Schwebe - Mahsa Salari - E-Book

Schwebe E-Book

Mahsa Salari

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Beschreibung

"Schwebe" ist ein literarischer Band über das, was nicht laut ausgesprochen wird - über das Vage, das Ungesagte, das, was zwischen den Zeilen, zwischen Menschen, zwischen Orten schwebt. Die Autorin Mahsa Salari schreibt über Frauen, die leben, lieben, fliehen, schweigen, fordern, gehen oder bleiben - nicht als Heldinnen, sondern als Menschen mit Widersprüchen, Schmerzen, Sehnsüchten. Die Geschichten sind nicht linear, nicht klassisch aufgebaut - sie spiegeln ein Lebensgefühl, das oft kein Zentrum hat. Frauen sitzen auf Küchenböden, klammern sich an Routinen, verstecken sich in Unterhemden und Gerüchen, kämpfen mit der Sprache, mit Männern, mit ihrer Vergangenheit. Beziehungen scheitern, ohne großes Drama. Intimität wird still ertragen. Der Alltag ist voller Spannung, auch wenn äußerlich nichts passiert. Der Ton wechselt: mal leise und zärtlich, mal hart und trocken, dann wieder poetisch oder wütend. Es geht um sprachliche Entwurzelung, um das Gefühl, unsichtbar zu sein, um das Missverhältnis von Nähe und Macht - in Paarbeziehungen, in Migrationsräumen, in Mutter-Tochter-Dynamiken. Es geht nicht um Flucht - sondern darum, was es heißt, sich zu verlieren und sich neu zu finden. "Schwebe" ist Gegenwartsliteratur im besten Sinne: persönlich, politisch, aber ohne Parolen. Sie zeigt, wie Körper, Sprache, Herkunft und Alltag ineinander greifen. Es richtet sich an Leser:innen, die keine einfachen Antworten suchen, sondern bereit sind, sich auf komplexe Gefühle einzulassen. Ein Buch über das Leben im Dazwischen - manchmal schmerzhaft, manchmal schön. Und immer wahr.

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Seitenzahl: 170

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Schwebe

Mahsa Salari

© 2025 Mahsa Salari

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Wiedergabe – auch auszugsweise – ist ohne schriftliche Zustimmung der Autorin unzulässig.

Autorin: Mahsa Salari

Illustration des Covers: Niousha Mashayekh

Gestaltung & Layout: Parisa Salari

Self-Publishing-Ausgabe

Gedruckt in Deutschland

Kontakt: www.mahsasalari.com 

Prolog

Leitpatrouille

Schwebe

Jon Snow hat Zwei Silben

Gorbatschow

Kleine Punkte

Weg von den Backsteinmauern

Blutblau

Bubik

Prolog

Im untersten Fach meines Bücherregals steht ein grüner Ordner. Er ist schwer und voller ungeordneter DIN-A4-Papiere – die meisten dicht beschrieben, mit rotem Stift umkreist, unterstrichen, kommentiert. Ich habe ihn aus dem Iran mitgebracht, bei meiner ersten und letzten Reise dorthin, nachdem ich nach Deutschland eingewandert war.

Er ist das Ergebnis meines rastlosen Besuchs einer Schreibrunde, jedes Wochenende, über drei Jahre hinweg. Ich wusste, dass es mir nie gelingen würde, meine Geschichten im Iran zu veröffentlichen – zumindest nicht in der Form, in der sie ursprünglich geschrieben waren. Ich wusste, dass sie von der Regierung nicht genehmigt, ja zensiert werden würden.

Das war einer der Gründe, warum ich ausgewandert bin: um frei zu sein. Um nie wieder zensiert zu werden. Um kein doppeltes Leben führen zu müssen – ein privates und ein öffentliches. Genau dieses doppelte Leben führen die Frauen, über die ich geschrieben habe.

Es hat mich zwei Jahre gekostet, alles, was ich auf Farsi ge-schrieben hatte, wieder auf Deutsch zu schreiben. Ich wollte es nicht übersetzen lassen – es sind meine Geschichten, meine Stimme. Als Migrantin verliert man vieles, um Neues zu gewinnen – auch die eigene Stimme. Man lebt und spricht in einer Sprache, die man nicht kennt, die man nicht gelebt hat. In der neuen Sprache hat man zunächst keine Stimme. Sie ist nicht dieselbe wie die, die man in Sprachkursen lernt. Sie lässt sich nicht lernen – sie muss sich entwickeln.

