Scirocco - Gerhard Michael Artmann - E-Book

Scirocco E-Book

Gerhard Michael Artmann

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Beschreibung

Das eigene Leben rückwärts bedenken? Nicht jeder hat die Chance und den Willen dazu. Der Blick zurück verändert unsere Geschichte. Wir vergolden sie. Wenn wir nichts aufgezeichnet haben, erinnern wir uns falsch. Der Autor hat in der DDR von 1980–85 etwa hundert Geschichten geschrieben. Einige sind Vorlagen für die im Buch veröffentlichten. Sie waren gut, aber in Unfreiheit und mit wenig Hoffnung geschrieben. Bei der Titelgeschichte "Scirocco" wird das besonders deutlich. Die alte Geschichte endet, als er sich selbst beim Graben in der Wüste wiederfindet. Der Weg in der Freiheit danach führte durch eine offene, surreale und beängstigende Welt, die den Mann herausfordert. Freiheit und Notwendigkeit im Westen wurden zu Eckpfeilern des Lebens. Als Professor für Biophysik ein Leben zu führen, war berauschend schön. Die Zeit verrann zwischen Forschung, Administration, Lehre und Reisen. Die Semester prasselten durch die Sanduhr. Das Schreiben verging scheinbar, aber es kam wieder. Unterirdisch, über Jahre, verdichteten sich die Worte. Der Ausbruch folgte über drei Monate lang in 2009 als Strom von Versen, bis nichts mehr kam. Die meisten Texte im vorliegenden Erzählband stammen aus den Jahren 2015 bis 2020. Es entstand "Scirocco", das erste Buch dieser Zeit.

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Gerhard Michael Artmann

Scirocco

Erzählungen

Für AysegülImmer

Wie hoch war es möglichfür menschenzu fliegen als die gedankennoch aus blei waren?

Inhalt

Buch 1

Was der Tag bringt

Der Eremit unterhalb des Lawinenhanges

Die Geschichte von Moob

Der Mann

Zwei im Boot

Bitte warten

Vorgesorgt

Fragrance

Mississippi River – Weltkrieg-Rückrunde, 1942

Chief

Die Berufung

Kaysers Nanni I

Kaysers Nanni II

Buch 2

Wenn du Liebe willst

Oh, oui je t’aime

Die Frau

Die Zauberin

Der Musiker und seine Sängerin

Nächte in weißem Satin

Let your mind go, let yourself be free. Freedom

Höllenfahrer

Der große Auftritt der Hanna P.

Wolgatreidler

Buch 3

Ich will mich von dir trennen

Warum kommst du nicht nach Hause?

Statik oder Der Kerl von Gestern

Überland

Ein mörderischer Schlag

Katzenspieler

Surrealistische Abbildung eines Modells

Zum Schützen

Sirenen

Judith unter den wogenden Rohren der Panzer

Kassandra und endlich der Ausbruch der Wittstocker Musikanten

Scirocco

Buch 4

Was der Abend bringt

Das Volk A.D. 33

Pilato Brutalo Stronzo In Habitato Kaipha Est Diabolo

Der lebende Riese – La città dei sedotti

Wölfe oder die wunderbare Brotvermehrung

Zweistromland

Mein Zimmer

Husemann

Sample number 1/2017

Pauls Kumpan

Abriss

Buch 5

Uns geht es soweit gut

Die Gedanken sind frei

Revisited – Warten auf den Bruder

Dann waren wir drüben und von da an hier

Buch 1

Was der Tag bringt

Du magst dich wundern

er bringt sich selbst zu uns

mit jener neuen sonne, seiner wärme und feuchte

und dem flügelschlag der turteltauben in meinem baum

was der tag bringt, ist

dass du, kind, dich nicht wunderst

dass der schlaf vorüber ist

und die schule immer noch dasteht

was der tag bringt

sind deine augen, süße

die eben noch geschlossen waren

und jetzt ein ganzes meer ausgießen

was unser tag bringt, ist

dass wir offensichtlich

überlebt haben

und dafür nicht sterben mussten

der tag bringt ihn

ihren ganz persönlichen henry

der auch heute aus dem mund stinkt

und sich immer noch ihr chef nennt

der tag bringt dich

freier blick auf den baum

und, mädchen, tritt in die pedale

damit du auch heute wieder dein herr sein kannst

er bringt dich

er bringt mich

er bringt uns alle zusammen

siehst du das?

