Schweinebande! - Franz Josef Voll - E-Book

Schweinebande! E-Book

Franz Josef Voll

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Beschreibung

Die Machenschaften der Fleischindustrie

Fleisch wird als einziges Lebensmittel nicht nur nicht teurer, sondern billiger – und die Fleischbranche verdient dennoch Milliarden. Wie ist das möglich? Bereits in seiner Metzgerlehre lernte Franz Josef Voll: »Es gibt kein schlechtes Fleisch, es gibt nur Fleisch, das verarbeitet werden muss.« Was nicht mehr mit Gewürzen versetzt oder in Knoblauch und Öl eingelegt werden kann, wird durch den Fleischwolf gedreht und landet in der Wurst. Als Voll diese Zustände nicht mehr hinnehmen wollte, wechselte er die Seiten und wurde Lebensmittelkontrolleur. Heute steht er endgültig auf Seiten des Verbrauchers und bringt die – im wahrsten Sinne des Wortes – Sauereien der Fleischindustrie ans Licht. In seinem Insider-Bericht rechnet er mit einer Branche ab, deren Machenschaften auch dem letzten vertrauensseligen Verbraucher gehörig den Appetit verderben dürften.

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Fleisch wird als einziges Lebensmittel nicht nur nicht teurer, sondern billiger – und die Fleischbranche verdient dennoch Milliarden. Wie ist das möglich? Bereits in seiner Metzgerlehre lernte Franz Josef Voll: »Es gibt kein schlechtes Fleisch, es gibt nur Fleisch, das verarbeitet werden muss.« Was nicht mehr mit Gewürzen versetzt oder in Knoblauch und Öl eingelegt werden kann, wird durch den Fleischwolf gedreht und landet in der Wurst. Als Voll diese Zustände nicht mehr hinnehmen wollte, wechselte er die Seiten und wurde Lebensmittelkontrolleur. Heute steht er endgültig aufseiten des Verbrauchers und bringt die – im wahrsten Sinne des Wortes – Sauereien der Fleischindustrie ans Licht. In seinem Insiderbericht rechnet er mit einer Branche ab, deren Machenschaften auch dem letzten vertrauensseligen Verbraucher gehörig den Appetit verderben dürften.

Franz Josef Voll, geb. 1955 in Essen, gehört zu den Menschen, von denen man sagen kann, sie haben die Seiten gewechselt: Mit 13 begann er eine Metzgerlehre, mit 31 wurde er Lebensmittelkontrolleur. Heute lebt er auf Usedom und deckt den systematischen Betrug in der Wurst- und Fleischbranche auf.

FRANZ JOSEF VOLL

MIT LEO G. LINDER

SCHWEINEBANDE!

DER FLEISCHREPORT

Ein Metzgermeister über diePraktiken seiner Zunft

Die in diesem Buch geschilderten Fälle entsprechen den Tatsachen, soweit sie dem Autor bekannt sind. Die genannten Personen und Orte wurden zum Schutz der Persönlichkeitsrechte anonymisiert.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Die Verlagsgruppe Random House weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Originalausgabe 04/2017

Copyright © 2017 by Ludwig Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ute Daenschel

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik∙Design, München,unter Verwendung eines Fotos von © Rainer Gollmer / Plainpicture

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-19861-9V001

www.ludwig-verlag.de

Inhalt

1.  Worum geht’s?

2.  Geheimsache Wurst

3.  Gott segne das ehrbare Handwerk

4.  Die Pelzjacke der Metzgersgattin

5.  Der große Dammbruch

6.  Tod auf Raten

7.  Umsatz! Umsatz! Umsatz!

8.  Auf Tuchfühlung mit der Schweinebande

9.  Der große Bluff

10.  Wir sind gar keine Betrüger!

11.  Witzfiguren

12.  Stille Tage im Amt für Lebensmittelkontrolle

13.  Auf der Akademie für öffentliche Gesundheit

14.  Letzte Hoffnung Labor

15.  Vier Episoden aus dem Leben eines Lebensmittelkontrolleurs

16.  Tierseuche mit drei Buchstaben

17.  Bonn und Brüssel – skrupellos

18.  Täter und Opfer

19.  Meine Geheimnisse gegen deine Geheimnisse

20.  Die Wurst des 21. Jahrhunderts

21.  Qualitätsmissmanagement

22.  Bislang ist noch keiner dran gestorben

23.  Von Döner und Schweinepfoten

24.  Vier neue Episoden aus dem Leben eines Lebensmittelkontrolleurs

25.  Ich lande bei Günter Wallraff

26.  Die SÜFFA-Gesprächsprotokolle (I)

27.  Die SÜFFA-Gesprächsprotokolle (II)

28.  Undercover unterwegs im Land der unbegrenzten Möglichkeiten

29.  Separatoren bei der Arbeit

30.  Können wir etwas bewirken?

31.  Liebeserklärung

1. Worum geht’s?

Wenn es Sonntag wurde, pflegte mein Vater die Hände zu falten. »Ein kurzes Gebet«, sagte er dann, senkte den Kopf und fuhr fort: »O Herr, ich danke dir, dass du die Luft erfunden hast, die meine Brötchen so groß macht.« Das war nur halb im Scherz gesprochen.

Wir besaßen fünf große Eiscafés im Ruhrgebiet mit angeschlossener Konditorei, und es ging uns nicht schlecht. Ich aber kam mit vierzehn Jahren bei einem Metzger in die Lehre, und da machte ich die Entdeckung: Was für den Bäcker die Luft im Brötchen, ist für den Metzger das Wasser in Fleisch und Wurst.

Das war seit alten Zeiten so, und bis heute gilt: Wasser ist billiger als das billigste Fett. Aber es blieb nicht beim Wasser. Ungeahntes geschah, und es übertraf den traditionellen Einfallsreichtum des kleinen Metzgers bei Weitem: Während ich mich vom Lehrling hocharbeitete und nach und nach die Branche aus sämtlichen Blickwinkeln kennenlernte, vollbrachte die Lebensmittelindustrie wahre Wunder, und so kam der Stabilisator in die Welt, das Veggiefett, das Separatorenfleisch und vieles Erstaunliche mehr. Nichts davon gehört ins Essen, aber es wird uns vorgesetzt, und wir essen es. Bisher soll keiner dran gestorben sein.

