Schwarze Sterne - Reto Baer - E-Book
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Schwarze Sterne E-Book

Reto Baer

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Beschreibung

Ein Hetero-Mann verliebt sich. Eine Geschichte so alt wie die Menschheit. Doch was, wenn die Angebetete sich als intergeschlechtliche Frau herausstellt? Kurt glaubt nicht an die Liebe, an Sex schon. Doch das Leben kümmert sich nicht darum, was der Journalist glaubt. Es bringt ihn mit einer Fotografin zusammen, die ihn vom ersten Augenblick an fasziniert. Je länger ihm Katy die kalte Schulter zeigt, desto klarer wird ihm: Er hat sich verliebt. Aber Katy will gar nicht erobert werden, denn sie hat ein Geheimnis, das sie auf keinen Fall preisgeben will.

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Seitenzahl: 161

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Reto Baer

Schwarze Sterne

Roman

Impressum

© 2022 Edition Königstuhl

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Dies gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.

Bild Umschlag:

Reto Baer

Gestaltung und Satz:

Stephan Cuber, diaphan gestaltung, Bern

Lektorat:

Manu Gehriger

Druck und Einband:

CPI books GmbH, Ulm

Verwendete Schriften:

Palatino, Adobe Garamond, Acumin

ISBN 978-3-907339-15-2

eISBN 978-3-907339-89-3

Printed in Germany

www.editionkoenigstuhl.com

© Foto: Nikolaj Leu

Erster Blick auf die Welt 1960 in Zürich. Wollte als Kind Tierforscher werden wie Professor Grzimek. Wurde jedoch im Verlauf des Germanistik-Studiums in Zürich ein Bücherwurm. Arbeitete als freier Kulturjournalist für diverse Schweizer Blätter wie »Brückenbauer«, »NZZ am Sonntag«, »Facts«, »Das Magazin« u. a. Zuletzt arbeitete er als Filmjournalist für Radio SRF 3, SRF Kultur Online und Fernsehen SRF 1 sowie als Chefredaktor des Monatsmagazins »Film demnächst«.

Kurzgeschichten und Lyrik in Literaturzeitschriften und Anthologien. Ein Gedichtband im Nimrod Verlag. Sein erster Roman »Noch zehn Gebote« erschien 2012 im Giger Verlag.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Informationen

Danksagung

»Bewusstsein ist das Produkt von Verzögerung.«

Siri Hustvedt

»Wer sieht, der denkt bereits.«

Marc-Antoine Mathieu

1

Zitternd lege ich mich auf den heißen Teerplatz. Seine Wärme dringt in meinen Körper, während der Geruch des nassen Asphalts in meine Nase steigt.

Ich betrachte die unterschiedlichen Flecken, die vor meinen Augen entstehen. Tropfen, die von meinem Haar fallen und schwarze Sterne in einem dunkelgrauen Weltall entstehen lassen.

Ich rutsche einen halben Meter zur Seite, um meinen Bauch auf eine trockene Stelle zu legen. »Ah«, sage ich. Und »ssss«, als ob die Hitze des Asphalts dadurch erträglicher würde. Doch es dauert nur Sekunden, bis man sich wieder daran gewöhnt hat, wie an heißes Badewasser.

Ich genieße diesen Teergeruch, die Hitze von unten und die Wärme von oben. Gespannt betrachte ich den nassen Abdruck, den ich hinterlassen habe. Und sehe zu, wie der Umriss von Sekunde zu Sekunde kleiner wird. Bald erinnert die Form nicht mehr im Geringsten an einen elfjährigen Jungen.

Plötzlich habe ich eine Idee und laufe zur Garderobe und stelle mich vor den Spiegel neben dem Eingang. Die rechte Hälfte ist braun getönt und soll dem Betrachter zeigen, wie er aussehen könnte, wenn er Sherpa-Sonnencrème benutzen würde.

Mich interessiert allerdings nicht dieser Hell-Dunkel-Unterschied, sondern der Abdruck, den der raue Asphalt auf meiner Brust hinterlassen hat. Ein Mosaik aus geröteten Flecken, die wie die schwarzen Sterne alle verschieden sind. Langsam verschwindet das Muster auf meiner Haut.