abends allerdings nach dem essen

hau ich mir immer

hardrock in die knochen

damit ich den tag morgen auch gut lebe

Der Eremit unterhalb des Lawinenhanges

Junger dichter, he du!

musiker, poet, du maler

hab es nicht leicht in deiner seele

deine kunst wird nur in der hölle gebrannt

Es hatte tagelang geschneit. Seit dem Nachmittag schien wieder die Sonne. Der Eremit, unterhalb des Lawinenhanges wohnend, wusste, was sein wird: Eine Mittagslawine wird sich lösen und sein Haus ein weiteres Mal bedrohen. Sie wird den Hang kahlscheren. Offen blieb die Frage, wie weit sie gehen würde, ob sie Halt machte am auslaufenden Hang oberhalb seiner Hütte oder ob sie weiter hinabstürzen würde über die schwache Ebene hinweg, über die Hütte hin, den Hang weiter hinab auf das Dorf zu, das unten im Tal lag.

Er wird Gott nicht herausfordern. Er wird gehen. Morgen früh wird er aufbrechen und hinabgehen ins Dorf und von da weiter in die nahe Stadt. Dort wohnte der Freund, der die Weltsachen für ihn aufhob: einen guten Anzug, Schuhe, Weltschuhe, Hemden und einen Koffer. Dort wird er abwarten und sehen, was sein wird. Der Eremit hatte den Rucksack gepackt. Er enthielt seine Mappe, seine Bilder, seine Manuskripte, die Schreibmaschine und Fotos. Die Schneetreter standen bereit. Alles war für den Aufbruch getan. Die Hütte war gefegt, der Herd poliert. Die Mittagslawine würde die Hütte nicht ungerüstet vorfinden. Es gab noch andere Dinge, an denen er hing, doch die sollten bleiben. Auch die Rückkehr, die fragliche, sollte vorbereitet sein. Sollte er jetzt beten? Gott bitten: Lass die Hütte stehen, du weißt, dass ich sie brauche? Wozu? Die Dinge haben ihr eigenes Maß. Nichts würde geschehen, das nicht sein musste: Der Berg hatte seine Last loszuwerden. Das geschähe genau in dem Maße, wie es notwendig ist. Gott war auch für den Berg da. Wer war er denn, er mit seinen Bildern und den wenigen Texten? Die Sonne war durchgebrochen und warf gleißendes Licht auf den Berg. Wärme kam noch einmal auf. Sie war das eigentliche Signal. Sie und diese Totenstille. Allmählich setzte die Dämmerung ein. Der Eremit tat, was er schon oft getan hatte: Er schob sein Bauernbett vor die Tür unter den freien Himmel und legte sich nieder. Kein Frost war seinem Bauernbett gewachsen. Das war erprobt.

Die Sonne wich zögernd. Der Frost kam mit der aufkommenden Nacht. Der Eremit erwartete den ersten Stern am Abendhimmel. Er wusste, wohin er zu sehen hatte, damit er den Moment, in dem der Stern auftauchte, diesen Moment, der den Tag von der Nacht schied, nicht verpasste.