Doch ich will nicht vorgreifen; es ist eine längere Geschichte – eine üble Geschichte, eine schauerliche Geschichte, eine Erfolgsgeschichte, je nach Perspektive. Und ich kann sie erzählen, denn ich bin von Anfang an dabei gewesen. Anders gesagt: In diesem Buch können Sie nachlesen, warum sich hierzulande ein Lebensmittelskandal an den anderen reiht, warum eine hoffnungslos überforderte Lebensmittelüberwachung dagegen machtlos ist, warum es also mit dem Fälschen und Betrügen immer so weitergehen wird, bis die Wurst auf unserem Tisch alles enthält, Vorstellbares und Unvorstellbares, bloß kein Fleisch.

Es sei denn, wir wachen auf. Wir Käufer. Wir Konsumenten.

2. Geheimsache Wurst

Geht es Ihnen genauso?

Ich stehe im Supermarkt und staune über die Unmenge an Produkten, die hier angeboten wird. Faszinierend. Die Regale scheinen Kilometer lang zu sein. Die Etiketten könnten bunter und munterer und verheißungsvoller nicht sein. Kauf mich, raunen sie mir im Vorbeigehen zu, ich bin etwas Besonderes …

Ein Regal sticht mir ins Auge. Es ist bestimmt acht Meter lang und fast bis zur Decke mit Wiener Würstchen gefüllt. Anscheinend gibt es Wiener Würstchen in Hunderten von Sorten. Wie soll man da seine Lieblingssorte herausfinden? Gibt es überhaupt Unterschiede, oder schmecken sie alle ziemlich gleich? Und was unterscheidet Dosenwürste von Würstchen im Glas? Man müsste sie alle probieren …

Ein hoffnungsloses Unterfangen. Aus meiner beruflichen Erfahrung weiß ich aber: Die Geschmacksunterschiede sind minimal. Trotzdem muss es Unterschiede geben, denn die Industrie produziert keine Würstchen einfach so, auf gut Glück und ins Blaue hinein. Nur, worin bestehen diese Unterschiede?

Ein Blick auf die Zutatenliste sollte Klarheit schaffen. Das sagt zumindest der Gesetzgeber, das sagen auch die Konzerne, und schließlich will ich als Kunde doch wissen, was drin ist in der Wurst und ob ich sie bedenkenlos essen kann. Will ich das wirklich? Fragt man Kunden im Supermarkt, erhält man durchweg zur Antwort: »Da werde ich mit dem Einkauf ja nie fertig, wenn ich das alles lesen soll. Außerdem – wer blickt denn bei diesen E-Nummern oder Ausdrücken wie Hefeextrakt noch durch?« Also wieder nichts mit der Klarheit. Auch die Zutatenliste ist keine Hilfe, folglich verlässt sich die große Mehrheit der Käufer darauf, dass nichts im Regal steht, was sie krank machen könnte, greift einfach hinein und hofft, dass es schmeckt. Wenn ja, bleiben die allermeisten der Einfachheit halber bei ihrer einmal getroffenen Wahl; das ist urdeutsch und statistisch erwiesen. Doch hinterher, auf der Straße, kommt der eine oder andere vielleicht ins Grübeln. Da dämmert ihm womöglich, dass er über etwas so Fundamentales wie sein Essen gar nichts mehr weiß.

Wohl wahr. Wir haben keine Ahnung, woraus die Würstchen in unserer Einkaufstasche bestehen. Wir wissen nicht, wie sie zustande gekommen sind. Bei verpackter Wurst wissen wir nicht einmal, woher sie stammt und wer sie gemacht hat – es sei denn, wir hätten sämtliche EU-Registriernummern im Kopf, denn die wären für den Verbraucher der einzige Hinweis auf die Herkunft einer Wurst. Haben wir aber vermutlich nicht im Kopf, und so bleiben diese kleinen Wiener Würstchen für uns ein großes Geheimnis. Nur, warum so viel Geheimniskrämerei? Und nicht nur auf dem Etikett. Warum zum Beispiel sind Wurstfabriken und Schlachthöfe besser gesichert als Atomkraftwerke?

Aus Gründen der Hygiene, sagen die Konzerne. Zum Schutz vor militanten Tierschützern, sagen die Schlachthöfe. Wirklich? Oder haben sie etwas zu verbergen? Die Konzerne sollten doch wissen, dass es in Deutschland gute Tradition ist, dem Fleischer zu misstrauen – mein Vater machte da keine Ausnahme, der kannte seine Pappenheimer und spekulierte: »Wenn der Metzger Fleischwurst macht, fegt er vorher die Wurstküche durch« – womit er nicht ganz falsch lag. Heute aber gibt es noch ganz andere Gründe, misstrauisch zu werden. Heute häufen sich die kriminellen Handlungen in der Fleischbranche. Kaum ein Monat vergeht, ohne dass irgendwo in Deutschland irgendwer irgendwem Gammelfleisch angedreht hätte. Da gäbe es also genug zu klären, aufzudecken und offenzulegen – zumal die EHEC-Krise gezeigt hat, dass Lebensmittelvergiftungen sich durchaus tödlich auswirken können. Mittlerweile glaubt jeder Zweite in Deutschland, dass sich im gesamten Bereich der Lebensmittelherstellung etwas ändern müsste.

Aber die Politik mauert. Die Politiker stellen sich dumm. Bundeswirtschaftsminister Gabriel beispielsweise antwortete in einem Interview der Welt vom 12. 4. 2013 auf die Frage, ob eine strengere Regulierung der Fleischindustrie sinnvoll wäre:

»Nichts gegen schärfere Kontrollen – sie können durchaus helfen, das Maß an Betrug bei Lebensmitteln einzudämmern. Allein, sie sind kein Allheilmittel. Und ob eine neue europäische Superbehörde wirklich ein Befreiungsschlag wäre, darf getrost bezweifelt werden.«

Bezweifelt werden – wieso? Lebt Herr Gabriel wirklich im Tal der Ahnungslosen, was die buchstäblich grenzenlosen Möglichkeiten der Fleischindustrie angeht? Oder weiß er sehr wohl, was hinter den Kulissen abläuft? In diesem Fall müsste man von Zynismus sprechen.

