Schwarze Tasten - Manfred Schneider - E-Book

Schwarze Tasten E-Book

Manfred Schneider

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Beschreibung

Am frühen 8. Mai will das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Neonazi-Partei verbieten, die im Begriff ist, in mehreren deutschen Bundesländern die Macht zu ergreifen. Kurz zuvor wird eine der Richterinnen gekidnappt. Die Entführer verlangen, dass das Verbotsurteil nicht verkündet wird. Sonst könne man für das Leben der Richterin nicht garantieren. Die Richterin war am Morgen betäubt aus einer Regionalbahn geschleppt worden. Sie erwacht in einer abgelegenen ehemaligen Schule, wo sie ein an Schlaflosigkeit leidender ehemaliger Seiltänzer und Zirkusartist bewacht. Das Kidnapping ist perfekt geplant. Hinter der Erpressung steckt allem Anschein nach eine weltweit rücksichtslos operierende Private Equity, die immer mehr Länder und Territorien aufkauft und auch deutsche Bundesländer in ihren Besitz bekommen will.

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Seitenzahl: 424

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

1. Das Schermesser

2. Rote Roben ratlos

3. Parteichefs und Gauleiter schauen Phönix live

4. Viktoria erzählt von Osei Tutu und wird angerufen

5. Kidnapper verstoßen gegen das Genfer Abkommen von 1977

6. Generalbundesanwalt Gracchus gibt einen Lagebericht

7. Der Vorsitzende Kaltwasser schüttelt den Kopf

8. Geschichten vom Honeyman

9. Stimmungstrübe Geburtstagsparty

10. Schwierige Beratungstätigkeit

11. Der Ecce-Homo-Vorsitzende

12. Vater-Tochter-Telefonat

13. Palmström der Wächter

14. Osei Tutu im „Disneyland der Verblichenen“

15. Lagebesprechung

16. Immanuel Cammerer vermisst seinen Hund

17. Geständnisse auf der Couch 1 (Chopin-Etüden mit Apkessi-Gemüse)

18. Frau Tamerlan-Borman verhandelt im 19. Stock des Hyatt-Hotels

19. Klavier mit verstaubten Tasten (Ulrikes Tagebuch 1)

20. Eine Rocker-Hochzeit bringt die Anarchisten aus dem Tritt

21. Osei Tutu bekommt in den USA Ärger mit der

Freeland & Peace Global State Group

22. Ewald von Kleists (verschlüsselte) Nachricht aus Guatemala

23. „… das traute Wachtgebell der Hunde…“

24. Signierstunde in der Grand Hyatt-VIP-Lounge

25. Der Kleistforscher aus Santa Barbara (Ulrikes Tagebuch 2)

26. Geständnisse auf der Couch 2 (kryptische Noten)

27. Schlechte Nachrichten

28. Bundesanwalt Paul Schleicher im Innenausschuss des Deutschen Bundestages

29. Die Video-Botschaft aus dem Gefängnis und ein kurzer Auftritt der Speispinne

30. Schockmomente in der Musiker-WG und Motorisierungsneigungen bei der Antifa

31. Viktoria hat etwas gesehen und Richter Papenfuß gibt einen Rat

32. Palmström auf dem Seil (Ulrikes Tagebuch 3)

33. Indiskretionen

34. Osei Tutu schrieb an Viktoria

35. Präsidenten rätseln über ein Knacken, und ein Bundesanwalt geht auf Fernreise

36. Geständnisse auf der Couch 3 (Vom Sack, in dem alles ist)

37. Palmströms Traum (Ulrikes Tagebuch 4)

38. Doktor Schade schreibt einen Brief und gibt Viktoria ein Rätsel zu knacken

39. Der erste Mensch taucht auf und weiß vielleicht etwas

40. Rocker durchstreifen ahnungsvoll die Südpfalz

41. Warum Don Camillo vom Erfolg der Suche überzeugt ist

42. Ein Brief des toten Osei Tutu an Viktoria taucht auf

43. Richter Papenfuß erzählt von den Seltsamkeiten des Bundesanwalts Schleicher

44. Adam macht einen guten Job, und Racheengel sind unterwegs

45. Tanz auf dem Seil (Ulrikes Tagebuch 5)

46. Überstürzende und bestürzende Nachrichten

47. Bundesanwalt Schleicher grüßt Empedokles, die Menschheit und Lilith

48. Und was weiter geschah

49. Der geleakte Polizeibericht über den angeblichen Selbstmord von Osei Tutu

50. Die

Dresdner Neuen Nachrichten

berichten über die Ausstellung „Memories in Dust and Ash“

51. Der Richter Samuel Papenfuß hält das alles für eine Komödie

Personenverzeichnis

1. Das Schermesser

„Ausgerechnet heute am 8. Mai“, seufzte sie leise.

Die Morgensonne, die sich aus dem Frühnebel des Rheintals löste, ließ auf der Staubschicht des Abteilfensters ein Hakenkreuz sichtbar werden. Unbekannte Finger hatten es von außen auf die Scheibe der Regionalbahn geschmiert. Darunter den Parteinamen FBD. Durch das Raster der spiegelverkehrten Großbuchstaben im staubigen Glas FBD schien sich die vorbeigleitende Landschaft in die falsche Richtung zu bewegen.

„In Staub mit allen Feinden der Verfassung!“ murmelte sie, und in den Staubpixeln des Fensters spiegelte sich ihr grimmiges Vergnügen an dem frisierten Kleist-Zitat. Der große Dichter war immerhin ihr Urahn! Nur das „von“ hatte Doktor Ulrike Kleist aus ihrem Namen gestrichen. „Die Franzosen kürzten dem Adel den Kopf, ich kürze meinem Namen den adligen Kropf“, erklärte sie das heiter. Wie urzeitlich klingen die aristokratischen Titel! 'Freiherr', 'Graf' oder 'Fürst'. Ihre Hoheit dürfte man allenfalls zum Grundgesetz sagen. Sie unterdrückte den kindlichen Reflex, dem Nazi-Zeichen im Fensterstaub die Zunge zu zeigen. Längst gab es wirksamere Waffen gegen braune Höllengeister. Überdies saß sie im Blickfeld von zwei jüngeren Reisenden, die sie beim Einsteigen unangenehm gemustert hatten.

Daher war heute der 8. Mai der richtige Tag, um im Bundesverfassungsgericht die Neonazi-FBD zu verbieten. Das Grundgesetz, das sie als Hüterin der Verfassung vor Hakenkreuzlern schützte, war auch an einem 8. Mai vom Parlamentarischen Rat verabschiedet worden. Jetzt hatte sie zwei Jahre lang in ihrem Senat für die nötige Mehrheit gestritten. Einen zögerlichen Richter-Kollegen und Familienfreund hatte sie dafür sogar mehrfach bekocht. Erst ihre in Kapernsoße rollenden Königsberger Klopse machten dem Wankelmut unter seinem grauen Haarrasen ein Ende. Es war ähnlich mühsam wie vor 25 Jahren. Damals sträubte sich Immanuel dagegen, ihrer am gleichen Kalendertag geborenen Tochter den Namen Viktoria zu geben. Dem störrischen Vater, der Opernnamen wie Arabella oder Salomé vorschlug, musste sie die Zustimmung mit Champagner abringen. War nicht der 8. Mai 1945 der Tag der Freiheit und des Rechts? Ihr Siegeskind Viktoria saß jetzt im ICE auf dem Weg nach Dresden, wo sie mit Musikfreunden und Genossen ihren 25. Geburtstag feiern wollte. Jeder 8. Mai ein dreifaches Freudenfest! Und von heute an ein vierfaches!

Eigentlich wollte sie auf der Bahnfahrt nach Karlsruhe noch einmal die von ihr entworfene und längst abgestimmte Begründung des Urteils auf sich wirken lassen, ehe sie der Vorsitzende des Senats nachher verlesen würde. Aber sie musste dauernd an Viktoria denken. Am frühen Morgen waren sie beide noch mit ihrem hinkenden berufsunfähigen Spurensicherungshund Adam ein Stück durch den Kurpark von Bad Bergzabern gejoggt. Naja, eigentlich hatten sie sich schneckengleich durch das dämmernde Frühlicht bewegt und dabei den hingebungsvoll singenden Vogelstimmen gelauscht. Ach, ihr dickes, dickes Sorgenkind vom 8. Mai! Und gleich drückten wieder die Tränen. Viktoria hatte nach dem schlimmen Ende ihres Freundes Osei Tutu immer mehr zugenommen. Jetzt versuchte eine Therapeutin, die drohende Adipositas aufzuhalten. Hatte sie als Mutter versagt? Oder ging von dem Sieges-Datum eine falsche Sternenmacht aus? Welch ein Jammer! Ganze Nächte lang übte Viktoria am Flügel, und man konnte beinahe zusehen, wie sie auseinander ging. Dabei spielte sie immer schöner! Es war herzzerreißend, ihren Nachtstücken, Fauré, Rachmaninow, Skrjabin, zu lauschen. Und jedes Mal spielte sie aus Trauer um Osei diese schwarze Chopin-Etüde, so dass dann bisweilen ihr musikalischer Hund Adam erwachte und leise zu klagen begann! Welch ein Kummer strömte dabei aus Viktorias Fingern! Und in jeder tränenvoll durchspielten Nacht verschlang sie diese Süßigkeiten. Unaufhaltsam wucherte ihre Traurigkeit fort.

