber, die »deutschen Volksgenossen« allesamt nicht nur zu »erfassen«, sondern »gleichzuschalten«, entsprach es, ausgeprägte Individualität nicht zu dulden, desgleichen nicht die Typenvielfalt der Schulen. Daher begann der Staat ab 1933 vorsichtig und ab 1937 ganz entschieden durch Erlasse[20], die Typen- und Formenvielfalt der deutschen Schulen, besonders der Oberschulen, abzuschaffen, um danach durch ein vereinfachtes Schulsystem stärkeren Einfluß auf Schüler wie auf Eltern auszuüben. Demzufolge wurden in Deutschland Konfessions- und Privatschulen untersagt, die in annähernd 70 (!) Typen differenzierte Oberschule auf drei Grundtypen reduziert, nämlich auf die neusprachliche und die naturwissenschaftliche Oberschule – jeweils für Jungen oder für Mädchen –, sowie das humanistische Gymnasium, das freilich nur dort weiterbestehen durfte, wo die betreffende Schule besondere Traditionen besaß. Die Mädchenoberschulen führten eine sprachliche und eine hauswirtschaftliche Form. Daneben gab es, beginnend mit dem siebenten Schuljahr, für Mädchen und Jungen sechsklassige Aufbauoberschulen, unter ihnen die allein für Knaben bestimmten Adolf-Hitler-Schulen.

Neben dieser Typenkonzentration der Oberschule, die, aufbauend auf einer vierjährigen Grundschule, nur noch acht Schuljahre umfaßte[21], war – wenn auch in anderer Weise – eine Zersplitterung gerade der Oberschulen zu beobachten. Sie resultierte aus Kompetenzstreitigkeiten der einzelnen politischen Organisationen und der kulturpolitischen Instanzen.

Hitlerjugend, SA, SS und Wehrmachtsorganisationen bemühten sich, teils unabhängig voneinander, teils gegeneinander, möglichst weitreichenden Einfluß auf das bestehende Schulsystem zu gewinnen oder gar in eigener Verantwortung und Regie neue Schultypen zu entwickeln.

Zum 20. April 1933 wurden – eine Art Geburtstagsgeschenk der Partei an ihren Führer – die ersten Nationalpolitischen Erziehungsanstalten eingerichtet. Sie unterstanden ihrem geistigen Urheber Bernhard Rust, dem Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Demzufolge galten für sie auch, mit Abweichungen und Ergänzungen, die Richtlinien und Lehrpläne der allgemeinen Oberschulen. Aufgabe dieser Nationalpolitischen Erziehungsanstalten war es, eine Elite in nationalsozialistischem Geist heranzubilden.[22] Besonders kritisch ausgewählte junge Lehrer, Erzieher aus politischen Organisationen, höheres technisches Lehrpersonal und obere militärische Chargen waren verantwortlich für eine vielseitige, an jugendlichen Neigungen orientierte, technische, wehrkundliche, sportliche, charakterliche und intellektuelle Ausbildung. Gebräuche des Lagerlebens – Appelle, Sportwettkämpfe, Feiern – kennzeichneten diesen Schultyp ebenso wie ein recht hoher Bildungs- und Anspruchsstandard.[23] Aus den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten sollte der Führungsnachwuchs für alle Bereiche von Wirtschaft, Staat und Partei hervorgehen. Ab 1936 gerieten sie immer stärker in den Einflußbereich der SS: der SS-Gruppenführer August Heißmeyer wurde, zunächst kommissarisch, zum Inspekteur der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten ernannt. Danach entsprachen die Ausleseprinzipien der Anstalten ständig mehr denen der SS. Trotz aller mittelbaren und unmittelbaren Verbindungen mit Formationen der Partei war dieser Schultyp aber weder der NSDAP noch der Hitlerjugend unterstellt.[24]

Als Gegengewicht gegen diese aus der allgemeinen Schullandschaft herausragende einflußmächtige Institution durften Dr. Robert Ley, Führer der Deutschen Arbeitsfront und Reichsorganisationsleiter der NSDAP, sowie der Jugendführer des Deutschen Reiches, Baldur von Schirach, ein Schulsystem aufbauen, das nicht mehr ausschließlich der staatlichen Schulaufsicht unterstand. Mit Billigung des Führers, der sich auch in pädagogischen Fragen oberste Entscheidungsgewalt vorbehalten hatte, wurden auf ihr Betreiben am 15. Januar 1937 die schon genannten Adolf-Hitler-Schulen als Einrichtungen der NSDAP, speziell der Hitlerjugend, begründet.[25] Dazu erließen sie einen Aufruf, in dem es hieß:

»1.

Die Adolf-Hitler-Schulen sind Einrichtungen der HJ und werden von dieser verantwortlich geführt. Lehrstoff, Lehrplan und Lehrkörper werden von den unterzeichneten Reichsleitern reichseinheitlich bestimmt.

2.

Die Adolf-Hitler-Schule umfaßt sechs Klassen. Die Aufnahme erfolgt in der Regel mit vollendetem zwölften Lebensjahr.

3.

Aufnahme in die Adolf-Hitler-Schule finden solche Jungen, die sich im Deutschen Jungvolk hervorragend bewährt haben und von den zuständigen Hoheitsträgern in Vorschlag gebracht worden sind.

4.

Die Schulausbildung auf den Adolf-Hitler-Schulen ist unentgeltlich.

5.

Die Schulaufsicht gehört zu den Hoheitsrechten des Gauleiters der NSDAP. Er übt sie entweder selbst aus oder übergibt sie dem Gauschulungsamt der NSDAP.

6.

Nach erfolgter Reifeprüfung steht dem Schüler einer Adolf-Hitler-Schule jede Laufbahn in Staat und Partei offen.«[26]

Die Ausführungen zeigen: diese neue Schulform war dem Einflußbereich des an sich zuständigen Reichserziehungsministers von Anfang an entzogen. Damit wurde sie zum Instrument der Partei, ihrer Ideologie und ihrer Organisationen.

Auch die Adolf-Hitler-Schulen waren als Eliteschulen konzipiert. Sie erstrebten jedoch stärker eine politische als eine geistige Elite.[27] Die Bildungsanstrengungen und Bildungsziele waren an Hitlers Ausführungen über Erziehung orientiert, die er in »Mein Kampf« fixiert hatte.[28] Politische Bildung, körperliche Ertüchtigung und Charaktererziehung dominierten über intellektuelle Schulung. Der künftige politische Funktionär und Parteiunterführer sowie der linientreue Staatsbeamte sollten aus den Adolf-Hitler-Schulen hervorgehen.