Er blickte in den Himmel und wartete. Er sah nicht genau in jene Richtung, in der er den Stern finden würde, sondern ein wenig davon abweichend. Das war sein Geheimnis: Das erste Erscheinen eines aufkommenden Sterns entzieht sich dem direkten Blick. Dies war seine Art, die Dinge zu erwarten. Dann erschien der Stern, und ab jetzt war Nacht. Mit zunehmender Dunkelheit stieg die Zahl der Sterne an. Bald waren sie unzählbar. Er wollte noch die erste Sternschnuppe erwarten. Wenn sie ihr kurzes Leben am Himmel lebte, dann würde er sich wünschen, dass das Kind, das seine Märchen liebte, in dieser Nacht in Frieden schlafen konnte. Das hatte er sich versprochen. Viele Sternschnuppen hatte er schon kommen sehen. Sie waren gegangen, ohne einen Wunsch von ihm. Er wollte gerecht sein: Vielleicht erfüllten sie immer nur den ersten Wunsch, der sie erreichte. Doch wer in der Welt konnte früher als er, der sie in dieser Stille kommen hören konnte, eine Sternschnuppe ausmachen? Er wollte nicht zu seinen Gunsten nutzen, was ihm auch nur geschenkt war. Nur heute wollt er eine Ausnahme machen. Jetzt. Sein Schlaf war traumlos wie stets.

Am Morgen stieg er ins Tal. Von dort kam heute keines der von früheren Abstiegen her bekannten Zeichen. Kein Schornstein rauchte im Ort. Keine einsame Kreissäge kreischte. Es herrschte unerwartete Stille. Er betrat die menschenleere Hauptstraße des Ortes. Der Parkplatz, auf dem sonst die Autos der Touristen warteten, war leer. Er ging die Hauptstraße weiter hinunter. Niemand kam ihm wie sonst entgegen. Einem Anschlag entnahm er, die Bergwacht hatte Lawinenwarnung gegeben. Die Zufahrtsstraßen des Ortes waren gesperrt worden. Am Ortsausgang talwärts hatte ein Schneepflug eine Wendeschleife geschnitten. Offenbar war davon Gebrauch gemacht worden. Eine Spur in den seitlichen Schneewänden verriet, dass auch der Versorgungslaster umgekehrt war. Er ging die Straße weiter hinab in die Stadt. Stille auch hier. Kein Mensch nirgends. Auf einer Zeitung, die in einem Kiosk hing, las er: »Lawine bisher ungekannten Ausmaßes wird erwartet.« In den seitlichen Schaufenstern lungerte die Ware. Der Eremit betrat das Haus seines Freundes. Dieser saß in einem Sessel und hatte den Fernseher eingeschaltet.

Gut, dass du kommst, begrüßte er den Eremiten, die Fernsehteams stehen mit ihren Hubschraubern vor deinem Hang und filmen den Abgang der Mittagslawine. Der Eremit fragte: »Ist sie schon niedergegangen?« – »Das wird jeden Augenblick erwartet«, antwortete der Freund. Der Eremit nahm vor dem Fernseher Platz und beobachtete, was gezeigt wurde. Der Hang lag in hellem Licht. Mehrfach wurden Aufnahmen anderer Hubschrauber eingeblendet, die ebenfalls vor dem Berg standen. Teams aus aller Welt warteten darin. Kameraleute hingen halsbrecherisch aus den Hubschraubern heraus. Zwischenzeitlich wurden Bilder von Flüchtenden gezeigt, Menschen, die die Bergregion verließen. Staus auf den Autobahnen. Erste Unfalltote. Hektische Kommentare der Sprecher. Nur der Berg schwieg.