Das gedämpfte Morgenlicht strich leise Pastellfarben auf die Felder und Rebenhügel, an denen sie vorbeifuhr. Im ferneren Hintergrund zerbröselte ein zarter grauer Wolkenstreif, während der Frühdunst zögernd die Hügellinie des Kraichgaus freigab. Davor drehten sich genießerisch die Flügel der Windräder, als ob sie jedes Kilowatt abschmeckten. Lange gab die Stille nicht auf, bis das schrille Warnsignal der Bahn einen Krähenschwarm aus dem Weinfeld scheuchte. Hoch oben schrieben sie aufgeregt ihre Flugbotschaft an den Himmel. Was wollten sie sagen? Die frühe Sonne und das sanfte Wehen dieses Maimorgens schienen einen heiteren Tag zu versprechen, vorhin hatte noch irgendwo ein Hahn, ein Bruder des gallischen Freiheitsvogels, feierlich den ersten Lichtstreif begrüßt. Aber das Menetekel auf dem staubigen Fenster vor ihr trübte die Helligkeit. Von innen ließ sich die Spur der Nazischmierer ja nicht verwischen.

Und wie die Windräder drehte sich plötzlich vor ihren Augen das Hakenkreuz und löste eine panische Vorstellungsreihe aus. Als hätte sich das fatale Zeichen in das vierflügelige Messer ihres Kenwood-Zerkleinerers verwandelt. Wie ein riesiges Schermesser rotierte es über die Landschaft und durchmähte Obstgärten, Weinberge, Getreidefelder und Blumenwiesen. In ihrer Angstvision wuchsen die Flügelklingen zu blitzend scharfen Rotoren und sensten knirschend eine breite Schneise durch die Pfalz, schredderten in wildem Zickzack Landschaften und Denkmäler, legten erst den Dom von Speyer, dann das Hambacher Schloss in Schutt und Asche, fegten durch den Rheingau, schleiften die Loreley, das Siebengebirge, das Hermann-Denkmal, rotierten und rasierten weiter den Brocken, den Kyffhäuser, die Kaiserpfalz, zermalmten die Naumburger Stifterfiguren und das Goethehaus, legten halb Berlin in Trümmer, sogar das Potsdamer Schloss und rasten über den Spreewald, bis dieser tollgewordene Hakenkreuz-Schredder hinter Stettin kurz die Ostsee aufwühlte und endlich versank. Unterdessen ging über ganz Deutschland eine riesige Staubwolke nieder.

Aber ihre Gedanken rotierten fort! Warum musste Viktoria in dieser Krisenzeit mit ihrem bockigen Anarcho-Zynismus das Volkbegehren der FBD unterstützen! Wie absurd und naiv! Als ginge der globale Kapitalismus durch die Unabhängigkeit von Brandenburg und Sachsen in die Knie! Dabei waren es die Neonazis, die die politische Kampagne eingeleitet hatten. Zwar würden die Stimmen der FBD im Landtag Brandenburgs vorerst nicht reichen, um das Volksbegehren durchzusetzen, aber vermutlich käme es anschließend zum Volksentscheid. Mit Blick auf die gegenwärtige Stimmung musste man damit rechnen, dass der Volksentscheid über den Austritt des Landes Brandenburg aus der Bundesrepublik dort die erforderliche Mehrheit erreichte. Sachsen und Sachsen-Anhalt würden wahrscheinlich folgen.

In Staub mit allen Feinden der Verfassung Brandenburgs! Beinahe hätte sie diesen Kriegsruf laut ausgestoßen. Aber wen wollte sie damit erreichen? Lieber Herr im Himmel, vielleicht das Verfassungsgericht von Brandenburg? Ein Drittel der Richter hatte gutwilliger Populismus ins Amt gebracht. Gerade einmal zwei Juristen waren darunter. Dieser Richterbank könnte man allenfalls einen Kegelklub anvertrauen: Ein Schriftsteller, eine Grundschuldirektorin, ein Eventmanager! Welches göttliche Fünkchen sollte bei ihnen Sachverstand, Wille, Mut entzünden? Wie wollte dieses schwache Häuflein das Volksbegehren abschmettern! Dabei ging es um ihr Brandenburg, um Kleists Brandenburg, um das Brandenburg des großen Michael Kohlhaas mit dem bitter verletzten Rechtsgefühl!

Inzwischen hatte die Regionalbahn Kandel hinter sich gelassen und durchfuhr ein dichtes Waldgebiet. Hier stimmte die Bahn ihr Summen zwei Töne tiefer. Weiter verloren sich im Halbdunkel eines Tunnels auch das Schreckbild und das Nachgeräusch des wirbelnden Kenwood-Hakenkreuzes. Dafür tauchte vor ihrem inneren Auge das Konterfei des FBD-Vorsitzenden Joseph Kaltwasser auf. Diese wasserblauen Augen, diese wie vom Fusel geröteten Backen, dieser Truthahnhals unter dem Jägerschlips! Falschheit und Lügenkunst hatten den Teig dieses Gesichts geknetet. Und die politische Ausdünstung! An allen Tagen der mündlichen Verhandlung über das Partei-Verbot bestand sie darauf, dass der Sitzungssaal nach dem Auftritt Kaltwassers gelüftet wurde. Pech und Schwefel hingen im Raum. Sie hatte zwar nicht das absolute Gehör, dafür aber den absoluten Geruch. Ihre Nase witterte jeden Nazi auf 100 Meter.

Der FBD-Führer Kaltwasser, ein offenbar belesener Mann, hatte zu Beginn der mündlichen Verhandlung die Chuzpe, sie zu fragen, wieso eine Richterin mit dem Namen des großen patriotischen Dichters Heinrich von Kleist eine deutsche Freiheitspartei auf ihre Gesinnung hin prüfte! Daraufhin hatte sie geantwortet, dass ihr Verwandter Ewald von Kleist-Schmenzin im Widerstand gegen den Nazi-Staat sein Leben lassen musste.

„Auch so ein Vaterlandsverräter!“ hatte das Kaltwasser kommentiert, und sie war kurz aus der Fassung geraten. „Schäbiger geht’s nicht mehr!“ hatte sie hörbar gemurmelt. Und der Mann hatte geantwortet: "Wissen Sie, was der große Heinrich von Kleist, ehe ihm solche kleinen Kleists wie Sie folgten, über sein deutsches Vaterland gesagt hat? Er hat gesagt, sein Vaterland sei wie ein 'bewegtes Meer von Erde, in den schönsten Linien geformt, als hätten die Engel im Sande gespielt'. So sprach der unsterbliche Heinrich von Kleist über Deutschland. Sie aber, in rote Roben gewickeltes Kleistlein, brüsten sich mit Verrätern der deutschen Erde und verleumden ihre wahren Verteidiger." Gleich darauf beantragten die FBD-Anwälte, Ulrike Kleist wegen Besorgnis der Befangenheit vom Verfahren auszuschließen. Ihre Kollegen benötigten nur eine viertel Stunde, um den Antrag abzulehnen.

Es war unumgänglich, die FBD als verfassungswidrig zu verbieten. Politisch heikel, denn bei den letzten Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt hatten Kaltwassers „Freie Bürger Deutschlands“ mit der Ankündigung, aus der Bundesrepublik und der Europäischen Union auszutreten, eine Mehrheit erzielt! Da steckte das Dilemma: Kann in der Demokratie der Wille des Volkes verfassungswidrig sein?

Welche Frage! Schon als sie im Gymnasium zum ersten Mal über das Grundgesetz sprachen, hatte sie die Lehrerin gefragt, wer dieses deutsche Volk denn sei. Die gleichen Deutschen wollten erst die Nazis und dann die Freiheit? Hatte man am 8. Mai 1945 unbemerkt das Faschistenvolk gegen ein Demokratievolk ausgetauscht? Oder waren sie wie der sagenhafte Kaiser Rotbart als Hitlerwillige eingeschlafen, um nach ein paar Jahren als Adenauerwillige wieder aufzuwachen? Wo stecken Wille und Gewalt, die nach Maßgabe des Grundgesetzes vom Volke ausgehen, um Staatsgewalt zu werden? Hat diese Gewalt irgendwo einen Sitz? Steckt sie in Leuten, die über die Straße gehen oder im Zug hocken? Oder, wie die Kaltwassers sagen, in der Erde? Oder verwandeln sich die Menschen, wenn sie zum Volk werden? Nur in welcher Gestalt sind sie das Demokratievolk? Als Masse, Gemeinschaft oder Mob? Wo steckt im Volk die Staatsgewalt? In den Köpfen oder in den Worten oder in den Fäusten?

