Schwarzbuch Baumwolle - Andreas Engelhardt - E-Book

Schwarzbuch Baumwolle E-Book

Andreas Engelhardt

0,0

Beschreibung

Die Preise für Baumwolle steigen innerhalb weniger Wochen um mehr als das Doppelte. Textilhersteller müssen ihre Produktion aus Kostengründen auf andere Rohstoffe ausrichten. Die Zeit des billigen T-Shirts ist vorbei. Eine Vision? Nein - so geschehen im Jahr 2011, als erstmals eine Verknappung der Baumwolle zu heftigen Turbulenzen auf dem Weltmarkt führte. Solche Ereignisse werden kein Einzelfall bleiben. In diesem aufsehenerregenden Schwarzbuch werden Mechanismen und Hintergründe dieser Entwicklung und deren Auswirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung beschrieben und spannende Einblicke in die Mechanismen der globalen Textilproduktion gegeben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 244

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Deuticke eBook

Andreas Engelhardt

Schwarzbuch Baumwolle

Was wir wirklich auf der Haut tragen

Deuticke

ISBN 978-3-552-06203-0

Alle Rechte vorbehalten

© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2012

Umschlaggestaltung und Motiv: David Hauptmann, Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren aufwww.facebook.com/HanserLiteraturverlageoder folgen Sie uns auf Twitter:www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

Vorwort

1. Textil- und Bekleidungsindustrie heute – zum aktuellen Stand

Bedeutende Fasertypen

Fasereigenschaften

»Kleider machen Leute«

2010: Die Situation auf dem Weltmarkt

Entwicklung und aktueller Stand der Rohstoffe

Gegenwärtige Situation des Textilmarktes

Globalisierung und Welthandel

Textile Einsatzgebiete

2. Strukturelle Veränderungen im Textilmarkt

Landwirtschaftlich nutzbare Landflächen

Baumbestand

Erdöl

Was bedeutet »Peak Cotton«?

3. Textil- und Bekleidungsindustrie im Jahr 2030

Wachstumsfaktoren der Fasernachfrage

Volumen des Fasermarktes 2030

Welche Faktoren beeinflussen das Wachstum der verschiedenen Fasertypen?

Kann die Substitution eines natürlichen Rohstoffs durch einen anderen nachhaltig sein?

4. Kann Wachstum nachhaltig sein?

Der ökologische Vergleich macht sicher

Wasser

Flächenbedarf

Energie

Globale Erderwärmung

Relative Umweltbelastung

5. Was erwartet uns auf dem Weg ins Jahr 2030?

Was gilt es für die Zukunft zu beachten?

Zukünftige Situation des Textilmarktes

Hindernisse der Nachhaltigkeit

Anmerkungen

Vorwort

Die Zeiten billiger Bekleidungstextilien nähern sich dem Ende, weil Baumwolle, ein bedeutender Rohstoff in der Textilindustrie, zukünftig nicht mehr in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen wird. Einen ersten Vorgeschmack haben wir bereits um die Jahreswende 2010/11 erlebt. Explodierende Preise bei der Baumwolle und ihre Auswirkungen haben ein breites Medienecho erfahren. Ein in der rund 140-jährigen Historie des Handels mit Baumwolle nicht einmal annähernd erreichtes Rekordniveau von deutlich über fünf US-Dollar pro Kilogramm, bei einem langjährigen Durchschnittswert der Vorjahre von etwa 1,50 Dollar, hat das weltweite Preisniveau aller Fasermaterialien nach oben korrigiert.

Das Allzeithoch, um es exakt zu bestimmen, belief sich auf 5,37 Dollar pro Kilogramm am 8. März 2011. Für die allermeisten ein Tag im Leben wie viele andere eben auch, für mich hingegen leicht zu merken, da es mein Geburtstag ist.

Spontan mögen Branchenkenner den Einwand erheben, dass der Zusammenhang zwischen den Kosten des Rohstoffes und dem Verkaufspreis im Laden stark vereinfacht und auch nicht so ausgeprägt ist. Da der Anspruch des Buches darin besteht, nicht nur Leser mit Hintergrundwissen anzusprechen, mögen mir die »Textilexperten« verzeihen, wenn grundlegendes Wissen vorzugsweise bei den einführenden Bemerkungen des ersten Kapitels zum allgemeinen Verständnis eingearbeitet ist.

Richtig ist, dass der Anteil der Rohstoffkosten von untergeordneter Bedeutung ist. Zudem können wir für die Zukunft weiter technologischen Fortschritt annehmen, der zu einer fortgesetzten Reduzierung der Stückkosten führt. Auch ist zu berücksichtigen, dass diese Branche konsequent auf die günstigsten Lohnkosten ausgerichtet ist. Im Zuge der Globalisierung wird dieser geografische Wandel eher noch an Dynamik zunehmen. Doch fehlen kommerziell belastbare Alternativen zum heutigen Marktführer, der Volksrepublik China. Unbestritten werden Länder wie beispielsweise Vietnam, Kambodscha und Laos ihre Produktionstätigkeit stark ausbauen, auf längere Sicht ist auch Afrika und Zentralasien ein gewisses Potenzial zuzuordnen. Doch fehlt es allen möglichen Optionen an ausreichenden Arbeitskräften, um die Welt einzukleiden. In Medienberichten wird vielfach auf steigende Kosten in China als Folge der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung hingewiesen. Diese Tatsache hat selbstverständlich auch einen unmittelbaren Einfluss auf die Produktionskosten für textile Produkte. Ein jüngst publizierter Bericht der Weltbank mit dem Titel »China 2030« beleuchtet die Möglichkeiten und Herausforderungen auf dem Weg zur weltgrößten Wirtschaft vor dem Jahr 2030. Die Zeiten niedriger Lohnkosten nähern sich dem Ende. Es ist nicht davon auszugehen, dass technologischer Fortschritt allein diese Kostentreiber zu kompensieren in der Lage sein wird.