Doch anstelle der Industrie wird der Verbraucher ins Visier genommen. Im selben Artikel schreibt die Welt weiter:

»… auch der SPD-Parteichef sollte wissen, dass eines der Urübel unser übermäßiger Fleischkonsum und die Gier nach Fleisch zu Schnäppchenpreisen ist. Das bereitet das Feld für Betrügereien aller Art. Wer also qualitativ besseres Fleisch will, kommt um die Erkenntnis kaum herum, dass dieses dann auch teurer sein muss.«

Man staunt. So einfach ist das also. Wir zahlen etwas mehr, und schon geben sich Pfuscher und Betrüger geschlagen … Da kennt die Welt allerdings die Betrüger schlecht.

Überlegen wir doch mal: Die Produzenten lassen dem Käufer gar keine Wahl; die sogenannten Schnäppchenpreise werden ihm vorgesetzt, sie werden ihm regelrecht unter die Nase gerieben – kein Wunder, dass er zugreift. Und dann: Auf die Preispolitik einer so mächtigen Industrie wie der Fleischindustrie haben wir als Verbraucher nicht den geringsten Einfluss. Wer sagt denn, dass höhere Preise automatisch zu besseren Produkten führen würden? Dass die Konzerne den Mehrbetrag nicht vielmehr kalt lächelnd dem eigenen Gewinn zuschlagen würden? Im Übrigen: Wer mehr zahlt, bekommt darum kein besseres Fleisch. 2015 wies Dr. Ulrich Nehring in einem Fernsehinterview auf den entscheidenden Punkt hin. Er leitet das hoch angesehene Institut Nehring für Lebensmittelkontrolle in Braunschweig, und an die Befürworter von Bio-Fleisch gewandt sagte er:

»Fleisch, das ökologisch-dynamisch gewonnen worden ist, ist kein besseres Fleisch. Das lässt sich analytisch beweisen. Was Sie verändern, sind die Haltungsbedingungen der Tiere. Wir reden also nur über Tierschutz.«

Damit kommt eine ganz andere Frage ins Spiel, eine Gewissensfrage: Wie sehr liegt uns der Tierschutz am Herzen, was wollen wir uns eine tiergerechtere Haltung kosten lassen? Moral schmilzt schnell dahin, wenn man dafür zur Kasse gebeten wird. Und ganz davon abgesehen – wer garantiert uns, dass der Zusatzerlös tatsächlich in den Tierschutz investiert wird? Fließt der Aufpreis womöglich doch wieder in die Taschen der Industrie? Wenn Sie mich fragen: mit ziemlicher Sicherheit. Die Unternehmen haben nämlich keinerlei Interesse daran, ihre reibungslos ablaufende Produktion in irgendeiner Form zu stören.

Sie sehen, nicht nur die Herkunft unserer Wiener Würstchen liegt im Dunkeln. Der ganzen Branche haftet der Ruch von Kumpanei, Geheimniskrämerei und undurchschaubarer Machenschaften an, und – welche Rolle spielt dabei eigentlich die Politik? Lassen Sie mich erzählen, wie alles anfing und wie wir dort gelandet sind, wo wir uns heute befinden. Ich war 46 Jahre lang dabei, ich hatte 46 Jahre Zeit, hinter sämtliche Kulissen der Lebensmittelindustrie zu blicken. Beginnen wir mit dem schmächtigen Bürschchen Franz Voll, der als Vierzehnjähriger beschließt, Metzger zu werden, und dem jetzt der erste Tag in einer Fleischerei bevorsteht. Es ist der Sommer 1969.

3. Gott segne das ehrbare Handwerk

Metzger? Das war doch eine sichere Sache. Fleisch würden die Leute immer kaufen. In meiner Heimatstadt Essen gab es 400 Metzgereien; drei Metzgereien in einer einzigen Straße war keine Seltenheit. Im besten Ansehen standen die Fleischer zwar nicht, und auf der Berufsschule bekam ich zu hören: »Ein Metzger muss stark, doof und wasserdicht sein«, aber man verdiente gut. Von dem, was eine Metzgerei abwarf, konnte man bequem eine Familie ernähren, und das zählte damals.

Außerdem kam ich selbst aus einem Handwerksbetrieb, war mental also perfekt auf die Metzgerlaufbahn eingestellt. Mein Vater hatte uns Kinder von klein auf rangenommen, und die fünfzig Pfennig für Tarzan- oder Tibor-Hefte gab es nur, wenn wir vorher schwarze Bleche gesäubert hatten. »Fünfzig Pfennig?«, hieß es, wenn wir mal wieder vor ihm standen und die Hand aufhielten. »Na klar. Siehst du den Stapel Schwarzbleche? Los. Sauber machen!« Und wir schrubbten. Hinterher gingen wir zu ihm ins Büro, meldeten Vollzug und nahmen die fünfzig Pfennig in Empfang. »Damit ihr lernt, dass Geld von Arbeit kommt.« Das nenne ich eine wirklichkeitsnahe Erziehung. Nach dieser Grundausbildung sollte ich es im Handwerk zu etwas bringen.

Im Übrigen herrschte in der Zunft der schönste Optimismus. Dass aus den 400 Metzgereien Essens im Lauf der nächsten vierzig Jahre dreißig werden würden, war damals vollkommen unvorstellbar. Die Betriebe bildeten aus, als würden sie dafür bezahlt. In der Fleischerfachschule auf dem Gelände des Essener Schlachthofs wurden Metzger und Verkäuferinnen in drei Jahrgängen à zwei Klassen ausgebildet, insgesamt 150 Lehrlinge. Die Fleischerinnung finanzierte das, und die Betriebe beteiligten sich daran – herrliche Zustände! Damit Sie sich eine Vorstellung von diesem ungetrübten Idyll machen können, nur so viel:

Die Lehrmädchen wurden alle zu Fleischereifachverkäuferinnen ausgebildet. Das war ein Beruf! Wie schmerzlich habe ich später als Lebensmittelkontrolleur diese Fachverkäuferinnen vermisst. So jemand hinter der Fleischtheke ist eine Wohltat. Die Fachverkäuferin kennt nicht nur den Unterschied zwischen Mortadella, Fleischwurst und Bierschinken, sie versteht sich auch auf Hygiene und den Umgang mit den Produkten, sie kann Kunden beraten – welches Fleisch gehört zu welchem Gericht? – und bei Bedarf mit Engelszungen reden – zur Not könnte sie einem Kunden sogar ein Eisbein bei 35 Grad im Schatten aufschwätzen, wenn es den normalen Menschen keineswegs nach Eisbein verlangt.