Diese Gedanken lösten sich gerade im grünen Wirbel des Buschwerks draußen auf, als sie hörte, wie die beiden Fahrgäste hinter ihr aufstanden. Gleich darauf spürte sie einen eisernen Griff um ihren Hals. Ihr Schrei blieb im Würgen stecken. Ein schriller Schmerz durchzuckte sie, weil ihr jemand brutal die Arme in den Rücken drehte. Eine gleiche rabiate Hand presste ihr ein übel riechendes Tuch auf Mund und Nase. Kurz tanzten vor ihren Augen die schwarzen Quadrate der Sitzpolstermuster, ein letztes blau flackerndes Nachbild erlosch, und sie verlor das Bewusstsein.

2. Rote Roben ratlos

„Wo bleibt denn Frau Dr. Kleist?“ fragte der Vorsitzende Horst Rabenhorst ungeduldig im Beratungszimmer des Bundesverfassungsgerichts. „In einer guten halben Stunde wollen wir das Urteil verkünden.“

„Normalerweise kommt Ulrike frühzeitig mit der Regionalbahn“, sagte die Richterin Gesine Brüninghaus-Goodwill. „Sie ist heute wirklich spät. Ich versuch mal, sie auf dem Mobiltelefon zu erreichen.“

Einige der Richter und Richterinnen des zweiten Senates saßen bereits in den scharlachroten Roben bereit und ordneten ihre plissierten Jabots. Im frühen Licht, das schräg in Streifen durch die Jalousien fiel, sah man den Staub tanzen. Auf den Tischen vor ihnen warteten die steifen roten Barettkronen. Von den Wänden blickten ehemalige Präsidenten des Verfassungsgerichts ebenso rotgewandet und gedankenvoll auf ihre Nachfolger. Eine Richterin ließ sich noch von der Amtsmeisterin in die verwirrend gefaltete Robe helfen. Während Rabenhorsts Ungeduld in Wellen durch den Raum ging, liefen Mitarbeiter, Referenten und Hilfskräfte gasmolekülartig kreuz und quer. An der hinteren Wandseite telefonierte mit gesenkter Stimme die große schlanke Pressesprecherin. Sie hatte zuvor den Pressespiegel verteilt, und einige lasen stirnrunzelnd, wie in der Neuen Zürcher Zeitung ein Gastkommentator den erwarteten Richterspruch zerlegte. Bisweilen trat jemand an die Fensterfront, um nach den Demonstranten gegenüber auf dem Schlossplatz zu schauen. Diese unablässig wachsende Menschenmenge! Immer noch sickerten Leute in freie Winkel des Platzes ein. Dunkelgrüne Sicherheitskräfte schirmten auf dem hellgrünem Rasen den befriedeten Bezirk um die Gerichtsgebäude ab. Aus dem Schlossgarten daneben kamen die Wogen der Sprechchöre.

Nur der dienstälteste Richter Samuel Papenfuß saß gelassen da und beobachtete lächelnd den Wirbel der Unruhigen und Getriebenen um ihn herum. Er plauderte mit einer jungen Rechtsreferendarin, die heute zum ersten Mal eine Urteilsverkündung erleben wollte. Sie hatte sich mit einem schwarzen Massimo Dutti-Blazer und dunkler Hose festlich gekleidet und ihre sonst richtungslos fallenden schwarzen Haare hochgesteckt. Sie mühte sich gerade, eine Flasche Bio-Orangensaft zu öffnen, ohne ihre Kleidung oder gar die Richterrobe zu beflecken.

„Sehen wir in unserem Richterkostüm nicht aus wie der venezianische Consiglio dei Dieci aus dem 14. Jahrhundert, Frau Rittersporn?“ fragte Richter Papenfuß und posierte mit breiter Brust und erhobenem Kinn. Im Profil ergänzte seine Adlernase das heroische Bild. „Die zehn Richter kann man auf älteren Gemälden noch bewundern.“

„Ich weiß“, meinte die junge Mitarbeiterin und goss Papenfuß vorsichtig ein Glas Orangensaft ein. „Das Consiglio-Gemälde von Gabriele Bella habe ich mir kürzlich im Netz angeschaut. Da hocken nur Männer in roten Togen und weißen Perücken im Saal des Dogenpalastes. Frauen malte Meister Bella nur als hübsche Ornamente auf die Wand- und Deckenbildern, die den Saal zieren.“

„Das stimmt, Frau Rittersporn!“ räumte Papenfuß ein und griff nach dem Glas. „Dafür sind all die Figuren auf den Wänden viel größer! Trotz unvollkommener Geschlechterparität ist das Bild von Bella sehenswert. Die Herren Consiglieri schienen damals unerschütterbar auf ihrem Podest zu sitzen, doch auf Venedigs Republik warteten noch heftige politische Erdbeben. Kennen Sie eigentlich die Vorgeschichte, warum der Rat in Venedig eingerichtet wurde?“

„Vielleicht für arbeitslose Juristen!“ vermutete die Rechtsreferendarin.

„Gelehrte Juristen gab es damals noch nicht“, sagte Papenfuß schmunzelnd. „Nein, der Rat der Zehn wurde 1310 eingerichtet, um Venedigs Verfassung zu retten. Kurz zuvor war ein übler Bursche namens Baiamonte Tiepolo, der Enkel eines ehemaligen Dogen, zusammen mit zwei machtgierigen Aristokraten, Marco Querini und Badoero Badoer, bei einem Staatsstreich gescheitert. Die drei Rabauken wollten eine Erbmonarchie, möglichst für sich und ihre Clans. Ach, Frau Rittersporn, was waren das damals für herrliche Zeiten, als die Weltgeschichte vornehmlich aus Familienkrächen bestand!“

Der Richter lachte so herzhaft, dass das weiße Jabot auf seinem Bäuchlein tanzte.

„Doch Baiamonte Tiepolos Umsturzversuch scheiterte auf aberwitzige Weise“, fuhr er fort und ließ das Lachen in Kopfschütteln auslaufen. „In der Nacht des Anschlags ging ein mordsmäßiges Gewitter auf Venedig nieder. Der Sturzregen brachte Kanäle zum Überlaufen, und durch die Straßen schoben sich dicke Schlammwellen. Es muss mächtig gestunken haben! Auf dem Weg zur Erstürmung des Rathauses, wo man den Dogen kidnappen wollte, blieb das Häuflein Badoers buchstäblich im Dreck stecken. Man weiß, man weiß, so manche große Tat fiel schlechtem Wetter zum Opfer! Denken Sie nur an Napoleons Schlachtplan in Waterloo. Genial, aber verregnet! Doch dieser Tiepolo hätte es nicht mal zu Napoleons Kutscher gebracht! Wenige Steinwürfe von Badoers Schlammdesaster entfernt, rannten Tiepolos Leute plötzlich in wildem Schrecken davon. Und warum? Ihrem Fahnenträger war ein Steinmörser auf den Schädel gedonnert. Tja, so geht Nietzsches schauerliche Herrschaft von Unsinn und Zufall! Vom Lärm und Gewitterdonner verschreckt, hatte eine Frau Giustina Rossi das schwere Küchenwerkzeug, das sie sonst zum Zerreiben von Stockfisch nutzte, aus dem Fenster ihres Hauses fallen lassen. Es gibt auch ein Bild von Gabriele Bella, das zeigt, wie Tiepolos Bannerträger in einer Blutlache auf Venedigs Mercerie liegt. Im Hintergrund erhebt sich die herrliche Torre dell’orologio, der Uhrturm, den es allerdings 1310 noch gar nicht gab. Neben dem Toten liegt der steinerne Mörser, und daneben stehen schreckensstarr die Aufrührer. Aus einem Fenster oben beugt sich händeringend Frau Giustina. Das Bild ist dramatisch, aber, wie von Kinderhand gemalt, auch ein wenig zum Lachen!“

Papenfuß lachte wieder und auf seiner Robe bildeten sich die Heiterkeitswellen ab.