Jetzt erschien die Hütte des Eremiten im Bild. Als dieser das sah, rief er: »Das dort ist nicht meine Hütte.« – »Doch, das ist sie, ich kenne sie doch«, erwiderte der Freund. Der Eremit entgegnete: »Sie ist es nicht, ich hatte mein Bett draußen stehen lassen, sie betrügen. Es ist auch nicht mein Berg. Schau doch, die Tanne dort wurde schon vor Jahren von einer Lawine mitgerissen.« Ein Sprecher kündigte nun die beabsichtigte Rettung eines einsam lebenden Eremiten an. Von einem Hubschrauber aus wurde ein Fallstrickleiter herabgelassen. »Ein Bergsteiger«, rief der Reporter, »wird ihn dort herausholen.« – »Sie sprechen von dir«, sagte der Freund verblüfft. »Gleich werden sie meine Rettung vorführen«, entgegnete der Eremit. Und wirklich: Der Bergsteiger, der hinabgestiegen war, trug einen Körper aus der Hütte. Sie wurden an Seilen in einen der Hubschrauber gehievt. In diesem Moment jubelte der Reporter: »Sie haben ihn gerettet. Er lebt.« Jetzt schwenkte die Kamera auf den Berg. Die Mittagslawine löste sich, fegte den Hang hinunter, riss die Hütte mit und stürzte weiter hinab ins Tal. »Gerettet«, schrie der Sprecher mehrmals nacheinander. Es klang wie »Tor, Tor …« Dann brach das Bild ab. Man zeigte jetzt den Eremiten inmitten eines Retterteams, das sich um dessen Wiederbelebung bemühte. Der Chefarzt des örtlichen Krankenhauses, groß im Bild, äußerte sich zuversichtlich: »Der Eremit wird überleben.« Er hatte noch einmal Glück gehabt.

Die Geschichte von Moob

Kafka, wenn du einsaman den buchstaben rochstdann kroch die liebe zum verstandund zeugte ein weiteres wort

Moobs Freund Jost kam herein.

Moob fragte, ohne sich umzuwenden, ob er es sei, Jost.

Jost nickte, obwohl Moob ihn nicht sehen konnte.

Moob dann: Setz dich schon her, alter Schweiger.

Jetzt saßen sie beide in der Ecke hinter dem Schrank, der den Blick zur Tür versperrte, aber dafür die Sicht zum Garten hin frei ließ.

An gewöhnlichen Tagen hätten sie hier ein, zwei Stunden nebeneinandergesessen und geschwiegen, bis die Dunkelheit kam und Jost gehen musste.

Jost brach gewöhnlich mit Einbrechen der Dunkelheit zum Dienst auf, denn er war Nachtwächter.

Ich geb es auf, sagte nun Moob.

Ja, erwiderte Jost, es lohnt nicht.

Hast du verstanden, Jost, ich geb es auf, ich breche ab.

Ich meinte, sagte Jost, du hast recht, es lohnt nicht, nicht abzubrechen. Ich habe schon lange gedacht, dass du abbrechen solltest.

Moob blickte Jost an. Und warum hast du dann nichts gesagt?

Jost schwieg. Er hielt die Frage für überflüssig.

Draußen fiel der erste Schnee.

Der Schnee fällt leicht dieses Jahr, fuhr Moob fort.

Ja, versetzte Jost.

Willst du nicht wissen, warum ich abbrechen werde?

Jost: Du hast es satt, zu sammeln. Irgendwann einmal hat man das satt, wenn man ehrlich ist.

Moob erwiderte nichts.

Jost blickte zur Decke. Dort hing ein Kronleuchter neben dem anderen: goldene, silberne, gläserne, hölzerne und andere aus Elch- und Hirschgeweih. Einer war aus Stahl. Moob bemerkte den Blick und sagte: Weißt du denn, wie lange ich gebraucht habe, um die alle zu sammeln?

Sechs Jahre, antwortete Jost, oder sieben, jedenfalls war das deine Kronleuchterphase.

Den da, Moob zeigte auf ein Monstrum aus Hirschgeweih, hab ich im Steinacher Hof geklaut.

Jost lächelnd: Es war Punkt zwölf, als ich die Sicherung herausgedreht habe.

Junge, muss ich damals verrückt gewesen sein, meinte Moob. Er strich sich über seinen erheblichen Bauch.

Jost blickte auf Moobs Bauchnabel, der zwischen den Knöpfen hervortrat, und fand: Dein Bauch hat sich auch gehalten, obwohl deine Fressphase lange vorüber ist.