Und nicht nur das: Sie beherrscht auch die Kunst, das Angebot des Tages mit einem Stück Kreide in schön geschwungenen Buchstaben auf die Schaufensterscheibe zu malen! Das ist nämlich tatsächlich eine Kunst. Eine Schrift, die nach oben oder unten ausbricht oder gegen Ende immer kleiner wird, sieht zum Weglaufen aus, aber Schaufensterscheibenbeschriften lernten die Verkäuferinnen damals ebenfalls in der Berufsschule. Es wurden ja auch die Preisschilder noch mit der Hand geschrieben, mit einer breiten Feder, und auch diese Preisschilder waren kleine Kunstwerke … Heute sind Fleischereifachverkäuferinnen eine seltene Erscheinung geworden, es gibt sie so gut wie nicht mehr.

Kurzum: Ob Lehrmädchen oder Lehrling – wer die Lehrzeit hinter sich gebracht hatte, der konnte was und war stolz darauf. Ja, tatsächlich. Die traditionsbewussten Metzger waren regelrecht verliebt in ihre Ware. Mit meinem Chef habe ich diesbezüglich rührende Szenen erlebt: Eine angegammelte Wurst hätte er lieber in die Tonne geworfen, als mit dem Preis runterzugehen – »Nee, für die paar Groschen gebe ich meine Wurst nicht ab. Die hat es nicht verdient, verhökert zu werden!« In diesem Punkt verstand er keinen Spaß. Wurst war eben noch kein standardisiertes, anonymes Produkt, die Geschmacksvielfalt war enorm, und wer unserer Leberwurst trotzdem nicht viel abgewinnen konnte, der ging halt hundert Meter weiter, in die nächste Metzgerei, wo sie tatsächlich anders schmeckte. Normalerweise aber schwor der Kunde auf »seine« Metzgerei. Da kannte er den Meister persönlich und war sicher, nicht enttäuscht und nicht betrogen zu werden. Na ja. Wir werden sehen … Zurück zu mir. Begleiten Sie mich vorläufig durch meinen ersten Arbeitstag in der Fleischerei Schmitz in Essen und alle weiteren Tage der ersten Woche.

Morgens um sechs Uhr geht es an diesem Sommertag des Jahres 1969 los. 200 DM im Monat sind als Lehrlingsgehalt ausgemacht, abzüglich der Verkostung im Betrieb; achtzig Mark in bar werde ich ausgezahlt bekommen. (Ich muss wahnsinnig viel gegessen haben, aber wie gesagt, ich war noch recht schmächtig.) Mich erwartet eine Fleischerei wie viele andere in Essen; sie existiert in der dritten Generation und ist in einem Zehnfamilienhaus untergebracht, das der Familie Schmitz gehört. Im Erdgeschoss auf der linken Seite befindet sich der Laden und auf der rechten Seite eine Gaststätte – für meinen Meister ein glückliches Zusammentreffen.

Jetzt zum Personal. In der Wurstküche arbeiten: unser Chef, wie jeder Metzger in dieser Zeit cholerisch, übergewichtig und weitgehend kahlköpfig, dann ein Geselle namens Günther, 1,60 m im Quadrat, und ich. Im Laden arbeiten: die Chefin, der anzusehen ist, dass die Familie etwas erreicht hat, sowie eine ihrer Töchter, nämlich Corinna, die den neuen Lehrling als Leibeigenen betrachten wird. (Warum soll es mir besser gehen als meinem Chef? Wie alle angeheirateten Meister steht er unter dem Pantoffel. Nach außen darf er den Meister geben, aber zu melden hat er nichts, die Chefin ist der Chef. Sie wird auch dafür sorgen, dass ihre Tochter wiederum einen Fleischermeister heiratet; Corinna probiert also an mir schon mal ihre künftigen Herrscherallüren aus.)

Und jetzt die Örtlichkeit. An den Laden schließt sich die Kochküche an, wo auch gemeinsam gefrühstückt wird. Von dort geht es in die Wurstküche, und dahinter liegt das Kühlhaus. Im Keller befinden sich der Pökelraum, das Lager für Därme und Gewürze, dann der Spänebunker für die Räucherkammer und schließlich unser Umkleideraum, bereits mit Dusche. Diese Räumlichkeiten reichen aus, um 5,1 Tonnen Rindfleisch, 5,6 Tonnen Schweinefleisch und 1,6 Tonnen Kalbfleisch im Jahr zu verarbeiten und zu verkaufen – eine Menge, die im Supermarkt heutzutage locker in einer Woche über den Ladentisch geht. Ebenfalls im Unterschied zu heute kann die Familie Schmitz von ihrem Umsatz ziemlich gut leben, und die Angestellten werden ordentlich bezahlt.

Wir frühstücken, und ich erhalte die erste Instruktion. Sie betrifft die Begrüßung, die unter Metzgern keineswegs »guten Morgen« lautet, sondern: »Gott segne das ehrbare Handwerk.« Das sagt man grundsätzlich, wann immer man eine Fleischerei betritt, und als Antwort erhält man dann ebenso generell: »Gott segne es.« Die zweite Instruktion betrifft das Betriebsgeheimnis. Wurstmachen, so werde ich belehrt, sei ein streng gehütetes Geheimnis, es geschehe nach uralten Rezepten, und nie dürfe ein Unbefugter erfahren, was in dieser oder jener Wurst steckt. Mein Mund ist also versiegelt. Das wird mich mitunter in Gewissensnöte bringen – man will ja auch mal von seiner Lehre erzählen –, aber andererseits ist es prickelnd, einer Verschwörerbande anzugehören.