Mit diesen Gründungen und der Einflußnahme zumal auf die Jungenoberschulen verfolgten HJ, SS und Oberkommando der Wehrmacht – OKW – einen doppelten Zweck: die Organisationen suchten unter den Schülern dieser Schulen künftige Offiziere und Führungskräfte zu gewinnen; Militärs, Führer der »nationalen Verbände« SA und SS und parteipolitische Funktionäre suchten ihrerseits die eigene politische Hausmacht zu stärken, den Einfluß in Partei und Staat auszubauen. Alle waren gemäß den jeweils eigenen Zielen und Ansichten bestrebt, Bildungsinhalte und Lehrverfahren einzuführen, personelle Entscheidungen zu fällen und Organisationsformen durchzusetzen. Schulpolitik geschah hier um der Politik und einzelner Gruppeninteressen, nicht um der Schule und der Schüler willen.

Neben den genannten Schulen gab es die Deutschen Heimschulen, für Kinder von Beamten, Offizieren und politischen Leitern eingerichtet, die des öfteren ihren Wohnsitz wechseln mußten. Darüber hinaus sollten in diesen Heimschulen alle Schüler unterrichtet werden, die bis dahin in konfessionellen, besonders den evangelischen, Internatsschulen unterrichtet worden waren. Diese Internate löste man ab 1938 fast ausnahmslos auf.

Zu nennen ist weiter die NS-Deutsche Oberschule Starnbergersee in Feldafing. 1934 nach dem Modell der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten eingerichtet, unterstand sie bis 1936 der SA-Führung, dann der NSDAP[29]; sie wurde dem Führerstellvertreter Rudolf Heß überantwortet. Die Erzieherschaft rekrutierte sich anfangs aus der SA, der ›Sturm-Abteilung‹; die Schülerschaft war zu SA-›Stürmen‹ zusammengefaßt. Den Mittelpunkt des Unterrichts bildeten die deutschkundlichen Fächer, sie wurden ergänzt durch nationalpolitischen Unterricht. Die Thematik war sehr stark auf politisches Bildungsgut beschränkt, wie gerade das Fach Geschichte zeigt: alljährlich wurde in den Klassen die jüngste Geschichte behandelt, d.h. die Zeitspanne seit 1914. Sport dominierte mit 14 Stunden je Woche noch weit stärker als in den anderen nationalsozialistischen Schulen. Infolgedessen war der geistige Leistungsstand, wie Eilers erklärt[30], ungemein niedrig. Gerade an dieser Schule zeigte sich, wie begrenzt die nationalsozialistische Pädagogik und ihre Bildungsabsichten waren, wenn sie sich an Hitlers Vorstellungen ausrichteten. Die hier, und nicht nur hier, erzogene »Elite« wurde – Ausdruck eines simplen, ja vulgären Sozialdarwinismus – vielfach zur »Elite« dank physischer und charakterlicher Qualitäten. Diese reichten nicht aus – und hätten es je länger je weniger getan –, den technischen, wirtschaftlichen und sozialen Erfordernissen einer Industriegesellschaft gerecht zu werden. Solche Erziehungsanforderungen und Bildungsergebnisse ließen sich auf die Dauer nicht vertreten, wollte der Staat seinen Rang einer hochtechnisierten, arbeitsteiligen Wirtschafts- und Industrienation nicht verlieren. Eben das allerdings wäre den hochfliegenden politischen Plänen zuwidergelaufen.

Dreierlei ist zuzugeben: die NS-Deutsche Oberschule Starnbergersee galt als Ausnahmefall und stand dem intellektuellen Niveau nach keineswegs repräsentativ für die nationalsozialistische Oberschule da. Auch konnten sich Hitlers Vorstellungen während der zwölf Jahre seiner Herrschaft nicht vollkommen durchsetzen. Selbst seine pädagogische und politische Autorität reichte nicht aus, langtradierte Ansichten über den Bildungsauftrag der Schule und die Ziele der Erzieherschaft gänzlich aufzuheben. So zwangen gerade machtpolitische, rüstungswirtschaftliche Notwendigkeiten zumal ab Kriegsbeginn zu einer Neubesinnung auf den Wert gründlicher Allgemein- und Spezialbildung.[31] Weiter erkannte der Nationalsozialismus, zumindest in der Berufsbildung, das Leistungsprinzip als für jede politisch-wirtschaftliche Entwicklung notwendig an.

1.2 Umerziehung der Lehrer

Ähnlich folgenschwere organisatorische Veränderungen wie den Oberschulen widerfuhren der Volksschule des Dritten Reichs allerdings nicht. Was sich in ihr änderte, betraf vor allem – wie in anderen Schulformen und -typen auch – die Lehrerausbildung, die Lehr- und Stundenpläne, die Schulbücher, speziell die Lesebücher. Vieles blieb wenigstens formal bis zum Erscheinen der Volksschulrichtlinien im Jahre 1940 beim alten; die politisch veränderten Inhalte wirkten sich dagegen schon bald nach der Machtergreifung aus.

Staat und Partei setzten alles daran, das Denken der Lehrer umzuformen, d.h. sie mit dem nationalsozialistischen Gedankengut, ihren politischen und pädagogischen Zielvorstellungen vertraut zu machen. Man enthob sie nicht ihres Amtes, sofern sie nicht Juden oder Kommunisten waren, ersetzte sie nicht durch linientreue Kollegen, sondern »erzog« sie »um« im nationalsozialistischen Sinne. Außerdem kontrollierten staatliche Instanzen fortan unentwegt ihr Tun wie ihre politische Einstellung. Der Nationalsozialistische Lehrerbund – NSLB – und das Leipziger »Zentralinstitut für Erziehung« führten Lehrgänge in Schulungslagern durch und veranstalteten zur Weiterbildung aller Lehrer, zumal der noch nicht »gleichgeschalteten«, gemeinsame Fahrten und Informationskurse. Die Lehrerbildung – besonders die der Volksschullehrer – sah sich Veränderungen unterworfen. Die 1926 in Preußen nach den Vorstellungen von Spranger und Becker eingerichteten Pädagogischen Akademien wurden 1933 in Hochschulen für Lehrerbildung und 1942 in Lehrerbildungsanstalten umgewandelt. Neue Studiengänge wurden entworfen, neue Prüfungsvorschriften erlassen, neue Studienfächer eingeführt, so Rassen- und Volkskunde, Grenzland- und Wehrkunde. Insbesondere die pädagogischen Schriften von Baeumler und Benze, von Hördt, Krieck und Usadel mußten sich die Studenten der Pädagogik erarbeiten. Die sogenannte bürgerliche Pädagogik verlor fast völlig an Bedeutung. Zwar berief sich der Nationalsozialismus gern auf den Geist der deutschen Klassik, auf das Denken des Idealismus und des Neuhumanismus, wie die Lesebücher der Zeit zeigen. Doch für die parteioffizielle Erziehungstheorie waren die pädagogischen Lehren der Goethezeit, die noch in der Weimarer Republik viel gegolten hatten, so gut wie bedeutungs- und wirkungslos.[32] Soziologie und Psychologie wurden kaum systematisch gelehrt, die Fachwissenschaften, so Eilers, nicht sehr gründlich betrieben, wie denn Hitler und ein Teil seiner einflußreichen Mitarbeiter meinten, Volksschullehrer brauchten nicht so gut ausgebildet zu werden, wie es an den Hochschulen für Lehrerbildung beabsichtigt und bis 1933 an den Pädagogischen Akademien geschehen war. In Ehren entlassene Unteroffiziere und Feldwebel, so ließ Hitler sich 1942 vernehmen, täten es nicht minder gut, ja besser.[33] Neue Studiengänge und Prüfungsordnungen, Reglementierungen und Kontrollen, Studienzulassungs-Beschränkungen für Studentinnen und Studienverbot für »Nichtarier«, Kompetenzstreitigkeiten der einzelnen Ressorts und ihrer Leiter, schließlich der Weltkrieg – das alles trug dazu bei, die Lage des Bildungswesens nachhaltig zu verschlechtern, damit auch die Schülerleistungen herabzusetzen und das Erziehungswesen je länger je mehr einer Katastrophe nahezubringen.