Es hat drei Jahre gedauert, bis ich meiner Stimme auf Deutsch vertrauen konnte. Bis ich meine Geschichten in dieser Sprache schreiben konnte – auch wenn sie noch nicht ganz makellos ist.

Nun bleibt mir nur noch ein Schritt: die Veröffentlichung.

Wird diese Stimme auch gehört? 

Leitpatrouille

[Abend, Teheran, Vanak Platz, Sommer 2011]

Es ist 20:30 Uhr. Ich bin erschöpft. Ich habe von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends gearbeitet. Wegen des wahnsinnigen Verkehrs in Teheran bin ich um 7 Uhr früh losgefahren und werde erst in anderthalb Stunden zu Hause sein. Wenn ich über-haupt einen Sitzplatz in den öffentlichen Verkehrsmitteln finde. Am Terminal sehe ich schon von weitem den Polizeiwagen. Es ist Sommer, in Teheran sind es 40 Grad. Dennoch trage ich lange Jeans, einen langen Mantel, der meine Hüften bedeckt, und ein Kopftuch, das meine Haare verdeckt. Die Kleidung entspricht der iranischen Kleiderordnung in meinem Kopf. Kurz darauf höre ich eine Frauenstimme hinter mir:

„Meine liebe Dame!“

Oh, ich kenne diese Stimme. Ich kenne diese Worte. Niemand würde auf der Straße so gespielt respektvolle Worte verwenden. Ich tue so, als hätte ich es nicht gehört. Sie kommt hinter mir her und ruft lauter:

„Liebe Dame, meine liebe Dame!“

„Ich bin nicht deine liebe Dame“, flüstere ich und versuche schneller zu gehen, ignoriere die Frau und hoffe, dass sie mich in der Menge verliert. Plötzlich stehen zwei Polizisten und eine Polizistin vor mir. Die Polizistinnen sind in schwarze Schleier gehüllt. Das könnte jeder sein! Man erkennt sie erst, wenn man ihnen gegenübersteht! Sie tragen einen oliv-grünen Wimpel und einen olivgrünen Mantel. So etwa wie Septa Unella – die miese Nonne aus Game of Thrones – im Grün, eingehüllt in den Um-hang von Imperator Palpatin. Die Abzeichen sind nicht auf der Schulter, sondern am Ärmelrand, da-mit der Schleier sie nicht verdeckt.

Ich will keine Theaterszene, also höre ich auf, schnell zu gehen, und versuche, cool zu bleiben. Meine Hände wandern automatisch zu meinem Kopftuch und ziehen es über meine Stirn, so dass alle meine Haare bedeckt sind. Das ist eine verdächtig feige Geste! Die Geste sagt: „Ich bin mir tatsächlich bewusst, dass ich nicht ganz bedeckt bin!“ Es ist ein Zeichen von Schwäche.

Von hinten kommt die erste Polizistin. Ich frage:

„Hallo, was ist los?“

Die Polizistin sagt: „Hallo, kommen Sie mit zum Auto!“

Das ist keine Bitte, das ist ein Befehl. Ich kann es nicht glauben, versuche aber ruhig zu bleiben.

„Aber warum?“ frage ich.

„Ihr Mantel ist zu kurz, man sieht Ihre Arme und er ist sehr pink!“

Mein Mantel ist nicht pink! Er hat eine leichte Terrakottafarbe, und es ist verdammt noch mal Sommer! Ich schwitze vor Hitze und Stress. Ich bin ein-fach zu müde, um zu diskutieren, und wozu soll das gut sein? Die sind zu viert, wahrscheinlich mit Verstärkung, und ich bin nur eine! Ich gehe zum Auto. Da sind Stimmen in meinem Kopf:

„Lass dich nicht mitnehmen, wehre dich! Ver-such, sie zu überzeugen!“

Aber ich sage nichts! Es ist sinnlos. Warum soll ich sie überzeugen, dass der Mantel nicht zu kurz oder zu rosa ist, wenn es einfach ein normales Kleidungsstück ist und ich nur eine einfache Frau bin, die nach 12 Stunden Arbeit nach Hause will.