Erster Arbeitstag (Montag). Im Laden

Meine erste Handlung, nachdem ich mich in eine blau-weiß gestreifte Jacke, eine weiße Stoffschürze und Gummistiefel geworfen und auf diese Art in einen Metzger verwandelt habe, besteht darin, einen Zehnlitereimer mit warmem Wasser auf den Tisch der Wurstküche zu stellen. Es gibt dort nämlich kein Handwaschbecken, und an gelegentlichem Händewaschen kommt man als Metzger nicht vorbei. Dieser Eimer steht täglich von morgens bis abends an seiner Stelle, das Wasser wird allerdings ausgetauscht, sobald es trüb und kalt geworden ist.

Danach beginnt die Arbeit. Ich werde aufgefordert, mitzulaufen und die Augen offen zu halten und, klar, mit anzufassen.

Als Erstes wird der leere Laden bestückt, mit der Ware, die im Kühlhaus übernachtet hat. Diese Arbeit übernehmen die Männer, um den Frauen die Schlepperei zu ersparen. Außerdem ist es Günthers Aufgabe, jedes Stück Fleisch in Augenschein zu nehmen – taugt es noch für die Auslagen, oder sollten wir es besser in der Wurstküche liegen lassen?

Im Kühlhaus wird es ernst. Ich werde mit Anweisungen überschüttet:

»Wenn ein Metzger das Kühlhaus betritt, schließt er sofort die Tür hinter sich, damit keine Kälte entweicht. Dann bleibt er kurz stehen, lässt die Kälte auf sich wirken und atmet tief durch die Nase ein. Ein guter Metzger braucht kein Thermometer. Der spürt, ob die Temperatur im Kühlhaus stimmt. Ein guter Metzger kann sich auch auf seine Nase verlassen. Der riecht rechtzeitig, ob etwas im Kühlhaus hängt, das schleunigst verarbeitet werden muss. Das übst du jetzt jeden Tag, klar?«

»Ja.«

»Und, was riechst du?«

Keine Ahnung. Eine derartige Menge von Düften habe ich noch nie erlebt, dazu die kalte Luft … Ich zucke mit den Schultern.

»Riechst du das nicht? In der Ecke dahinten hängt was, das wir gleich mal rausholen. Das muss bald verarbeitet werden.«

Günther zeigt mir das Corpus delicti. Es sieht ziemlich dunkel aus, und unter die Nase gehalten, riecht es auch. Ich finde sogar, es stinkt. Günther winkt ab.

»Stinken ist was ganz anderes. Das hier riecht. Du bist noch ungeübt. Vielleicht auch ein bisschen empfindlich. Komm, fass mal an. Merkst du, wie es klebt?«

Ich merke es – und lerne so, dass es kein schlechtes Fleisch gibt. Es gibt nur Fleisch, das irgendwie, so oder anders, demnächst verarbeitet werden muss.

Wir tragen alles in den Laden, soweit es den Farb- und Geruchstest besteht. Was durchfällt, bleibt in der Wurstküche.

»Füll einen Eimer mit kaltem Wasser«, weist Günther mich an, »und gib 800 Gramm Pökelsalz rein. Der Salzbottich ist der mit dem roten Deckel.«

Da wandert jetzt alles rein, was nicht mehr schön aussieht, nämlich die dunklen Stellen am Fleisch. Die werden abgeschnitten, damit das Fleisch wieder frisch wirkt, und ins Wasserbad geworfen. Was geschieht mit ihnen?

»Das kommt später alles in die Wurst.«

Doch zunächst muss der Schmackes abgewaschen werden. Das ist die übel riechende Schmiere, die sich durch Keime auf dem Fleisch bildet. Schmackes ist die Vorstufe von Gammel – dieses Wort ist zwar schon in Gebrauch, die Sache selbst aber kommt bei uns nicht vor, denn Gammel muss weggeworfen werden, und Wegwerfen wäre die ultimative Kapitulation vor den Herausforderungen des Metzgerdaseins, kommt also nicht in Betracht. Übrigens stammt das Wort Schmackes aus dem Jiddischen, dessen sich die Metzger seit Urzeiten als Geheimsprache bedienen. Jiddisch besteht zu einem Viertel aus hebräischen Wörtern; da kann man ziemlich sicher sein, dass es keiner versteht, auch der Lebensmittelkontrolleur nicht. (Hätten Sie denn gewusst, dass »Maim« Wasser bedeutet?)

Fassen wir also kurz zusammen: Bei der Fleischerei Schmitz gibt es vier Qualitätskategorien: 1. Absolut frisch, kommt in den Laden. 2. Geht so, muss aber spätestens bis Mittwoch verkauft sein (mit anderen Worten: Die Fleischereifachverkäuferinnen, in unserem Fall die Chefin und Corinna, werden mit Engelszungen reden müssen). 3. Auweia – aber in Knoblauch und Öl eingelegt ist es dem Kunden noch zuzumuten. 4. Geht wirklich nicht mehr, bleibt deshalb hinten und landet in der Wurst.

Das heißt: Im Sprachschatz des Metzgers existiert das Wort »verdorben« nicht. Ein Fleischer verwertet völlig unaufgeregt alles. In Zukunft werde ich immer wieder schmieriges Fleisch abwaschen, auf Gittern im Kühlhaus lagern und warten, bis es getrocknet ist. Meist haftet der Schmackes tatsächlich nur an der Oberfläche, und einmal abgewaschen, ist das Fleisch wieder durchaus präsentabel. Ausschlaggebend für die Entscheidung, ob etwas in den Laden oder aber in die Wurst geht, ist in erster Linie der Geruch. Wenn selbst Öl und Knoblauch versagen, bleibt nur noch der bittere Weg in die Wurst.

Und wenn ein Stück Fleisch gar nicht mehr zum Verkauf taugt, muss ich es klein schneiden. Im Kühlhaus steht ein Becken mit Pökelsalz, in dem die Fleischabschnitte für die Wurstproduktion gesammelt werden; diese Streifen werden dann untergemengt, und schon sind sie gerettet. Das Fleisch, das bereits längere Zeit im Becken liegt, hat eine schwarzgraue Färbung angenommen, aber »das kommt vom Pökelsalz«, sagt Günther, und wirklich: Im Kern sind alle Teile schön rot. (Die Gewürzfirmen erfanden später ein Mittelchen, das man dem Wasser beigab, in dem das Fleisch abgewaschen wurde. Nicht nur, dass der Schmackes verschwand, auch die rote Fleischfarbe kehrte zurück, und zwar für Tage. Dieses Mittelchen trug den einprägsamen Namen Bomsi Super, und von dem ersten Probebeutel war unser Meister hellauf begeistert. Heute heißt es etwas weniger euphorisch Bombal, erfreut sich als Frischmacher aber weiterhin größter Beliebtheit. Vor allem in Hackfleischprodukten wie frischer Bratwurst ist es enthalten.)