Seine Ziele hätte der Nationalsozialismus nicht so konsequent verfolgen und schließlich erreichen können, hätte ihm nicht der von Hans Schemm schon 1927 begründete Nationalsozialistische Lehrerbund zur Seite gestanden. Schemm gelang es, Widerstände und Animositäten der Lehrerschaft gegen den Nationalsozialismus zum Schweigen zu bringen, Bedenken gegen die neue Kulturpolitik zu zerstreuen, enge Verbindungen zur Partei- und Staatsführung zu knüpfen. Dem Bund gelang es weiter unter Führung von Hans Schemm und dessen Nachfolger Fritz Wächtler, die überwiegende Mehrzahl der Lehrerschaft für sich, großenteils damit auch für die Partei, zu gewinnen und auf diesem Wege auch Schule und Schüler stark zu beeinflussen. Seine weiteren Aufgaben sah der Lehrerbund darin, Richtlinien zu entwerfen, Schulbücher und Lehrmittel sowie die für die Schule bisher ausgewählte Literatur zu überprüfen, die Lehren von Führer und Partei zu verbreiten, die Arbeit der Regierung zu unterstützen. Allerdings bemühte er sich auch, die Lehrerbesoldung zu verbessern und – ohne Erfolg – die akademische Lehrerausbildung zu erhalten. Vor allem aber – und mit größtem Erfolg – unternahm es der Lehrerbund, die Lehrer politisch zu belehren, sie zu »erfassen« und »gleichzuschalten«.

1.3 Neue Lehrpläne und Richtlinien

Relativ spät veränderte der Nationalsozialismus, übereinstimmend mit den letztgenannten Entwicklungen, die Lehrpläne und Richtlinien. Diese Veränderungen vollzogen sich in zwei Abschnitten. Zwischen 1933 und 1937 erschienen recht unsystematisch und sporadisch Erlasse und Anweisungen zu Schule wie Unterricht, Hinweise auf Fächer und deren Inhalte.[34] Die entscheidende Phase der schulischen Wandlungen währte von 1938 bis 1942. In diesen Jahren erschienen die offiziellen und systematischen Richtlinien, teils verbunden mit Lehrplänen, die das Reichserziehungsministerium für alle Schulreformen und -typen erarbeitet hatte. War bis dahin in den Schulen noch manches unverändert geblieben, waren manche Schulbücher noch vom Denken und vom Geist der Weimarer Republik bestimmt und die Lehrpläne insgesamt noch Relikte einer demokratisch verfaßten Gesellschaftsordnung, war folglich der nationalsozialistische Staat bis dahin noch weitgehend bei der Verfolgung seiner Ziele auf die – keineswegs selbstverständliche – Linientreue der Lehrer angewiesen, so änderte sich das mit dem Jahre 1937 erheblich. Wenig blieb dem Zufall überlassen, der Einfluß der Verlage auf die Inhalte der Schulbücher schwand; Bouhlers und Rosenbergs Macht hatte sich endgültig durchgesetzt.[35]

Drei Lehrbereiche waren von der Lehrplanrevision besonders betroffen: einmal die historischen Fächer, dann die naturwissenschaftlichen Fächer, endlich der Muttersprachunterricht. Zu den historischen Fächern zählten politische und nationalsozialistische Geschichte, diese auch als Geschichte der »nationalen Revolution« bezeichnet, ferner Kunst- und Musikgeschichte, die beide den entsprechenden Schulfächern Kunst und Musik zugeordnet waren. Die Lehrinhalte der Disziplin Politische Geschichte wurden nach Möglichkeit angereichert durch Kapitel der Wehr- und Militärgeschichte. Mit der Geschichte verband sich die Erdkunde samt dem neueingeführten Fachgebiet Geopolitik. Beide zusammen »übernahmen die Aufgabe, das deutsche Volk als den wahren Repräsentanten der nordischen Rasse zu zeigen, die im gesamten Geschichtsverlauf die höchsten politischen und kulturellen Werte hervorgebracht habe«.[36] Diese Fächer förderten ganz entschieden Rassenhochmut und die Aversion gegen rassische Minderheiten.

Das Fach Geschichte, erweitert um die Geschichte der »nationalen Revolution«, sollte zumal vaterländisch-völkisches Geschichtsbewußtsein vermitteln. Die gesamte deutsche Geschichte war unter dem Aspekt deutscher Art und Größe darzustellen, das Dritte Reich als krönende Konsequenz der vorhergegangenen historischen Entwicklungen zu begreifen.[37] Entsprechend nennt das Amtsblatt für Bayern nach der »Machtergreifung« am 30. Januar 1933 als Aufgabe des Geschichtsunterrichts, »einzuführen in die Bedeutung und Größe des historischen Geschehens der nationalen Revolution …, den Sinn und das Gefühl für des Volkes Ehre und Macht zu wecken und in jedem Jungen und Mädchen die heiligen Gefühle der Vaterlandsliebe und treuen Pflichterfüllung zu wecken«.[38]

Den naturwissenschaftlichen Fächerkanon – Mathematik, Physik, Chemie, Biologie – erweiterte auf Hitlers Wunsch fortan die Rassenkunde. Fachlich und thematisch der Biologie zugeordnet, galt sie zugleich als stets zu beachtendes Unterrichtsprinzip der sogenannten Gesinnungsfächer des deutschkundlichen Bereichs, zu dem Erdkunde, Geschichte und Deutsch zählten.

