Schwert und Lilie - Marion Henneberg - E-Book

Schwert und Lilie E-Book

Marion Henneberg

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Beschreibung

Vor der jungen und schönen Lukardis von Wartenberg liegt ein aussichtsreiches Leben. Doch als die Burg ihres Vaters infolge einer Fehde mit dem Abt zu Fulda im Jahr 1265 zerstört wird und sie eine Pflichtehe eingehen muss, beginnt ein wahrer Alptraum. Erst die nicht standesgemäße, aber tiefe Freundschaft mit der Kaufmannswitwe Hilda lässt Lukardis frischen Lebensmut schöpfen. Als sie dem Ritter Raban von Elfershausen begegnet, erkennt Lukardis entsetzt, wer hinter der unheilvollen Fehde steckt. Nun muss sich Lukardis zwischen der Loyalität zur Familie und der Sehnsucht zweier Herzen entscheiden.

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Seitenzahl: 561

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Das Buch

Die junge und schöne Lukardis von Wartenberg ist gerade siebzehn Jahre alt, als die Burg ihres Vaters im Jahr 1265 völlig zerstört wird. Denn seit Jahren führt der Abt von Fulda eine Fehde gegen ihre Familie. Lukardis wird in eine Pflichtehe gezwungen, der Beginn einer düsteren Zeit. Erst die tiefe Freundschaft mit der Kaufmannswitwe Hilda lässt sie neuen Lebensmut schöpfen. Als sie schließlich den Ritter Raban von Elfershausen kennenlernt, stellt sie entsetzt fest, wer wirklich hinter dem unheilvollen Angriff auf ihre Familie steckt. Jetzt muss Lukardis eine schicksalhafte Entscheidung treffen – zwischen Pflicht, Ehre und Liebe …

Die Autorin

Marion Henneberg wurde 1966 in Goslar geboren. Nach einem betriebswirtschaftlichen Studium in Stuttgart ist sie seit mehreren Jahren in der Finanzabteilung eines gemeinnützigen Unternehmens tätig. Sie lebt heute mit ihrer Familien in Marbach am Neckar. Weitere Informationen zur Autorin unter

www.marion-henneberg.de

Von Marion Henneberg sind in unserem Hause bereits erschienen:

Das Amulett der WölfinDie Entscheidung der MagdDie Tochter des Münzmeisters

Marion Henneberg

Schwert und Lilie

Historischer Roman

reFINERY

Neuausgabe bei RefineryRefinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

April 2017 (1)Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München

Satz und E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 978-3-96048-073-0

Hinweis zu Urheberrechten

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Für Verena, Torstenund meine Eltern

PERSONENREGISTER

Adel

Heinrich von Wartenberg*

gerät als Vasall des Grafen von Ziegenhain in dessen Konflikt mit dem Abt von Fulda

Elisabeth von Wartenberg

seine Ehefrau

Lukardis von Wartenberg

die gemeinsame Tochter der beiden, spätere Ehefrau Hermanns von Ebersberg

Hermann von Ebersberg*

Burgherr der Ebersburg, Gemahl von Lukardis

Heinrich von Ebersberg* Albrecht von Ebersberg*

seine jüngeren Brüder

Raban von Elfershausen

Gelehrter, Bruder von Hilda

Gottfried von Ziegenhain*

Lehnsherr Heinrichs von Wartenberg

Heinrich von Frankenstein*Giso von Steinau*

Verbündete der Ebersberger

Kloster Fulda

Bertho II. von Leibolz*

Fürstabt des Klosters, erbitterter Gegner einiger Adliger der Umgebung Fuldas

Ekkehard

Skriptor des Klosters

Giesbert

Laienbruder, arbeitet als Gerber für das Kloster

Rabans Familie

Hilda

Rabans Halbschwester

Wigbert

ihr Ehemann, ein gutmütiger Kaufmann aus Köln

Arndt

ihr gemeinsamer Sohn

Bewohner der Ebersburg

Gerda

Köchin

Margret

Magd

Merlinde

Magd, Tochter von Adalberta

Otwin

Vasall Hermanns von Ebersberg

Lothar

Knappe Hermanns von Ebersberg

Dietbald

Stallbursche

Bewohner des Dorfes unterhalb der Ebersburg

Adalberta

Frau des Dorfvorstehers

Bardo

Schmied

Freda

Gerdas Mutter, wohnt etwas außerhalb des Ortes

Sonstige Personen

Wido

Vasall Heinrichs von Wartenberg

Dietlinde

alte Amme von Lukardis

Liebtrud

Schwester des Laienbruders Giesbert

Iring von Reinstein-Homburg*

Bischof von Würzburg

Poppo von Trimberg*

Nachfolger Irings im Amt des Bischofs von Würzburg

Anno

Ritter im Dienste des Würzburger Bischofs

Bertine

Schwester von Adalberta, Wirtin des Wirtshauses »Zur Buche«

Alte Frau vom Markt

Helferin in höchster Not

Gerlach

Henker

Historische Persönlichkeiten sind mit einem * gekennzeichnet.

Sei gegrüßt, o Königin,

Mutter der Barmherzigkeit,

unser Leben, unsre Wonne

und unsere Hoffnung, sei gegrüßt!

Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas;

zu dir seufzen wir

trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.

Wohlan denn, unsre Fürsprecherin,

wende deine barmherzigen Augen uns zu,

und nach diesem Elend zeige uns Jesus,

die gebenedeite Frucht deines Leibes.

O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria.

Salve Regina (Marienantiphon)

PROLOG

Burg Wartenberg nahe Fulda im Jahre des Herrn 1265

Die dumpfen Schläge gegen das Holztor ließen die Menschen in der kleinen Halle im Eingangsbereich der Burg zusammenfahren.

Ängstlich spähte Lukardis zu ihrem Vater hinüber, der mit versteinerter Miene an der schmalen Öffnung im Mauerwerk stand. Die Arme hatte der fast asketisch wirkende Mittvierziger auf dem Rücken verschränkt, die Finger seiner gichtgeplagten Hände waren ineinander verflochten. So stark, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.

Wumm!

Lukardis zuckte erneut zusammen, während das monotone Gemurmel ihrer auf dem kalten Steinboden knienden Mutter schlagartig lauter wurde. An die Stelle der Eindringlichkeit ihrer Gebete trat eine leichte Hysterie, die bei ihrer siebzehnjährigen Tochter eine Gänsehaut hervorrief.

Wumm!

Die Holzbalken krachten, und Lukardis schnappte entsetzt nach Luft, als sie die vereinzelten Bruchstellen in der Mitte des Tores bemerkte. Außerhalb der Mauern war verhaltener Jubel zu hören. Ein scharfer Befehl erklang, und augenblicklich war es still. Die wenigen Wachen, die auf Befehl ihres Vaters vor dem Tor ausgehalten hatten, wichen zurück. Ein paar von ihnen zogen instinktiv die Schwerter, einige andere warfen verunsicherte Blicke in Richtung der Halle, in der sich ihr Herr aufhielt.

Doch Heinrich von Wartenberg zeigte noch immer keinerlei Regung.

Wumm!

Weitere Balken splitterten, und das unterdrückte Jammern der Köchin und der beiden Mägde, die sich auf Geheiß ihres Vaters ebenfalls in der kleinen Halle aufhielten, schwoll an. Selbst Lukardis, die keinerlei Erfahrung damit hatte, wie lange so ein massives Holztor den kräftigen Stößen des Rammbocks standhalten würde, erkannte, dass es höchstens noch zwei bis drei Angriffen zu widerstehen vermochte.

Bald würde es brechen und den Weg für die Männer des Abtes freigeben. Die dreitägige Belagerung würde dann von Erfolg gekrönt sein.

Hilfesuchend sah das Mädchen zu seiner Mutter und wusste im selben Moment, dass es von ihr keinerlei Unterstützung zu erwarten hatte. Die Frau, die ihr die letzten siebzehn Jahre mit Strenge und nötiger Härte beigebracht hatte, was Pflichterfüllung bedeutete, kauerte zusammengesunken vor ihr auf dem Boden. Ihre Gebete waren nur mehr ein leises Flüstern.

»Vater!«

Weder die Ansprache seiner Tochter noch der nächste donnernde Schlag gegen das Tor brachte Leben in die starre Haltung Heinrichs von Wartenberg. Er war kein Mann des Schwertes. Durch harte Arbeit und Loyalität gegenüber seinem Lehnsherrn, dem Grafen von Ziegenhain, hatte er sich als Ministeriale das Amt des Untervogts verdient. Ganz treuer Vasall, unterstützte er ohne einen Moment des Zögerns seinen Lehnsherrn, als dieser in einen Konflikt mit dem machtgierigen Abt des Bistums Fulda geriet.

Für seine Loyalität zahlte er nun einen bitteren Preis.

»Vater!«

Der schrille Schrei seiner Tochter riss den Burgherrn endlich aus seiner Apathie. Der Vogt starrte das Mädchen mit einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen an. Seine hohe Stirn war in Falten gelegt, die braunen Augen waren aufgerissen.

»Eure Männer warten auf Euren Befehl!«, schluchzte Lukardis und stürzte auf ihren Vater zu. Sie umklammerte seinen verkrampften Arm und zerrte daran. »Ihr müsst zu ihnen, bevor das Tor nachgibt!«

Sein Blick glitt flüchtig über das Gesicht seiner Tochter, und Lukardis erschrak, als sie die Leere in seinen Augen bemerkte. Trotzdem straffte er gleich darauf die Schultern. Hastig ließ Lukardis den Arm ihres Vaters los und trat einen Schritt zurück.