Ich sitze im Auto, es ist ein Mercedes Van mit 12 Sitzplätzen. Um mich herum weinen junge Frau-en, die extrem gestresst sind und die Polizistinnen anflehen, sie gehen zu lassen. Ich weiß nicht ein-mal, wo sie uns hinbringen. Heimlich stecke ich meine Hand in meine Tasche und schreibe meiner Schwester eine SMS: Sag Papa, dass ich von der "Gasht-e-Ershad" festgehalten wurde! Das ist ihr Name, ein Polizeizweig, der wörtlich "Leitpatrouille" bedeutet, oder wie sie jetzt in den westlichen Nachrichten beschönigend genannt werden: Sitten-polizei. Es gibt eine Frau, die damit gut umzugehen scheint. Ich frage sie:

„Bist du schon einmal festgenommen worden?“

Sie antwortet: „Mehr als einmal!“

Ich frage: „Was wird jetzt passieren?“

Sie antwortet: „Sie behalten uns hier, bis der Wagen voll ist. Sie dürfen erst zurückfahren, wenn sie genug Frauen verhaftet haben.“

„Zurück wohin? frage ich.

„Ja Nach Wosara!“

Davon habe ich gehört, aber ich war noch nie dort. Das ist die größte Polizeistation, die immer benutzt wurde, um Leute zu verhaften, die sich nicht an die islamische Lebensweise hielten. Leute, die westliche Kleidung trugen, meistens Frauen, Jugendliche, die an Hauspartys teilnahmen, unverheiratete Paare, die erwischt wurden, usw.

„Du musst deine Eltern bitten, dir bessere Klamotten zu bringen, damit du rausgehen kannst.“

Sagt die coole Frau. Eine sehr junge Frau neben mir, die schon die ganze Zeit weint, weint jetzt noch heftiger. Sie schreit und fleht die Polizistin an, sie gehen zu lassen:

„Bitte, bitte, aber meine Kleidung ist in Ordnung“

Die Polizistin schreit aggressiv:

„Halt den Mund!“

Ich drehe mich zu dem Mädchen um und flüstere ihr zu:

„Warum bettelst du sie an, weine nicht, hör auf, siehst du nicht? sie genießt es, uns weinen zu sehen.“

Sie weint lauter:

„Aber ich habe niemanden, der mich rausholt! Ich studiere hier und muss bis 21 Uhr im Wohn-heim sein, sonst rufen sie meine Eltern an. Meine Eltern wohnen in einer kleinen Stadt, und wenn sie erfahren, dass ich verhaftet wurde, lassen sie mich nicht mehr in Teheran studieren.“

Das Mädchen tut mir leid. Ich verstehe ihre Sorgen. Sie ist über 18 und wird so streng kontrolliert. Was muss sie dafür kämpfen, dass sie sie selbst sein und in der Hauptstadt studieren kann! Mit der Sittenpolizei auf der Straße, mit der Verwaltung im Wohnheim, mit der Familie zu Hause! Ich weiß nicht mal, wie mein Vater darauf reagieren würde. Mein Vater ist nicht religiös, er ist auch gegen die Regierung, aber trotzdem ist eine Verhaftung bei uns ein großes Tabu! Unsere Eltern - auch wenn sie selbst gegen die Regierung sind - haben uns immer gesagt, wir sollen uns benehmen und nichts tun, was "Probleme" macht! Und ich weiß, dass viele Eltern konservativer sind oder sogar mit den islamischen Herrschern übereinstimmen.

„Ruf deine Mitbewohner an und bitte sie, dir etwas Anständiges zu bringen, mach dir keine Sor-gen, das wird schon, sei mutig!“

Ich glaube gar nicht, was ich sage, denn sie ist schon anständig, besser als ich. Niemand weiß, was für ein Problem die Polizei mit unserem Aussehen hat. Damals, also im Jahr 2011, hatten wir tatsächlich versucht, unsere Kleidung anständig genug zu wählen. Wir rebellierten nicht - noch nicht! Wir versuchten nicht zu kämpfen - zumindest nicht offen-sichtlich, denn das Leben unter der Diktatur ist ein täglicher Kampf. Wir hatten nicht vor, allzu viel zu verändern, im Gegenteil, wir haben uns durchgeschlagen und versucht, unser tägliches Leben zu leben.

Die andere Polizistin schiebt eine schwangere Frau ins Auto. Der Bauch der Frau ist sehr groß. Er könnte jeden Moment platzen. Sie schreit:

„Ich bin schwanger, ich war beim Arzt, mein Mann ist bei mir, was wollt ihr von mir!“

Sie trägt ein sehr langes, weites schwarzes Kleid. Man sieht buchstäblich nichts von ihrem Körper, nur einen großen schwarzen Klumpen. Das Problem ist, wie die Polizistin wie selbstverständlich sagt:

„Dein Kopftuch ist zu kurz, jeder kann deine Brüste sehen!“

Ich schaue die schwangere Frau an, das Kopftuch ist kurz, aber die Brust zu sehen ist zu viel, man kann vielleicht den Hals sehen und den Kontrast der Hautfarbe mit dem schwarzen Kleid.