Nicht nur mit den Themen der Biologie, genauer der Rassenkunde, erhielt das Fach Deutsch einen zusätzlichen Bildungsauftrag zugewiesen. Auch andere Inhalte mußte es sich gefallen lassen. Volkhafte Dichtung, vom Nationalsozialismus hoch geschätzt, von Kritikern als einfältige, tendenziöse Blut-und-Boden-Literatur bewertet[39], hatte es zu vermitteln, auf nordisch-arische Art hinzuweisen, alle »psychologisierende und ästhetisierende Literatur«[40] hinfort zu meiden. In Aufsätzen sollten die Schüler vor allem politische, historische und ideologische Themen abhandeln, in Lesebüchern besonders mit ihnen konfrontiert werden. Zusammenfassend läßt sich die Aufgabe des Deutschunterrichts nationalsozialistischer Prägung so angeben: »An die Stelle der nur betrachtenden, kritisch-wissenschaftlichen, historischen und ästhetischen Einstellung tritt die wertende, schaffensbereite und kämpferische Haltung.«[41]

1.4 Änderungen im Stundenplan

Auch der Stundenplan wurde verändert. Es blieben zwar im großen und ganzen die bis 1933 festgelegten Gesamtstundenzahlen erhalten. Nur: 1934 führte man den »Staatsjugendtag« ein. Am Samstag jeder Woche erteilten Schule und Hitlerjugend den Schülern, die nicht dem Jungvolk der Zehn- bis Vierzehnjährigen angehörten, gemeinsam Unterricht. Er bestand aus zwei Stunden nationalpolitischer Belehrung, weiter aus Werk- und Sportunterricht. Da der Staatsjugendtag von Anfang an dank der einseitigen politischen Ausrichtung durchweg nur ein geringes geistiges Niveau aufwies und wenig Anklang bei Schülern wie Ausbildern fand, verschwand er schon 1937 wieder aus dem Schul- und Stundenplan.

Einen erheblichen Anteil an den Unterrichtsstunden und dem Schulgeschehen besaß der Sportunterricht. Für ihn waren bis zu fünf Stunden in der Woche veranschlagt – ein Sechstel bis ein Siebentel der wöchentlichen Gesamtstundenzahl. Er leistete Wesentliches für »das Heranzüchten kerngesunder Körper« und die »Charaktererziehung« des »Menschenmaterials«, von dem sich Hitler eine rassische »Elite« für seine politischen und militärischen Ambitionen versprach.

Wie sehr sich das Fach Sport insgesamt aufgewertet sah, geht aus dreierlei hervor. Es bestanden Bestrebungen[42], Turnlehrer generell zu stellvertretenden Schulleitern zu ernennen: selbst bei Aufnahmeprüfungen in die Sexta fehlte der Sport nicht als Pflichtfach; körperliche Schäden und anhaltendes Versagen im Sport waren nach den Verfügungen Grund genug, Schüler der Oberschulen und Nationalpolitischen Bildungsanstalten von der Schule zu weisen.[43]

1.5 Vereinheitlichung des Bildungsangebots

Rigoros unternahm es der Nationalsozialismus, die bis 1933 gegebene Pluralität der Bildungsmächte einzuschränken. Der Einfluß der christlichen Kirchen auf alle Schulen wurde merklich verringert, der Religionsunterricht seit 1935 und besonders seit 1936 immer stärker eingeschränkt. Entsprechend ließ man ab 1939 an den Hochschulen für Lehrerbildung die Dozenturen der Religionspädagogik unbesetzt.

Einen weiteren Schritt, das vordem vielfältige Bildungsangebot zu verringern, darf man in den ab 1934 unternommenen Versuchen sehen, ein reichseinheitliches Volksschul-Lesebuch zu schaffen.[44] Erste Bände erschienen schon 1935, das gesamte Lesewerk lag schließlich 1939 für alle Klassen vor. Damit war die Zeit gänzlich beendet, in der Verlage auf eigenes Risiko Volksschullesebücher unterschiedlich starker nationalsozialistischer Observanz edieren und die verschiedenen Bildungsmächte zu Wort kommen lassen konnten. Die Mittel- und Oberschulen erhielten 1938 für sämtliche Fächer neukonzipierte Schulbücher und Lehrmittel, während an den Volksschulen einzig das erwähnte Lesebuch reichseinheitlich eingeführt werden konnte. Die anderen Bücher und Arbeitsmittel der Volksschule erschienen, vom Staat nur teilweise kontrolliert und offiziell genehmigt, großenteils nach dem bisher üblichen Modus: die Verlage konzipierten und veröffentlichten die Schulbücher weitgehend nach eigenem politischen und pädagogischen Gutdünken.

1.6 Rassismus in der Schule

Abschließend ist hinzuweisen auf einen Aspekt der nationalsozialistischen Schule, der bisher unerwähnt geblieben ist. In all ihren Gliederungen, Formen, Typen, Stufen mußte sie Rassenpolitik betreiben, und sie hat sie betrieben. Jüdische Lehrer verloren ihr Amt, jüdische Schüler wurden von ihren »arischen« Mitschülern abgesondert und möglichst auf jüdische Schulen, auf Sonderschulen oder in Sonderklassen verwiesen. Man gestattete ihnen zudem nur eine Minimalbildung; ihr Anteil an den höheren Schulen wurde radikal beschränkt.[45] Schon ab 1934 war ihnen die Teilnahme an Schulveranstaltungen in Schullandheimen verboten.

All das bedeutete für die Schulen und damit auch für den Staat einen erheblichen Verlust an geistiger Substanz und an Leistungsvermögen, weiter eine rassistisch bedingte Polarisierung der Lehrer- wie der Schülerschaft, die zunehmend erhebliche Spannungen, Unsicherheit und Unruhe schuf. –

 

Der bisherige Überblick macht ersichtlich: Erstens war die deutsche Schule zum Instrument der Partei und ihrer Organisationen geworden; zweitens stellte sie keinen kind- und jugendgemäßen Schonraum mehr da – wie noch von der Reformpädagogik um Ellen Key angestrebt und beispielsweise auch in den Richtlinien der Weimarer Republik gefordert –, weil allzu viele auf sie einwirkten und disparate Forderungen an sie stellten; drittens zeigte sie in ihrem intellektuellen Niveau mancherlei Mängel, da Mythen, emotionale Inhalte, Ressentiments und ideologische Belehrung die Verstandes- und Geistesbildung überlagerten.

Mit alledem war die Schule des Tausendjährigen Reiches in Zustände zurückgefallen, wie sie in jenen Zeiten zu denken sind, als sich in Deutschland das Schulwesen unter dem Einfluß von Potentaten, Magistraten und Kirchen allmählich zu entwickeln begann – zur höheren Ehre Gottes, einer Religion und der weltlichen Obrigkeit. Ähnlich wirkte die nationalsozialistische Schule: zur höheren Ehre des »Führers«, des Nationalsozialismus als eines Religionssurrogats und der Partei.