Moob dazu: Ich hab damals reingehauen, weil ich unglücklich verliebt war.

Ja.

Und du warst glücklich, mein lieber Jost, ich erinnere mich genau.

Und beide wegen derselben Frau, versetzte Jost. Jost lächelte, das muss gegen Ende deiner Frauenphase gewesen sein.

Draußen fiel der Schnee sehr dicht.

Soll ich ein Licht anzünden?, fragte Moob.

Ich denke, es ist nicht nötig, erwiderte Jost, es ist wirklich unnötig.

Moob lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück.

Jost zeigte sich zufrieden, denn er konnte es nicht ausstehen, mit ansehen zu müssen, wie Moob Licht machte an der Kronleuchterdecke. Es war jedes Mal ein Wagnis für Moob. Erst nahm er die Streichhölzer, stellte dann einen Hocker auf den Tisch, stieg danach auf einen Stuhl, kletterte von da auf den Tisch, von dort auf den Hocker, und wenn er nicht die Streichhölzer unten vergessen hatte, zündete er die kleine Petroleumlampe an, denn keiner der Kronleuchter gab Licht. Zweimal bereits war Moob dabei abgestürzt und hatte sich verletzt.

Erinnerst du dich, Jost, fuhr Moob fort, als ich Regierungschefs gesammelt habe?

Ja, das war zwischen deiner Frauenphase und deiner Che Guevara-Phase.

Ich habe die Flaschen noch.

Jost: Ich weiß.

Moob griff in das seitliche Regal und nahm eine Shampooflasche heraus. Das ist Stalin auf dem Sterbebett, sagte er. Ich saß gerade in der Wanne, als ich in der Zeitung das Bild fand. Ich hatte nur diese Shampooflasche griffbereit. Siehst du, sie war nicht ganz trocken. Das Bild hat Ränder.

Und warum hast du nicht gewartet, bist du aus der Wanne heraus warst und die Flasche trocken war, bevor du das Bild hineingetan hast?

Ich habe gesammelt wie ein Verrückter, Jost, das weißt du doch.

Jost schämte sich. Er hätte schweigen sollen.

Der Schnee kam so dicht, dass kaum noch Licht einfiel.

Nur in der Schule war ich faul, fand Moob.

Warum hättest du lernen sollen?, fragte Jost. Du warst doch Sammler.

Das ist kein Beruf.

Jost schwieg.

Moob überging das Schweigen: Damals habe ich Schmetterlinge gesammelt. Es waren die schönsten Schmetterlinge, die es in der Gegend gab.

Ja.

Erinnerst du dich?

Natürlich! Du hast ihnen nachgesetzt, bis du sie hattest, und dann hast du ihnen eine Nadel durch den Körper gestoßen.

Bist du mir noch böse, Jost?

Nein, Moob. Damals begriff ich, dass du Sammler bist.

Moob nachdenklich: Damals wusste ich noch nicht, was das bedeutet. Er stellte Stalin in das Regal zurück. Und warum hast du die ganze Zeit zu mir gehalten, Jost?

Draußen fiel der Schnee so dicht, dass es im Raum vollkommen dunkel wurde.

Jost blickte hinaus und antwortete nicht.

Auch Moob verdrehte jetzt seinen Sessel so, dass er bequemer nach draußen blicken konnte. Nach einer Weile sagte er: Morgen geb ich die Sachen weg, Jost.

Doch Jost hörte ihn nicht mehr, er war eingeschlafen und atmete in tiefen Zügen.