Die Schritte Heinrichs von Wartenberg waren unerwartet fest, als er die kurze Entfernung bis zur Tür der Halle zurücklegte. Lukardis vernahm ein erleichtertes Stöhnen hinter sich, als sich die Eingangstür hinter dem Burgherrn schloss.

Wumm!

Das Holz barst, und ein lautes Johlen durchbrach die gespenstische Stille. Mit angsterfüllten Augen suchte Lukardis den Hof nach der Gestalt ihres Vaters ab und atmete erleichtert auf, als er mit hocherhobenem Arm zwischen seinen Männern auftauchte.

»Legt die Schwerter nieder!«

Die raue Stimme Heinrichs von Wartenberg übertönte sogar das Siegesgeheul der Angreifer, als das Tor unter einem letzten heftigen Stoß auseinanderbrach.

Dem Mädchen schnürte es die Kehle zu, als die Männer des Abtes mit gezogenen Schwertern das letzte Hindernis passierten, das ihnen den Weg versperrt hatte. Fast mit Verwunderung registrierte sie auch ein paar Bauern, die ihre Mistgabeln wie eine Lanze bedrohlich von sich streckten. Der Blick der jungen Frau klebte am Rücken ihres Vaters, der breitbeinig und mit erhobenen Armen vor seinen Männern stand. Sein Schwert lag zu seinen Füßen, ebenso wie die Waffen der Männer, die für ihn auf der Burg ihren Dienst versehen hatten. Ein kümmerlicher Haufen von nicht mal einem Duzend Männer erwartete die brüllenden Angreifer.

In dem Moment geschah das Unglaubliche.

Die Soldaten des Abtes blieben beim Anblick der unbewaffneten Burgbesatzung abrupt stehen. Das Gejohle wurde schwächer, bis es schließlich verstummte. Noch immer verharrte Heinrich von Wartenberg aufrecht und mit erhobenen Armen vor seinen Männern, denen er keinerlei Schutz bieten konnte.

Obwohl Lukardis ihn nur von hinten sah, erfasste sie gleichfalls die Stimmung, die die Angreifer innehalten ließ. Die Fassungslosigkeit, die noch vor wenigen Minuten in der Halle beim Anblick ihres apathischen Vaters von ihr Besitz ergriffen hatte, wich einem Stolz, dessen Wärme ihr Innerstes erfüllte. Heinrich von Wartenberg umgab in seiner größten Niederlage eine Aura der Erhabenheit, die fast greifbar schien. Die grünen Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen. Dankbar griff sie nach der Hand ihrer Mutter, die sich endlich aus ihrer kauernden Stellung gelöst hatte und sich dicht neben ihrer Tochter hielt.

Der Zauber des Moments verging, als der Abt auf seinem Ross durch das zerborstene Tor ritt. Beim Anblick des Mannes, der für die demütigende Lage ihres Vaters die Verantwortung trug, spürte Lukardis nur noch Hass in sich. Für den Bruchteil eines Augenblicks wünschte sie sich, dass der schwarzgekleidete Körper des Kirchenmannes von einem der Holzbalken des zertrümmerten Tores erschlagen würde, um seinem machtgierigen Leben ein Ende zu setzen.

Stattdessen fiel ihr Vater auf die Knie.

Lukardis schloss die Augen. Die Finger ihrer Mutter krallten sich in ihren Arm, doch die junge Frau verspürte deswegen keinen Schmerz. Einzig der Anblick ihres Vaters auf dem staubigen Boden des Burghofs und das hochmütige Antlitz des Abtes bereiteten ihr unsägliche Qualen.

Qualen, die sich in ihre Seele einbrannten und die sie nie wieder vergessen sollte.

1. KAPITEL

November 1265

Drohend ragten die Mauern von Burg Ebersburg vor ihnen auf, als Lukardis fröstelnd die Enden ihres wollenen Umhangs mit den Fingern zusammenzog, die sich trotz des wärmenden Handschuhs steif und klamm anfühlten.

Ihr Blick folgte dem Pfad, der sich bis zur Burg ihres Verlobten schlängelte. Vor ein paar Tagen war der erste Schnee gefallen, und der harte Frost der letzten Nächte hatte die bunten Blätter des Herbstwaldes von den Zweigen geholt. Erneut erschauerte die junge Frau, doch dieses Mal zog sie das Kleidungsstück aus schwerer Wolle nicht enger über ihren schmalen Körper.

Es würde sowieso nichts nützen.

Die Kälte, die von Lukardis Besitz genommen hatte, seit sie sich auf dem Weg zu Hermann von Ebersberg befanden, hatte wenig mit der winterlichen und abweisenden Landschaft zu tun, durch die sie sich mit ihren Eltern und zwei bewaffneten Männern den Weg bahnte.

Der Blick der jungen Frau blieb an einem der beiden Türme hängen, und sie schnappte nach Luft. Für einen kurzen Augenblick hatte sich zwischen dem dicken Mauerwerk ein Mann gezeigt. Einen Wimpernschlag später war die schmale Öffnung wieder frei, so dass sich Lukardis nicht mehr ganz sicher war, ob ihre Augen ihr vielleicht einen Streich gespielt hatten. Möglicherweise hatte ihr die Furcht vor der nahenden Begegnung mit ihrem Verlobten den Blick getrübt?

Dabei war sie sich sicher gewesen, Hermann von Ebersberg dort oben im Turm erkannt zu haben.

Beim Krächzen eines Raben, den die stumme Reisegruppe auf dem gefrorenen Waldboden aufgescheucht hatte, zuckte Lukardis zusammen. Empört flog das schwarze Tier dicht an ihnen vorbei und landete in einer der hohen Buchen, die den Baumfällarbeiten der Ebersberger Männer entgangen waren.

»Mach nicht so ein trübsinniges Gesicht, Tochter!«, sagte Heinrich von Wartenberg, der sein Pferd neben das seiner in Gedanken versunkenen Tochter gelenkt hatte.

Der Versuch eines Lächelns misslang Lukardis gründlich, wie sie an der missbilligenden Miene ihres Vaters erkennen konnte.

»Verzeiht mir, Vater, aber der bevorstehende Besuch bereitet mir großes Unbehagen«, entgegnete sie entschuldigend. Noch im Reden wurde ihr bewusst, in welcher Situation sich ihr Vater befand, und sie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Die steile Stirnfalte in seinem schmalen Gesicht bestätigte ihre Vermutung.

Für Heinrich von Wartenberg stand mehr auf dem Spiel als eine mögliche Annullierung des Heiratsversprechens, das Hermann von Ebersberg vor gut drei Monaten abgegeben hatte. Denn der ehemalige Untervogt des Grafen von Ziegenhain kam als Besiegter. Ihm war alles genommen worden, was er sich in den vergangenen Jahren hart erarbeitet hatte. Dabei war Heinrich von Wartenberg bereits vor der Einnahme seiner Burg durch den Fuldaer Abt kein Gleichgestellter gewesen. Im Gegensatz zu den Ebersbergern entsprang er dem niederen Adel, hatte es aber durch seine Loyalität und seinen Fleiß weit gebracht. Doch die über viele Jahre hinweg bewiesene Treue zu seinem Lehnsherrn hatte dieser im entscheidenden Augenblick nicht erwidert. Graf von Ziegenhain hatte seinen Vasallen, ohne mit der Wimper zu zucken, fallen gelassen.

»Verzeiht mir, bitte!«, entschuldigte sich Lukardis zum zweiten Mal bei ihrem Vater, der es mit einem knappen Nicken registrierte.

»Dein Verlobter wird zu seinem Versprechen stehen. Du wirst sehen. Deine Sorgen sind unbegründet«, ermahnte Heinrich von Wartenberg seine Tochter. Damit schloss er wieder zu seiner Frau auf, die ein paar Schritte vor ihnen ritt.

Der leicht nach vorn gebeugte Körper ihrer Mutter erinnerte Lukardis bitter an den Tag der Erstürmung der Burg vor zwei Tagen. Sie hatte sich seitdem verändert. Aus der disziplinierten Burgherrin war eine in sich gekehrte Frau geworden, die um Jahre gealtert wirkte. Selbst die grauen Strähnen, die sich bisher vereinzelt in die langen kastanienbraunen Haare gemischt hatten, schienen sich verdoppelt zu haben.

Möglicherweise wird es so sein, dachte Lukardis, eingedenk der Worte ihres Vaters. Trotzdem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, wie eine Ware feilgeboten zu werden, die plötzlich und unvorhergesehen ihre Makellosigkeit verloren hatte. Ihr kam der kleine, silbern eingefasste Spiegel ihrer Mutter in den Sinn, der seit einigen Jahren blind war. Elisabeth behielt ihn nur, weil es sich um das Hochzeitsgeschenk ihres Gemahls handelte. Ich bin wie dieser Spiegel, dachte Lukardis bitter. Und das war wahrlich kein schönes Gefühl.

Es änderte nichts daran, dass die Beschädigung nur innerlich stattgefunden hatte, denn Lukardis’ ebenmäßiges Gesicht zeigte keinerlei Spuren der Tragödie, die ihre Familie in den Abgrund gestürzt hatte. Durch die eisige Kälte waren ihre Wangen leicht gerötet, was dem ansonsten bleichen Gesicht eine Frische verlieh, die Lukardis in sich nicht spürte. Verärgert presste sie die Lippen zusammen und straffte die Schultern. Sie sollte sich lieber eine Scheibe von ihrem entschlossenen Vater abschneiden, anstatt dem neuen Wesenszug ihrer Mutter nachzueifern.

Was hatte sie schon zu verlieren?