„Es ist wirklich heiß, und ich bin schwanger, und ich kann nicht atmen oder gehen, und du redest, als wäre ich nackt!“

Sagt die schwangere Frau. Ein Mann schreit die Polizisten draußen am Auto an.

„Was auch immer mit meinem Baby passiert, Sie sind verantwortlich! Lassen Sie sie sofort gehen!“

Und es funktioniert, der Polizist, der offenbar der Vorgesetzte ist, sagt der Polizistin, sie gehen zu las-sen. Die Polizistin ist sichtlich beleidigt:

„Steig aus dem Auto und bedecke dich das nächste Mal! Nur wegen deinem Baby! Eine Schan-de, dass Leute wie du Mutter werden!“

Wow! dachte ich, der Ehemann sorgt sich um das Baby, der Polizist sorgt sich um den Besitzer des Babys - in islamischen Ländern nämlich der Vater - und die schuldige Mutter sollte dankbar sein für diese dumme Situation, weil sie ein Baby hat, was sie nicht verdient?

„Deshalb bist du so eine Schlampe!

Brüllt die Schwangere der Polizistin wie eine Löwin ins Gesicht:

„Weil dich nie jemand ficken würde? Leidest du deshalb?“

Schreit und schimpft sie! Der Ehemann zerrt sie aus dem Wagen und der Polizist fordert die Polizistin auf, zu schweigen.

Im Auto sitzen wir Frauen auf den Sitzen und hassen die Einzige, die steht und uns hasserfüllt an-sieht. Hassen wir sie, denke ich, ja, das tun wir, wir sind uns in diesem Moment mit der Schwangeren einig. Es gibt tatsächlich keinen Raum für Solidarität oder für einen klaren Gedanken: - Die Polizistin ist doch selbst ein Opfer - In diesem Moment ist sie nur der Arm einer großen Macht, die uns hasst, also hassen wir sie auch. Die Situation gerät außer Kon-trolle. Der Wagen ist fast voll, also beschließen sie, uns zur Polizeiwache zu bringen.

Ich schreibe meiner Schwester, sie soll meinem Vater einen meiner langen Mäntel geben und ihm sagen, er soll mich in Wosara freikaufen. Der Abendverkehr in Teheran ist verrückt, er wird lange brauchen, um mich abzuholen. Er hat selbst gearbeitet und ist sicher müde. Ich schäme mich, ihn zu überfordern, obwohl es nicht meine Schuld ist. In 30 Minuten erreichen wir die Wache. Der Wagen fährt durch große, massive Metalltore auf einen großen Parkplatz, der von hohen Mauern umgeben ist. Ich war noch nie in einer Polizeistation. So sieht es also aus, denke ich mir.

Wir sollen aussteigen und auf die große Terrasse des großen Gebäudes gehen. Dort kommen uns andere Polizeibeamtinnen mit einem Formular ent-gegen. Ich bekomme ein Formular und setze mich auf einen Stuhl. Überall Frauen. Mehr als 10 Autos auf dem Parkplatz und mehr als 100 Frauen, viel-leicht 30 Polizistinnen mit schwarzen Schleiern und etwa 5 Polizisten und eine Gruppe Soldaten. Die sind ganz harmlos, die sind nur da, weil sie Wehr-pflicht abzuleisten haben, also im Prinzip einer von uns, normale Menschen. Die coole Frau, die mit mir im Auto saß, sagt mir:

„Du musst das Formular nicht mit echten In-formationen ausfüllen. Hier gibt es keine Daten-bank, sie werden nach deinem Ausweis fragen, sag einfach, dass du ihn nicht dabeihast! Am besten zeigst du auch dein Handy nicht.“

Ich verstehe nicht ganz. Noch einmal. Es ist 2011, nicht viele von uns haben Handys mit guten Kameras, wir sind auch nicht mutig genug, um Fotos zu machen. Sie sind überall, und niemand will in so einem Moment sein Handy verlieren. Bald bemerke ich, dass sich hinter der Terrasse ein großer Raum befindet, in den wir als Nächstes gehen sollen, um verhört zu werden. Und auf der anderen Seite ist ein Gang, aus dem ich Schreie höre, die mir Angst machen!