Bei alledem hat hingegen ein Trend noch keine Berücksichtigung gefunden. Das ökologische Bewusstsein hat weltweit wahrnehmbar an Bedeutung gewonnen. Forderungen nach umweltschonenden, nachwachsenden und natürlichen Produkten werden lauter. Wir werden uns unserer Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen in stärkerem Maße bewusst, denn wir haben nur diesen einen Planeten für mehr als acht Milliarden Menschen in absehbarer Zeit.

Das Modewort der heutigen Zeit ist Nachhaltigkeit, doch diese gibt es nicht zum Nulltarif. Aber wir haben gute Chancen, umweltpolitische Ansprüche mit wirtschaftlichen Notwendigkeiten zu verknüpfen. Es gilt einfach, im Überfluss vorhandene Materialien mit unerschöpflicher Rohstoffbasis stärker in den Fokus der persönlichen Kaufentscheidung zu rücken.

Zu diesem Zweck beleuchtet das Buch die aktuelle Situation des weltweiten Textilmarktes. Es behandelt auch die Frage, ob ein gegenwärtiges Nachfragevolumen von achtzig Millionen Tonnen Fasern überhaupt noch signifikant zu erhöhen sein wird. Das entspricht einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Bedarf von annähernd zwölf Kilogramm im Jahr. Wir können aber doch nur eine Hose und ein Hemd gleichzeitig tragen. Was kann daher einen weiteren Anstieg der Nachfrage rechtfertigen? Antworten gibt ein Ausblick auf die zukünftige Entwicklung des Textilmarktes mit Blickrichtung auf das Jahr 2030. Daraus lassen sich gleichzeitig Gründe für grundlegende Veränderungen im Textilmarkt ableiten, die auf ihre Vereinbarkeit mit Forderungen hinsichtlich Nachhaltigkeit untersucht werden.

Im Rahmen meiner Recherchen zu diesem Buch habe ich bemerkt, dass sich durchaus auch für ein Alltagsprodukt wie Bekleidung Perspektive und Wertschätzung allmählich verändern können. Die gedankliche Verbindung von dem, was seitens der Rohstoffe möglich, mit dem, was seitens der Umweltschonung wünschenswert wäre, lässt Textilprodukte für mich in einem anderen Licht erscheinen. Auf diesem Wege habe ich zugegebenermaßen Rückschläge erlebt, wenn ich in Bekleidungsgeschäften mehr über nachhaltige Textilien erfahren wollte. Umso mehr bestätigte es mich in meiner Ansicht, tiefer in diese Thematik einzusteigen. Ich empfinde es als ein gutes Gefühl zu wissen, was ich auf der Haut trage, und dabei der Umwelt noch einen Dienst erweisen zu können. Wir alle kennen die gängigen Vorurteile gegenüber umweltschonenden Bekleidungsartikeln, nur treffen sie aus modischem Blickwinkel schon lange nicht mehr zu. Trotzdem, wie es im Schwäbischen so niedlich heißt, ein Gschmäckle im übertragenen Sinne haftet ihnen weiter an. Es wäre schön, wenn dieses Buch zum Nachdenken anregt und im besten Falle virtueller Begleiter beim zukünftigen Einkauf ist.

1. Textil- und Bekleidungsindustrie heute – zum aktuellen Stand

Vielfach herrscht die Meinung vor, die Textilindustrie sei gesättigt und liefere keine nachhaltigen Wachstumsraten. Zugegeben, mit den rasanten Absatzzunahmen von beispielsweise mobilen Telefonen in der Vergangenheit konnte die Textilindustrie bei weitem nicht mithalten. Doch wie sieht der Vergleich heute aus? Ein langfristiges durchschnittliches Jahreswachstum von mehr als drei Prozent ist nicht zu verachten, im Besonderen, wenn einem beispielsweise das Platzen der Internetblase vor rund zehn Jahren in den Sinn kommt.

Bedeutende Fasertypen

Wir kennen Fasern für Bekleidung schon seit Jahrtausenden. Waren es früher ausschließlich Naturfasern, so führten unzählige Versuche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur schrittweisen Entwicklung von auf Holz basierenden Zellulosefasern. Synthesefasern wurden in den 1930er und 1940er Jahren entwickelt und basieren auf Öl. Sie konnten seither ihre Produktionsmenge rasch erhöhen und sind seit Jahren das bedeutendste Fasermaterial (Abbildung »Faserarten und Marktbedeutung«).