Schließlich war es nicht so, dass Hermann von Ebersberg ihr Herz erobert hatte! Im Gegenteil. Der Burgherr hatte in Lukardis eigentlich schon immer ein leichtes Unbehagen ausgelöst. Lag es an den durchdringenden Blicken, mit denen er sie von Anfang an gemustert hatte? Oder war es eher die Härte in seiner Stimme, wenn er mit Menschen sprach, die unter ihm standen?

Lukardis seufzte tief. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus all seinen Eigenschaften, die sie mit zunehmendem Widerwillen in den letzten Monaten an ihrem Verlobten entdeckt hatte. Demnach hätte sie eigentlich darauf hoffen müssen, dass Hermann von Ebersberg sein Versprechen zurückziehen würde, nachdem der Vater seiner Braut sämtliche Privilegien verloren hatte.

Trotzdem war dem nicht so.

Lukardis schluckte schwer, als sie die Erkenntnis überkam, dass sie sogar auf die Knie fallen und um die Hochzeit betteln würde. Die Vermählung war das Einzige, was ihrem Vater einen letzten Rest seiner Würde erhalten konnte. Die Verbindung seiner einzigen Tochter mit einem der einflussreichsten Adligen in der Umgebung Fuldas.

In gebührendem Abstand trat Lukardis kurze Zeit später an der Seite ihrer Mutter hinter ihrem Vater in die Halle von Burg Ebersburg, die sich links vom Eingang befand. Dankbar genoss die junge Frau die Wärme, die sie sofort umfing und von dem offenen Feuer an der gegenüberliegenden Seite des Eingangs herrührte. Im nächsten Moment wurde ihr jedoch bewusst, dass der Rauchabzug offenbar nicht richtig funktionierte, denn die Luft war stickig und machte sich gleich darauf mit einem unangenehmen Kitzeln in ihrem Hals bemerkbar. Lukardis versuchte den Hustenreiz zu unterdrücken und verschloss beim Anblick der Männer, die um den langen, derben Tisch herum saßen, ihre Miene.

»Heinrich! Wir haben gerade von Euch gesprochen! Tretet näher und setzt Euch zu uns«, dröhnte die mächtige Stimme Hermanns durch die Halle. »Oh, verzeiht mir mein Ungeschick! Ihr seid in Begleitung Eurer werten Gemahlin und meiner entzückenden Verlobten. Das Die­ner­pack hat mir die Sicht versperrt!«

Zum Entsetzen von Lukardis sprang Hermann von Ebersberg auf und versetzte dem Knecht, der gerade eine voll beladene Fleischplatte auf die lange Tafel gestellt hatte, einen Tritt. Für den Burschen kam die Attacke völlig überraschend. Ohne die Möglichkeit, sich irgendwo Halt zu suchen, stürzte er zu Boden.

Instinktiv umfasste Lukardis die Hand ihrer Mutter, die ebenso schockiert über das Verhalten des Burgherrn war wie ihre Tochter.

Hermann von Ebersberg schüttelte seinem Besucher überschwänglich die Hand, wobei er mit keinem Wort auf das zu sprechen kam, was der kleinen Familie vor zwei Tagen zugestoßen war. Wie gewohnt reagierte der ehemalige Untervogt sehr zurückhaltend und erwiderte die Begrüßung mit schlichten Worten. Trotzdem hatte Lukardis in der Haltung ihres Vaters eine Veränderung bemerkt, als der Burgherr von seiner entzückenden Verlobten gesprochen hatte. Diese beiden kleinen Worte hatten bewirkt, dass die Anspannung Heinrichs von Wartenberg etwas nachgelassen hatte.

Waren ihre Gebete erhört worden? Hatten sie keine Auflösung des Eheversprechens zu befürchten?

»Verehrtes Fräulein Lukardis«, begrüßte Hermann nun seine Braut und griff nach ihrer freien Hand, bevor Lukardis reagieren konnte. Sie hatte so sehr auf ihren Vater geachtet, dass ihr die knappe Begrüßung ihrer Mutter völlig entgangen war. »Wie schön, dass Ihr wohlauf seid. Das schreckliche Ereignis hat Eurer Schönheit ganz offensichtlich nichts anhaben können.«

Hermann hielt mittlerweile ganz ungeniert die schmale Hand seiner Verlobten zwischen seinen großen Händen, und Lukardis versuchte angestrengt, nicht auf das unangenehme Gefühl zu achten, das diese anmaßende Berührung in ihr auslöste. Die junge Frau räusperte sich, während sie dem anzüglichen Blick Hermanns mit unbewegter Miene begegnete.

»Nun ja, der Abt hat meinem Vater und damit auch uns gegenüber den nötigen Respekt erwiesen, nachdem er Burg Wartenberg eingenommen hatte. Keine Selbstverständlichkeit, will ich meinen, schließlich waren wir allein, ohne jede Hilfe von außen«, erwiderte Lukardis, deren Mutter bei ihren Worten scharf die Luft einsog.

Im selben Moment schoss Lukardis das Blut in die Wangen. Herr im Himmel, was ist bloß mit mir los?, dachte sie und biss sich auf die Unterlippe. Sie erkannte sich selbst kaum wieder. Normalerweise behielt sie ihre aufmüpfigen Gedanken für sich, so wie man es von einer jungen Frau ihres Standes erwarten durfte. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie die plötzliche Stille in der Halle und das ungläubige Staunen ihres Verlobten bemerkte. Erst als sich seine Gesichtszüge sichtlich entspannten, atmete Lukardis innerlich auf. Hermanns Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen, und seine braune Augen, die Lukardis bisher am besten gefallen hatten, wurden zu Schlitzen, als sein dröhnendes Lachen die Stille durchbrach.

Fast nebenbei vernahm Lukardis einen leisen Seufzer ihrer Mutter, während der Druck auf ihre Hand merklich nachließ.

So unvermittelt, wie das Lachen des Burgherrn begonnen hatte, brach es auch wieder ab. Die junge Frau war über den schnellen Wechsel mehr als verwirrt und lächelte unsicher, als sich ihr Verlobter mit nunmehr ernster Miene leicht über ihre Hand beugte.

»Mir scheint, dass Ihr durch das Erlebnis nicht nur reifer, sondern auch bedeutend schlagfertiger geworden seid, mein Fräulein.« Ohne ihre Hand loszulassen, trat Hermann von Ebersberg ein Stück zur Seite und bat seine Verlobte mit einer einladenden Handbewegung an die Tafel. »Erweist mir die Ehre und seid meine Gäste. Solange es Euch beliebt.«

Lukardis zögerte. Ein Blick auf das blasse Gesicht ihres Vaters, dessen zusammengepresste Lippen kaum noch zu erkennen waren, machte ihr bewusst, was ihr zukünftiger Gemahl mit seinem besonderen Verhalten ihr gegenüber bezweckte. Heinrich von Wartenberg hatte seine besondere Stellung als Vogt des Grafen von Ziegenhain in diesem Moment und hier in dieser Halle ganz offiziell eingebüßt. Indem der Burgherr keinen Zweifel an dem Eheversprechen ließ, seinem zukünftigen Schwiegervater jedoch so gut wie keine Beachtung schenkte, wies er ihn in seine Schranken.

Unter den Augen des Lehnsherrn ihres Vaters.

Der verächtliche Blick des Grafen von Ziegenhain, der in lässiger Haltung am Tisch saß und die Szene beobachtete, machte Lukardis wütend. Erst nach dem knappen Nicken ihres Vaters antwortete sie leise und mühsam beherrscht: »Habt Dank für Eure Großzügigkeit«, und ließ sich von ihrem Verlobten zu Tisch geleiten.

Während ihre Eltern ihnen folgten, kämpfte die junge Frau gegen das immer stärker werdende Gefühl der Übelkeit an.

»Meine Herren, heißt mein zukünftiges Eheweib hier in meiner Halle willkommen«, forderte Hermann von Ebersberg die vier Männer auf, die an der reich gedeckten Tafel saßen.

Lukardis fühlte sich äußerst unwohl, als sich alle von ihren Plätzen erhoben und ihre Becher in die Höhe reckten. Neben dem Lehnsherrn ihres Vaters erhoben sich Albrecht, einer der beiden Brüder ihres Verlobten, und Heinrich von Frankenstein. Beim Anblick der schmalen Gestalt ihres fast gleich alten Schwagers verstärkte sich das ungute Gefühl, denn bei den wenigen Gelegenheiten, in denen sie mit Albrecht zusammengetroffen war, hatte er sie ungeniert gemustert, wenn sein Bruder nicht hingesehen hatte. Den vierten Edelmann, ein blondgelockter junger Mann mit interessiertem Blick, kannte sie nicht.

»Ich danke Euch, werte Herren«, brachte Lukardis mühsam hervor und schenkte Heinrich von Frankenstein ein Lächeln, da ihm als Einzigem in der Runde echtes Mitgefühl anzusehen war. Lukardis erahnte den Grund dafür, denn der Fünfundzwanzigjährige hatte ein Jahr zuvor ein ähnliches Schicksal erleiden müssen wie ihr Vater. Auch seine Burg war auf Befehl des Fuldaer Abtes erstürmt und geschleift worden.

Die Schleifung stand Burg Wartenberg noch bevor.

Der ehemalige Herr von Burg Frankenstein war auch der Einzige, der sich an den gebotenen Anstand gegenüber Elisabeth von Wartenberg erinnerte.

»Darf ich Euch den Platz an meiner Seite anbieten, edle Frau?«, fragte Heinrich von Frankenstein und wies neben sich. »So könnt Ihr bei Eurem Gatten sitzen, denn auf der Bank ist genug Platz für uns alle.«

»Ich danke Euch, mein Herr«, erwiderte Lukardis’ Mutter, deren erleichtertes Lächeln nur zu erahnen war, da ihr straffgebundenes Kinnband nichts anderes erlaubte.