Der Mann

Freund, ruh dich stehend ausnein, leg dichnicht hin nicht einschlafenwir brauchen dich aufrecht

Der junge Mann sah gut aus. Die Frau des Diktators hatte ein Auge auf ihn geworfen. Der Kerl war zudem intellektuell. Als er zur Toilette ging, folgte sie ihm. Auf dem Flur, bei dessen Rückkehr, zog sie an seinem Schlips. Der rutschte aus der Weste. Sie griff ihm ins Gebein. Der junge Mann war entsetzt. Der Diktator, der seine, diese Frau immer noch bestieg, aber hauptsächlich bei den Huren zu Hause war, saß nur zehn Meter weiter, nur durch die Tür vom Gang zur Toilette getrennt. Es schall sehr laut sein Lachen herüber. Sogar der Qualm seiner Zigarre zog seine Bahn zum Entlüftungsschacht des Klos. Jemand riss laut hörbar einen Witz über Huren, und alle lachten. Sie fummelte an seiner Hose herum und zog zugleich eine Titte heraus. Der junge Mann war wirklich attraktiv. Er war klug und unerfahren mit Weibern.

Das Mädchen, das der junge Mann vor wenigen Monaten getroffen hatte, wollte ihn gern heiraten. Ihr Vorname war Ànn. Sie hatte schon Ja gesagt, aber sie hätte den Kopf geschüttelt, hätte er sie nach Sex gefragt. Das war so damals. Sie wollte seine Ehe mit ihm, diesem Mann, und er wollte seine Ehe mit ihr, dieser Frau, mit Sex besiegeln, und zwar wenn alle Hochzeitsgäste weg waren. Sich gegenseitig die Klamotten herunterreißen, in die Ecke werfen und sich aufeinanderstürzen. – Macht nichts, wenn Blut fließt! – Sie wusste von ihrer Mutter, dass es ihr zu Beginn wehtun könnte, aber danach: »Wenn der Mann dich liebt, wirst du sehr glücklich sein.« Das Mädchen hatte dem jungen Mann dies in der Nacht auf der Bank vor dem Haus erzählt, kurz nachdem er es gefragt hatte, ob es seine Frau werden wollte. Die Hochzeit war für den kommenden Monat geplant. Es ging seither hoch her im Haus des Mädchens und in seinem, denn die Ehe zwischen Menschen, aus der Kinder entsprangen, das war keine Kleinigkeit. Es ging schließlich um die Zukunft. Da wurde gespart, da wurde zusammengekratzt, denn reich war niemand. Es sollte schön werden, damit diese beiden Menschen diesen Tag nie vergessen konnten. Das ganze Dorf war bereits eingeladen.

Der Diktator hatte heute Nachmittag einen seiner Unteroffiziere zu dem jungen Mann geschickt und ihn einladen lassen, zusammen zu essen und über die Zukunft des Landes zu reden. Er hatte freies Geleit versprochen. Dazu war der junge Mann bereit. Er zog seinen Anzug an, zu dem eine Weste gehörte, und ging hin. Es gab Speisen, von denen der junge Mann gelesen hatte, denn zeitgleich zu seiner anständigen Erziehung hatte er auch Kochbücher gelesen. Kochbücher entziffern war einfach für ihn, denn kochen konnte er. Er musste als Jugendlicher nur einzelne Worte begriffen gehabt haben, dann verstand er, was gekocht wurde, weil er eben wusste, wie gekocht wurde. So hatte er lesen gelernt. Später las er Nietzsche und Marx, Robinson Crusoe und alles, was ihm als geschriebenes Wort in den Weg kam. Er las die Bibel, sogar den Koran. Er hatte Konfuzius gelesen, der ihn besonders beeindruckte, und sogar ein wissenschaftliches Buch, die Doktorarbeit von Albert Einstein, die ein Verleger ins Spanische übersetzt und drucken lassen hatte. Irgendein Reicher aus den Villen der Umgebung hatte fünfhundert Exemplare davon gekauft und sie für jedermann in der Dorfkirche auslegen lassen. »Macht nichts, wenn die Leute sie mit nach Hause nehmen. Wenn die Bücher alle weg sind, besorge ich mehr.« So äußerte sich der reiche Mann. Der junge Mann hatte das Buch gelesen. Er weiß noch wie heute, wie sehr er sich gewundert hat, dass man auf Gedanken kommen konnte wie Einstein. Wie konnten Menschen denken, dass bei sehr hoher Geschwindigkeit alles anders ist? Sogar, dass es eine Geschwindigkeit gibt, die wir Menschen nicht überschreiten können. Der junge Mann hatte beim Lesen sehr wohl an den Rand der entsprechenden Seite geschrieben: »Gott hat uns Menschen eine Grenze unserer Geschwindigkeit gesetzt, jenseits derer ER sich bewegt.«