Gut, der Ausdruck »Betriebsgeheimnis« füllt sich jedenfalls langsam mit Leben, und weiter geht’s. Günther holt mit meiner Hilfe vier Schweineschultern aus dem Kühlhaus. »Mehr nicht«, sagt er. »Heute ist es warm, da wird das Fleisch schnell grau.« Wir schneiden die Schultern klein, um den Fleischwolf damit zu füttern, und Günther erklärt unterdessen:

»Jetzt wiegen wir Gewürz ab. Mach das nie nach Gefühl! Abwiegen ist sicherer. Und ganz wichtig: beim Fleischgewicht anderthalb Kilo draufschlagen. Warum? Das wirst du gleich sehen.«

Er wiegt Salz, Pfeffer und Muskat ab, bestreut damit das Fleisch und schaltet den Wolf ein. Ich darf die Stücke in den Einlauf stecken. Das durchgedrehte Material fällt in die Mengrolle, die wie eine Badewanne auf Rädern aussieht. Am Ende soll ich das Gewolfte durchmengen, aber halt! – noch nicht. Der Meister persönlich taucht in diesem Moment auf und übergießt das durchgedrehte Fleisch mit anderthalb Litern Wasser aus einer Kanne. »Jetzt kannst du mengen«, sagt er und fügt grinsend hinzu: »Immer, wenn du Mett machst, denk daran: Meine Frau braucht eine neue Pelzjacke.« Aha. Ich menge wie der Teufel, und siehe da: Nach zehn Minuten ist das Wasser weg, eingezogen, jedenfalls verschwunden – das Mett hingegen hat sich wundersam vermehrt. Mir dämmert, weshalb wir Gewürze für anderthalb Kilo mehr abgewogen haben. Als ich mich später in der Berufsschule umhöre, erfahre ich: Alle anderen Metzgereien handhaben die Mettproduktion in der gleichen Weise.

So, der Tag kann beginnen, der Laden öffnet. Und wir Männer fahren im VW-Bus zum Schlachthof, denn Montag ist Schlachttag.

Erster Arbeitstag. Im Schlachthof

Im Jahr 1969 haben die Schlachthöfe an eigenem Personal noch wenig zu bieten. Der Schlachter ist tatsächlich noch ein Schlachter, und auch die Fleischerei Schmitz schlachtet selbst. Das heißt, natürlich nicht der Meister, aber Geselle und Lehrling. Und jetzt werde ich mich outen. Ich kann keiner Fliege etwas zuleide tun, ich trage Spinnen behutsam eigenhändig aus dem Haus – aber ein Schwein zu schlachten, ein Rind zu zerlegen, das macht mir wenig aus, das hat mich von Anfang an keine nennenswerte Überwindung gekostet, auch wenn ich’s gewöhnungsbedürftig fand. Später habe ich mich auf den Schlachttag sogar gefreut, weil ich meine Kollegen aus anderen Fleischereien wiedersah und das Schlachten ein wenig Dramatik ins Metzgerleben brachte – stundenlang in der Wurstmasse rühren kann nämlich recht langweilig sein. Und damit zurück zu unserem VW-Bus, in dem wir gerade am Schlachthof vorfahren, mein Meister, Günther und ich.

Was heute kaum noch vorstellbar ist: Dem öffentlichen Schlachthof der Stadt Essen ist ein Lebendviehmarkt angeschlossen. Was nichts anderes bedeutet, als dass mein Meister den Bauern kennt, der uns das Schlachtvieh liefert, und die Tiere in Augenschein genommen hat, die geschlachtet werden sollen. Wir haben es also mit einer durchgehenden persönlichen Beziehung zu tun – in der Berufswelt eines Metzgermeisters dieser Zeit reicht das Geflecht der Anteilnahme und Sorgfalt vom lebenden Tier bis zur Wurst, bis zum Kotelett; daher wohl auch seine Warenverliebtheit. Es herrschen also Zustände, denen man heute nachweinen könnte, aber der Metzger von damals ist weniger begeistert: Das ganze Vorgeplänkel mit dem Bauern und seiner Kuh kostet ja wertvolle Zeit.

Aus Gründen der Seuchenprävention ist der Viehhof vom Schlachthof getrennt. Hunderte von Rindern stehen dort, und irgendwo mittendrin unser Bauer mit unserem Bullen; der Kauf ist bereits gestern getätigt worden, am Sonntag, jetzt müssen wir die beiden in dem Gewühl nur noch finden. Ah, da sind sie. Das also ist unser Bulle, der mit der Marktnummer 921, kunstvoll mit einer Schere ins Fell geschnitten. Der Veterinär der Stadt begutachtet das Tier, und jetzt kommt der spannende Teil.

Junge Bullen sind übermütig. Außerdem bringen sie 600 bis 800 Kilo auf die Waage, und der Tunnel vom Viehhof zum Schlachthof ist nicht nur schlecht beleuchtet, der ist ab Mittag auch total zugeschissen, also rutschig – aus gutem Grund gibt es hier alle zwanzig Meter eine vorspringende Stahlwand, hinter der man sich vor den Hörnern eines Bullen in Sicherheit bringen kann, sofern man sie rechtzeitig erreicht. Andererseits deutet nichts darauf hin, dass Gefahr in der Luft liegt, so entspannt wie die Gesellen anderer Metzgereien schwätzend und scherzend da durchspazieren, ihre Tiere achtlos am kurzen Hanfstrick hinter sich herziehend. Nur: Der Schein trügt.