Das Lächeln der Braut vertiefte sich, als ihre Eltern dank der Freundlichkeit des Frankensteiners zu ihren Plätzen gingen, und erstarb augenblicklich beim unerwartet scharfen Ton ihres Gastgebers.

»Wenn Ihr nun so freundlich wärt und endlich Platz nehmen würdet, dann könnten sich meine Gäste ebenfalls wieder setzen und weiterspeisen.«

Lukardis unterdrückte den aufsteigenden Ärger über die unfreundliche Bemerkung Hermanns und ließ sich bewusst langsam zum ersten Mal in ihrem Leben am Kopfende der Tafel neben ihm nieder.

Eine Weile aßen sie schweigend.

Verstohlen betrachtete die junge Frau die anderen Männer am Tisch, während sie ihr Brot in die kräftige Fleischbrühe tunkte. Ihr Vater war mit seinen vierundvierzig Jahren mit Abstand der Älteste in der Runde. Die anderen Gäste hatten durchweg die dreißig noch nicht erreicht. Mit Ausnahme ihres Verlobten und des unbekannten Gastes trugen sie alle sorgfältig gestutzte Bärte und schulterlange Haare. Die blonden Locken des Unbekannten waren akkurat auf Kinnlänge gekürzt und er war als Einziger glattrasiert. Obwohl Hermann von Ebersberg durchaus stattlich zu nennen war, konnte er es an Eleganz mit seinen Besuchern nicht aufnehmen. Lukardis kannte ihn bisher zwar kaum, aber sie vermutete, dass ihren zukünftigen Ehemann solche Dinge wenig störten. Seine dichten braunen Haare fielen ihm bis knapp über die breiten Schultern, der struppige Bart wirkte ungepflegt.

»Schmeckt Euch der Wein nicht? Ihr trinkt kaum davon.«

Hermanns Frage durchbrach die Gedanken seiner Verlobten, und sie wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu.

»Er schmeckt vorzüglich, Herr von Ebersberg«, erwiderte sie pflichtschuldig und griff unter dem prüfenden Blick ihres zukünftigen Ehemanns zum Becher. Während sie ihn an die Lippen setzte, entspannte sich die steile Falte zwischen den dichten dunkelbrauen Augenbrauen.

Zufrieden nickte Hermann von Ebersberg und nahm selbst einen großen Schluck. Als er seinen Becher absetzte, ergriff der Graf von Ziegenhain, der zweifellos mächtigste Mann in dieser Runde, das Wort.

»Wie mir berichtet wurde, haben Eure Männer tapfer gekämpft.«

Lukardis hielt in der Bewegung inne und starrte wie gebannt zu ihrem Vater, der bisher kaum etwas von dem Wildbret angerührt hatte.

»Gewiss, das haben sie«, erwiderte Heinrich von Wartenberg ruhig. »Aber die Männer des Abtes waren uns um das Zehnfache überlegen, da sich auch einige Bauern seinen Männern angeschlossen hatten. Trotzdem haben wir zwei Tage erfolgreich Widerstand geleistet. Nachdem das Tor durchbrochen war, habe ich jedoch aus Sorge um die Frauen und Kinder, die bei mir auf der Burg weilten, den Befehl gegeben, die Waffen niederzulegen.«

»Ich nehme an, Ihr sprecht von Eurer Gemahlin und Eurer Tochter«, entgegnete sein Lehnsherr, hob seinen Becher und starrte für einen Moment irritiert hinein. Mit einer knappen Handbewegung winkte er einen der Diener heran. »Alle anderen sollten Eure Entscheidungen wohl kaum beeinflussen, mein Lieber.«

Lukardis spürte jenen Hass in sich aufsteigen, den sie noch jedes Mal empfunden hatte, wenn der hochmütige Graf bei ihnen auf der Burg weilte. Als hätte er ihre Empfindung gespürt, richtete er seine Augen auf die junge Frau, die schnell den Blick senkte.

»Wie dem auch sei. Burg Wartenberg ist für uns verloren. Unser ehrwürdiger Abt hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass er die Burg zu schleifen gedenkt«, fuhr Gottfried von Ziegenhain fort.

Die Schärfe in seiner Stimme ließ Lukardis aufblicken.

Die kalten blauen Augen des Grafen ruhten auf ihrem Vater, der sich sichtlich unwohl fühlte. Mit einer fahrigen Bewegung strich sich Heinrich von Wartenberg eine Strähne seines grauen, kinnlangen Haares hinters Ohr und räusperte sich leise.

»Er hat mich zu sich bestellt«, setzte er mit leicht unsicherer Stimme an, räusperte sich erneut und sprach dann ein wenig ruhiger weiter. »Ich soll in zwei Tagen in Fulda erscheinen, um mir die vertraglichen Bedingungen für den Frieden diktieren zu lassen. Ich gehe davon aus, dass unser Fürstabt nicht viel Federlesens machen wird. Er will Lauterbach stärken und dabei war ihm Wartenberg schon immer ein Dorn im Auge.«

Am Ende lag fast eine Spur Gelassenheit in Heinrichs Stimme, und Lukardis blinzelte ein paarmal, um gegen das verräterische Brennen in ihren Augen anzukämpfen. Trotz der schwierigen Situation hatte ihr Vater zu seinem natürlichen Stolz zurückgefunden. Er war nie einer von jenen Burgherren gewesen, die rücksichtslos ihre Macht verteidigten.

Möglicherweise hätte er dann nicht zu Kreuze kriechen müssen.

»Fürstabt«, knurrte Hermann von Ebersberg und knallte seinen Zinnbecher auf die mit tiefen Kratzern durchzogene Tischplatte. »Meiner Meinung nach ist dieser Titel viel zu mächtig für den Wicht!«

Für Lukardis war es nicht neu, dass die geringe Körpergröße des Abtes, dessen Weihe erst zwei Jahre zurücklag, oft genug den Spott einiger Adliger auf sich zog. Begonnen hatte es wahrscheinlich damit, dass Bertho II. die Burg der Herren von Schlitz zerstört und den Grafen von Ziegenhain damit in die Knie gezwungen hatte. Es sollte nicht die letzte Burg sein, die dem kriegswütigen Abt zum Opfer fiel. Graf Ziegenhain, dessen Vertragsunterzeichnung mit dem Abt sich seinerzeit auf Heuchelei gründete, war erneut von dem siegreichen Abt in die Schranken gewiesen worden. Wenngleich der Konflikt der beiden machtgierigen Männer in diesem Fall über Lukardis’ Vater ausgetragen worden war.

»Niemand bestreitet die geringe Körpergröße des Abtes«, sagte der Frankensteiner und schüttelte unwillig den Kopf. »Doch das ist ja wohl kaum unser Hauptproblem. Seit vier Jahren haben wir ihn nun bereits am Hals und lassen uns von ihm eine Burg nach der anderen wegnehmen. In aller Seelenruhe konfisziert er unsere Ländereien, die wir uns mühsam über Jahre hinweg angeeignet haben. Anstatt hier herumzusitzen und zu lamentieren, sollten wir uns lieber einen guten Plan überlegen, wie wir diesem Handeln ein Ende bereiten können.«

»Gut gesprochen!«, spottete Graf Ziegenhain. »Und was schlagt Ihr vor? Bertho ist zwar klein, aber von äußerst zäher Natur. Leider hat er sich nun mal in den Kopf gesetzt, das Eigentum des Klosters gemäß des Codex Eberhardi in seiner Gesamtheit wiederherzustellen. Das Recht ist in diesem Fall auf seiner Seite. Schließlich ist alles in diesem verdammten Kartular festgeschrieben.«

»Das Verzeichnis ist das Pergament nicht wert, auf dem es geschrieben steht, das wisst Ihr so gut wie alle anderen hier am Tisch. Und der Abt weiß es auch! Dieser kleine, hinterhältige Mönch hat das Kartular seinerzeit im Sinne des Klosters zusammengestellt«, ereiferte sich Heinrich von Frankenstein.

Elisabeth von Wartenberg fühlte sich augenscheinlich unwohl neben dem plötzlich so aufgewühlten Mann und rückte unauffällig ein Stück von ihm ab.

»Das hilft uns auch nicht weiter«, sagte Albrecht, der jüngere Bruder Hermanns von Ebersberg. »Das Kartular ist nun mal unanfechtbar. Wir können bloß versuchen, unsere Gebiete weiterhin mit Waffengewalt zu verteidigen. Bertho weiß ganz genau, dass wir nicht davon ablassen werden, seine Ländereien zu plündern. Nur so können wir ihn in seiner Macht treffen.«

»Bisher hat uns diese Strategie nicht weit gebracht«, wandte sein Bruder ein. »Wir müssen unsere Kräfte bündeln. Das ist die einzige Möglichkeit, gegen ihn vorzugehen, ohne sein Heer zu fürchten. Er kann es schließlich nicht mit allen Adligen in der Gegend aufnehmen.«

»Seid Euch da mal nicht so sicher«, brummte der Frankensteiner, nun wieder deutlich ruhiger, und schnitt sich ein weiteres Stück Fleisch ab.

Lukardis fröstelte bei seinen Worten. Sie kannte sich nicht mit Kriegsführung aus. Normalerweise war sie bei solchen Gesprächen gar nicht zugegen, denn Frauen hatten dabei nichts verloren. Trotzdem pflichtete sie im Stillen dem Herrn von Frankenstein bei. Wenn sogar die Bauern den Reichsabt unterstützten, war es sicher nicht einfach, den eben ausgesprochenen Plan in die Tat umzusetzen. Das Heer des Abtes bestand aus Rittern und einfachen Soldaten, die ihm treu ergeben waren. Lukardis hatte die Entschlossenheit in den Augen der Männer gesehen, die ihren Burghof gestürmt hatten.