„Natürlich hieß die Hausfrau Giustina!“ empörte sich die Referendarin. „Jobs für Frauen gab‘s nur als Justitia oder als Denkmal! Sonst keine Chance, um Politik zu machen. Allerdings muss ich sagen: Stockfischmörser auf Putschisten und Kidnapper zu schmeißen, das bringt nur höhere weibliche Vernunft zustande!“

„Man hat der Frau Giustina tatsächlich an einer Hauswand neben dem Uhrturm ein kleines Denkmal gewidmet“, ergänzte der Richter und fuhr hinter vorgehaltener Hand fort: „Damals haben die Frauen Weltpolitik unter Schlafzimmer-Alkoven betrieben. Vielleicht hatte aber auch eine Whistleblowerin das Komplott verraten. Der Doge jedenfalls stellte einfach ein paar Kerle mit Schwertern und Lanzen vors Rathaus. Seine zwanzig Spießgesellen kühlten den Mut der Aufrührer rasch ab. Jetzt bedrohten die Rebellenköpfe keine herabfallenden Mörser mehr! Auf Badoers Haupt ging vielmehr nach kurzem Prozess das Richterschwert nieder. Baiamonte Tiepolo durfte zwar seinen hohlen Kopf behalten, aber er wurde ins Exil gejagt. Marco Querini war tot. Frau Rossi erhielt als Belohnung einen Mieterlass auf Lebenszeit. Anschließend wurde der Zehnerrat eingerichtet, um die Verfassung gegen alle Kidnapper und Umstürzler zu sichern.“

„Aha, die zehn waren auch Verfassungsrichter?“ fragte Frau Rittersporn.

„So könnte man sagen. Sie hatten aber einen kniffligen Job“, Papenfuß lachte wieder, „denn die Richter mussten das Recht sogar vor den Richtern selbst schützen. Keine leichte Sache! Nach ein paar Jahren wurde nämlich einer von ihnen, der noch Baiamonte Tiepolo verjagt und Badoer geköpft hatte, selbst wegen Verfassungsbruchs angeklagt. Das war der achtzigjährige, gerade amtierende Doge Marino Faliero. Im April 1355 ließen ihn seine Kollegen enthaupten, weil der Alte einen Umsturz geplant haben soll. Eine politische Tragödie, ein herzerweichendes Schicksalsstück, ein kolossales Seelendrama! Falieros Geschichte gab den Dichtern, Malern und Musikern zu tun. Eugène Delacroix malte den eben geköpften Faliero, mit einem Tuch bedeckt, tot auf der untersten Stufe der berühmten Treppe hoch zum Palazzo Ducale. Oben hinter der Brüstung stehen die Richter in ihren edlen roten Roben. Einer von ihnen schwingt das blutige Richtschwert. Der Maler hat die Geste so arrangiert, dass das Schwert das unschuldige Jesuskind auf einem Wandgemälde im Hintergrund aufzuspießen scheint. Mit ähnlichen Märtyrer-Anklängen hatte Lord Byron Falieros Geschichte in Szene gesetzt, die sogar Goethe in Weimar aufführen wollte. Und E.T.A. Hoffmann, kennen Sie den? E.T.A. Hoffmann war Richter und Dichter, und er machte Faliero zum Helden einer Novelle. Schließlich ließ Gaetano Donizetti den Faliero in der Oper schwarze Basspartien singen. Als am Ende dieses Musikdramas dem alten Faliero das Todesurteil eröffnet wird, wirft der Greis in erhabener Geste die Krone zu Boden und singt: `Überflüssige Last für einen sterbenden Leib!‘ Da schluchzten die Damen in den Logen.“

„Krass!“ rief Frau Rittersporn. „Jetzt müsste es mal eine Oper zu den Verfassungsbrüchen der FBD geben!“.

„Damit könnten wir vielleicht Frau Doktor Kleists Tochter Viktoria beauftragen“, meinte Papenfuß. „Die ist auch Komponistin. Sie hat mir mal was Selbstkomponiertes vorgespielt, Auszüge aus ihrer Kurzoper "Der weinende Löwe". Naja, ehrlich gesagt, Donizetti ist mir lieber!“

„Da wäre eine Enthauptung ein großes Spektakel. Mit richtigem Tamtam. Ich hätte dafür sogar ein paar Ideen. Sonst müssen in der Oper immer nur Frauen dran glauben: Sieglinde, Carmen, Leonora, Desdemona, Manon Lescaut und wie sie alle heißen.“

„Halt! Ich kenne auch ein paar Kerle, die in der Oper den Kopf hinhalten müssen: Siegfried, Billy Budd, Danton oder der arme Don Giovanni!“

„Oh je, der ‚arme Don Giovanni‘, da kommen mir gleich die Tränen!“

„Gottlob fallen die Strafen für Verfassungsverstöße heutzutage milder aus“, sagte Papenfuß besänftigend. „Nur modisch hat sich die Richterschaft kaum fortentwickelt.“

„Es gibt ja wohl auch keine Umsturzversuche mehr!“

„Oh, da wäre ich mir nicht so sicher“, zweifelte der Richter. „Die Zeiten ändern sich, aber die Tiepolos oder Badoers schlummern in vielen schwarzen Seelen fort und warten auf ihre Stunde. Denken Sie nur an den unseligen Donald Trump.“

„Also vorsichthalber Mörser auf alle Fensterbänke?“ fragte die Referendarin ironisch. „Nein, lieber mehr Frauen an die Macht!“

„Naja, vielleicht wäre das ein Fortschritt. Außerdem wurden die Verfahren modernisiert“, nahm Papenfuß den Faden wieder auf. „Im alten Venedig konnte man noch Tag und Nacht Klagen einreichen. Da hatte man einige steinerne bocche di leone aufgestellt, Löwenköpfe mit offenem Maul, die als Briefkästen für Kläger und Whistleblower dienten. Die Venezianer warfen dort ihre an den Rat der Zehn gerichteten Beschwerden und Denunziationen ein. Wir haben ja auch noch einen solchen Briefkasten am Eingang.“

„Frau Kleist ist nicht zu erreichen!“ rief die Richterin Frau Brüninghaus-Goodwill, „ihr Mobiltelefon schaltet gleich auf die Mailbox um.“

„Dann müssen wir wohl ohne sie antreten“, sagte der Vorsitzende Rabenhorst verstimmt und griff nach seinem Barett.

„Lassen Sie uns noch einen Augenblick warten“, bat die Pressesprecherin. „Vielleicht kommt sie doch in letzter Minute.“

In den Gängen und auf den Treppen des gläsernen Gerichtsgebäudes wurden die Ströme der Besucher dünner, und die Gesprächsgruppen zerstreuten sich. Nur ein Kamerateam und eine Reporterin blieben im Foyer, um der vorbeieilenden Prominenz ein Statement zu entlocken. Gerade näherte sich die Vizepräsidentin des Bundestages mit feinem Selbsteinladungslächeln. Guten Tag, Frau Vizepräsidentin, was erwarten Sie von dem Urteil? Ich erwarte, dass das Gericht unsere Verfassung schützt! Vielen Dank für Ihre Stellungnahme, Frau Vizepräsidentin!

Im Sitzungssaal des Verfassungsgerichts hatten sich bereits am frühen Vormittag die Zuhörer gedrängt. Enger ließen sich die Stühle nicht mehr rücken. Die Sitzungsamtsmeisterin musste sogar diskret einige Personen ermahnen, die sich hinter die Richterbank drücken wollten. Alle Verfahrensbeteiligten, Vertreter der Länder, des Bundes, Abgeordnete und Ministeriale, Antragsteller und Antragsgegner sowie ihre Anwälte, hatten sich in den vorderen Reihen niedergelassen. Zwei TV-Kameras und einige Fotografen lauerten auf die Richter, die gleich durch die Tür neben dem mächtigen Bundesadler an der Wand treten sollten. Der hölzerne Vogel breitete seine Schwingen so weit, als wollte auch er die Verfassung schützen. Juristen, Bürger, Neonazis aus Ost und West hatten sich nach Karlsruhe aufgemacht, um das Urteil live zu erleben. Weltweit war das Interesse riesig. Die Berichterstatter drängten sich auf der Pressetribüne. Mehr als hundert Journalisten hatten Akkreditierungsanträge gestellt. Zum Teil mussten sie sich mit der Video-Übertragung im Pressesaal begnügen.

Während das auf- und abschwellende Gemurmel im Sitzungssaal die Spannung anzeigte, wölbte sich draußen der blaue Himmel kühl und gelassen über dem Geschehen. Von jenseits des befriedeten Gerichtsbezirks kamen Getrommel, Gejohle, Sprechchöre. Im Schlossgarten und in den sternförmig auf die Anlage zulaufenden Straßen drängten sich mehrere tausend Demonstranten. Die Anhänger der vom Verbot bedrohten Partei, zumeist graubärtige Männer, waren aus über sechzig Bussen gequollen und hatten Plakate und Transparente aufgerollt. Eine Hakenkreuzflagge versank im Pulk der Fahnen. Auf einem der Plakate, das jemand aus dem Gewoge hochhielt, sah man eine Figur hinter Gitterstäben mit der Überschrift „Knast für Rechtsverdreher“. Auf anderen Tafeln hieß es „Nur das Volk hat Recht!“ Ein Transparent verlangte „Deutschland den Deutschen und keinen Richtern“. Von irgendwo tönte der Sprechchor: „Alle freien deutschen Bürger gegen die Verfassungswürger“. Eine Polizeikette trennte die Gegendemonstranten auf der Rückseite des Gebäudes ab. Auch die hielten Plakate hoch „Alle FBD-NAZIS zurück in die Hölle!“ Die Ordnungskräfte des Landes und des Bundes standen mit Helmen und Schutzwesten gerüstet, um die Gebäude und die Zugänge zum Gericht zu sichern.