2. Hitlers Ansichten über Erziehung

Wie die nationalsozialistische Pädagogik nicht mit einer Stimme gesprochen, statt dessen des öfteren mit doppelten Zungen geredet, wie sie nicht ein gemeinsames Ziel verfolgt und – trotz vieler Übereinstimmungen – nicht ein einhelliges Menschenbild besessen hat, so hat es im Dritten Reich und in den vorhergehenden Jahren seiner Entwicklung nicht nur einen Theoretiker gegeben, auf dessen Wort alle nationalsozialistischen Erzieher gehört und dessen Anregungen alle gleicherweise verwirklicht hätten:Adolf Hitler hat sich zwar oft und vielfältig über Erziehung ausgelassen, die allseits unumstrittene pädagogische Autorität des »neuen Staates« aber ist er nicht gewesen. Besonders »Mein Kampf« gibt neben zahlreichen Reden Aufschluß über das, was Hitler unter Erziehung verstand und welche Ziele er verfolgt sehen wollte. Ein theoretisches System stellen seine Äußerungen nicht dar. Die an Pädagogik interessierten einflußreicheren Staats- und Parteifunktionäre haben sich so wenig wie linientreue Wissenschaftler abhalten lassen, aus zumeist politischem Ehrgeiz und Eigenstreben ihre eigenen Theorien zu entwickeln, eigene Bildungskonzeptionen durchzusetzen.[46]

Gleichwohl haben Hitlers Gedanken über die Erziehung »seiner« Jugend die Grundzüge nationalsozialistischer Pädagogik stark beeinflußt, wie zumal die Richtlinien verdeutlichen.

Der Erziehung vergangener Jahrzehnte lastet Hitler eine Reihe Versäumnisse an. Sie sei zu subjektivistisch und zu liberal gewesen, insofern sie zu Demokratie, Sozialismus und Pazifismus erzogen, vor allem aber eine kindgemäße Erziehung sowie die pädagogische Autonomie und ein zu freundschaftlich-menschliches Verhältnis zwischen Erziehern und Zöglingen bejaht habe. Hitler wendet sich also, ohne Namen von Pädagogen zu nennen, gegen Erziehungstheorien, wie sie die Reformpädagogen zwischen 1890 und 1933 im allgemeinen, Herman Nohl, Eduard Spranger und andere Pädagogen der Dilthey-Schule im besonderen vertreten haben.

Wichtiger zudem als eine bloß patriotische Erziehung hätte eine Nationalerziehung sein müssen, die »Nationalbegeisterung« und »Nationalstolz«[47] geweckt hätte. »Verantwortungslosigkeit«, Mangel an »Willens- und Entschlußkraft« sowie »Devotheit« seien weitere Charaktermerkmale der Lehrer, damit »Fehler unserer ganzen Erziehung« gewesen, die schließlich zum Untergang der Monarchie und zu Deutschlands Verfall geführt hätten. Denn statt den Charakter zu bilden und die praktischen Fähigkeiten der Schüler zu entwickeln, habe die Schule der letzten hundert Jahre sich einzig auf oberflächliche Wissensvermittlung kapriziert. Ein harter Vorwurf, und doch nicht mehr als die halbe Wahrheit, denn Hitler verkennt offensichtlich nicht nur alle andersgerichteten Bestrebungen der Reformpädagogik, er ignoriert auch die Tatsache, daß die deutsche Wissenschaft jahrzehntelang eine führende Stellung in der Welt eingenommen hatte – sichtbar ausgewiesen durch die große Zahl deutscher Nobelpreisträger.

Den von Hitler gesehenen Mängeln der Erziehung müsse der »völkische Staat«[48] mit allen Kräften wehren. Wesentliche Veränderungen im gesamten Erziehungssystem seien deshalb vonnöten. Das Konzept, das Hitler zu diesem Zweck entwirft, ist schon deshalb fragwürdig, ja fehlerhaft, weil die Prämissen auf Verallgemeinerungen, Pauschalurteilen und nicht zuletzt auf Aversionen beruhen, so etwa seine Auslassungen über den Lehrerstand und über die dem Schüler notwendigen Bildungsinhalte.

Am 12. April 1942 äußert Hitler während eines Tischgesprächs im Führerhauptquartier, Lehrer, zumal Volksschullehrer, seien unfähig zum Lebenskampf, unfähig auch, aus eigener Kraft schöpferisch zu wirken. Sie stellten »ein ganz besonders unselbständiges geistiges Proletariat« dar, seien »Dreckfinken« und keine »Persönlichkeiten«, folglich in ihren Erziehungsfähigkeiten und Erziehungserfolgen jedem deutschen Feldwebel unterlegen und offenbar insgesamt ungeeignet, »die Jugend mit absoluter Autorität zu lenken«.[49] Nach zehnjähriger Dienstzeit und anschließender zweijähriger Ausbildung an Präparanden-Anstalten seien die »Kapitulanten«, Unteroffiziere und Feldwebel auf Zeit, besonders für den Unterricht in höheren Volksschulklassen den Volksschullehrern vorzuziehen.[50] In solchen Sätzen, deren Tendenz schon in »Mein Kampf« sichtbar wird, spricht sich nicht nur die pädagogische Ignoranz, sondern vor allem die Menschenverachtung eines vorzeiten schlechten Schülers aus. Er leugnet die Unterschiede zwischen militärischer und schulischer Ausbildung, zwischen soldatischen und kindlichen bzw. jugendlichen Erziehungsansprüchen. Hitler versteht unter Erziehung Drill, Zucht, äußerste Belastung aller körperlichen, seelischen, geistigen Kräfte an jedem Platz und in jeder Situation; unter Bildung sowohl parteipolitische, ideologische Schulung als auch wirksame berufsorientierte Ausbildung. Eine differenzierende Bewertung aufgrund psychologischer Kenntnisse liegt ihm fern, ist ihm nach Einsicht und Reflexionsvermögen auch kaum möglich, desgleichen nicht das Verständnis für jene Beziehung zwischen Schüler und Lehrer, die man mit Herman Nohl als »pädagogischen Bezug« bezeichnet.

Für Nohl ist »die Grundlage der Erziehung … das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, daß er zu seinem Leben und seiner Form komme«.[51] Hitlers Erziehungsansichten stehen in schroffem Gegensatz zu dem gerade von dem Reformpädagogen aufgestellten Postulat, alle Erziehung habe individuelle und individualisierende Erziehung zu sein, dürfe es dabei an einer zunächst engen, im Verlauf der weiteren Entwicklung des ›Zöglings‹ dann sich allmählich lockernden geistigen und seelischen Bindung von Schüler und Lehrer, Erzieher und Heranwachsendem nicht fehlen lassen. Das schließt ein: das Recht des Kindes oder Jugendlichen auf die ihm gemäße Bildung und Ausbildung hat Vorrang gegenüber dem Recht des Staates, Jugend zu erziehen. Gegenwärtiges wie zukünftiges Leben des Jugendlichen sind für Nohl, als dem hier herausgestellten Repräsentanten der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, und für die Reformpädagogik wichtiger als die Zwecke des Staates; gleichwohl lehnt auch Nohl jede Erziehung ab, die ausschließlich an dem einzelnen Erziehungsbedürftigen orientiert wäre.

Hitler bestreitet dagegen die Rechte des Individuums wie dessen Ansprüche auf Individualität, Humanität verdächtigt er als Gefühlsduselei.

Des »Führers« positiv formulierte Erziehungsmaximen bilden in seinem ersten Buch, »Mein Kampf«, einen in sich geschlossenen Abschnitt.[52] An anderen Stellen des Bandes nimmt er einiges vom dort Gesagten schon vorweg, einiges wiederholt er mit geringen Varianten.