Vor einem Monat war sein Vater kurz nach einem Herzinfarkt gestorben. Frühmorgens um fünf erhielt Kurt einen Anruf. Er solle sich auf den Weg machen, es gehe wohl bald zu Ende. Er traf zehn Minuten zu spät im Spital ein.

Seine Mutter und Schwester waren schon dort. Kaum hatten sie das Zimmer betreten, tat der Vater den letzten Atemzug. Kurt war ihm böse, weil er nicht noch ein paar Minuten länger gewartet hatte. Ein kindisches Gefühl, aber er konnte nichts dagegen tun.

Gleichzeitig fühlte er ganz deutlich, dass sein Vater noch anwesend war. Er kniete neben das Spitalbett nieder und betrachtete sein eingefallenes Gesicht aus nächster Nähe.

Die Augen waren geschlossen, der Mund weit offen.

In diesem Augenblick verspürte er keine Trauer, sondern Erleichterung. Erleichterung, dass sein Vater nicht lange leiden musste. Nach nur fünf Tagen im Spital durfte er friedlich im Schlaf gehen.

Auf den Knien neben seinem toten Vater atmete Kurt innerlich auf. Seine Anspannung löste sich. Die Furcht, ihn noch während Monaten oder gar Jahren im Spital besuchen und gute Laune vortäuschen zu müssen, hatte sich als unbegründet erwiesen. Sein Aufatmen galt also mehr ihm selbst als dem Vater.

Als er ihn so daliegen sah, versöhnte ihn das irgendwie mit dem Leben. Als ob es sicher wäre, dass auch Kurt dereinst so friedlich würde gehen dürfen.

Sie blieben lange im Zimmer, jeder in seine Gedanken versunken.

Schließlich bat sie eine Krankenschwester, für eine Weile in die Cafeteria zu gehen, damit sie und ihre Kollegin den Vater herrichten könnten, bevor die Todesstarre einsetze.

Das passte Kurt ganz und gar nicht, und er spürte, wie auch seine Mutter irritiert war. Trotzdem ließen sie sich widerstandslos hinauskomplimentieren und tranken in der Cafeteria einen mittelmäßigen Milchkaffee.

Nach etwas mehr als einer halben Stunde holte die Krankenschwester sie zurück und erklärte in feierlichem Ton, sie könnten nun vom Vater Abschied nehmen.

Als sie den Raum wieder betraten, erschrak Kurt. Der Vater sah ganz anders aus. Völlig erloschen und ohne jede Wärme.

Die gefalteten Hände, in die man eine weiße Rose gelegt hatte, deprimierten ihn. Ebenso die säuberlich gekämmten weißen Haare, die rosa gepuderten Wangen und der festgebundene Unterkiefer.

Das war nicht mehr sein Vater.

Traurig nahm Kurt wahr, dass seine Mutter und Schwester genau die gleiche Erfahrung machten. Nichtsdestotrotz blieben sie noch etwa zwanzig Minuten im Raum, in dem er seinen Vater weder sehen noch fühlen konnte. Er war endgültig gegangen. Es war niemand mehr da, von dem sie hätten Abschied nehmen können. Sie hatten den Moment verpasst, weil sie zu höflich waren, sich gegen das Hinauskomplimentieren zu wehren. Kurt war wütend auf die Krankenschwester.

Draußen auf dem Parkplatz sagte er, es sei ein Fehler gewesen, hinauszugehen und ein noch größerer Fehler, nachher noch einmal hineinzugehen.

Seine Mutter nickte: »Zuerst sah er so friedlich aus. Als ob er nur schlafe. Hauptsache, er musste nicht leiden.«

Natürlich hatte sie recht. Kurts Mutter hatte die Fähigkeit, sich in jeder Situation auf das Wesentliche zu konzentrieren. So konnte sie durchs Leben manövrieren. Und es schien ihr nichts auszumachen, auf diese Weise nicht nur die Gefühle anderer, sondern auch die eigenen auszublenden. Vermutlich war dies sogar der eigentliche Zweck des Ganzen: die Gefühle ausblenden, um das Leben erträglicher zu machen.