Im Beratungszimmer saßen inzwischen alle Richter in ihren Roben, als wollten sie noch einmal von Gabriele Bella porträtiert werden. Der Vorsitzende Rabenhorst schaute gerade zum hundertsten Mal auf die Uhr, als eine Mitarbeiterin durch die Tür stürzte und ihm ein Papier in die Hand drückte.

„Das ist soeben in der Pressestelle eingegangen!“ rief sie atemlos.

Richter Rabenhorst überflog das Blatt. Seine Gesichtszüge fielen kurz in sich zusammen. Er murmelte:

„Die Urteilsverkündung muss verschoben werden.“

Dann fasste er sich:

„Wir erhalten eben die Mitteilung, dass Frau Doktor Kleist von Leuten der FBD entführt worden ist. Die Kidnapper drohen damit, sie umzubringen, wenn ein Urteil verkündet werden sollte. Wir müssen das ernst nehmen.“

3. Parteichefs und Gauleiter schauen Phönix live

In der Berliner Bundesgeschäftsstelle der FBD gab es kein Tun und Verweilen mehr. Aufgetürmte Umzugskartons, eine Batterie Computer, blinde Bildschirme, lange weiße Kabelschlangen und andere elektronische Requisiten standen kreuz und quer. Die digitale Intelligenz dachte nichts mehr. Nur der Kaffeeautomat hatte noch Strom und ließ bisweilen zischend etwas Dampf ab. Um den Besprechungstisch herum saßen der Partei-Führer, die Stellvertreterin, der Chef der Propagandaabteilung, mehrere Gauleiter, Abgeordnete und Mitarbeiter. Fünf Security-Männer in Uniform standen am Fenster. Einige Damen nippten an Kaffeebechern, einige Herren schlürften aus Bierdosen. Die gestapelten Pappboxen verdeckten die schwarzweißen Fotos mehrerer Parteigötter an den Wänden. Man konnte Kronprinz Wilhelm, Hindenburg, Erwin Rommel und Alfred von Thadden erkennen. Auf einem der halbhohen Kartontürme funkte ein aktives TV-Gerät. Der Sender Phönix übertrug live die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

Die zwei Dutzend Führungskräfte der Partei und die Mitarbeiter starrten missmutig auf ihre Taschencomputer oder auf den Bildschirm, wo der ARD-Justiziar Sonderegger gerade einen weißhaarigen Staatsrechtler der Universität Mainz befragte. Herr Sonderegger im stylischen grauen Anzug erinnerte an die TV-Experten bei Fußballspielen. „Wie lautet ihre Prognose, Herr Professor Hachmeister?“ wollte Sonderegger wissen. Der Professor, in dessen Rücken die Glasverkleidung den Blick in den Gerichtssaal freigab, wollte aber nichts prognostizieren, sondern erklärte im Volkston die schwierigen politischen und rechtlichen Fragen, die zu beantworten waren. Und dazu zitierte er einige frühere Urteile des Gerichts, die die Erwartungen enttäuscht hatten. Außerdem sei man bekanntlich vor Gericht wie auf hoher See in Gottes Hand.

„Nein, in der Hand von Volksfeinden“, schrie einer der Parteileute in der Berliner Zentrale.

Den Dialog im TV kommentierten die FBD-Zuschauer mit Kraftworten und hämischem Gelächter. Der Partei-Führer Kaltwasser beteiligte sich nicht daran. Er hing schlaff in einem Bürosessel. Seinen Jägerschlips hatte er gelockert, der graugrüne Lodenfrey-Janker mit dem hochstehendem Kragen und den silbernen Hirschmotiv-Trachtenknöpfen hing schief von seinen Schultern, in seinen geröteten Augen stand trübe Müdigkeit. Die nach Altherrenart quer über den Schädel gekämmten Haare hatten sich in Strähnen geteilt. Kaltwassers smarte Stellvertreterin hingegen, Lilith Tamerlan-Borman, saß aufrecht neben ihm. Sie war wie stets sorgfältig gekleidet, mit hellem Brunello Cucinelli-Blazer und engen Jeans, die dunklen Haare frisch getönt und frisiert. Im Ausschnitt der mintfarbenen Bluse krümmte sich eine Perlenkette. Auch der Pressesprecher, Sebastian von Neurath, wirkte in seinem weißen Hemd und der blauen Armani-Steppjacke frischer als der alte Chef. Sein auffällig nach vorne geschobener Unterkiefer signalisierte Entschlossenheit. Und die Security-Leute am Fenster, die grüne Ranger-Feldhosen und Combat-Jacken trugen, standen stramm, als ginge es auf zum letzten Gefecht.

Gegen die üble Stimmung halfen kein Alkohol, kein Hohn, kein zynisches Wort. Die Führung der bei Wahlen zuletzt erfolgreichen Freien Deutschen Bürger-Partei hegte kaum Hoffnung, dass in letzter Minute das Verbotsurteil abgewendet werden könnte. Als die Reporterin auf dem Bildschirm den Eintritt der Richter ankündigte, erhob sich Frau Tamerlan-Borman und schaltete mit der Remote-Steuerung den Ton ab:

„Liebe Parteifreunde, liebe Kampfgenossen“, rief sie, und schloss kurz ihren stets ein wenig offen stehenden Mund, „ein paar korrupte Richter können unsre Bewegung nicht zum Verstummen bringen! Wir sind das Volk! Wir schauen nicht still zu, nein, man wird uns bald noch lauter hören. Unter Gewalt verlassen wir unsere Büros und treten den Weg in die Verbotszone an. Ins Exil wie einst das Volk Israel! In der Verbotszone aber leben viele, viele tausend Parteifreunde, Genossen, Sympathisanten, Wähler, die das Schandurteil zum Anlass nehmen werden, den Kampf gegen den Ausländerstaat noch entschiedener zu führen. In wenigen Wochen wird unser Volk über den Austritt des Landes Brandenburg aus der BRD entscheiden. Wir werden die Macht nutzen, und unter meiner Führung werden wir dem Volkswillen und der deutschen Erde Gerechtigkeit widerfahren lassen. Außerdem…“

„Mach mal den Ton wieder an,“ rief einer der Security-Leute und deutete auf den Bildschirm, „da muss irgendwas passiert sein!“

Die TV-Regie hatte die Übertragung aus dem Plenarsaal unterbrochen. Nach kurzem Schneegestöber auf dem Bildschirm meldete sich erneut die sichtlich irritierte Moderatorin aus dem Foyer und las von einem Zettel, dass die Verkündung des Urteils im Bundesverfassungsgericht vertagt werde. Die Amtsmeisterin, die üblicherweise den Eintritt des Gerichts ankündige, habe das soeben bekannt gegeben. Hilfesuchend schaute die Reporterin nach dem geschniegelten ARD-Chefjuristen, mit dem sie zuvor gesprochen hatte. Der Mann trat auch gleich an ihre Seite und vermutete, dass es sich um eine technische Störung handeln müsse. Etwas anderes könne er sich nicht vorstellen, da das Urteil feststehe und die Verkündung eigentlich Formsache sei, trotz der öffentlichen Aufmerksamkeit.

„Vielleicht hammses sich doch nochmal überlegt,“ meinte ein Security-Mann in der Geschäftsstelle der FBD. “Oder die Richter kamen heute alle besoffen ins Büro. Prost Verfassung…“ Er lachte heiser und schwenkte seine Bierdose, dass der Schaum auf seine Army Cap spritzte.

„Hat es so eine Verschiebung bereits früher mal gegeben?“ fragte die Reporterin im TV den Rechtsexperten. Sie drehte den Kopf und schaute dabei durch die Glasscheibe in den Sitzungssaal, wo sich die Zuhörer erhoben hatten.

„Wenn ich recht sehe, herrscht da drinnen große Überraschung“, kommentierte sie die Szene.

Kurz schaltete die Regie in den Sitzungssaal, und die Kamera fing die Reaktionen der Leute ein. Alle sprachen in Zeichen der Ratlosigkeit: Kopfschütteln, leere Blicke, Schulterzucken. Dann kehrte die Reporterin auf den Bildschirm zurück.

„Da muss ich passen“, sagte der Rechtsexperte verlegen. „Mir ist nicht bekannt, ob es jemals eine so kurzfristige Verschiebung gegeben hat. Ich habe nur vorhin gehört, dass sich wohl eine Richterin verspätet hat. Aber eigentlich muss nicht der vollständige Senat anwesend sein, um das Urteil bekanntzumachen.“

Es tat sich nichts. Die Reporterin trat einem Bundestagsabgeordneten in den Weg und fragte, ob die Verzögerung etwas zu bedeuten habe. Aber auch aus dem Abgeordnetenmund kam keine Deutung.