Den Willen zu töten.

Noch etwas anderes beschäftigte die junge Frau. Es wollte ihr einfach kein überzeugender Grund einfallen, warum Hermann von Ebersberg die Verlobung nicht gelöst hatte. Und das trotz seiner offensichtlichen Verachtung gegenüber ihrem Vater, der seine Burg aufgegeben hatte, statt bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen. Das dröhnende Lachen ihres zukünftigen Ehemanns riss sie aus ihren trüben Gedanken. Die Runde hatte offenkundig mit dem unerfreulichen Gesprächsthema, das der verhasste Abt ihnen bot, abgeschlossen und damit auch ihren Vater von seinem Platz auf der Anklagebank entlassen. Doch der Satz, den ihr Verlobter beim Heben seines frisch gefüllten Bechers aussprach, verstärkte ihre Beklommenheit, anstatt sie von dem Druck zu befreien, der seit der einvernehmlichen Entscheidung ihres Vaters mit Hermann von Ebersberg auf ihr lastete.

»Und nun, Freunde, lasst uns auf das trinken, was mein Herz bereits seit einigen Wochen erfreut! Auf meine entzückende Braut und unsere Vermählung, die wir, davon bin ich in Anbetracht der neuen, äußerst schwierigen Situation überzeugt, ruhig ein wenig vorverlegen können.«

Aufgeschreckt von den Worten des Burgherrn, suchte Lukardis den Blick ihres Vaters, der ihr fast unmerklich zunickte und dabei zum Becher griff.

»Was habt Ihr, meine Schöne? Seid Ihr sprachlos vor Glück, dass Eure Zeit als Burgherrin von Ebersberg so schnell in greifbare Nähe gerückt ist? Trinkt mit uns auf unser gemeinsames Glück!«, forderte Hermann sie so leise auf, dass nur seine Verlobte den drohenden Unterton heraushörte, der in seinen leicht dahingesagten Worten mitschwang.

Lukardis zwang sich zu einem Lächeln, als sie seinem Wunsch Folge leistete. Sie hielt den schlichten, aber glänzend polierten Becher noch kurz in die Höhe, nachdem der goldfarbene, leicht herbe Wein kaum ihre Lippen benetzt hatte. Das verschwommene Antlitz einer bleichen, fast totenähnlichen Frau starrte ihr entgegen. Ihre roten Lippen stachen beinahe unnatürlich aus dieser Blässe hervor, und der Ausdruck, der in ihren grünen Augen lag, gab das wieder, was Lukardis seit dem Betreten der Burg Ebersburg gefangen hielt.

Unsägliche Furcht.

Die schwere Holztür war kaum einen Spaltbreit geöffnet, da drückte sich die kleine Gestalt bereits hindurch ins Freie. Der Lufthauch des Vorbeieilenden umfing den jungen Novizen, der nur mit Mühe ausgewichen war und mit weitaufgerissenen Augen dem Abt hinterhersah. Ein weiterer Mann hastete an dem Zwölfjährigen vorbei, die wehende Kukulle des Klostervorstehers fest im Blick. Sein lautes Keuchen rief ein breites Grinsen auf dem Gesicht des Novizen hervor. Der Mönch, ein dicklicher Mann von Anfang dreißig, konnte dem Klostervorsteher kaum folgen. Notgedrungen musste er zwischendrin immer wieder ein paar Laufschritte einlegen, da er andernfalls den Anschluss verloren hätte. Wieder rannte er ein paar Meter.

Ekkehard war ein eher gemütlicher Mensch, was nicht zuletzt an seiner Tätigkeit lag. Seit nun schon über vier Jahren arbeitete er als Skriptor im Kloster und hatte demzufolge keine größeren körperlichen Anstrengungen zu leisten. Unter seinen Mitbrüdern gab es nicht wenige, die ihn beneideten, wenn sie bei eisigem Wind und Schneetreiben die Pfade freischaufeln mussten. Sie hatten keinen blassen Schimmer von seinen ständigen Schmerzen im Rücken, die von der gebückten Haltung herrührten. Oder von den klammen, manchmal fast steifgefrorenen Fingern, denen die Kälte im Skriptorium zusetzte. Wenigstens glichen seine Augen noch immer denen eines Adlers und wurden erst nach vielen Stunden Arbeit am Pergament müde.

Der Abt hatte das Gebäude erreicht, in dem sich seine Wohnung befand und das den Abschluss des Klosterkomplexes bildete. Ekkehard hasste diese Jahreszeit, in welcher der neue Tag die Dunkelheit der Nacht nicht vor der Terz zurückzudrängen vermochte. Wie jeden Tag, kurz nach der Prim, hatte der Abt verzückt der Marienhymne gelauscht, die den Ostchor erfüllte. Bertho, ein großer Marienverehrer, hatte einst die Marienantiphon nach der Komplet eingeführt. Kaum vier Wochen später erfüllte der Gesang auch morgens das Gotteshaus.

Verschwitzt, aber erleichtert betrat Ekkehard nach ihm das zweigeschossige Haus, während Abt Bertho bereits die Treppe hinaufeilte. Schnaufend erklomm der Mönch die ausgetretenen Stufen und fragte sich dabei wohl zum hundertsten Mal, wie ein so kleiner Mann wie der Klostervorsteher solch ein Tempo vorlegen konnte. Große Männer machten weitausholende Schritte und kamen allein dadurch schneller vorwärts. Der Skriptor wurde das Gefühl nicht los, dass der Abt gerade aufgrund seiner geringen Körpergröße solche Gegebenheiten nicht akzeptierte und energisch bekämpfte.

Mit der gleichen Energie handhabte er das bei den aufständischen Adligen in der Umgebung von Fulda.

Hierin lag auch der Grund für die Eile des Fürstabts.

In drei Stunden, nach der Terz, erwarteten sie Heinrich von Wartenberg im Kloster. Bertho verspürte keinerlei Genugtuung bei dem Gedanken an die Demütigung, die er dem Vogt der Burg Wartenberg mit seinem Sieg zugefügt hatte. Höchstens ein klein wenig Freude darüber, wenn er ganz ehrlich war, dass er dem hochmütigen Grafen von Ziegenhain erneut seine Grenzen aufgezeigt hatte. Wie zu erwarten war, hatte der Graf seinem Lehnsmann jegliche Unterstützung verweigert, so dass Heinrich von Wartenberg auf sich gestellt war und die Bedingungen des Friedensvertrags akzeptieren musste.

Ekkehard kannte seinen Abt gut genug und ahnte daher bereits, dass dieser die ausweglose Lage des Geschlagenen auszunutzen verstand. Aufgrund seiner ausgeklügelten Strategien galt Bertho als Fuchs, auch wenn diese unbestreitbare Fähigkeit den unschönen Beinamen, den ihm die weltlichen Herren in ihrer Gehässigkeit gegeben hatten, nicht ausmerzen konnte.

Bertho hatte anfangs getobt, als ihm zu Ohren kam, dass die Adligen ihn nur »Abt Fingerhut« nannten.

Kurz darauf hatte er mit einem kalten Lächeln das nächste Ziel seines Feldzugs gegen die räuberischen Adligen verkündet. Ekkehard lief es bei dem Gedanken an die dunklen, kleinen Augen, die unter den buschigen, fast schwarzen Brauen lagen, kalt den Rücken hinunter. Er verehrte seinen Abt, der seit seiner Amtsübernahme das Stift förderte und als wirklicher Vater leitete.

Aber zum Feind wollte er ihn niemals haben!

Als Ekkehard Bertho in dessen Gemächer folgte, stand dieser bereits wartend an dem schweren Eichentisch. Die ganze Gestalt drückte Ungeduld aus.

Ungeduld und Unzufriedenheit.

Angefangen von der stark gerunzelten Stirn bis hin zu den vier Fingern seiner rechten Hand, die unablässig in gleichmäßigem Takt auf die Tischplatte trommelten.

»Bruder Ekkehard, mir scheint, dass Euer Körper mit den Jahren im Skriptorium verweichlicht ist. Ihr solltet zur Abwechslung unseren Brüdern bei der Arbeit im Kräuterbeet helfen, wenn der Frühling im nächsten Jahr Einzug hält.«

»Ja, ehrenwerter Abt, wie Ihr meint«, keuchte der Mönch und reichte dem kleinen Mann eine Pergamentrolle.

Pfeilschnell schoss der dürre Arm des Abtes vor. Mit seinen klauenartigen Fingern umschloss er die Rolle, auf deren Studium er schon seit zwei Tagen wartete. Selbst bei den Marienhymnen, denen er sonst immer besonders andächtig lauschte, waren seine Gedanken gelegentlich abgeschweift. Wie so oft, wenn ihn ein wichtiges Anliegen beschäftigte, das seine Gedanken kaum zur Ruhe kommen ließ. In einem seltenen Moment der Vertrautheit hatte der Abt sich dem Mönch geöffnet. Dass der Klostervorsteher diese Unart als Schwäche auslegte, war lediglich eine Vermutung Ekkehards, denn er ahnte, dass den Abt die weltlichen Aufgaben oft mehr fesselten als seine eigentliche Tätigkeit: die Führung des Klosters und seiner Gemeinschaft.

Die Ermahnung des Abtes verletzte den Skriptor, und er setzte zu einer Rechtfertigung an. »Ihr dürft nicht vergessen, dass ich Euch durch meine Arbeit im Skriptorium oft gute Dienste leiste. Außerdem scheint es nur so, als wäre das Schreiben eine leichte Angelegenheit. Gerade jetzt, so kurz vor dem Winter, werden die Finger nach kurzer Zeit starr vor Kälte und …«

»Ja, ja, schon gut, Bruder«, unterbrach ihn der Klostervorsteher rüde mit angewidertem Gesichtsausdruck, und der Mönch verstummte abrupt.