„Der führt zu den Arrestzellen“ sagt die coole Frau.

„Aber keine Sorge, sie werden uns nicht festhalten, schau, wie viele wir sind, und sie bringen ständig neue.“

Was sie sagt, ergibt Sinn. Trotzdem habe ich Angst. Es ist das erste Mal, dass ich festgenommen und verhört werde! Aber warum?

Eine Polizistin kommt zu mir.

„Hast du das Formular ausgefüllt?“

„Einen Moment, bitte!“

Antworte ich. Ich erinnere mich, dass ich falsche Angaben gemacht habe, aber wie sollte mein Vater mich finden? Also schreibe ich meinen Namen richtig und erfinde alles andere. Die Polizistin führt mich in die große Halle zu einem Schreibtisch.

„Dein Ausweis!“

„Ich habe keinen.“

„Tja, das ist schlecht, dann müssen wir dich hierbehalten.“

Ich fürchte mich, aber ich erinnere mich, was die coole Frau gesagt hat. Ich versuche, dumm zu wirken.

„Es tut mir leid, ich wusste nicht, dass das passieren kann, ich war bei der Arbeit und mein Aus-weis ist zu Hause, Sie wissen ja, Taschendiebe gibt es überall, man will seinen Ausweis nicht verlieren.“

„Dein Führerschein?“

„Ich habe keinen!“

Auch das ist eine Lüge.

„Ich bin zu Fuß unterwegs!“

Auch sie ist sichtlich erschöpft. Sie fragt, ob ich zum ersten Mal hier bin. Ich antworte ja und frage:

„Ich weiß nicht warum? Sind meine Kleider so schlecht?“

Sie sieht gelassener aus. Sie schaut mich an und sagt:

„Na ja, die Ärmel sind zu kurz und es ist zu auf-fällig!“

Das ist das Problem. Denke ich. Du solltest nicht ausfallen! Du solltest unsichtbar sein! Du bist ja ei-ne Frau! Sie gibt mir ein neues Formular. Es ist ei-ne Anerkennungs-erklärung. Da steht drin, welche rechtlichen Konsequenzen es hat, wenn ich in der Öffentlichkeit keinen Hijab trage und ich erkläre damit, dass es nie wieder vorkommen wird. Tat-sächlich habe ich einen Hijab getragen, viel mehr, als ich wollte, aber es scheint nicht genug zu sein, es sei denn, man trägt einen schwarzen Schleier! Ich unterschreibe mit einer falschen Unterschrift. Es gibt noch keine Automatisierung, nur Papier-formulare, ich nehme an, dass sie das Formular beim nächsten Mal nicht finden werden, und ich bin meiner coolen Freundin dankbar. Die Beamtin fragt mich, ob ich ein Telefon habe, ich antworte nicht, aber sie ist offensichtlich müde, sie sagt:

„Ruf deine Familie an, damit sie dir angemessene Kleidung bringen. Wenn du kein Telefon hast, benutze dieses. Dann gehst du zu dem Tisch dort.“

An der Ecke ist eine Telefonzelle. Das Telefon ist überfüllt. Aber ich habe meine Familie schon in-formiert. Ich sage ok und gehe zu dem Tisch, den sie mir gezeigt hat. Dahinter steht eine Kamera auf einem Stativ. Eine Beamtin gibt mir eine Nummer, ich soll sie in der Hand halten und zur Wand gehen. Sie fotografieren mich! Es fühlt sich komisch an. So wie man es aus Filmen mit gefährlichen Verbrechern kennt. Ich mache das Foto, gehe weiter und warte wie bestellt und nicht abgeholt in der Mitte des Saals, weil es keine Sitzplätze gibt. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, bis mein Name aufgerufen wird. Ich gehe zur Beamtin an den Schreibtisch. Da liegen meine Klamotten und eine Kopie von Papas Ausweis. Oh, er musste also seinen Ausweis abgeben. Ich suche eine Umkleidekabine! Aber es gibt keine. Es ist wie eine grausame Komödie! Man wird verhaftet, weil man angeblich nicht genug bedeckt war, aber hier muss man sich in aller Öffentlichkeit umziehen, unter den unangenehmen Blicken der männlichen Soldaten! Nie war es deutlicher! Es geht nicht um Bedeckung! Es geht darum, dass man als Frau einfach bestraft wird, wenn man sich Platz nimmt.