Aus der Prämisse, es sei die »erste Aufgabe des Staates im Dienste und zum Wohle seines Volkstums die Erhaltung, Pflege und Entwicklung der besten rassischen Elemente«, folgert Hitler, es müsse »die Erziehung zuallererst die körperliche Gesundheit ins Auge fassen und fördern«. Er fährt fort, wobei er das Gesagte durch Sperrdruck hervorheben läßt: »Der völkische Staat hat … seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung der geistigen Fähigkeiten. Hier aber wieder an der Spitze die Entwicklung des Charakters, besonders die Förderung der Willens- und Entschlußkraft, verbunden mit der Erziehung zur Verantwortungsfreudigkeit, und erst als Letztes die wissenschaftliche Schulung.«[53] Der Passus stellt den seit der Antike fast unbestritten gültigen Katalog von Bildungswerten und -zielen zunächst auf den Kopf. Der Züchtungstheorie und Rassenideologie werden Bildungskanon, Bildungsinhalte und Bildungswesen fortan unterworfen. Außenpolitische und rassistische Planungen für die Zukunft lassen es Hitler als notwendig erscheinen, physische Vitalität und psychische Qualitäten wie »Treue, Opferwilligkeit, Verschwiegenheit«[54] intellektuellen Fähigkeiten überzuordnen. Daher denn »soll das jugendliche Gehirn im allgemeinen nicht mit Dingen belasten werden, die es zu fünfundneunzig Prozent nicht braucht und daher auch wieder vergißt«. Die neue Generation im völkischen Staat bedarf nicht des Ballasts einer »wissenschaftlichen Schulbildung«, mithin am wenigsten der Kenntnis alter Sprachen. Fremdsprachen bedeuten für die meisten Schüler eine sinn- und zwecklose Qual. (Die Lehrpläne für die höhere Schule sehen indessen noch Unterricht in alten wie neuen Fremdsprachen vor.) Das Fach Geschichte muß die historischen »großen Entwicklungslinien« zeigen und »für eine bessere Erziehung zur Politik … sorgen«.[55] Überhaupt sollen alle Disziplinen, die naturwissenschaftlichen eingeschlossen, »nur die Grundlagen für eine spätere fachwissenschaftliche Weiterbildung bieten«.[56] »Allgemeine Bildung« und »verzichtfreudige Opferbereitschaft« einer »idealistisch veranlagten Volksgemeinschaft«[57] werden, so Hitler, weit besser wirtschaftliche Blüte und technischen Fortschritt garantieren, als es jede gründliche berufsvorbereitende fachspezifische Ausbildung ohne Idealismus vermöchte. »Allgemeine Bildung« ist nicht identisch mit »Allgemeinbildung«, über die der sogenannte »Gebildete« verfügt: möglichst detailliertes Wissen und Können auf möglichst vielen Gebieten. »Allgemeine Bildung« beschränkt sich auf die »großen Linien«, auf politisch und beruflich aktivierbares Basiswissen. – Auch den Begriff Idealismus verwendet Hitler anders, als es seit dem Neuhumanismus geschah. Er versteht unter dem Wort »nur die Aufopferungsfähigkeit des einzelnen für die Gesamtheit, für seine Mitmenschen«.[58]

Letztes und höchstes Ziel soll der gesunde Körper mit einem klaren Geist sein. Viel Zeit hat der Lehrplan jeder Schule dem Sport, und besonders dem Boxen, zuzuweisen. Denn »nicht im ehrbaren Spießbürger oder der tugendsamen alten Jungfer sieht er (sc. der völkische Staat) sein Menschheitsideal, sondern in der trotzigen Verkörperung männlicher Kraft und in Weibern, die wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen«.[59]

Die Prävalenz des Sports ist gleichbedeutend mit weitgehendem Verzicht auf Wissensvermittlung, der Sport selbst ein Mittel, dem einzelnen Selbstvertrauen und »den Glauben an die Unbesiegbarkeit seines ganzen Volkstums«[60] wiederzugeben – einen Glauben auch wider bessere Einsicht.

Was hier nur eben anklingt – der Hinweis auf künftige politische und militärische Entscheidungen –, das spricht Hitler kurz darauf unzweideutig aus: »Wer glaubt, daß unser Volk aus unserer jetzigen bürgerlichen Erziehungsarbeit zur Ruhe und Ordnung die Kraft erhält, eines Tages die heutige Weltordnung, die unseren Untergang bedeutet, zu zerbrechen und die Kettenglieder unserer Sklaverei ins Gesicht zu schlagen, der irrt bitter. Nur durch ein Übermaß an nationaler Willenskraft, an Freiheitsdurst und höchster Leidenschaft wird wieder ausgeglichen werden, was uns einst fehlte.«[61] Es ist offenkundig, daß sich dies Übermaß mit einer konsequenten Schulung des Intellekts und des kritischen Verstandes nicht, wohl aber mit Appellen an die irrationalen Geisteskräfte verträgt und daß es vor allem robuster Gewalt bedarf, die Ketten tatsächlich und nicht nur sinnbildlich zu zerbrechen. Daher ergeben sich denn auch Hitlers Forderung nach »Weibern, die wieder Männer zur Welt zu bringen vermögen«, und der Anspruch des Staates, auch die Schulentlassenen noch systematischem und systemadäquatem Erziehungseinfluß zu unterwerfen. Ziel nämlich und Krönung aller Erziehung im völkischen Staat wird das Heer sein: »Es soll … den körperlich bereits tadellos vorgebildeten jungen Menschen nur mehr in den Soldaten verwandeln.«[62] Im Heer lernt er gehorchen und befehlen, »Unrecht und Recht (sic!) schweigend … ertragen«, hier wird aus dem Knaben der Mann.

Aus den gleichen Überlegungen und mit denselben Zielen kann Oswald Kroh in einem 1935 erschienenen Beitrag den »soldatischen Menschen« als Ergebnis nationalsozialistischer Erziehung feiern: »Soldatentum als Ausdruck der Wehrhaftigkeit und Wehrgesinnung des freien ehrliebenden Menschen ist übergreifende, für alle Funktionen und Berufe gültige Forderung geworden.«[63]

Über die Mädchenerziehung verliert Hitler ganze drei Sätze, auf die sich später die Lehrplan- und Richtlinienverfasser immer wieder beziehen: »Analog der Erziehung des Knaben kann der völkische Staat auch die Erziehung des Mädchens von den gleichen Gesichtspunkten leiten. Auch dort ist das Hauptgewicht vor allem auf die körperliche Ausbildung zu legen, erst dann auf die Förderung der seelischen und zuletzt der geistigen Werte. Das Ziel der weiblichen Erziehung hat unverrückbar die kommende Mutter zu sein.«[64]

Die Analogie besteht darin, daß die Mädchen sich bereitfinden sollen, auf Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung zu verzichten, Härte und Verschwiegenheit zu üben, Gefühle wie Furcht, Schmerz und Trauer weder aufkommen noch lautwerden zu lassen, Gleichberechtigung nicht anzustreben und in schöner Gelassenheit nur für Familie und Haushalt zu leben. In solcher Beschränkung und Selbstbescheidung, die einer patriarchalischen Gesellschaft, entsprechend auch einer an soldatischen Normen und Tugenden ausgerichteten Männergesellschaft als so selbstverständlich wie ideal erscheinen, dokumentiere sich das germanische weibliche Wesen aufs beste, zumal dann, wenn die Frau bereit und fähig sei, dem Volk »wieder Männer zur Welt zu bringen« – Männer, die Kriege führen können und die rassische Elite mehren.