Ekkehard presste die Lippen aufeinander, so dass sein Mund in dem runden Gesicht nur noch als dunkler Strich auszumachen war. Innerlich ärgerte er sich darüber, dass er es einfach nicht schaffte, den Mund zu halten. Bertho hatte ihm schon mehrfach solche unschönen Dinge an den Kopf geworfen. Bisher jedoch, ohne den Worten Taten folgen zu lassen. Wieso sollte es dieses Mal anders sein?

Und richtig.

Der Abt beugte sich bereits tief über die ausgebreitete Schriftrolle und tauchte in die Sätze ein, die in schön geschwungenen Worten das Pergament füllten. Völlig versunken in den Inhalt der Urkunde, hatte Bertho seine Umgebung und damit auch den noch immer leise schnaufenden Mönch vergessen.

Ein zufriedenes Grinsen breitete sich auf Ekkehards eben noch verkniffenen Lippen aus. Sein Abt war sicher höchst einverstanden mit dem, was er in langen Stunden gestern beim schwachen Licht einer einzelnen Kerze niedergeschrieben hatte. Obwohl der Skriptor nichts weiter getan hatte, als den Willen seines Abtes in wohlformulierte Sätze zu fassen. Sätze, die das zukünftige Leben des ehemaligen Vogtes von Burg Wartenberg in Regeln pressen würden.

In harte Regeln.

Sie bedeuteten für Heinrich von Wartenberg den Verlust seines bisherigen Lebens und hinterließen gewiss mehr als nur einen bitteren Beigeschmack. Ekkehard empfand fast ein wenig Mitleid mit dem Mann, der in Kürze hier auftauchen würde. Andererseits war ihm bewusst, dass sein Abt den eingeschlagenen Weg unbeirrt weitergehen musste, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Den Überfällen und Plündereien musste dringend Einhalt geboten werden, damit die Bürger in und um Fulda wieder in Frieden leben und Reisende ohne Furcht den Handelsweg nehmen konnten. Diese Härte zog zwangsläufig Opfer nach sich.

Eines der Opfer würde in wenigen Stunden als gebrochener Mann diesen Raum verlassen, um den Vereinbarungen nachzukommen, die in dieser Urkunde niedergeschrieben waren. Leider kommt der hochmütige Graf von Ziegenhain wieder einmal ungeschoren davon, dachte Ekkehard bekümmert, tröstete sich jedoch mit dem Gedanken, dass sicher bald der Tag nahen würde, an dem diese Ausgeburt von Arroganz zu Kreuze kriechen musste. Sollte der Allmächtige dem Fürstabt noch ein paar Jahre Zeit auf Erden schenken, dann war dieser sicher in der Lage, dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde!

Als er den zufriedenen, fast freudig erregten Gesichtsausdruck des Abtes bemerkte, fröstelte Ekkehard und dachte wohl zum hundertsten Mal, dass er froh darüber war, auf der richtigen Seite zu stehen.

2. KAPITEL

Januar 1266

Die fröhlichen Töne, die der Musikant der Schalmei entlockte, verfehlten eindeutig ihr Ziel, denn mit jedem neuen Klang sank die Stimmung der jungen Braut.

Lukardis saß neben ihrem Ehemann Hermann von Ebersberg und konzentrierte sich auf die Spielleute, die er zur Hochzeitsfeier auf die Burg geladen hatte. Nebenbei versuchte sie ihr Lächeln beizubehalten, was sich als schwierig erwies, da ihre Gesichtsmuskeln mittlerweile völlig verkrampft waren. Das dröhnende Lachen ihres Gemahls zerrte an ihren ohnehin dünnen Nerven. Die Stimmung unter den Gästen wurde zunehmend ausgelassener, was sicher auch daran lag, dass der Wein in Strömen floss. Die Eltern der Braut waren bereits vor Einsetzen der Dunkelheit aufgebrochen, ebenso wie die Edelmänner, die in Begleitung ihrer Gemahlinnen zum Fest erschienen waren. Schaudernd stellte Lukardis fest, dass sich außer ihr kaum noch andere weibliche Personen in der Halle befanden. Bis auf wenige Ausnahmen hatten sich sogar die Mägde in die Küche zurückgezogen, um dort beim Abwasch und dem Nachschub an Speisen zu helfen. Das Bedienen war in der letzten Stunde offensichtlich zu beschwerlich geworden, da die meisten Männer dem Wein ordentlich zugesprochen hatten und ihre Hände nicht bei sich behalten konnten.

Die Hitze in der Halle, der fast ohrenbetäubende Lärm, der ständig an Lautstärke zuzunehmen schien, und zu guter Letzt die Musik brachten die mühsam aufrechterhaltene Fassade der jungen Frau zum Einsturz. Abrupt sprang sie von ihrem Stuhl auf, murmelte eine Entschuldigung in Richtung ihres Gemahls und bahnte sich einen Weg durch die übrig gebliebene Gästeschar. Angetrunkene Männer, die ganz offensichtlich vorhatten, die ganze Nacht durchzufeiern. Dabei versuchte sie verzweifelt, ihrer aufsteigenden Panik Herr zu werden.

Endlich hatte Lukardis die schwere Eingangstür erreicht. Mit einem knappen Nicken dankte sie dem Burschen, der ihr eilfertig öffnete, und hastete nach draußen. Eiskalte Luft umfing die aufgewühlte Braut. Lukardis atmete tief durch und legte dabei den Kopf in den Nacken. Überdeutlich wurde sie sich der Schwere des Schmuckstücks bewusst, das sie von ihrem Gemahl zur Hochzeit erhalten hatte. Das silberne Medaillon in Form einer Lilie, dem Wappen derer von Ebersberg, hing an einer grobgliedrigen, langen Kette über ihrem Gewand.

Einer kleinen weißen Wolke gleich entwich ihr Atem ihrem leicht geöffneten Mund. Mit unsicherem Blick wartete der Bursche ab, dann schloss er mit einem Achselzucken hinter ihr die Tür, um die Kälte aus der Halle auszusperren. Die Aufmerksamkeit der Menschen, die auf Kosten des Burgherrn im Hof das freudige Ereignis feierten, richtete sich nach und nach auf die junge Frau, die ab sofort den Platz an der Seite ihres Herrn einnehmen würde. Die Blässe ihres Gesichts hob sich fast gespenstisch von dem schweren Stoff ihres Surkots ab.

Das festliche Gewand aus dunkelblauem Brokatstoff war mit silbernen Fäden durchwirkt. Hermann von Ebersberg hatte das Oberkleid selbst in Auftrag gegeben, nachdem er mit einer verächtlichen Handbewegung den Vorschlag ihres Vaters, ein schlichtes, elegantes Kleid auf seine Kosten anfertigen zu lassen, abgelehnt hatte. Lukardis hatte sich von Anfang an in diesem protzigen Aufzug unwohl gefühlt. Selbst die Cotte, von der man durch den überlangen Surkot sowieso kaum mehr als die Ärmel und den Ausschnitt erkennen konnte, war aus teurem Tuch angefertigt. Alles an ihr erschien ihr fremd, so als trüge sie die Kleidung einer anderen Frau. Einzig der silberne Fürspan, den sie von ihrer Mutter erhalten hatte und der nun ihren Ausschnitt zusammenhielt, hatte ihr beim Einkleiden am Morgen das tröstende Gefühl von Vertrautheit vermittelt.

Die angeregten Gespräche und das Gelächter, die den von mehreren Feuern erhellten Innenhof der Burg Ebersburg erfüllten, verstummten allmählich, ohne dass Lukardis etwas davon mitbekam. Erst als außer dem Knistern des Feuers kaum noch etwas zu hören war, erwachte sie aus ihrem Dämmerzustand. Langsam hob sie den Kopf. Der Kälteschock und die Abwesenheit ihres Gatten hatten Lukardis innerlich zur Ruhe kommen lassen. Doch nun kehrte das Gefühl der Unruhe mit voller Wucht zurück. Bestürzt registrierte die junge Frau die vielen Blicke, die auf sie gerichtet waren. Blicke, in denen Verwunderung und Sorge zu lesen war, die jedoch auch einen Anflug von Belustigung zeigten.

Reiß dich zusammen, ermahnte sich Lukardis und zwang sich zu einem Lächeln, das seltsamerweise herzlicher wirkte als noch vor wenigen Augenblicken in der Halle unter den geladenen Gästen.

»Bitte, lasst euch von mir nicht stören. Feiert und genießt den Abend, liebe Leute«, forderte Lukardis die einfachen Bewohner der Burg und der Gehöfte am Fuß des Berges auf. »In der Halle ist die Luft so stickig, dass es mich nach der Kühle und Frische des Abends verlangt hat.«

Vereinzelt zeichnete sich auf den Gesichtern der Umstehenden ebenfalls ein Lächeln ab, und hier und da nahmen sie ein unterbrochenes Gespräch wieder auf. Erleichtert, dass sie mit ihren Worten und dem leichten, vergnüglichen Tonfall die Verwunderung der Leute zerstreut hatte, sagte sie erfreut zu, als einer der Männer ihr mit einer Verbeugung einen gefüllten Becher anbot. Das dunkle Getränk schmeckte überraschend gut und der süße Geschmack des Honigs hinterließ in ihr ein wohliges Gefühl.

»Hab Dank dafür«, sagte Lukardis und reichte dem Fremden das tönerne Gefäß.