Nach der DIN-Norm 60001 werden Faserstoffe in Naturfasern und Chemiefasern unterteilt. Die folgende Übersicht gibt diese Typisierung auszugsweise wieder. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern dient vielmehr als eine Hinführung zu den heute gängigen Faserarten.1

Naturfasern

Chemiefasern

1. Pflanzliche Fasern (Zellulose)

1. aus natürlichen Polymeren

Samenfasern

Baumwolle

Zellulose

Viskose

Kapok

Modal

Bastfasern

Flachs

Lyocell

Hanf

Cupro

Jute

Acetat

Ramie

Triacetat

Hartfasern

Sisal

2. aus synthetischen Polymeren

Manila

Polyolefin

Polypropylen

Kokos

Polyethylen

2. Tierische Fasern (Eiweiß)

Polyvinyl

Polyacryl

Wolle und Haare

Schafwolle

Modacryl

Mohair

Polykondensat

Polyester

Alpaka

Polyamid

Kamelhaar

Polyaddition

Polyurethan

Kaschmir

Elasthan

Seiden

Seide

3. Sonstige

3. Mineralische Fasern

Kohlenstoff

Kohlenstoff

Gesteinsfasern

Asbest

Glas

Glas

Die Fasern von Pflanzen und Tieren bilden die Gruppe der Naturfasern. Wie später noch beschrieben wird, nimmt Baumwolle volumenmäßig in der Größenordnung von 25 Millionen Tonnen eine dominante Position ein und bedient rund ein Drittel des Marktes. Einzig die Jahreserzeugung von Jute und Wolle ist noch jenseits der Millionengrenze anzusiedeln. Die übrigen Naturfasern besetzen mittlerweile nur noch Nischensegmente, da sie zumeist von den preisgünstigeren Chemiefasern (früher: Kunstfasern) ersetzt wurden. Allerdings scheinen nicht nur ihr Preis sowie ihre im Zeitverlauf deutlich verbesserten Eigenschaften für diese Entwicklung verantwortlich zu sein, wie am nachfolgenden Beispiel von Hanf gezeigt wird.

Hanf gehört zu einer der ältesten Pflanzen der Welt. Die Verwendung von Hanffasern lässt sich bereits im Jahr 2800 vor Christus belegen. Die Einsatzmöglichkeiten von Hanf gehen weit über ausschließlich textile Anwendungen hinaus, wo er sogar vielfach bessere Eigenschaften als Baumwolle aufweist. Er fand auch Verwendung für Seile, Schnüre, Netze, Segeltücher, und auch das erste nachgewiesene Papier der Welt war aus Hanf.2 Die stetige Reduzierung der Hanfvolumina in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts resultiert aus der erfolgreichen Etablierung von Chemiefasern am Markt für Bekleidungszwecke unter der Federführung der US-amerikanischen DuPont3, flankiert von jahrzehntelangen Bemühungen von Harry Jacob Anslinger, Vorsitzender des Federal Bureau of Narcotics und einer der schärfsten Befürworter einer Cannabis-Prohibition. Er erreichte als Mitglied der Drogenkommission der Vereinten Nationen im Jahr 1961 ein weltweites Verbot des Cannabisanbaus.

Auf einen interessanten Zusammenhang weist das nachfolgende Zitat hin: »… Harry Jacob Anslinger, der 1930 zum Chef des ›Federal Bureau of Narcotics‹ ernannt wurde. Dies wurde er vom damaligen Finanzminister und Bankier Andrew Mellon, der nebenbei auch sein (angeheirateter) Onkel war. Nach eigener Aussage Anslingers, nach seinem Rücktritt über dreißig Jahre später, ging es ihm nie um die Gesundheit der Bevölkerung, sondern immer nur um die Durchsetzung politischer Ziele, für die das Instrument Drogenpolitik, nach Aufhebung der Prohibition, gerade recht kam. Mit Hilfe der Presse verbreitete Anslinger über Jahre hinweg die schauerlichsten Geschichten über Cannabis und sorgte so nicht nur zum Anbauverbot von Hanf, sondern mit der Zeit zu einem völlig falschen und verzerrten Bild der Pflanze, von der es schon damals und auch heute genug Sorten gibt, die keinerlei berauschende Wirkung haben. Dass es dabei nur um die Festigung seiner politischen Position ging, kann man sich eigentlich kaum vorstellen, denn warum sollte man den Anbau eines derart großartigen Rohstoffs, der im Zweiten Weltkrieg noch einer der wichtigsten zur Herstellung von Seilen, Segeln, Fallschirmen und vielem mehr war, verbieten wollen? Es muss da wohl noch einen anderen Grund gegeben haben, der darin gelegen haben könnte, dass Anslingers Onkel, Finanzminister Mellon, in seiner Eigenschaft als Bankier, der Geldgeber des damaligen Chemie-Giganten Dupont war. Die Firma hatte das weltweite Monopol für Chemikalien zur Herstellung von Papier aus Holz und für Synthetikfasern, aus denen vor allem Nylon hergestellt wurde. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere noch an die ›Revolution der Nylon-Strumpfhose‹. Auch dafür hatte die Firma Dupont das Weltmonopol. Hanf war der Hauptkonkurrent der Synthetikfasern und hätte der Firma Dupont nicht nur beträchtliche Gewinneinbußen gebracht, sondern auch den Zulieferern von chemischen Zusätzen zur Textilherstellung und Holzbehandlung kein Geschäft ermöglicht.«4

Verständlicherweise hat die jahrzehntelange Anbaupause dazu geführt, dass landwirtschaftliches und industrielles Wissen über diese Faserpflanzen in Europa völlig verloren gingen. Im Rahmen eines Projektes in den 1990er Jahren wurde der Wissensstand aktualisiert und die Möglichkeiten einer Markt(wieder)einführung untersucht. Dabei lag der Gehalt an psychoaktiven Substanzen (THC5) immer deutlich unter dem Grenzwert der von der Europäischen Union und der Schweiz zugelassenen Sorten. In der Sortenliste der EU waren Ende 2000 nur noch monözische Sorten (weibliche und männliche Blüten auf einer Pflanze) mit einem Gehalt von weniger als 0,2 Prozent THC aufgelistet.6 Vorteilen bei der Ernte dieser Sorte stehen allerdings geringere Erträge gegenüber. Hanfanbau, der wegen seines raschen Wachstums sowohl Unkrautbekämpfung als auch Pflanzenschutz überflüssig macht, kann infolge seiner überaus langen Wurzeln auch dazu dienen, Böden zu lockern für den späteren Anbau anspruchsvollerer Pflanzen. Heute ist der Anbau THC-armer Hanfsorten in allen europäischen Ländern sowie zum Beispiel in Kanada oder Australien wieder erlaubt. Nur in den USA ist der Hanfanbau immer noch grundsätzlich untersagt.