Zurück in seiner Wohnung versuchte Kurt sich daran zu erinnern, was es war, das ihn glauben ließ, sein Vater sei bei seiner Ankunft noch im Zimmer gewesen. Er kam nicht darauf. Es war eine Gewissheit, aber woher diese kam, wusste er nicht.

Einmal hatte Kurt einen Film gesehen, in dem behauptet wurde, Wissenschaftler hätten menschliche Körper kurz vor und nach Eintreten des Todes gewogen und dabei festgestellt, dass sie nachher im Schnitt einundzwanzig Gramm leichter waren.

Ist dies das Gewicht der Seele? Einundzwanzig Gramm? Immerhin etwa so viel, wie ein kleiner Vogel wiegt. Wie die tote Blaumeise, die Kurt als Kind gefunden und mit seinem Freund Stephan am Waldrand beerdigt hatte.

Einundzwanzig Gramm sind nicht nichts. Und er hatte es ganz deutlich wahrgenommen, als er ins Sterbezimmer gekommen war. Da war noch etwas. Schwer zu sagen, ob es um oder in ihnen war, aber es war ganz eindeutig und unzweifelhaft da. Ein Echo seines Vaters, noch Minuten nach dessen Tod wahrnehmbar.

Und jetzt? Jetzt lebte sein Vater ebenso in seiner Erinnerung wie seine Kindheit. Zwei Leichen, die regelmäßig durch seine grauen Zellen geisterten.

Ich breche kleine Zweige aus den Büschen, verteile sie auf dem Asphalt und lege mich darauf. Bequem ist das nicht, trotzdem zähle ich entschlossen bis dreißig. Dann springe ich auf und renne zum Spiegel, um zu sehen, was für ein Muster die Zweige auf meiner Haut hinterlassen haben.

Ich betrachte das Wirrwarr aus Linien und Flecken und warte, bis es vollständig verschwunden ist. Jetzt erst bemerke ich die Muttermale auf meinem Bauch und meiner Brust. Sieben zähle ich und frage mich, was sie wohl für ein Sternbild formen.

Nach einigem Nachdenken komme ich zum Schluss, dass es ein windschiefer Drachen ist, den ein kleiner Junge gebastelt hat. Aber auch ein schiefer Drachen kann fliegen. Dieser Gedanke macht mich zufrieden, und ich gehe wieder schwimmen.

Hier im Freibad ist das Wasser blau, weil der ganze Grund des Beckens himmelblau bemalt ist. In Wahrheit ist Wasser aber farblos. Trotzdem male ich es in meinen Zeichnungen immer blau. Wie alle anderen Kinder auch. Und Sonne und Mond male ich gelb, obwohl beide in Wahrheit weiß sind. Genau wie die Sterne, die ich ebenfalls gelb male, und zwar in Gestalt von Weihnachtsgebäck. Dabei sind die Sterne bloß sehr, sehr, sehr kleine weiße Punkte am Nachthimmel. Warum malen alle Kinder die Welt so, wie sie gar nicht ist?

Stephan ruft und unterbricht meine Gedanken. Er will mit mir und anderen Kindern zum Dreimeter-Sprungturm. Stephan ist mein bester Freund, deshalb gehe ich mit und denke nicht mehr an meine Zeichnungen.

2

Vielleicht war er frühreif. Kurt hatte Freunde, die interessierten sich noch mit sechzehn nicht für Mädchen, und er hatte sich schon im Kindergarten in Yvette verliebt.

Seit er denken konnte, zog es ihn zum andern Geschlecht. Das Gefühl war immer ganz physisch, wirklich ein Ziehen. Als wären die Mädchen und später die Frauen Magnete und er ein Stück Eisen. Es war wie ein Naturgesetz. So wie Newtons Apfel, der keine Wahl hat: Er muss nach unten fallen. Und Kurt hatte auch keine Wahl. Er konnte sich nur auf die Frauen zu bewegen.

Umgekehrt hatte er nur selten dieselbe Wirkung auf Frauen. Und wenn, dann waren es diejenigen, die er nicht wollte. Er nahm sie trotzdem. Eine Zeit lang. Und verliebte er sich zwischendurch doch einmal, gelang es ihm nicht, eine dauerhafte Beziehung einzugehen. Spätestens nach ein, zwei Jahren kam etwas dazwischen. Es sollte einfach nicht sein.