»Das Dümmste, was du machen kannst«, sagt Günther, »wäre, den Strick um die Hand zu wickeln. Das ist lebensgefährlich. Wenn der Bulle losrennt, fliegst du hinterher und brichst dir alle Knochen. Und geh nur ja niemals neben dem Bullen, schon gar nicht zwischen ihm und der Wand – der drückt dich tot. Lauf immer vor oder hinter dem Tier, und wenn das Vieh ausrastet und Gas gibt, lass den Strick los und bring dich in Sicherheit. Wenn jemand im Tunnel ›Vorsicht!‹ ruft, genauso – frag nicht lange, renn los und verschanz dich hinter einer Schutzwand.«

Das kann ja heiter werden. Wenn ich mich umschaue, sehe ich überhaupt wenige Bullen, die uneingeschränkt kooperieren.

»In dem Fall verschaff dir Respekt«, sagt Günther. »Ein bisschen schlagen, ein bisschen treten, das hilft meistens. Und wenn der Kollege partout nicht zur Vernunft kommen will, lässt du ihn eben mit Karacho gegen die Schutzwand laufen, das beruhigt.«

Gut, wir erreichen heil das Gatter, wo die Tiere angebunden ihrer Schlachtung entgegensehen. Aber wenn ich heute daran denke … Diese Rindertreiberei war wirklich lebensgefährlich. Arglos, wie man damals war, hat man einem Bullen frohgemut einen Strick um den Hals gelegt, ein Tuch vor die Augen gebunden und geglaubt, man könnte ein solches Tier beherrschen. Wenn ein Bulle auf dumme Gedanken gekommen wäre, hätte ich mit meinen 43 Kilo schlecht ausgesehen … Im Übrigen – aus heutiger Sicht wirkt es schon krass, was wir uns gegenüber den Tieren alles herausgenommen haben. Aber so wurde es uns beigebracht, und jeder fand es in Ordnung. Um es auf den Punkt zu bringen: Das Tier am anderen Ende des Stricks war für uns kein Lebewesen, sondern ein Berg Fleisch, der sich noch für kurze Zeit bewegte.

Als dann der Tierschutz aufkam, waren die Metzger entgeistert. »Soll ich am Ende meine Geige mitbringen und denen vorm Schlachten was vorfiedeln, vielleicht ›Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein‹?« – so oder ähnlich lauteten die Kommentare. Wir hielten die Tierschützer schlicht und ergreifend für Spinner – aus berufsbedingter Blindheit, aber auch aus einem sehr einfachen Grund: Bei einer hohen Schlachtzahl bleibt gar keine Zeit, einem unwilligen Tier gut zuzureden. Immerhin gab es einen anderen guten Grund, die Tiere nicht zu arg zu malträtieren, denn die edlen Fleischteile liegen an der Oberfläche, und Blutergüsse in diesen Muskelpartien waren tunlichst zu vermeiden.

Unterdessen habe ich zum ersten Mal im Leben eine Rinderschlachthalle betreten. Die Gerüche, die mir entgegenschlagen, sind buchstäblich umwerfend – zurückzuführen auf eine Kombination aus Rinderkot, Blut und andere, mir nicht weiter bekannte Substanzen. Genauso verwirrend ist die Geräuschkulisse. Es ist, als würde man in ein aufgewühltes Meer aus Tönen stürzen – Menschen schreien, Rinder brüllen, Kräne rasseln, Schüsse knallen, ein Höllenlärm. Ich finde dies alles, wie gesagt, gewöhnungsbedürftig, aber Günther scheint es nicht zu stören. Seelenruhig erklärt er mir unsere Vorgehensweise:

»Zuerst wird dem Tier ein Stahlbolzen in den Kopf geschossen; das machen wir nicht selbst, das macht der Schießer. Das Tier fällt dann um und fängt manchmal an zu strampeln. Unsere Aufgabe ist es, die Kette mit dem Haken am rechten Hinterbein anzubringen. Bei einem Tier, das um sich tritt, ist das nicht so einfach – da fliegt die Kette schon mal meterweit durch die Luft; das machst du also erst, wenn du sicherer geworden bist, sonst landest du am ersten Arbeitstag schon im Krankenhaus. Dann wird das Tier am Kran hochgezogen. Wenn es hängt, steche ich es ab. Du bleibst außer Reichweite der Beine, sonst – Krankenhaus. Danach ziehen wir ihm das Fell ab und nehmen es aus; aber dabei guckst du nur zu. Schließlich hacke ich das Tier durch, und wir sind fertig. Alles klar?«

Mannomann. Ja, alles klar. Unser Bulle ist dran.

Der Bulle fällt, der Bulle wird hochgezogen, Günther sticht, das Blut läuft heraus. Aufgefangen wird es nicht, Rinderblut eignet sich nicht für Wurst. Beim nächsten Arbeitsgang helfe ich mit. Das Fell wird an den Beinen angeschnitten, bis zum Schwanz aufgetrennt, und dann hängen wir uns beide mit unserem ganzen Gewicht hinein und ziehen es runter. Was mich dabei irritiert: Einige Muskelpartien zucken, wenn man sie berührt. Anschließend schneidet Günther den Tierkörper auf, entnimmt Därme und Mägen und so weiter, zerhackt den Rest in zwei Teile, und damit ist die Arbeit im Wesentlichen getan – aus unserem Bullen ist Braten geworden, der jetzt einstweilen im Kühlhaus des Schlachthofs verbleibt. Die Anspannung fällt von mir ab, ich atme auf.

Vom Schießen bis zum Kühlhaus haben wir anderthalb Stunden gebraucht, und das war’s im Rinderschlachthaus – mehr als ein Rind auf einmal schlachten wir nie, weil das eine Tier uns für die Woche reicht. Während wir geackert haben, hat unser Meister übrigens am Münchhausentisch in der Schlachthofkneipe gesessen, das eine oder andere Bierchen getrunken und den Kollegen von seinem Umsatz und weiteren glücklichen Fügungen für die Fleischerei Schmitz vorgeschwärmt – in der Erwartung, dass die anderen vor Neid erblassen. Die Bezeichnung »Münchhausentisch« ist unter Gesellen allgemein üblich; warum, dürfte klar sein. Er wird auch noch eine Weile weiter schwärmen dürfen, denn fertig sind wir noch nicht; als Nächstes sind die Schweine dran.