Zusammengenommen mag die Renaissance dieser Faserpflanze also nicht überraschen, wie auch ein Experte dieser Branche bestätigt: »Die Umsätze mit Textilien aus Hanffasern wachsen stetig. Das Interesse und die Nachfrage bei den Kunden hinsichtlich nachhaltiger, ökologischer und gesunder Bekleidung wird dieses Wachstum auch in den nächsten Jahren sicherstellen. Hanffasern sind eine großartige Alternative zu reiner Baumwolle oder Synthetik. Das Potenzial ist lange noch nicht ausgeschöpft.«7

Typische Fasereigenschaften können aber auch den Niedergang begründen wie das am Beispiel von Asbestfasern deutlich wird. Asbest ist ein seit mehr als zweitausend Jahren bekanntes Mineral, das hohe Wertschätzung erfuhr infolge seiner überragenden Eigenschaften in Bezug auf Festigkeit, Hitze- und Säurebeständigkeit sowie Isolation. Doch infolge seiner nachgewiesenen Gesundheitsgefahren sind Asbestprodukte seit den 1990er Jahren in Deutschland, Österreich und der Schweiz verboten. Seit 2005 gilt ein EU-weites Verbot. Während in den meisten Industrienationen ein entsprechendes Verbot in Kraft ist, findet Asbest in zunehmendem Maße Verwendung in Entwicklungs- und Schwellenländern. Ungeachtet der bekannten gesundheitsgefährdenden Risiken erfolgt weiterhin die Förderung. Zu den führenden Produktionsländern gehören Russland, China, Kasachstan, Brasilien und Kanada.8 Zusammen förderten sie im Jahr 2007 geschätzte 2,1 Millionen Tonnen, was einem über neunzigprozentigen Weltmarktanteil entspricht. Fast die gesamte Fördermenge Kanadas, als einziger westlicher Produzent, ist für den Export bestimmt. Zweifel scheinen angebracht, ob ein entsprechender Umgang mit Asbest in Entwicklungs- und Schwellenländern gewährleistet ist. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO)9 sind weltweit 125 Millionen Menschen Asbest am Arbeitsplatz ausgesetzt, und Schätzungen der WHO zufolge sterben jährlich mehr als 107.000 Menschen weltweit an den Folgen asbestbedingter Krankheiten. Dabei stehen heute verschiedene natürliche wie auch künstliche Ersatzstoffe bereit. In Abhängigkeit von den geforderten Fasereigenschaften seien hier genannt das natürliche Mineral Wollastonit oder synthetische Materialien wie Aramid-, Keramik- oder auch Grafitfasern. Infolge der extremen Preissensibilität entlang der gesamten textilen Wertschöpfungskette ist hier wohl weniger Verfügbarkeit als der höhere Preis als Limitation anzusehen.

Weitere Beispiele vom mengenmäßigem Rückgang bei einzelnen Naturfasern ließen sich anführen, sind aber maßgeblich auf die stark gestiegene Verfügbarkeit von Chemiefasern in den letzten Jahrzehnten und die damit verbundenen wettbewerbsfähigen Preise zurückzuführen.10

Die Gruppe der Chemiefasern (englisch manmade oder auch man-made fibers) unterteilt sich zum einen in Fasern mit natürlichen Polymeren. Zellulosische Chemiefasern werden aus Zellulose, einem wichtigen Rohstoff zur Papierherstellung, gewonnen.11 Nachwachsende Laub- und Nadelhölzer bilden typischerweise den Rohstoff für die Produktion von Zellstoff, wobei zunehmend auch andere Naturfasern mit hohem Zelluloseanteil an Bedeutung gewinnen. Im Gegensatz dazu basieren synthetische Chemiefasern auf Erdöl oder Erdgas.12 Sowohl Erdöl wie auch Erdgas werden in mehreren Verarbeitungsstufen zu Materialien aufbereitet, die anschließend Spinnanlagen zur Garn- oder Fasererzeugung zugeführt werden. Im weiteren Fortgang werden fast ausnahmslos Aussagen zu Polyesterfasern gemacht, die heute fast drei Viertel der Chemiefasern ausmachen.

Ein kurzer Hinweis zu den manchmal synonym verwendeten Begriffen Garn und Faser sei an dieser Stelle erlaubt. Garne haben eine quasi »endlose« Länge, müssen aber nach DIN 60001 mindestens eine Länge von einem Meter aufweisen. Dazu zählen alle Chemiefasern (Filamentgarn) wie auch Naturseide. Zu Fasern oder auch Stapelfasern gehören alle übrigen Naturfasern und geschnittene Chemiefasern, die nachfolgend zumeist in Mischungen zu Garnen (Spinnfaser- oder Stapelfasergarn) versponnen werden. Jedweder Garntyp kann grundsätzlich der nächsten Verarbeitungsstufe für Web-, Wirk- oder Strickwaren zugeführt werden. Auf eine kleine Besonderheit bei Filamentgarnen gehen wir später ein. Demgegenüber müssen Fasern, es sei denn, sie werden beispielsweise als Füllstoff verwendet, erst noch zu einem Garn versponnen werden. Im weiteren Verlauf benutzen wir den Begriff Faser als allgemeinen Oberbegriff.