Während die Kamera noch dem Parlamentarier nachblickte, der zwischen anderen Besuchern abtauchte, wurde die Übertragung aus Karlsruhe unterbrochen. Eine Nachrichtensprecherin schaute unsicher vom Bildschirm und kündigte, nervös ihre Blätter ordnend, eine Eilmeldung an. Kaum hatte die Regie zurück ins Gericht geschaltet, da erschien sie erneut im Bild und bat um Geduld. Aber die war in der Berliner Parteizentrale längst aufgebraucht. Kaltwasser hatte sich erhoben und nervös seinen Janker zugeknöpft, als wollte er etwas sagen; dann hatte er sich aber, etwas ärgerlich murmelnd, wieder gesetzt. Aus dem TV kamen Minuten lang nur Hintergrundgeräusche. Unterdessen blickte die Kamera durch die Glaswände in den Sitzungssaal. Dort war wie bei einer Futtergabe im Aquarium das Leben in Erregung geraten. Indessen wurde die Übertragung fortgesetzt. Die Saaldienerin im blauen Hosenanzug und weißer Bluse mit breiten Krägen öffnete die Tür, und man sah den Verfassungshüter Rabenhorst in seiner roten Robe durch die Tür hinter den Richtertisch treten. Er begrüßte die Anwesenden kurz und kündigte stehend eine Erklärung an.

„Meine Damen und Herren“, las er mit belegter Stimme, „das Bundesverfassungsgericht sieht sich heute in einer nie dagewesenen ernsten Lage. Eine unserer Richterinnen im zweiten Senat, Frau Doktor Ulrike Kleist, ist offensichtlich gewaltsam entführt worden. Dem Gericht ist vor einer halben Stunde ein Schreiben zugegangen. Man droht darin mit einer die Gesundheit und das Leben der Richterin gefährdenden Reaktion, wenn das Gericht ein Verbotsurteil gegen die FBD verkünden würde…“

„Ne supergute Idee“, rief Propagandaleiter Sebastian von Neurath hinter einem Kartonstapel. „Hätten wir auch drauf kommen können. Am besten gleich alle acht Richterhalunken. Prost Verfassung!“

„Sei still!“ rief Kaltwasser. „Ich will das hören!“

Der Vorsitzende Richter Rabenhorst im TV fuhr fort:

„Zu der Tat bekannten sich in dem uns vorliegenden Erpresserschreiben ‚Reichstreue‘ und Anhänger der Partei ‚Freie Bürger Deutschlands‘!“

„Sagt mal, Leute, wer hat das denn ausgeheckt? Ist ja genial!“ rief Kaltwasser. Als er sich umdrehte, schaute er in lauter überraschte Gesichter. Und nach kurzem Bedenken: „Oder ist das eine Falle des Verfassungsschutzes? Jetzt lasst uns das erstmal weiter anschauen!“

„Wir haben uns vergeblich bemüht,“ hörte man wieder Rabenhorst aus dem Gericht, „mit Frau Doktor Kleist, die sich heute zur Urteilsverkündung angesagt hatte, Verbindung aufzunehmen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie tatsächlich gewaltsam daran gehindert worden ist. Die Drohung der möglichen Entführer ist daher nach Einschätzung des Gerichts und der Bundesanwaltschaft, mit der ich soeben gesprochen habe, ernst zu nehmen. Wie Sie wissen, geschieht es heute nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dass der Staat und seine Organe in erpresserischer Absicht daran gehindert werden sollen, nach Recht und Gesetz zu handeln. Als Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland verurteilen wir jeden gegen unsere Rechtsordnung gerichteten Versuch der Geiselnahme und des erpresserischen Menschenraubs auf das Entschiedenste! Nach Rücksprache mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Hinrich Sonnenmoser, hat der zweite Senat soeben beschlossen, die Urteilsverkündung zu verschieben. Ich bitte Sie um Verständnis, dass wir es zunächst bei dieser Erklärung belassen.“

Im Karlsruher Sitzungssaal wie in der Berliner Parteizentrale wurde es lebhaft. Aber während die Reporterin in Karlsruhe erneut um Fassung rang und das Mikrofon hilfesuchend ihrem Rechtsexperten entgegenhielt, breitete sich im Berliner Führungskreis der Partei Freude aus.

„Hoppla! Denen muss man nur die Pistole an die Birne drücken!“ meinte der sächsische Gauleiter Hartmut Presskopf. „Da müssen wir einen drauf trinken!“

„Wer hat was davon gewusst?“ fragte der Vorsitzende Kaltwasser ernst. Die Erwähnung der "Reichstreuen deutscher Erde" konnte ihm nicht gefallen. In der Partei traten immer mehr Reichstreue auf, die gezielte Terroraktionen forderten. Man hatte sich zwar davon distanziert, aber immer mehr Stimmen verlangten eine Zusammenarbeit mit den Extremisten. Das ging noch im Augenblick zu weit, aber auf keinen Fall durfte man solche Leute verprellen. Diese Taktik hatte auch im Verbotsverfahren eine Rolle gespielt.

„Das müssen Reichstreue-Genossen in Baden sein“, meinte der Gauleiter von Hessen, Julius Keczsup. „Die haben das wahrscheinlich auf eigene Faust gemacht. Anders geht das ja auch nicht!“

„Ich ruf den Holzapfel an und frag ihn, was da los ist!“ kündigte Schatzmeister Damian Grützmacher an.

„Du wirst abgehört, Damian,“ warnte von Neurath. „Ich versuch‘s lieber über meine Signal-App.“

Auf dem TV-Bildschirm wurde die Live-Übertragung aus Karlsruhe fortgesetzt. Die Beteiligten dort hatten ihre Sprache wiedergefunden. Alle Zungen vereinigten sich im Entsetzen und in der Empörung über die Entführung und Erpressung. Die Staatsekretärin im Innenministerium, Gräfin von Langenfeld, betonte in einem kurzen Statement, die Regierung sei fest entschlossen, den Rechtsstaat und seine Einrichtungen gegen alle Feinde von rechts wie links zu verteidigen. Auch der Vertreter der FBD, der als Verfahrensbeteiligter sprach, distanzierte sich mit dünner Stimme von der Aktion. Einer der Anwälte der Bundesregierung, ein Bonner Staatsrechtler, übte allerdings Kritik daran, dass das Gericht der Erpressung nachgegeben habe. Nie und nimmermehr dürfe der Staat Schwäche zeigen! Die FBD habe sich endgültig ihr wahres kriminelles Gesicht gezeigt, und es sei höchste Zeit, dem Neonazi-Spuk in Deutschland ein Ende zu bereiten.

Während die starken Worte vom Bildschirm polterten, stand Kaltwasser in der Parteizentrale erneut auf, straffte sich und rückte seinen Janker zurecht. Er schaute auf seine jüngeren Parteileute, die nicht wussten, welche bitteren Enttäuschungen ihm sein politisches Leben bereits beschert hatte. Er spürte sein politisches Ablaufdatum heranrücken. Aber jetzt erfüllte ihn neue Zuversicht, wie er sie lange nicht mehr gespürt hatte. Seine Stellvertreterin dagegen schnitt eine angewiderte Grimasse und meinte mit spitzen Lippen:

„Ich mag keine toten Verfassungsrichterinnen!“

4. Viktoria erzählt von Osei Tutu und wird angerufen

Viktoria Kleist war erleichtert, dass im ICE nach Dresden ihr Nebensitz frei war. Sie hatte sonst immer zwei Plätze für sich reserviert, weil sie wegen ihrer Körperfülle häufig unangenehme Bemerkungen oder gar Beleidigungen erdulden musste, wenn die Sitzplätze knapp waren. Oder die Blicke! Oft hatte sie sich eine magische Hand gewünscht, um glotzende Augenpaare abzuschalten. Ihre Therapeutin hatte sie jedoch so weit gebracht, dass sie die Körperscham allmählich ablegte und sich nicht mehr versteckte. Der Nebenplatz würde für ihre zarte Freundin Loretta ausreichen, die zumeist in Fulda zu ihr stieß.