Seine Weigerung, Kinder zu haben, führte mehr als einmal zum Ende. Aber was hätte er tun sollen? Alles in ihm sträubte sich dagegen, ein Abbild von sich in die Welt zu setzen. Ein Witz eigentlich. Sein Sexualtrieb war der eines Platzhirschs, aber Nachwuchs wollte er auf gar keinen Fall. Menschen können schon kompliziert sein.

Mitte dreißig gab Kurt auf. Endgültig. Er gab es auf, eine Frau fürs Leben zu finden. Er gab die Vorstellung von der großen Liebe auf, vom gemeinsamen Altwerden, vom alles Teilen. Er hatte sich damit abgefunden, Frauen nur noch als Gefährtinnen für gewisse Lebensabschnitte zu sehen.

Dann trat Katy in sein Leben.

Er arbeitete als freier Journalist für eine Wochenzeitung. Für eine Porträtserie über Schweizer Comiczeichner wurde sie ihm als Fotografin zugeteilt.

Als Erstes fuhren sie zusammen nach Balsthal, um Franz Zumstein, den Zeichner der Serie »Die Himmelsstürmer«, zu treffen. Kurt war neidisch, dass Katy einen Mercedes Kombi fuhr, ein Auto, das er sich nie hätte leisten können. Ihre Bemerkung, dass sie dafür auch bis zum Umfallen arbeite, überhörte er.

Es gefiel ihm nicht, dass sie offensichtlich mehr verdiente als er. Und noch mehr ärgerte ihn, dass sie es merkte. Aber sie ging gar nicht darauf ein, sondern sprach über andere Dinge.

So erfuhr er, dass sie das Medizinstudium nach drei Semestern abgebrochen hatte, um Fotografin zu werden. Dank eines zinslosen Darlehens ihres Vaters konnte sie Mitte der achtziger Jahre eine professionelle Ausrüstung kaufen und ein kleines Fotostudio samt Entwicklungslabor einrichten. Seither sind zehn Jahre vergangen. Längst hatten sich im Profibereich Digitalkameras etabliert, aber Katy fotografierte nach wie vor gerne analog.

»Eigentlich eine merkwürdige Berufswahl«, sagte sie, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Ich, die allen auf den Geist gehe, weil ich stets hinter die Fassade blicken will, ausgerechnet ich fotografiere und bilde Äußerlichkeiten ab. Menschen, die sich vor meinem Objektiv verstellen, um so zu wirken, wie sie es erhoffen. Ich beneide dich um deinen Job, Kurt. Du kannst mit den Leuten reden und viel tiefer in sie eindringen als ich.«

»Vergiss es«, sagte er. »Die Leute erzählen mir auch nur das, was sie wollen. Und lassen sie doch mal hinter ihre Maske blicken, so kannst du sicher sein, dass sie nach dem Gegenlesen des Artikels verlangen, genau diese Passagen zu streichen.«

»Warum machen wir dann diese Arbeit?«

»Ich kann nur für mich sprechen«, sagte er, »mich interessiert die Leidenschaft. Woher kommt diese Leidenschaft, die Künstler, Schriftsteller, Musiker und alle anderen Kreativen antreibt?«

»Dann suchst du wohl dasselbe wie ich«, meinte Katy. »Das bisschen Selbst, das die Menschen nicht inszenieren und manipulieren können.«

»Die Leidenschaft ist das, was sie gar nicht verbergen wollen. In dieser Hinsicht tragen alle das Herz auf der Zunge.«

»Da hast du sicher recht.«

Katy fuhr von der Autobahn ab. Eine Weile genoss Kurt stumm die Landschaft, die ihm fremd war. Sie fuhren mitten durch den Jura, durch die Klus von Oensingen-Balsthal. Rechts oben war ein Schloss zu sehen.

Ein paar Stunden später fuhren sie den ganzen Weg wieder zurück nach Zürich und unterhielten sich lebhaft über Franz Zumstein. Nicht einmal hatten sie den Eindruck gehabt, dass der ehemalige Lehrer sich zu verstellen versuchte. Sowohl beim Interview als auch beim Fotografieren wirkte er völlig authentisch. Und seine Leidenschaft war plausibel, weil sie so simpel war.