Für die Erziehung beider Geschlechter habe letztendlich zu gelten: das Schicksal der Menschheit hänge davon ab, ob der Jude oder der arische Mensch in ihr dominiere. Deshalb seien der Jugend »Rassesinn und … Rassegefühl instinkt- und verstandesmäßig in Herz und Gehirn« »hineinzubrennen«[65], müsse sie die unverrückbare »Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit«[66] gewinnen. Nur so sei es dem völkischen Staat möglich, »dereinst das für die letzten und größten Entscheidungen auf diesem Erdball reife Geschlecht zu erhalten«.[67]

Um dieser künftigen Entscheidungen willen plant Hitler erfolgreich den totalen Erziehungsstaat: »Diese Jugend«, so äußert er 1938, »die lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Male überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend und dort behalten wir sie wieder vier Jahre.

Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klasse und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wie sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in das NSKK und so weiter. Und wenn sie dort zwei Jahre oder anderthalb Jahre sind, und noch nicht ganze Nationalsozialisten geworden sein sollten, dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs Monate geschliffen … und was dann nach sechs oder sieben Monaten noch an Klassen- und Standesdünkel da oder dort vorhanden sein sollte, das übernimmt die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre. Und wenn sie nach zwei, drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.«[68]

Hitlers Theorien von Erziehung gehen, mit Abweichungen, ein in die Lehrpläne und Richtlinien der Volksschulen, der Realschulen und der höheren Schulen. Darin, daß die subjektiven Ansichten des »Führers« solcherart objektiviert werden, erweist sich die nationalsozialistische Pädagogik einmal mehr als eine vollkommen politisierte Pädagogik, die ihren militärisch-militanten Charakter nicht leugnen will noch kann. Sie ist auf Machterweiterung im Innern wie im Äußern bedacht; sie verquickt den Bildungsanspruch des Schülers mit einer auf Rassismus und Antisemitismus gründenden Ideologie in der Weise, daß der Schüler zum manipulierbaren, immer einsatzbereiten Instrument des Staates wird. Dem Staat und der Partei ist nicht die je einmalige Situation des Schülers, ist nicht dessen gegenwärtiges wie künftiges Lebensgeschick wichtig, sondern einzig die eigene staatliche, politisch relevante und ideologisch erklärte Machtposition in der Welt. Das bedeutet: das Individuum wird nicht mehr als solches gesehen, nämlich als sich selbst bestimmendes eigen-williges Wesen, sondern als beliebig formbarer Rohstoff, den es zunächst zu veredeln, dann für weltmachtpolitische Ziele einzusetzen gilt. Hatte die »bürgerliche« Erziehungslehre vor 1933 dem Staat und dieser seinerseits dem Schulsystem die Aufgabe zugewiesen, den Schüler zu seiner Selbstverwirklichung zu führen (wie es gerade die Reformpädagogik gewünscht hatte), so weist die nationalsozialistische Erziehungslehre dem Schüler umgekehrt die Aufgabe zu, dem völkischen Staat zu dessen ideologisch begründeter Entwicklung von wirtschaftlicher und politischer Macht mit allem Einsatz zu verhelfen, dessen der einzelne, auch der jugendliche, »Volksgenosse« fähig ist.

3. Hitlers Vorbilder

Bei aller inhaltlichen und intentionalen Vielschichtigkeit nationalsozialistischer Pädagogik gibt es Grundkonstanten in ihren Erziehungstheorien, die sich über zwölf Jahre erhalten und nachhaltig in den Schulen ausgewirkt haben. Es sind vor allem die Mythen und Mythologeme als Teile der umgreifenden Ideologie, nämlich die unbeweisbaren Lehren von Rasse, Vererbung, Volksgemeinschaft und blutsmäßigen Bindungen, weiter die Anti-Ismen, so Antiliberalismus, Antiindividualismus, Antimarxismus und Antisemitismus, dann der vielstrapazierte Ehrenkondex mit den angeblich spezifisch germanischen Tugenden Ehrbewußtsein, Treue, Mut, Ausdauer, Zuverlässigkeit und Verantwortungsbereitschaft, endlich Volks- und Nationalbewußtsein. Diese Begriffe tauchen als die Eckwerte nationalsozialistischer Pädagogik mit einiger Regelmäßigkeit in den Äußerungen führender wie weniger bedeutender Vertreter des Regimes auf. Hitler hatte die Begriffe in »Mein Kampf« gebündelt und damit eine »Sprachregelung« begonnen, an die sich zumal nach 1933 fast alle Verfasser linientreuer pädagogischer Schriften halten. Die meisten Theoreme und Theorien, die Hitler in seinen Schriften und Reden äußerte, hat er sich mehr zufällig als systematisch-planvoll angelesen – vermutlich während der Wiener Jahre, von denen er in seiner Autobiographie berichtet. Da heißt es: »Ich las damals unendlich viel, und zwar gründlich … In wenigen Jahren schuf ich mir damit die Grundlagen eines Wissens, von denen ich auch heute noch zehre.«[69] Und an anderer Stelle sagt er: »Wir haben unsere Ideen von allen Sträuchern zu Seiten unseres Lebensweges aufgelesen, und wir wissen nicht mehr, wo sie herstammen.«[70]

Was Hitler gelesen hat, ist nicht eindeutig auszumachen; seine Autobiographie gibt keine Auskünfte.[71] Houston Stewart Chamberlains1899 erschienenes, von Gobineau beeinflußtes Werk »Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts« hat ihn offensichtlich stark in seinem Denken und Fühlen bestimmt.[72] Aus ihm dürfte er nicht nur eine sehr diffuse, ja ambivalente Vorliebe für die griechische und römische Antike gewonnen haben.[73] Hier fand Hitler im zweiten Abschnitt des genannten Konvoluts auch Ausführungen über die »Heiligkeit reiner Rasse«[74], Ausfälle gegen Kultur, Ethos und Rasse der Juden[75] sowie Darlegungen über die weltpolitische Bedeutung der Germanen, über ihre hervorragenden Körpermerkmale, ihre Wesensart und die unvergleichlichen Tugenden[76], die sie zu »Schöpfer(n) einer neuen Kultur« prädestinierten und ihnen angeblich erlaubten, als »Herrenrasse« eine hemmungslose Machtpolitik zu betreiben.[77] Bei Chamberlain konnte Hitler ferner historische Informationen über Bauern und Ressentiments über Großgrundbesitzer, über Syndikalismus und Sozialismus, über christliche Kirche und Erlösungsreligion, über die Segnungen des Landlebens und den »Sumpf« der Großstädte beziehen.[78] Auf Chamberlains Einfluß ist schließlich auch Hitlers weltanschauliche Kompromißlosigkeit eines rigorosen Entweder-Oder zurückzuführen, die sich nicht zuletzt auf seine pädagogischen Ansichten auswirkt.