Auch diese Schweine hat unser Chef lebend gekauft und folglich persönlich ausgesucht. Im Prinzip ist das Prozedere nun dasselbe wie zuvor, aber Schweine sind eben keine Rinder: zwar ebenfalls kräftig und, wenn sie losrennen, genauso wenig zu halten, aber doch wesentlich kleiner, längst nicht so Respekt einflößend, weshalb sie vorher noch mehr zu ertragen haben – manche Metzger treten und schlagen, als wollten sie ihren Wochenfrust an den armen Tieren auslassen.

Nun ist es so: Schweine werden am Fließband geschlachtet, das geht ziemlich zügig. Weil wir aber alle keine Profis sind, würden Günther und ich allein nicht nachkommen, deshalb tun wir uns mit drei oder vier Gesellen aus anderen Metzgereien zusammen und arbeiten im Team. Meine Aufgabe ist es, dem abgestochenen Schwein die Blutkanne unterzuhalten. »Pass auf, dass dir kein Tier in die Kanne kotzt«, sagt Günther, »wir brauchen jeden Tropfen Blut für die Wurst …« – aber da ist es schon geschehen. Am ersten Tag geht halt manches daneben, und jetzt kann ich die dickeren Brocken mit der Hand rausfischen, bevor ich den Gerinnungshemmer Fibrin unterrühre, ebenfalls mit der Hand. Komisches Gefühl, bis zur Achsel mit dem Arm in Blut zu stecken … (Dass wir bei dieser Gelegenheit mit unseren Händen unzählige Keime ins Blut eintragen, bedenkt zu dieser Zeit keiner. Erst Anfang 2000 kommt man auf die Idee, beim Abstechen Hohlmesser mit einem angeschlossenen Schlauch zu verwenden, durch den das Blut direkt aus dem Tierkörper abgesaugt wird.)

Das Tier wird ausgenommen, und nun folgt der heikelste Teil, das Spalten des Schweinekörpers. Dieses Aufhacken will gelernt sein, da ist äußerste Präzision angesagt, denn wenn man nicht trifft, wenn man stattdessen links oder rechts in die Koteletts haut und die Rippenknochen zertrümmert, tobt der Chef – wir wiegen bei Koteletts die Knochen ja mit, da darf also keiner rausfallen, sonst kommt es zum größten anzunehmenden Unglück: einem finanziellen Verlust für die Fleischerei Schmitz.

Nach vier Stunden sind wir durch, fünfzig Schweine haben wir geschafft. Aus heutiger Sicht ist das keine eindrucksvolle Leistung – in modernen Schlachtanlagen werden fünfzig Schweine in fünfzehn Minuten oder weniger abgefertigt –, aber wir sind mit uns zufrieden, und nun ab mit den noch warmen Tierkörpern in unseren VW-Bus. Während wir auf die Därme warten, kommt unser Meister, ebenfalls mit sich zufrieden, aus der Schlachthofkneipe zurück, und wenig später treten wir die Heimreise an. Schweine werden nach dem Schlachten gleich mitgenommen. In ganz Essen gibt es keinen Fleischer, der ein komplettes Rind in seinem Kühlhaus unterbringen könnte, aber Schweinehälften passen allemal rein, und weil die wenigsten Transporter über eine Kühlung verfügen, muss es jetzt schnell gehen.

Im Laufe der nächsten Monate sollte ich mitbekommen, dass es Metzger gab, die eine andere Strategie verfolgten als wir. Das war hochinteressant: Sie warteten einfach ab. Sie hatten keine Tiere gekauft und sahen auch am Schlachttag gelassen zu, wie ein Tier nach dem anderen wegging, um kurz vor Schließung des Lebendviehmarkts dann die letzten verbliebenen Tiere für wenig Geld aufzukaufen. Dieselben Metzger konnte man dabei beobachten, wie sie aufsammelten und mitnahmen, was andere liegen gelassen hatten, Fleischstücke, die in den Dreck gefallen waren oder aus anderen Gründen von den übrigen Metzgern verschmäht worden waren. Und noch schöner: Sie dachten nicht einmal daran, Eiterbeulen großzügig wegzuschneiden, so wie wir es taten, nein, die wurden bloß aufgestochen und ausgespült, und beim Abtransport hockten die Lehrlinge mit ihren kotverschmierten Gummistiefeln hinten auf den Schweinen, weil ihr Meister auch am Auto gespart hatte – in dem kleinen Zweisitzer war vorn einfach kein Platz für sie. Die anderen Metzger schüttelten über diese Kollegen die Köpfe, aber Tatsache ist: Den schwarzen Schafen gehörten damals schon die größten Metzgereien Essens. Reibach um jeden Preis – das Einzige, was zählt, ist Geld! – hatten sie sich auf die Fahnen geschrieben und waren den traditionellen Metzgern damit in ihrer Mentalität um Jahre voraus. Für Günther zum Beispiel stand außer Frage: »Wer die beste Wurst macht, hat das beste Geschäft.« Er sagte das mit Überzeugung, und dieses sympathisch altmodische Denken herrschte damals noch vor …

Für einen ersten Arbeitstag sollte das reichen, aber mein Meister denkt anders und lässt uns nach unserer Rückkehr Rohwurst machen. Das geht relativ schnell, dafür braucht man keinen Kochkessel, und bevor die Ladentür hinter mir ins Schloss fällt, habe ich noch größere Mengen gewolftes Schweinefleisch mit Pfeffer, Paprika, Muskat und Salz gewürzt und in Schweinedärme gefüllt. Die werden jetzt geräuchert oder luftgetrocknet, und in zwei Wochen kommen sie als Mettwurst, Zwiebelmettwurst und Streichmettwurst in den Laden. So, geschafft! Das war’s für heute.

Der Rest der Woche. Im Laden

»Gott segne das ehrbare Handwerk!« »Gott segne es.« Der zweite Arbeitstag bricht an. Es ist Dienstag, und Dienstag ist Brühwursttag. Die Woche in der Metzgerei ist straff und nach unabänderlichen Gesetzen durchorganisiert. So macht man es, so und nicht anders, weil man es immer so gemacht hat, inklusive der Schummeleien, und sich nicht vorstellen kann, es anders zu machen. Die Metzgerei ist ein Bollwerk der Tradition. Der Fortschritt – was immer das sein könnte – muss draußen bleiben wie die Vierbeiner der Kunden. Einstweilen. Bis auf Weiteres.