Er liebte die Formen von alten Flugzeugen. Er konnte nicht genug davon kriegen, deshalb zeichnete er sie immer wieder. Besonders die Propellermaschinen aus dem Zweiten Weltkrieg hatten es ihm angetan.

Katy war fasziniert, dass jemand aus Liebe zu Gegenständen Künstler werden konnte. Sie selber interessierte sich nur für Menschen. Sie wollte mit ihren Fotos einen lebendigen Moment festhalten. Flugzeuge zu fotografieren, hätte sie gelangweilt.

3

Mein Vater hat mir seinen alten Fotoapparat geschenkt. Eine Kodak Instamatic 220. Die Filme sind in schwarzen Plastikkassetten mit gelben Etiketten. Da kann man beim Einlegen gar nichts falsch machen. Die Fotos werden quadratisch. Das gefällt mir. Ist etwas Besonderes, denn die meisten Apparate schießen rechteckige Fotos, auch Papas neue Kamera.

Am liebsten fotografiere ich Landschaften. Manchmal muss ich warten, bis alle Leute aus dem Bild gegangen sind. Ich will nicht, dass Menschen meine Naturfotos verschandeln.

Autos fotografiere ich auch gerne. Ich habe schon Fotos von einem Porsche Targa, einem Lamborghini Miura, einem Lotus Europa und einem Jaguar E mit Speichenrädern. Der weiße Jaguar E mit der ellenlangen Motorhaube und den gewölbten Scheinwerfergläsern gefällt mir am besten. Einmal versuchte ich, ihn zu zeichnen, aber es wollte mir nicht gelingen.

Heute Nachmittag habe ich Yvette fotografiert. Doch sie hat das Foto kaputt gemacht, weil sie sich genau in dem Moment wegdrehte, als ich abdrückte.

Sie ist doof. Weiß sie denn nicht, dass Fotos Geld kosten? Mein Vater muss auch die misslungenen Fotos bezahlen. Deshalb hat er mich gebeten, sparsam zu fotografieren. Pro Monat kriege ich einen Film mit zwölf Aufnahmen. Und jetzt hat Yvette eine versaut. Die blöde Kuh werde ich sicher nie mehr fotografieren. Geschieht ihr ganz recht.

Drei Filme à sechsunddreißig Aufnahmen verschoss Katy an diesem Nachmittag. Zumstein am Zeichenpult, Zumstein im Wohnzimmer vor selbst gemalten Flugzeugbildern, Zumstein im Garten mit und ohne Flugzeugmodell in der Hand etc. Eine Profifotografin spart nicht mit Material. Von den hundertacht Porträtaufnahmen würde genau eine einzige in der Zeitung erscheinen. Vielleicht würde noch eine zweite ganz klein auf der Inhaltsseite abgedruckt.

Als sie Kurt beim Escher-Wyss-Platz absetzte, sagte Katy: »Das hat Spaß gemacht mit dir. Ich freue mich schon auf unseren nächsten Comiczeichner.«

»Ich mich auch«, sagte Kurt und verabschiedete sich.

So lernten sich die beiden kennen. Ohne Schmetterlinge im Bauch. Es war eine rein kollegiale Beziehung. Abgesehen vom Mercedes war Katy ihm von Anfang an sympathisch. Denn sie war viel unkomplizierter als die meisten Frauen, die Kurt kannte.

Sie hatte volles, kastanienbraunes Haar, das ihr leicht gelockt über die Schultern fiel. Die Kleider, die sie trug, dienten nicht dazu, die Männer zu beeindrucken, sondern waren einfach nur praktisch. Ein hellgrünes, kurzärmeliges Herrenhemd, eine leicht zu große Blue Jeans und Adidas Sportschuhe.

Dass sie schlank war, konnte er sehen, aber ob ihre Figur auch das gewisse Etwas hat, das eine Frau sexy macht, das konnte er nicht erkennen. Überhaupt wirkte sie eher unscheinbar. Die Lippen etwas zu schmal, das Gesicht etwas zu kantig, die Schultern eine Spur zu breit. Einzig die grünen Augen fielen auf. Grüne Augen sieht man nicht oft. Ihr braun gebranntes Gesicht verstärkte den besonderen Eindruck noch.