»Die Menschheit hegte lange den Wunsch, nebst den natürlich gewachsenen Fasern, den Naturfasern, wie zum Beispiel Baumwolle, Flachs, Hanf, Ramie, Schafwolle etc. auch über künstliche, durch den Menschen hergestellte, Fasern, den Kunstfasern, zu verfügen. Der erste Schritt dazu erfolgte im 19. Jahrhundert mittels eines Verfahrens, bei dem man aus Holz Zellulose herstellte und daraus in einem speziellen Spinnverfahren endlose Fäden spann. Diese Fasern wurden auch häufig als Rayon, Viskose oder Zellwolle bezeichnet. Mit dem Aufkommen der petrochemischen Industrie im 20. Jahrhundert erfolgte dann der sehr bedeutende zweite Schritt. Zuerst wurde Polyamid, wie zum Beispiel Tactel™ von DuPont®, häufig als Kunstseide bezeichnet, dann Polyester, wie zum Beispiel Trevira® von Trevira ehemals Hoechst, gefolgt von Polypropylen und anderen Polymeren in chemischen Herstellungsverfahren entwickelt. Häufig werden deshalb diese Fasern auch als Chemiefasern bezeichnet. Diese Polymere werden in der Chemiefaserspinnerei zu Garnen für Bekleidung, technische und industrielle Anwendungen, wie zum Beispiel Airbags, Fahrzeugplanen, Reifencord, Sicherheitsgurte, Transportbänder und -riemen etc., sowie Teppichen verarbeitet. In der Chemiefaserspinnerei werden die Polymere meist zuerst einem Extruder, einer Art überdimensionalen Teigwarenpresse, zugeführt, in dem das Polymer kontinuierlich verflüssigt und der notwendige Druck aufgebaut wird. Danach wird das flüssige Polymer durch die Spinndüsen gedrückt, aus denen dann das Polymer in einer bestimmten Anzahl einzelner Endlosfäden austritt ähnlich der Teigwarenherstellung. Diese einzelnen Endlosfäden werden nach der Abkühlzone zu einem Faserverband gebündelt, den gewünschten Garneigenschaften entsprechend behandelt und danach auf einer Spule aufgewickelt. Die Aufwickelgeschwindigkeit ist um die Faktoren drei- bis zwölfmal schneller als die produktivsten Spinnverfahren im Bereich der Naturfasern. Nicht selten werden Aufwickelgeschwindigkeiten von bis zu 400 Kilometern pro Stunde gefahren, die heute nur von Hochgeschwindigkeitszügen erreicht werden. Durch die Wahl des Polymers, die Anzahl und Feinheit der einzelnen zu einem Gesamtgarn gebündelten Endlosfäden sowie der Behandlung im Herstellungsprozess entstehen vielfältige der Weiterverarbeitung angepasste Garne zur Erzielung der gewünschten Endartikeleigenschaften. Die Menschheit erfüllte sich damit den Traum, maßgeschneiderte Fasern herstellen zu können, ohne die eine moderne Gesellschaft in der heutigen Form gar nicht mehr bestehen könnte.«13

Für den Einstieg möglicherweise von Interesse, zwar mit geringer heutiger Mengenbedeutung, jedoch überdurchschnittlichen Wachstumsraten, mögen die folgenden Beispiele aus anorganischen Stoffen wie beispielsweise Glas und auch aus Kohlenstoff sein. Glasfasern sind vor allem bekannt durch ihre hervorragenden Eigenschaften zur rasanten Datenübertragung. Sie finden auch Verwendung als Material zur Dämmung von Wärme und Schall sowie in glasfaserverstärkten Kunststoffen. Die ungebremste technische Weiterentwicklung bei Sprach-, Daten- und Videoservices mit zunehmenden Datenvolumina macht die Umstellung auf reine Glasfasernetze erforderlich, wobei heute überwiegend eine Mischung aus Glasfaser- und Kupferkabel anzutreffen ist.

Fasern aus Kohlenstoff, eine technologisch extrem anspruchsvolle und gleichzeitig leistungsfähige Variante, haben sich im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit stark verankert in Zusammenhang mit den neuen Flugzeugmodellen von Airbus und Boeing.14 Beide Unternehmen, führend in der Herstellung von mehr als hundertsitzigen Passagierflugzeugen, setzen bei ihren jüngsten Modellen zunehmend diese Faser ein. Verbundwerkstoffe aus Kohlenstofffasern erlauben beträchtliche Gewichtseinsparungen bei Flugzeugzelle, Flügeln sowie Seitenleitwerk, reduzieren Wartungskosten und verlängern Serviceintervalle. Allerdings machten beide Firmen in den vergangenen Jahren auch Schlagzeilen durch Lieferverzögerungen, die jedoch nicht notwendigerweise allein mit dem neuen Werkstoff in Verbindung zu bringen sind. So musste Airbus die Auslieferung seines A 380, dem größten Passagierflugzeug mit maximal rund 850 Sitzplätzen in Einklassenbestuhlung, nach hinten verschieben. Die Boeing 787, der sogenannte Dreamliner, musste gar eine mehr als dreijährige Lieferverzögerung verkraften. Mit der ersten Auslieferung im dritten Quartal 2011 wurde es das erste Großraumflugzeug, dessen Rumpf mehrheitlich aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff besteht. Airbus plant in den nächsten Jahren mit dem A 350 ein Langstreckenmodell mit vergleichbarem Anteil an Faserverbundbauteilen.