»Möchtet Ihr uns ein wenig Gesellschaft leisten?«

Die angenehme Stimme des Fremden brachte Lukardis dazu, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er war vielleicht etwas älter als sie und trug die graue Kleidung des einfachen Volkes. Obwohl er kaum größer als sie war, wirkte er durch seine muskulöse Gestalt beeindruckend.

»Ich bin Bardo«, stellte er sich vor, während ein einnehmendes Lächeln seine vollen Lippen umspielte, und fügte erklärend hinzu, dass er als Schmied für ihren Gemahl arbeitete. »Wir würden uns sehr glücklich schätzen, wenn Ihr unser bescheidenes Fest für einen Moment mit Eurer Gegenwart beehren würdet.«

»Das ist sehr freundlich, aber ich fürchte, meine Abwesenheit in der Halle fällt sicher bald auf«, wehrte Lukardis mit einer entschuldigenden Geste ab.

Das Lächeln des blonden Schmieds erstarb abrupt, und verwundert darüber drehte Lukardis sich um. Sie spürte instinktiv, dass sein veränderter Gesichtsausdruck nicht auf ihre Absage zurückzuführen war. Das fröhliche Geplauder der letzten Minuten glich auf einmal dem Gemurmel von Menschen, die sich äußerst unwohl in ihrer Haut fühlten und nicht auffallen wollten.

»Hier seid Ihr!«

Die junge Frau zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres Gemahls erkannte. Kaum fünf Fuß von ihr entfernt stand er reglos da, und sein Blick verhieß nichts Gutes. Er hatte die Daumen in den Gürtel gesteckt, den er locker um die Taille gebunden hatte. In seiner dunkelroten, von Silberfäden durchwirkten Tunika bot der Burgherr einen ungewohnten Anblick, da Hermann von Ebersberg normalerweise ausschließlich in schwarzes Tuch gekleidet war. Zudem war sein Bart sorgfältig gestutzt, wie Lukardis am Morgen bei ihrem ersten Zusammentreffen aufgefallen war.

»Unsere Gäste vermissen Eure Anwesenheit, werte Gattin«, bemerkte Hermann mit nicht zu überhörender Schärfe.

Mit gestrafften Schultern ging Lukardis ihm entgegen und legte ihre Hand auf den dargebotenen Arm.

Nicht nur die Tatsache, dass die Gesellschaft in der Halle sie vermisste statt ihres Gemahls, sondern auch der harte Ton, in dem er vor den Bediensteten mit ihr sprach, ließen ihre Wangen vor Scham brennen.

»Verzeiht mir bitte meine Nachlässigkeit gegenüber unseren Gästen, aber es verlangte mich dringend nach ein wenig frischer Luft«, antwortete Lukardis mit schmeichelnder Stimme, zu der die Furcht in ihren Augen nicht recht passen wollte.

»Selbstverständlich verzeihe ich Euch, meine Liebe, schließlich seid Ihr erst seit einigen Stunden mein Eheweib und könnt daher nicht wissen, welches Verhalten meinen Unmut hervorruft. In der Zukunft solltet Ihr solche Eigenmächtigkeiten lieber unterlassen und vorher mein Einverständnis einholen.«

Lukardis nickte stumm. Obwohl es bei dem herrschenden Lärmpegel durchaus sein konnte, dass sie seine Worte falsch verstanden hatte, zweifelte sie keinen Moment daran, dass hier kein Missverständnis vorlag.

»Natürlich. Wenn Ihr es wünscht«, gab Lukardis zurück, eingedenk der Ermahnungen ihrer Mutter.

»Sei deinem Mann eine folgsame und pflichtbewusste Ehefrau, dann wird es dir sicher gut ergehen«, hatte Elisabeth ihrer Tochter am Abend vor der Hochzeit eingeschärft. Deren Frage, was sie im gemeinsamen Gemach denn erwarte, war die Fünfunddreißigjährige mit einem seltsam wehmütigen Gesichtsausdruck ausgewichen.

»Es gibt nichts, worüber du dich sorgen müsstest«, hatte die Mutter ihr anschließend mit strenger Miene erklärt. »Stell keine Fragen, sondern erfülle die Wünsche deines Gemahls. Er ist kein junger Bursche mehr und hat sich die Hörner sicher schon längst abgestoßen.« Elisabeth schloss ihre Ausführungen, indem sie Lukardis noch erklärte, dass die Dinge, die ihr Ehemann von ihr verlange, die Pflicht einer jeden Ehefrau seien.

Lukardis besaß zwar immer noch keine Vorstellung davon, was sich genau hinter dieser Pflicht verbarg, doch sie ahnte bereits, dass sich die Wünsche ihres sanften Vaters deutlich von denen ihres eigenen Ehemanns unterschieden.

Mit banger Miene schritt sie an der Seite Hermanns von Ebersberg durch die Menge, die sich vor ihnen öffnete und ihnen den Weg freigab. Die durchdringenden Blicke mancher Männer gefielen Lukardis ebenso wenig wie das anzügliche Grinsen, das sie bei einigen bemerkte.

Als sie ihren Platz erreicht hatten, stellte sich der Bräutigam auf die Bank und zog seine Braut zu sich hoch. Alles ging so schnell vonstatten, dass die erschrockene junge Frau überhaupt nicht reagieren konnte. Davon abgesehen ließ der feste Griff ihres Mannes Lukardis keine Wahl.

»Freunde, liebe Gäste!«, rief Hermann von Ebersberg und übertönte damit sogar den Lärm in der Halle.

Die Gespräche verebbten, die letzten Töne der Fidel brachen mit einem unangenehmen Quietschen ab, und nur noch vereinzelt war unterdrücktes Gelächter zu vernehmen. Stocksteif hielt sich Lukardis neben ihrem Gemahl und hätte sich am liebsten auf der Stelle in ein Mauseloch verkrochen. Dass auf den Gesichtern der Gäste zumeist gespannte Erwartung lag und nicht wenige der anwesenden Männer ihren Blick völlig ungeniert über ihre schmale Gestalt gleiten ließen, trug nicht gerade zur Entspannung der jungen Ehefrau bei.

»Noch nicht einmal ein Tag ist vergangen, seit ich dieses wunderbare Geschöpf geehelicht habe. Gewiss brauche ich niemandem von Euch zu erklären, warum wir nun Eure werte Gesellschaft verlassen und uns zurückziehen werden.«

Lautes und ungezügeltes Gejohle unterbrach Hermanns Rede, der mit einem breiten Grinsen beschwichtigend die Hand hob. Lukardis schämte sich so sehr wie noch niemals zuvor in ihrem Leben.

»Selbstverständlich seid Ihr heute Abend unsere Gäste. Bis zum nächsten Morgen könnt Ihr Euch an den Speisen und Getränken laben. Sollte irgendwann den einen oder anderen von Euch die Müdigkeit ereilen, so steht es ihm frei, in einer Ecke sein Nachtlager aufzuschlagen.«

Als Antwort erntete der Burgherr zustimmende Rufe, vereinzelt hörte man Becher aneinanderschlagen.

»Damit verabschieden wir uns nun, denn ich habe meine Pflicht als Ehemann zu erledigen. Eine Pflicht, die mir, wie ich gestehen muss, mehr als angenehm erscheint und die ich sicher jedes Mal aufs Neue mit Freuden erfüllen werde.«

Lukardis wusste beim besten Willen nicht, wohin sie schauen sollte, so peinlich war ihr die ganze Situation. Sie hatte zwar bisher nur zwei Hochzeiten von befreundeten Familien miterlebt, aber so eine Szene war ihr dort nicht untergekommen. Übelkeit erfasste sie und nur mit Mühe konnte sie sich an der Seite ihres gutgelaunten Mannes aufrecht halten. Als Schwindel sie erfasste, verstärkte sie instinktiv den Druck ihrer Hand, die Hermann fest umfasste.

»Genug der Worte, denn selbst mein Eheweib drängt es hinaus. Liebe Freunde, trinkt auf unser Wohl!«

Lukardis schwankte kurz, als ihr Mann ihre Hand überraschend losließ und vom Tisch sprang. Sein linker Arm schob sich an ihre Beine, kaum dass seine derben Stiefel den Boden berührt hatten. Ihre Knie knickten ein und im nächsten Moment landete sie in den Armen ihres Mannes, der sie, begleitet vom ungehemmten Gegröle aus unzähligen Kehlen, aus der Halle trug. Die Männer gaben den Weg frei, so dass sich die Menschenmasse wie von Geisterhand öffnete und sofort nach dem Paar wieder schloss.

»Bitte lasst mich herunter! Ich kann durchaus alleine laufen«, bat Lukardis ihren Gemahl.

Der schenkte ihren Worten jedoch keine Beachtung, sondern steuerte unbeirrt auf die Treppe zu. Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er hinauf, und sie erreichten gleich darauf eine Tür, hinter der Lukardis das Gemach ihres Mannes vermutete.

Unser gemeinsames Gemach, verbesserte sie sich mit bangem Blick ins Innere des Raumes, nachdem Hermann mit einem Stiefeltritt die offenbar nur angelehnte Tür aufgestoßen hatte. Ein einsames Öllicht stand flackernd wie zur Begrüßung auf einer derb wirkenden Truhe. Die Kälte, die Lukardis entgegenschlug, raubte ihr fast den Atem. Die Burg verfügte anscheinend nur über einen geheizten Raum: die Halle. Der Lärm, der von unten zu ihnen heraufdrang, war durch die dicke Decke etwas gedämpft, aber noch immer laut genug. Dank eines weiteren Stiefeltritts fiel die Tür hinter ihnen mit einem dumpfen Knall ins Schloss, und im nächsten Moment landete Lukardis unsanft auf dem riesigen Bett, das in der Mitte des Raumes stand.