Wochenlang fuhren die beiden in der ganzen Schweiz umher und porträtierten einen Zeichner nach dem andern. Comiczeichnerinnen gab es damals erst wenige. Auch ihnen statteten sie einen Besuch ab.

Ende August sollten sie einige Zeichner in der Romandie treffen. Um die weite Strecke nicht mehrmals fahren zu müssen, trafen sie an zwei aufeinanderfolgenden Tagen vier Zeichner. Zuerst Cosey und Derib in der Nähe von Lausanne, dann Ceppi und Zep in Genf, wo sie auch übernachteten.

An diesem Abend aßen sie in einem indischen Restaurant und gingen danach noch in einen Jazz Club. Dabei sah Kurt Katy zum ersten Mal in femininen Kleidern. Sie trug ein schwarzes, enges und tief ausgeschnittenes Top, das die Aufgabe, ihr beim Sprechen in die Augen zu sehen, zu einer echten Bewährungsprobe machte. Dazu trug sie einen orangefarbenen Rock, der eine Hand breit über den Knien endete und ihre Figur ebenso betonte wie das Top. Die langen Beine waren muskulös, die schmalen Füße steckten in eleganten schwarzen Pumps.

Beim Nachtessen erfuhr Kurt, dass sie viel Sport trieb. Vor allem Biken und Schwimmen. Das erklärte die straffen Schenkel und die breiten Schultern.

Nachdem sie an der Bar zwei Bier geholt hatten, sagte Kurt: »Katy, du bist eine sehr schöne Frau.« Es überraschte ihn selbst am meisten.

Katy schaute ihn einige Atemzüge lang entgeistert an, bevor sie mit ernster Miene verlangte: »Sag so etwas nie wieder, Kurt.«

»Wieso?«

»Weil du dir sonst eine andere Fotografin suchen kannst.«

»Das kapier ich nicht.«

»Das brauchst du auch nicht«, sagte sie bitter. »In diesem Punkt musst du einfach nur tun, was ich verlange.«

»Und das wäre?«

»Keine Komplimente. Nie. Und auch sonst keine Annäherungsversuche.«

»Findest du mich denn so schrecklich?«

»Es geht hier nicht um dich, Kurt. Es geht um mich. Akzeptier es oder lass es.«

Während das lokale Jazz Trio sich langsam warm spielte, fragte er: »Darf ich wissen, warum du so heftig reagierst?«

»Nein. Können wir jetzt über was anderes reden?«

Damit war die Angelegenheit beendet.

Als Kurt im Hotelbett lag, überlegte er sich alle möglichen Gründe. Vielleicht wollte Katy nichts von Männern wissen, weil sie als Kind missbraucht worden war. Oder vielleicht war sie als Erwachsene vergewaltigt worden. Vielleicht war sie frigid. Vielleicht war sie einfach nur lesbisch und wollte nicht darüber reden. Kurt ahnte nicht, wie falsch er lag.

4

Der Regen prasselt auf die herzförmigen Blätter vor meinem Fenster. Obwohl es erst Nachmittag ist, muss ich das Licht anmachen. Ich liege mit meinen Comics auf dem Boden und lese sicher zum zwanzigsten Mal eine Pichelsteiner-Geschichte in »Primo«.

Ich mag die dicken Dödel Neolith und Theolith. Die sind so schön doof. Dafür haben sie viel mehr Kraft als ihr schlauer kleiner Bruder Flint. Zusammen mit Opa Archibald passen sie auf, dass kein Höhlenbewohner der langbeinigen Petra an die Wäsche geht.

Ich verstehe nicht, wie die drei Brüder mit ihren Knollennasen und Riesenfüßen so eine sexy Schwester haben können. Und ich würde gern wissen, ob Petra ihren Namen vom Flugsaurier Pteranodon hat, der zwischendurch auch mal durch die Bilder fliegt.

Einmal habe ich versucht, Petra ohne ihr superkurzes Fellkleid zu zeichnen, aber es ging völlig daneben. Die Brüste gerieten verschieden groß, und ich hatte keine Ahnung, was ich ihr zwischen die Beine zeichnen sollte. Schwarze Haare oder ein Schlitzchen? Die Stelle blieb leer.