Aber auch im täglichen Leben gibt es zahlreiche Berührungspunkte mit dieser Hochleistungsfaser. Beispielsweise gibt es ein umfangreiches Sortiment an Sportgeräten wie zum Beispiel hochwertige Fahrräder, Golfschläger, Tennisschläger, Angelruten, Skier und anderes.

Auch in Bezug auf Energiegewinnung nimmt diese Faser einen kontinuierlich prominenteren Platz ein. Im Bereich der Windenergie, nicht erst seit dem tragischen Unfall in Fukushima weltweit auf dem Vormarsch, ersetzt diese Faser mit zunehmender Länge der Rotorblätter traditionelle Materialien. Die Kapazität der weltweit installierten Windparks hat sich von 17,4 Gigawatt (GW) im Jahr 2000 auf 194 GW im Jahr 2010 mehr als verzehnfacht.15

Ein letztes Beispiel mag die überlegenen Fasereigenschaften unterstreichen. Wer erinnert sich nicht an den schlimmen Unfall des BMW-Sauber-Piloten Robert Kubica in Montreal gegen eine Betonmauer in der Saison 2007? Nach Aussage von Florian Kramer, Professor für Kfz-Sicherheit und Unfallanalytik in Dresden, war der glimpfliche Ausgang maßgeblich auf das aus Kohlefasern bestehende Monocoque zurückzuführen. »Die Struktur der Kohlefaserkonstruktionen ist so ausgerichtet, dass sie kaum Energie aufzunehmen vermag – im Gegensatz zu hochfesten Blechen, die nicht wegknicken, aber Energie aufnehmen und irgendwann brechen«, erklärt Kramer.16

Fasereigenschaften

Ein textiles Produkt setzt sich aus einem Fasertyp, gleichwohl aber auch aus Fasermischungen zusammen. Dies kann sowohl bei der Herstellung von Garnen als auch von Flächengebilden erfolgen. Grundsätzlich lassen sich sowohl Naturfasern als auch Chemiefasern jeweils untereinander sowie miteinander mischen. Hierbei versucht man, die jeweils positiven Eigenschaften zu kombinieren. Angesichts der Preissensibilität der Branche und seiner Kunden werden wohl zumeist wirtschaftliche Interessen im Vordergrund stehen. Jedoch dürfen produktspezifische Anforderungen dabei nicht unberücksichtigt bleiben.

Ein Beispiel aus der Automobilindustrie mag dies veranschaulichen. Heutiger Standard in fast jedem Auto sind Airbags, um Fahrzeuginsassen bei einem Unfall vor dem Aufprall auf harte Teile zu schützen. Als Folge steigender Unfallzahlen in den 1960er Jahren wuchs der Druck auf die Politik und die Automobilindustrie, verbesserte Schutzsysteme für Fahrzeuginsassen zu integrieren. Der Verlauf hinsichtlich der Einführung zur Serienreife und verbindlicher gesetzlicher Vorschriften in den USA und Europa war recht unterschiedlich. So erließ das Verkehrsministerium der Vereinigten Staaten im Jahr 1984 ein entsprechendes Gesetz, das alternativ den automatischen Sicherheitsgurt oder Airbag als ausreichenden Schutz vorsah.17 Währenddessen erlangten Airbags in Europa bereits Anfang der 1980er Jahre Serienreife. Heutzutage sind die ursprünglichen Fahrer- und Beifahrerairbags durch eine Vielzahl von weiteren Typen ergänzt worden für die Seite, den Kopf, die Knie, die Rücksitze und weitere neue Entwicklungen. Airbags können über Leben und Tod entscheiden, daher sind Verarbeitungsprobleme oder Materialbeschädigungen nicht tolerabel. »Null-Fehler-Produktion« und nicht Kostenminimierung ist deshalb oberstes Ziel. Nichtsdestotrotz wurden und werden wirtschaftliche Überlegungen zur Verbesserung der Rentabilität angestellt, das vergleichsweise teure Polyamid, bis vor kurzem alleiniger Faserrohstoff, durch preiswertere Alternativen zu substituieren. So beschäftigt sich Teijin Ltd., führender japanischer Hersteller von Chemiefasern, bereits seit zwanzig Jahren mit Polyester-Airbags, wie in einem Vortrag auf der 36. Chemiefasertagung in Dornbirn berichtet wurde.18 Erfolgreiche Forschung und Entwicklung haben jüngst zu ersten Airbags aus Polyester geführt, zum Beispiel in der VW-Gruppe beim Passat, Touran und der neuen Golf-Plattform. Angesichts einer weltweiten Nachfrage nach Airbaggarnen von rund 100.000 Tonnen im Jahr 201019, was gut zehn Prozent des globalen Bedarfs an Polyamid-Technischgarn bedeutet, gewinnen bei zumindest gleichbleibender Produktqualität und -zuverlässigkeit in stärkerem Maße Rentabilitätsüberlegungen die Oberhand. Dies bedeutet aber nicht unbedingt, dass Produkte dadurch auch preiswerter werden müssen. Am hier vorgestellten Beispiel sind die Kosten für ein fertiggestelltes Airbag-System unabhängig von dem verwendeten Garntyp nahezu identisch. Lukrativ ist diese Substitution für Hersteller von Polyestergarnen, im Besonderen für Großkonzerne aus Fernost. Vorteile beim Garnpreis für Polyester werden hingegen kompensiert durch erhöhte Verarbeitungskomplexität infolge einer zusätzlichen Beschichtung beziehungsweise Laminierung mit einem modifizierten Silikon. Unabhängig vom verwendeten Material muss die grundlegende Anforderung an einen Airbag gewährleistet sein: »die volle Funktionsfähigkeit zu jeder Zeit, in jedem Klimabereich und jedem Lebensalter des betroffenen Autos. Die Forderung der Automobilindustrie nach Gewichtseinsparung macht auch beim Luftsack nicht halt. Dies bedeutet die Verwendung leichterer Materialien, die besser packbar sind, damit sie weniger Platz einnehmen. Wegen des geringeren Platzbedarfes werden zum Teil die günstigeren, kleineren heißen Gasgeneratoren eingesetzt, die aber dem Gewebe und so auch dem Garn eine zumindest kurzzeitige bessere Hitzebeständigkeit abverlangen. Polyamid 6.6 stellt aufgrund seiner geringeren Dichte, seiner speziellen Kraft-/Dehnungseigenschaften im breiten ›Automobiltemperaturbereich‹ von minus zwanzig bis plus achtzig Grad Celsius sowie seiner besseren Hitzestabilität aus technischer Sicht nach wie vor die erste Wahl dar für die Anwendung Airbag.«20