Chamberlain seinerseits bezieht sich gern auf Paul Anton de Lagarde, einen (1827 in Berlin geborenen) politisierenden Theologen, Orientalisten und Philosophen, dessen »Deutsche Schriften« (1878–1881; 1886) weithin das Denken des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in Deutschland beeinflußt haben. Seine Untersuchungen über deutsche Art und deutsches Wesen führen ihn zu weitreichenden Schlüssen über die welthistorische, weltpolitische Sendung des deutschen Volkes. Nur dadurch, so Lagarde, sei die »deutsche Wesensart« zu erneuern, daß sie sich bestimmen lasse von einem Christentum, das alle jüdischen Gehalte ausgeschieden habe. Erst wenn das geschehen sei, habe das »deutsche Wesen« Berechtigung und Chance zugleich, die Welt nach eigenem Bilde neu zu schaffen. Aus dem ergibt sich ein emphatischer Pangermanismus, dem sich ein anderer eifernder Streiter für Deutschlands künftige Größe, der »Rembrandtdeutsche« Langbehn, angeschlossen hat.

Der Kulturphilosoph August Julius Langbehn könnte Hitler mit dem 1890 anonym veröffentlichten Buch »Der Rembrandtdeutsche« zu seinen schon in »Mein Kampf« geäußerten kunsttheoretischen Ansichten geführt haben. Langbehn sucht zu beweisen, eine Kulturerneuerung sei gerade in Deutschland notwendig. Sie sei nur möglich, wenn Kunst und Volk die verlorengegangene innere Einheit wiedergewönnen, Volk, Art und Nation Bezugspunkte aller deutschen Kunst würden, der allseits herrschende, von Langbehn als verderblich bewertete Intellektualismus bekämpft würde und schließlich, als Ergebnis dieses Kampfes, der Deutsche zurückfände zu tätigem Handeln und volksverbundener Persönlichkeit und dabei aller geistigen Gängelung durch die »volksfremde Kunstdekadenz« Frankreichs entsagen lernte. »Echte« Kunst beziehe sich auf Land, Boden, Scholle, trage deren Zeichen und sei lokal-national gebunden; auch sei sie stadtfeindlich.

Zum Gesinnungskreis der Genannten gehört auch Arthur Moeller van den Bruck, Verfasser eines achtbändigen Werkes über »Die Deutschen« (1904ff), der in der gleichnamigen Schrift für »preußischen Stil«[79] warb, damit dem Nationalsozialismus und seiner Pädagogik allerlei Impulse gab und 1923 mit dem Titel eines weiteren Buches, »Das dritte Reich«, den heraufziehenden »neuen« Staat etikettierte.

Nicht anders als die schon erwähnten Autoren suchte van den Bruck mit seinen Arbeiten der gesellschaftlichen »Atomisierung« wie der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Spezialisierung zu begegnen und dem Volk das Bewußtsein zu vermitteln, es müsse sich wieder in überindividuelle Bindungen begeben. Solche Bindungen sollten sein: Volk samt spezifischem Volksgeist und Volkstum; Rasse, Blut und Scholle; Familie, Stamm und Sippe; Nation und Landschaft, nicht mehr aber Christentum und griechisch-römischer Humanismus.

Das war konservativ gedacht, und konservativ galt als arisches Wesensmerkmal. Aus diesem konservativen Geist sollte dennoch eine deutscher Kultur und Art entsprechende, rassebezogene Revolution entstehen, bewegt aus völkischem Impetus und getragen von der deutschen »Rassenseele«. – Trotz aller offenbaren und weltanschaulichen Übereinstimmungen hatte Moeller van den Bruck »bis zu seinem Tode ein sehr distanziertes Verhältnis zu Hitler und zur NSDAP, was jedoch nicht hindern konnte, daß er gewissermaßen posthum zum Nationalsozialisten und ihrem Künder erklärt wurde«.[80]

Erwähnt sei weiter Friedrich Nietzsche. Ob Hitler auch nur eine Zeile von ihm gelesen hat, ist unbestimmt, doch nicht auszuschließen.[81] Denn »Mein Kampf« enthält Gedanken, die manchem sehr nahekommen, was der Philosoph im »Nachlaß der Achtzigerjahre«[82] verkündet hatte. Da begegnet z.B. die vom Nationalsozialismus bejahte Scheidung der Menschheit in zwei Typen: »der höhere Mensch und der Herdenmensch«[83]; sie impliziert eine zweifache Moral, die der Herren und die »sklavische Moral der Demut, Keuschheit, Selbstlosigkeit, absoluten Gehorsams«.[84] Da ist weiter der Rat an den »großen Menschen«, »jene ungeheure Energie der Größe zu gewinnen, um, durch Züchtung und andrerseits durch Vernichtung von Millionen Mißratener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zugrunde zu gehen an dem Leid, das man schafft und dessengleichen noch nie da war! –«[85] Da ist auch die Aversion gegen den modernen Sozialismus ausgesprochen, der – wie es später dann der Nationalsozialismus getan hat – »die weltliche Nebenform des Jesuitismus schaffen (will): jeder absolutes Werkzeug«.[86] Die Verachtung des Mittelmäßigen ist da und der Appell, »die Vernichtung der verfallenden Rassen«[87] zu betreiben, die selbstherrliche Vorstellung, es könnten die »Herren der Erde«[88] in der Manier von Renaissancefürsten Rangordnung und Werte selbst bestimmen.[89] Weiter könnte Hitler übernommen haben die Verketzerung »des christlichen Moral-Ideals«[90], die Verleumdung des Idealisten als »Ideal-Kastrat«[91] und die aus alldem resultierende Ablehnung sozialer Gleichheit[92].

Nietzsches inhuman-menschenverachtende Anthropologie, im »Nachlaß der Achtzigerjahre« so unverhohlen geäußert wie sonst nirgends, wiederholt sich anscheinend, stark vereinfacht, in Hitlers »Mein Kampf« und wird grundlegendes Element nationalsozialistischer Erziehungslehren und Schulpolitik.

Außer von den genannten Theoretikern hat Hitler seine politischen, seine dann auch die nationalsozialistischen Erziehungslehren beeinflussenden Maximen von drei »Männern der Tat« bezogen, deren Ansichten er bereitwillig, fast unkritisch folgte. »Mein Kampf« nennt sie: Dr. Karl Lueger, Georg Ritter von Schönerer und Dietrich Eckart.

Lueger