Als sich der Zug aus den Schatten des Frankfurter Bahnhofs löste, ließ sich Viktoria von den vorbeilaufenden Bildern der Stadt und vom Takt der Bahn mitnehmen. Zu allen Rhythmen fielen ihr wie von selbst musikalische Themen oder Melodien ein. Das hatte sie bereits als Kind mit ihrer Mutter geübt. Während sie leise summte, verwischten sich mit der Beschleunigung des Zuges die Gesichter der Leute draußen, und hinter den Farbschlieren der bewegten Wagenreihen verblich im Hintergrund die Bankenskyline! Die Kapitalistenprotzklötze! Allmählich legte sich ihre Unruhe, die sie vor jeder Zugreise quälte: Ist mein Platz auch nicht belegt? Wohin das Gepäck? Ist mein Mobiltelefon mit dem Ticket aufgeladen? Jetzt könnte sie entspannt ihre musikalischen Einfälle vor sich hin summen. Aber nein! Sie hatte doch Geburtstag! Viktoria öffnete im Happy-Birthday-Takt den Reißverschluss ihrer Reisetasche neben sich und holte das liebevoll verpackte Geschenk ihrer Mutter hervor. Als sie die goldfarbene Schleife und das glänzende Papier abgestreift hatte, kam der blaue Band mit Chopins Klavieretüden zum Vorschein. Herrlich! Sie strich vorsichtig über den glatten Einband, der auf ihren Knien lag, und blätterte dann einige Seiten durch. Das waren seit Langem ihre Lieblingsstücke!

Wer hatte gratuliert? Sie griff nach ihrem Mobiltelefon und scrollte die Whats-App-Glückwünsche durch. Fast 20 Nachrichten! Sogar ihr Vater, der Telefonmuffel, hatte sich gemeldet: „Liebstes Vickikind, Papa grüßt Dich aus Brüssel und umarmt Dich an Deinem Geburtstag. Ich rufe dich später an!“ Und dann dieser seltsame Typ aus Santa Barbara, der von Geldklängen und Identitätsstörungen heimgesuchte Kleistforscher Benny Brezlower, der vor ein paar Wochen ihre Mutter besucht und nach Kleists Vermögen ausgefragt hatte. Bennys Text: „My best wishes on your birthday. The LORD, blessed be his name, loves you, because HE makes you play golden music from golden coins“. Oha! Sicher war Benny ein hochmusikalischer, aber seinen eigenen Worten nach auch etwas "meschuggener" Jude, weil er sich manchmal für eine Reinkarnation von Kleist gehalten hat. Wer noch? Onkel Ewald von Kleist, der eben in Guatemala oder El Salvador recherchierte. Natürlich die Freunde und Genossen von der Sächsischen Antifa. Alle setzten Heerscharen von Victory-Zeichen hinter die Glückwünsche. Einige von ihnen würde sie heute Abend sehen. Und nein, sowas! Ganz reizende Worte von ihrem uralten Latein- und Klavierlehrer, Professor Sternbald Schade! Der liebe Mann schickte eine alte MP3-Datei mit ihrem Mozart-Vorspiel auf dem Konservatorium vor 15 Jahren, wo er sie hingeleitet hatte. Nein, bitte nein, das würde sie sich niemals wieder anhören! Überdies bedankte er sich zum 1000sten Mal! Als der gute alte Schade vor zehn Jahren mit mehr als 70 Jahren den Klavier-Unterricht beendete, hatte sie aus der Tonfolge es, c, h, a, d, e seines Namens ein kleines Thema mit Variationen komponiert und ihm zum Abschied geschenkt, und da hatte der alte Mann geweint!

Männertränen sieht man nicht oft, es sei denn, einem Kerl wird sein Auto weggenommen. Aber diese Tränen von Osei! Bei jedem Gedanken an sein Weinen damals schoss ihr ein neuer Schmerz durch die Brust. Auf Oseis schwarzer Haut glänzen damals die Tränen wie Kristalle. Was hatte der arme, so freundliche Mann alles durchgemacht! Wenn sie auf ihrem WhatsApp Account zurückscrollte, fand sie die vier Zeilen, die er ihr vor genau einem Jahr zum 8. Mai geschrieben hatte: „Sweet Viktoria, I would like tobe one of these small black keys on the piano and taste the touch of your soft fingers”.

Als der ICE wenig später in Fulda hielt und ihre Freundin Loretta zustieg, liefen ihr noch die Tränen.

„Happy birthday, Vicky“, sagte Loretta leise und versorgte ihre Tasche im Gepäckfach über ihr, „was ist denn passiert?“

„Weißt du, wegen Osei, ich musste gerade wieder an Osei denken…“, murmelte Viktoria.

Vorsichtig setzte sich Loretta auf den Nebensitz, schaute Viktoria aus ihren schönen braunen Augen an und griff nach ihrer Hand.

„Immer noch die schreckliche Geschichte! Du Ärmste! Will der Kummer denn nie aufhören?“

Sie zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und tupfte behutsam das Feuchte von Viktorias Wange. Nach einigen Augenblicken sang sie leise ihrer Freundin ins Ohr:

„Nun hast du mir den ersten Schmerz getan,

Der aber traf!

Du schläfst, du harter, unbarmherz’ger Mann,

Den Todesschlaf.“

Das Lied aus Robert Schumanns Frauenliebe, Frauenleben hatten Viktoria und Loretta in den letzten Wochen geprobt. Loretta studierte in Dresden Gesang, und sie hatte in der Freundin die lang gesuchte Piano-Begleiterin gefunden. Viktoria dankte mit einem schwachen Nicken. Sie hatte Loretta erst nach Oseis Tod im Februar in ihre bitterbittersüße Liebesgeschichte eingeweiht. Und das auch erst, nachdem die Freundin die äußeren Veränderungen an ihr wahrgenommen hatte. Viktoria hatte nicht nur deutlich zugenommen, sondern auch die Pflege vernachlässigt. Ihre schönen langen braunen Haare ließ sie beim Klavierspiel nicht mehr mitschwingen, sondern würgte sie mit einem roten Gummi, das aussah, als sei es einem Einmachglas entwendet worden.

„Erzähl‘ mir doch ein bisschen von deinem ‚unbarmherz'gen‘ Osei“, bat Loretta. „Ich weiß so wenig von ihm! Wie habt ihr euch überhaupt kennengelernt?“

Es war die richtige Frage, denn aus Viktorias Traurigkeit wagte sich ein dünnes Lächeln hervor.

„Damals war er eher barmherzig“, fasste sie sich. „Das erste Mal sahen wir uns in der S-Bahn. Die Bahn war voll, ich saß am Gang, mir gegenüber ein junger dunkelhäutiger Mann, also Osei, und neben ihm noch eine Frau. Es war eng in unserer Sitzreihe. Als ich auf mein Handy schauen wollte, rutschte es mir aus der Hand und fiel runter. Osei hatte vorher schon ein paar Mal versucht, Blickkontakt aufzunehmen, und weil mir das unangenehm war, hatte ich mein Handy aus der Tasche geholt, um irgendwas zu lesen. Jetzt lag das Ding am Boden, und ich konnte mich in der Enge unmöglich bücken. Erst habe ich die Frau am Fenster und dann Osei hilfesuchend angeschaut, jedenfalls hat er sich gleich auf den Boden gekniet und das Handy hinter meinen Füßen gefunden. Ich bedankte mich, aber er wollte es mir nicht gleich zurückgeben, sondern fragte ein wenig schüchtern: ‚Darf ich Deine Nummer wissen?‘ Und ich gab zurück: ‚Nein, warum?‘ Und er sagte leise, mit einem Schimmer von Lächeln in den Augen: ‚Vielleicht Finderlohn, oder so.‘ Und ich sagte: ‚Ja, soll ich was bezahlen? Aber das Handy ist nicht viel wert.‘ ‚Nein, nein, kein Geld! Finderlohn. Bitte mal mit Osei telefonieren.‘ ‚Okay‘, sagte ich, ‚dann geben Sie mir Ihre Nummer, und ich rufe irgendwann mal an.‘ Und er gab mir mein Handy zurück, zeigte mir auf seinem Display die Nummer, um sie zu scannen. Als er kurz darauf in Reinickendorf aufstand, um auszusteigen, griff er in die Tasche und drückte mir eine kleine Holzfigur in die Hand, ein fein geschnitztes Kunstwerk aus Afrika, das eine junge Frau darstellte, und sagte wieder ganz unaufdringlich: ‚Geschenk von Osei. Bitte nicht vergessen!‘“

„Und du hast ihn dann wirklich angerufen…“, vermutete Loretta.

„Ja, gleich am nächsten Morgen. Ich war neugierig, was diese Figur bedeutete, und er erklärte, dass das eine Lobi-Figur sei. Die kleine Göttin würde alle Geister vertreiben, die die Erinnerung stören wollen.“

„Du solltest so an ihn denken! Der Zauber hat wohl gewirkt! Und hat auch noch nicht aufgehört“, meinte Loretta. „Und weiter?“

„Dann haben wir uns getroffen, sind ein wenig im Park spazieren gegangen“, erinnerte sich Viktoria, „und Osei hat mir erzählt, dass er aus Krindjabo von der Elfenbeinküste stammte und dort Mathematik- und Deutschlehrer war. Vor anderthalb Jahren ließ er sich beurlauben und übernahm diese mysteriöse Mission. Im Auftrag seines Königs oder Häuptlings flog er in die USA. Dort sollte er nach dem Erbe von Michael Jackson suchen, der 1992 in Krindjabo zum König gekrönt worden war. Michael Jackson hatte dem Volk von Anjyi schriftlich einen Teil seines Vermögens versprochen.“

„Wie, Michael Jackson war König der Elfenbeinküste?“

„Nein, nicht direkt, er war König von Oseis Volk, das dort lebt, von den Anjyi!“

„Das wusste ich nicht“, staunte Loretta. "King Michael!"