Dieses Beispiel für eine technische Anwendung aus Fasermaterialien – Gewebe für den Luftsack und hochwertigen Nähfäden – zeigt uns, dass letzten Endes immer der Preis beziehungsweise seine relative Position zum Wettbewerbsprodukt entscheidend für die Verwendung von Materialien ist. Zudem erkennen wir, dass hier sehr anwendungsspezifische Anforderungen an die Fasermaterialien gestellt werden in Bezug auf Festigkeit der Garne und Luftdurchlässigkeit des Gewebes. Die erforderlichen Eigenschaften und Anforderungen an ein anderes Produkt aus technischen Textilien, zum Beispiel Autoreifen, Förderbänder oder Schmal- und Breitgewebe sowie Seile, mögen wieder vollkommen anders sein. Diese Feststellung trifft in gleichem Maße auf Anwendungen aus dem Bereich der Bekleidung, Heimtextilien und Teppiche zu. Um nicht den Charakter eines Lehrbuches anzunehmen, werden wir nicht den Versuch einer umfassenden Darstellung der Fasereigenschaften für sämtliche Einsatzgebiete unternehmen. Vielmehr sei hier auf weiterführende Lektüre verwiesen.21

Es stehen eine Reihe von Prüfmethoden zur Identifikation und Klassifizierung von Faserstoffen zur Verfügung. Ihr Zweck besteht darin, Eigenschaften wie Feinheit, Faserlänge und -dichte, Festigkeit, Dehnbarkeit, Elastizität, Brennverhalten und viele andere Merkmale zu erheben. Die entsprechenden Ausprägungen der verschiedenen Fasertypen sind allerdings nur von untergeordneter Bedeutung für den weiteren Verlauf. In gebotener Kürze wird hier nur auf die Faserfeinheit verwiesen, weil sie gleichermaßen überraschend wie auch vorstellbar erscheint. »Die Faserfeinheit (der Titer) ist die auf die Länge bezogene Masse einer Faser.«22 Gebräuchliche Einheit ist dtex, die das Gewicht der Faser auf einer Länge von zehn Kilometern angibt. Während bei Naturfasern die Zahlenwerte innerhalb gewisser Bandbreiten schwanken, sind sie bei Chemiefasern bedarfsabhängig einstellbar. Im allgemeinen Sprachschatz dürften sogenannte Mikrofasern mittlerweile verankert sein. Diese üblicherweise Chemiefasern haben einen Titer von weniger als ein dtex, wiegen somit weniger als ein Gramm pro zehn Kilometer. Sie zeichnen sich durch besondere Atmungsaktivität und weichen Griff aus.

Für den Anspruch dieses Buches erscheint es angeraten, den Blick vor allem auf bekleidungsphysiologische Aspekte zu richten. Denn wir wollen hier grundlegende Strukturveränderungen im textilen Markt, ausgelöst durch zukünftige Limitationen in der Baumwollversorgung, thematisieren, und der weitaus größte Teil der Baumwolle wird für Bekleidungszwecke eingesetzt. Also konzentrieren wir uns auf die physiologischen Eigenschaften der Bekleidung, die sich im Wohlbefinden, der Leistungsfähigkeit und der Gesundheit des Trägers äußern. Wir kommen zwar täglich mit Bekleidung in Berührung, doch wahrscheinlich denken wir bei der Auswahl weniger an diese Zusammenhänge. Doch »guter Tragekomfort« stellt heute ein entscheidendes Verkaufsargument dar und ist wesentlich für die Akzeptanz eines Textilproduktes am Markt. Umso mehr, als er überwiegend nicht dem rein individuellen Empfinden entspricht, wie die heute wohl im Vordergrund bei Kaufentscheidungen stehenden Kriterien bezüglich Passform und Farbe, sondern objektiv messbar und quantifizierbar ist.23