Ich gehe in eine Ecke und ziehe mich um, dann fällt mir auf, verdammt, das hier ist lang genug, aber die Ärmel sind kürzer. Schon wieder Stress! Ich weiß, dass mein Vater nicht nach Hause gehen kann, um ein anderes zu holen, das würde Stunden dauern, aber dann denke ich wieder, darum geht es nicht, es juckt hier keinen, was du anhast!

Ich bedecke meine Hände mit meinem Schal und zeige mich der Beamtin. Sie nimmt Papas Ausweiskopie und zeigt mir den Ausgang. Für einen Moment denke ich, ich hätte mich gar nicht umziehen müssen! Sie wollten nur, dass Papa in diesem Feierabendverkehr extra hierherkommt, seinen Ausweis zeigt und mich abholt. Sie wollen, dass wir alle Teile dieser Bestrafung sind!

Und das war's. Ich gehe durch einen Tunnel und bin draußen. Am Ausgang stehen Hunderte von Menschen, vor allem Männer. Ich suche meinen Vater und denke darüber nach, was die junge Studentin tun würde. Ich habe sie nicht mehr gesehen, würde sie auch rauskommen? Ich finde meinen Vater. Wir sprechen kein Wort. Er seufzt. Wir gehen schweigend zu seinem Auto und sprechen den ganzen Weg kein Wort. Ich bin froh, dass er keine Fragen stellt, ich habe keine Energie, alles zu erklären, was ich erlebt habe. Wir fahren im Dunkeln nach Hause, die Straßen sind nicht mehr so voll. Der Feierabendstau ist vorbei. Es ist fast 23 Uhr. Ich sehe ihn an, er wirkt sehr müde. Ich auch. Ich sage:

„Ich will nicht mehr in diesem Land leben, Baba!“

Und ich beginne leise zu weinen. Baba sagt nichts. Ich fühle, wie die Dunkelheit von den Straßen in unser Herz strömt.

Schwebe

Ich hörte, wie er die Badezimmertür schloss, ins Wohnzimmer ging und die E-Zigarette nahm. Er schlurfte in seinen Hausschuhen in die Küche, drückte viermal auf den Knopf der Zigarette und zog daran. Ich hörte, wie er die Bettdecke zurück-schlug und sich hinlegte, seine warmen Arme an meinen Ellbogen. Die Feuchtigkeit seiner Fußsohlen drang bis in meine Zehenspitzen. Zuerst stieg mir der säuerlichbittere Geruch seiner Haut in die Nase, dann der Kokosnuss Dampf seiner Zigarette. Ich öffnete die Augen und starrte durch den Nebel auf sein Profil. Mit der rechten Hand hielt er sich das Handy vors Gesicht, mit der linken die Zigarette in der Luft.

Ich fragte: "Wie spät ist es?" Er blies mir den Kokosnussdampf ins Gesicht und sagte: "Neun! Wach auf!" Ich wischte mir mit der Hand den Dampf aus dem Gesicht und sagte: "Du hast so laut geschnarcht, dass ich nicht schlafen konnte." Er zog an seiner Zigarette, ließ den Dampf aus sei-nem Mund durch die Nase entweichen und sagte: "Ich? Niemals!" Mein Geruchssinn brannte von dem süßen, dicken Kokosduft. Ich sagte: "Was ist das für ein Zeug?" und drehte mich um.

Ich hörte, wie er sein Handy auf den Nachttisch legte. Sein schwerer Körper fiel auf mich. Er vergrub seinen Kopf in meinen Haaren und sagte: "Eine neue Mischung, Milch mit Kokosnuss". Der kalte Dampf streifte mein Ohr. Er reichte mir die Zigarette. Ich öffnete ein Auge, reduzierte die Stärke der Zigarette um drei Stufen und zog daran. Mein Mund wurde süß. Ich hörte, wie er die Zigarette auf den Tisch legte. Die Wärme seiner Hand kroch unter mein Hemd, stieg meinen Bauch hinauf und blieb an meiner Seite. Mein Mund schmeckte nach Kokosnuss, sauer und bitter. Ich öffnete die Augen. Ein Büschel orangefarbener Haare fiel auf mein Auge. Die weiße Decke wurde orange. Ich schloss die Augen. Ich hörte ihn schwer atmen. Er küsste meine Stirn. Seine Haut roch säuerlicher. Die Schwere verschwand. Meine Augen brannten.