Mittlerweile völlig verängstigt, blickte sie wie gebannt zu ihrem Mann auf, der sich vor dem Bett aufgebaut hatte. Die Hände in die Hüften gestemmt, starrte Hermann zurück. Lukardis war sich nicht sicher, ob ihm gefiel, was er sah. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, als sein Blick auf ihrem Gesicht verharrte.

»Was starrst du mich an wie ein verängstigtes Kaninchen? Ich werde dich schon nicht fressen, an dir ist eh kaum was dran«, brummte Hermann und machte sich an seinem Gürtel zu schaffen. »Worauf wartest du? Zieh dich aus!«

Zitternd vor Kälte und Furcht vor dem, was gleich kommen würde, setzte Lukardis sich auf und folgte seinem Wunsch. Mit ihren klammen Fingern schaffte sie es kaum, die Schnüre ihres Kleides zu öffnen, doch schließlich gelang es ihr. Das Rascheln von Stoff, gefolgt von dem Geräusch eines zu Boden fallenden Kleidungsstücks, schnürten ihr fast die Kehle zu. Plötzlich tauchten in ihrem Kopf längst vergessene Bilder auf. Bilder, die sie eigentlich niemals hätte sehen dürfen und die sie ihrer Neugier zu verdanken hatte. Der Neugier eines damals elfjährigen Mädchens.

Die kleine Lukardis hatte just in dem Moment dem Pferd ihres Vaters eine Rübe gebracht, als der Pferdeknecht mit einer der Mägde in den Stall kam. Die beiden flüsterten miteinander, und die junge Frau kicherte, als der Knecht sie neben sich ins Stroh zog. Lukardis hätte sich den beiden zeigen oder sich sogar aus dem Stall schleichen können. Doch sie tat nichts dergleichen. Stattdessen machte das Mädchen sich ganz klein und schaute dem Treiben der beiden zu. Lukardis erinnerte sich noch sehr gut an die gemischten Gefühle, die das seltsame Schauspiel in ihr hervorgerufen hatte. Trotz der Abscheu, die das mit strenger Frömmigkeit erzogene Mädchen beim Anblick der beiden ineinander verschlungenen Leiber empfand, hatte es sich der Faszination der Szene nicht entziehen können.

Jetzt, in diesem Moment, da sie sich den Surkot über den Kopf zog und den Blick gesenkt hielt, hörte sie noch einmal in ihrem Kopf das Stöhnen der Magd, das kurz darauf in einem unterdrückten Schrei endete. Seltsamerweise hatte Lukardis damals nicht den Eindruck gehabt, als hätte die Magd bei dem Akt Schmerzen erlitten.

»Geht das denn nicht schneller? Ich bin dir gerne behilflich, mein Täubchen!«

Hastig fingerte Lukardis an ihrem zarten, aus drei Schnüren geflochtenen Ledergürtel herum, um den Verschluss zu lösen. Als sich Hermann neben sie auf das Bett fallen ließ, erhob die junge Braut sich hastig. Ihr Herz hörte für einen Augenblick auf zu schlagen, als seine Finger ihren Arm streiften.

»Es ist kalt hier. Komm unter die Decke.«

»Ich bin gleich so weit«, flüsterte Lukardis, der die winzige Flamme der einzigen Lichtquelle im Raum mit einem Mal grauenhaft hell erschien.

Verzweifelt rief sie sich die Ermahnung ihrer Mutter in Erinnerung. »Es ist deine Pflicht als Ehefrau, Kind!« Mit einem Ruck zog sie sich das festliche Gewand über den Kopf. Frierend und unfähig, sich neben ihren Mann zu legen, stand sie nur im dünnen Unterkleid und mit ihrem schweren Hochzeitskleid im Arm vor der Bettstatt.

Hermann von Ebersberg gab ein entnervtes Stöhnen von sich und veränderte seine Lage im Bett. Zu spät bemerkte Lukardis, dass ihr ungeduldiger Ehemann sich zur anderen Seite gestemmt hatte und im nächsten Moment neben ihr stand. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zu ihm hoch und presste dabei das blaue Seidenkleid vor ihren fast nackten Körper. Voller Unbehagen darüber, dass ihr Gemahl noch nicht einmal mehr sein Unterkleid am Leib trug, rückte sie instinktiv etwas von ihm ab.

»Ich würde es zu schätzen wissen, wenn du dein schamhaftes Verhalten beiseitelassen könntest, Lukardis«, stieß Hermann mühsam beherrscht hervor. »Du bist jetzt mein Eheweib. Je eher du dich daran gewöhnst, umso besser ist es für dich … und mich.« Blitzschnell umfasste er den dünnen Stoff und riss ihr mit einem Ruck das Kleid aus den Händen. Dann ließ er beide Hände in den Ausschnitt ihres dünnen Unterkleids gleiten. Nur mit Mühe unterdrückte Lukardis einen Aufschrei, während sie versuchte, mit den Armen ihre Blöße zu verdecken. Hermann umfasste ihre beiden Handgelenke und zog mühelos die Arme seiner zitternden Frau zur Seite. Lukardis, die ihren Blick vor lauter Scham unverwandt auf sein Gesicht gerichtet hielt, bemerkte den veränderten Ausdruck ihres Mannes sofort. Der unverhohlene Ärger verschwand und machte Platz für etwas, das die junge Braut nicht gleich deuten konnte. Hermann kreuzte die Arme seiner Frau hinter ihrem Rücken, so dass sie den Oberkörper nach hinten beugen musste, um dem Druck nachzugeben. Sein Kopf näherte sich dem ihren, ohne dass er seinen Blick von ihr nahm.

In dem Moment fiel ihr ein, woran dieser Ausdruck sie erinnerte: Begierde! Genauso hatte der Lehnsherr ihres Vaters ausgesehen, als er eine der Tänzerinnen beobachtet hatte, die bei einem Fest auf Burg Wartenberg aufgetreten waren. Die junge Frau hatte sich Wochen später das Leben genommen. Ihre Leiche hatte man ein Stück weiter den Fluss entlang gefunden, und der leicht gewölbte Bauch hatte allen die Erklärung für ihren Freitod gegeben.

»Wie mir scheint, war mein Entschluss, dich zu ehelichen, gar nicht so falsch«, raunte Hermann ihr mit rauer Stimme zu, bevor er seinen Mund auf ihre Lippen presste.

Lukardis hatte noch nie zuvor einen Mann geküsst, daher war sie auf die Brutalität, mit der Hermann seine Zunge in ihren Mund schob, nicht gefasst. Gleich darauf ließ er von ihr ab und warf sie aufs Bett. Lukardis schnappte nach Luft, als sie den Körper ihres Mannes auf sich spürte, bevor er ihr erneut den Mund verschloss und mit unnachgiebiger Härte die Beine auseinanderdrückte. Die Braut schrie leise auf, als ihr Mann in sie eindrang und endlich ihren Mund freigab. Sie drehte den Kopf zur Seite und versuchte nicht auf den Schmerz zu achten, den seine harten Stöße in ihr verursachten. Als er kurze Zeit später stöhnend auf ihr niedersank, liefen ihre Tränen ungehindert über die Wangen und benetzten das Tuch, das die Strohmatratze bedeckte.

Fröstelnd erwachte Lukardis am nächsten Morgen. Sie brauchte einen Moment, bis ihr klar war, wo sie sich befand. Obwohl die Decke offensichtlich heruntergerutscht war und sie in dem eiskalten Raum erbärmlich fror, rührte sie sich nicht. Still lag sie da und lauschte nach verräterischen Geräuschen, die ihr anzeigten, dass sie nicht allein im Zimmer war. Doch weder das laute Schnarchen noch die tiefen Atemzüge ihres Gemahls waren zu hören.

Sie war allein.

Hastig griff Lukardis nach der Decke und zog sie bis zum Kinn hoch. Obwohl das Licht der Öllampe erloschen war, wurde die Dunkelheit durch vereinzelte graue Lichtstrahlen unterbrochen. Die Bretter, die zum Schutz vor dem eisigen Wind, der hier in den Wäldern unablässig gegen das dicke Mauerwerk ankämpfte, angebracht waren, ließen durch ihre schmalen Zwischenräume etwas Tageslicht herein. Es war trüb und versprach keinen sonnigen Wintertag.

Beim lauten Knallen einer Tür, gefolgt von dem gebrüllten Befehl eines Mannes, schrak Lukardis zusammen. Es war unzweifelhaft die wütende Stimme des Burgherrn, ihres Gemahls. Mit einem Mal war die Wärme des Bettes, in dem noch Hermanns Geruch hing, für sie unerträglich. Sie sprang hinaus und sah sich suchend im Zimmer um. An der Wand gegenüber von der Maueröffnung stand auf einem kleinen Tisch eine Schüssel mit einem Krug. Auf einmal verspürte Lukardis den brennenden Wunsch, sich zu waschen. Am ganzen Leib zitternd, hatte sie gerade den Tisch erreicht, als jemand die Tür aufriss und Lukardis vor Schreck nach dem nächstbesten Kleidungsstück griff, um ihre Blöße zu bedecken.

»Bist du endlich aufgestanden? Sieh zu, dass du in die Halle kommst. Die ersten Gäste wollen sich von dir verabschieden«, brummte Hermann verstimmt. Als sein Blick auf das Bett fiel, schüttelte er unwillig den Kopf. »Sag Margret Bescheid, dass sie ein frisches Laken überziehen soll.«

Mit einem dumpfen Knall fiel die Tür ins Schloss, und Lukardis, die die ganze Zeit über unbewusst die Luft angehalten hatte, atmete erleichtert aus. Dass ihr Gemahl nicht zu den rücksichtsvollsten Menschen zählte, war ihr bereits vor der Ehe bewusst gewesen.