Eine weltweit führende Stellung auf diesem Gebiet nehmen die Hohenstein Institute ein, die sich bereits seit mehr als sechzig Jahren mit den Zusammenhängen zwischen Körper, Klima und Kleidung beschäftigen.24 Nach Auskunft von Professor Dirk Höfer, Leiter des Instituts für Hygiene und Biotechnologie an den Hohenstein Instituten, belegen jüngste Studien, dass hochwertige Mehrwegbekleidung Arbeitsergebnisse positiv zu beeinflussen vermag in Bezug auf Konzentrationsfähigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit und Fehlerrate.25 »Aus der Sportwissenschaft stammt zudem die Erkenntnis, dass sich die Leistungsfähigkeit durch Kleidung mit hohem physiologischem Komfort effektiv steigern lässt. Schlechter Komfort korreliert dagegen direkt mit einer Abnahme der Konzentration und Kondition, körperlichen Ausfallerscheinungen, anhaltenden Gesundheitsschäden bis hin zum Tod.«26 Wir wissen, dass der weitaus größte Teil der im Körper produzierten Wärme über die Kleidung abgeführt wird. Insofern stellt Bekleidung einen wichtigen Beitrag zur Thermoregulierung dar. »Unter diesem Begriff werden alle physiologischen Vorgänge zusammengefasst, die dem Körper dabei helfen, die Temperatur im Körperinneren bei circa 37 Grad Celsius konstant zu halten. Dazu zählt zum Beispiel das Schwitzen bei Hitze oder das Zusammenziehen der Blutgefäße der Haut bei Kälte.«27 Wir könnten auch die Frage nach dem Geruch von Textilien in Verbindung mit Schweiß aufwerfen. Ergebnisse der Hohenstein Institute »bestätigten einen geringeren Geruch der T-Shirts aus Baumwolle im Vergleich zu Polyester«.28 Weiter gewinnt der Schutz vor gefährlicher UV-Strahlung zunehmend an Bedeutung. Wie Sabrina Köher von den Hohenstein Instituten ausführt, verfügen Chemiefasern im Gegensatz zu Naturfasern beispielsweise durch Beimischungen quasi über einen »eingebauten« Sonnenschutz.29 Aus Verbrauchersicht mag es vorteilhaft sein, dass Textilien diese Schutzfunktion besitzen können. Doch wie sieht es im Alltag aus, wenn wir auf ein entsprechendes Textilprodukt Wert legen? Können wir auf eine qualifizierte Fachberatung im Laden hoffen oder diese gar erwarten? Vereinzelt wird dies der Fall sein, aber in der überwiegenden Mehrzahl werden wir wohl vergebens auf Antworten warten. »Diese Fragen können die Hersteller von UV-Schutztextilien mit einem neuen Hangtag in übersichtlicher und eingängiger Form beantworten.«30

»Kleider machen Leute«31

Bekleidung erfüllt nicht nur ihren Zweck zum Schutz vor Umwelteinflüssen, sondern ist auch Ausdruck der Individualität, sozialen Stellung, persönlichen Gesinnung und Mode. Ihre Rolle hat sich im Zeitverlauf verändert, dabei die originäre Funktion nicht verloren, aber ihre psychologische Funktion und soziale Bedeutung stark ausgebaut. Schon im Mittelalter war sie ein Abbild der Zugehörigkeit zu Ständen. Damalige Materialien waren im Wesentlichen Leinen, Hanf, Nessel, Schafwolle und für den höheren Stand auch teure Seide.

Seit wann kennt man überhaupt Bekleidung? Dem Anthropologen Alexander Pashos zufolge trägt die Menschheit regelmäßig seit rund 75.000 Jahren Kleidung.32 Einfache Fellkleidung zum Schutz vor Kälte wurde wahrscheinlich schon einige zehntausend Jahre früher getragen, zumindest sind Werkzeuge zur Anfertigung solcher Kleidung überliefert. Seither haben sich selbstverständlich nicht nur die zur Verfügung stehenden Materialien zur Textilherstellung vehement ausgeweitet, auch die Weltbevölkerung hat rapide zugenommen.

Der Gedanke an die Textilindustrie ist stark verknüpft mit Bekleidung, sicherlich überwiegend zu Recht, doch wie später noch gezeigt wird, deckt das nur einen Teil der möglichen Anwendungen ab. Zudem sind nicht alle Textilien Kleidungsstücke (zum Beispiel Vorhänge) und umgekehrt sind nicht alle Kleidungsstücke auch Textilien (zum Beispiel Lederröcke).

Wenn geschätzte 300 Millionen Menschen zur Zeit Christi Geburt lebten, so waren es um 1650 ungefähr 500 Millionen. Die Mitte des 18. Jahrhunderts in England beginnende Industrielle Revolution führte nicht nur zu deutlichen Produktivitätsfortschritten, beispielhaft als Folge der Entwicklung der Dampfmaschine, sondern auch zu einer exponentiellen Bevölkerungsentwicklung. Die Dampfmaschine konnte beispielsweise zum Antrieb von mechanischen Webstühlen genutzt werden, welche die Verarbeitung von Baumwolle zu Bekleidung beschleunigte und verbilligte. Bis dahin erfolgte die Kleiderherstellung in Heimarbeit mithilfe der ganzen Familie – Fabriken gab es noch nicht. Die Industrialisierung und das damit beginnende Maschinenzeitalter führten zu wirtschaftlicher Hochblüte, läuteten aber auch erhebliche gesellschaftliche Veränderungen ein. Die Preissenkungen führten zu einer ansteigenden Nachfrage nach Bekleidung, die sich nun auch ärmere Leute leisten konnten. Im Mittelalter war es durchaus üblich, dass die normale Bevölkerung lediglich ein komplettes Gewand besaß. Neben der gestiegenen Nachfrage passte sich die Mode aber auch dem geänderten Lebensstil an, Bekleidung musste nun praktisch und bequem sein.

Im Jahr 1733 erfand John Kay den Schnellschusswebstuhl, der weitaus mehr Gewebe produzieren konnte als das bis dahin bekannte Verfahren, das Schiffchen mit der Hand durch die wechselweise geöffneten Kettfäden zu führen.33 Das führte aber auch dazu, dass in England nicht genug Garn verfügbar war.