„Es gibt Fotos von der Zeremonie. Michael Jackson trägt eine Krone aus schwarzem Stoff mit goldenen Applikationen und einer kleinen goldenen Maske drauf. Außerdem hatte man ihm einen Mantel umgelegt, den die Anjyi wohl seit Jahrhunderten für eine solche Zeremonie aufbewahren. Seine Vorfahren kommen wohl auch von der Elfenbeinküste. Und aus Dank und Anhänglichkeit hat er dann dieses Legat verfasst.“

„Und habt ihr euch geküsst?“ Loretta interessierte sich weder für Völkerkunde noch für Erbgeschichten.

„Er hat mir gesagt, dass er sich in der S-Bahn gleich in mich verliebt habe“, sagte Viktoria verlegen. „Ich wusste zunächst nicht, was ich davon halten sollte. Aber dann hat er mir eine hübsche Geschichte erzählt, warum er sich in eine so dicke Frau wie mich verliebt hat.“

„Na, das macht mich wirklich neugierig!“

„Es war nämlich so, dass die Anjyi vor langer Zeit von einem König regiert wurden, der eine junge Schwester hatte, und die hieß Obiri. Die Königsschwester Obiri war unverheiratet, denn sie war so übermäßig dick, dass kein Mann ihr ein Kind machen wollte. In ihrem Unglück wandte sich Obiri hilfesuchend an den Gott Otutu, der im Nachbarkönigreich zu Hause war. Otutu wollte gerne helfen, er gab ihr ein Zauberkraut, und tatsächlich wurde Obiri mit einem Jungen schwanger. Als der kleine Sohn auf die Welt kam, nannte sie ihn Osei Tutu, also genau wie mein Osei. Später wurde Obiris Sohn Osei als Nachfolger seines Onkels zum König erhoben. Doch die pummelige Königsmutter Obiri hatte inzwischen ein so großes Ansehen gewonnen, dass die Leute vor allem auf ihr Wort hörten. Daher herrschte eigentlich Obiri als Königin und nicht Osei. Dazu erzählte mein Osei, dass ganz früher bei den Anjyi überhaupt nur Frauen ins Königsamt kamen. Später erst habe man Männer zu Häuptlingen gemacht, und weißt du warum? Es ist lustig. Die Königinnen hatten meistens keinen Bock, in den Krieg zu ziehen. Und immer dann, wenn ein Feldzug gegen irgendwelche Feinde angesagt war, wären die Königinnen mit der Ausrede gekommen, sie hätten gerade ihre Tage.“

Viktoria lachte, und Loretta stimmte ein.

„Wenn das so ist, dann hat Osei in dir auch eine Mutter gesehen?“ fragte Loretta.

„Nein, das nicht. Er meinte vielmehr, ich sei seine Königin, und er nannte mich manchmal auch französisch-deutsch 'Reine Obiri'!“

„Und ich wette, du trägst die kleine Holzfigur immer noch bei dir?“

„Ja, ich habe sie immer bei mir! Schau doch mal!“

Viktoria holte die kleine Figur aus der Tasche und legte sie Loretta in die Hand. Es war eine aufrecht stehende weibliche Gestalt aus dunkelbraunem Holz. Ihren Kopf schmückte eine kunstvolle Frisur mit kleinen Zöpfchen. Unter der feinen langen Nase öffnete sich einen Spalt breit der große Mund. Sie hatte Ziernarben auf der Stirn und unter den spitzen Brüsten. Die Hände mit langen Fingern lagen auf ihrem Bauch unter einem großen runden Nabel.

„Oh, wie schön!“ Loretta drehte die kleine Skulptur in alle Richtungen. „Dann wirst du Osei auch niemals vergessen können.“

„Nein, niemals!“ bekräftigte Viktoria.

In diesem Augenblick ertönte die Melodie ihres Mobiltelefons auf dem Klapptisch. Es war die Klage von Hektors Witwe „Ayez pitié de mes cruelles peines“ aus Grétrys Oper Andromaque. Viktoria blickte aufs Display, wo eine unbekannte Zahlenfolge flimmerte, und sie nahm das Gespräch mit fragender Miene an. Loretta neben ihr hörte eine rasend schnelle, regelrecht hackende Männerstimme. Viktoria antwortete nur kurz und leise, dass sie seit heute Vormittag nicht mehr mit ihrer Mutter gesprochen habe. Kurz darauf verstummte das Stimmgeräusch, Viktoria stellte das Telefon ab, ihre Hände zitterten, und sie sagte tonlos:

„Das war jemand vom Generalbundesanwalt in Karlsruhe. Meine Mutter ist heute Morgen entführt und vielleicht umgebracht worden.“

5. Kidnapper verstoßen gegen das Genfer Abkommen von 1977

Ulrike Kleist lag in einen Narkoseschlaf versenkt. Irgendwann erwachte sie aus unruhigen Träumen. Ihr Kopf dröhnte und weigerte sich lange Zeit, Traum und Wirklichkeit zu entwirren. Was war geschehen? Wo war sie? Die Helligkeit brannte, als sie die Augen öffnen wollte. Erst beim dritten oder vierten Versuch ließ der Lichtschmerz nach, und die Schemen der Umgebung klärten sich zu Bildern. Sie lag auf einer weiß bezogenen Liege. Arme und Beine unter einer Wolldecke leisteten noch Widerstand, als sie versuchte sich zu bewegen. Das war im Traum eben ganz anders gewesen. Hier fand sie sich in einem weißgetünchten kahlen Raum, der seine Helligkeit aus den großen schrägen Oberlichtern im Dach bezog. Eine Klinik? Ein Gefängnis? Auf dem grauen Steinboden standen dem Bett gegenüber ein Tisch und zwei Stühle. Als sie den Kopf vorsichtig zur Seite drehte, sah sie auf einer Ablage neben sich eine Flasche Mineralwasser.

Ihr Herz schlug unruhig und ihr war übel. Ein abscheulicher Geruch hing ihr in der Nase; Mund und Hals waren trocken, aber es fehlte ihr die Kraft, nach der Flasche zu greifen. Hatte sie sich verletzt? An der Stirn ertastete sie eine schmerzende Stelle. Von einem Sturz, oder war sie gegen eine Wand gelaufen? Mühsam stocherte sie im Nebel der Erinnerung. Was war passiert? Ein in Amnesie versackter Unfall? Mit dem Auto? Oder war ihr Flugzeug abgestürzt? Nein, ihre Füße waren zusammengebunden. Wieso denn? Nach und nach stellten sich ein paar Erinnerungsbilder schärfer. Sie hatte in der Regionalbahn gesessen mit zwei weiteren Reisenden, und durch die letzten Momente flackerte ein Blaulicht. Ein Notarzt? Oder gehörte das zum Traum, wo sie auf einer Bank saß und von zwei Männern durch einen grünen Dschungel getragen wurde? Statt des Grüns jetzt dieses Weiß und Grau. Vielleicht immer noch Traum? Hallo, hallo, Ulrike, bist du wach? Frau Doktor Kleist, was ist mit Ihnen? Haben Sie noch alle Tassen im Schrank? Oh, vielen Dank der Nachfrage, ich fühle mich hundeelend! Langsam setzte das Denken wieder ein. Wieso war sie gefesselt? Und warum war hier niemand? Ihre Tasche? Ihr Mobiltelefon? Wo war das alles? Verloren?

„Hallo! Ist da jemand?“ Die Stimme, die das rief, war ihr unbekannt. War sie das selbst? „Hallo!“ Es klang befremdlich. Ihre Lippen, die Zunge, Mund und Hals rieben, als hätte sie Eisenspäne geschluckt.

Sie lauschte. Nichts zu hören, nur von draußen ein paar Vogelstimmen, wie ein fernes Glockenspiel. Und durch die Oberlichter kam etwas Blau. Das könnte der Himmel sein! Dann war sie wohl nicht auf dem Mond. Dort ist der Himmel doch schwarz. Ach je, sie musste zur Urteilsverkündung ins Gericht! Sie war auf der Fahrt nach Karlsruhe gewesen! Wie viel Uhr mag es sein? Um 10 Uhr soll es losgehen!

„Hören Sie mich? Sind Sie wach?“

Das war eine Männerstimme hinter ihr. Sie wollte sich umdrehen, aber Kopf und Oberkörper machten nicht mit.