Und nun kniete die Frau des Diktators vor seinem Hosenlatz. Er wurde steif im Rücken, denn auch er wollte keine Frau gehabt haben vor seiner Frau. Sie guckte hoch. Er sagte: »Ich kann nicht, ich bin versprochen.« Sie ließ von ihm ab und äußerte: »Dann kann ich dir auch nicht helfen.« – »Macht nichts«, sagte er, »aber trotzdem vielen Dank.« Der junge Mann war für heute eingeladen, damit zwischen der Regierung und den Revolutionären mit ihm, dem Führer, endlich Frieden beschlossen werden sollte in seinem Land. Er war gern gekommen. Nicht, weil er nicht mehr im Wald und im Dreck leben wollte. Da wäre er zur Not auch gestorben, aber »Friede«, das war eine Sache. Warum sich nicht mit der Regierung an diesen Tisch setzen?

Die Frau des Diktators ging vor ihm zurück in den dining room. Er wartete aus Respekt, und damit kein Verdacht auf sie fiel, noch ein paar Minuten. Dann zog er nochmals die Spülung und kehrte zurück. Der Diktator und seine Frau hatten eine sehr anregende und anscheinend lustige Konversation. Er setzte sich zu ihnen und aß sein Tiramisu. Man trank noch einen Cognac.

»Auf die Zukunft!«

»Auf die Zukunft!«

Der junge Mann war natürlich als Führer der Revolutionäre nicht leichtsinnig gewesen. Er hatte neben seinem Fahrer auch zwei Sicherheitsleute mitgebracht, die draußen gewartet hatten. Er stieg nach dem Essen ins Auto und fuhr mit ihnen davon.

Nach etwa fünf Kilometern hielt eine Polizeikontrolle sie an und wollte ihre Papiere sehen. Der junge Mann beruhigte seine Leute und sagte: »Alles in Ordnung« und »Hier ist der Brief der Regierung, dass wir freies Geleit haben.« Die Streife bat ihn auszusteigen, und seine Begleiter auch. Sie führten sie um ein Haus herum.

Als sie hinter dem Haus waren, rief jemand: »Halt!« Es war ein Offizier der Regierungsarmee, der lässig mit halb erhobenem Gewehr hinter einem Baum hervortrat. Dann zeigten sich dessen Soldaten. Sie formierten sich in Reihe. »Eine Falle«, erschrak der junge Mann und griff zum Revolver. »Nicht!«, schrie jemand. Es war seine Verlobte. Man hatte sie an die Veranda gebunden. Er ließ den Revolver fallen, stürzte zu ihr und umarmte sie. »Ànn«, flüsterte er. »Warum bist du mir nur nachgegangen?«, fragte er entsetzt. »Legt an!«, rief jemand. Der junge Mann drehte sich um und drückte dabei seinen Körper gegen ihren, so, als könnte er aufhalten, was nun folgte. Mit geschlossenen Augen, ihre Hände in seinen, vernahm er die Salve wie aus weiter Ferne und erwartete den Tod.

Eine Unendlichkeit später sah er sich um. Er fand den Offizier leblos am Boden liegen. Die Soldaten flohen überstürzt. Seitlich stand die Frau des Diktators, dahinter ihre Männer. Ihr Gesicht war aschfahl. »Geht«, rief sie, »bevor er hier ist.« Ihre Stimme bebte. »Er hält sein Wort nie. Das hätten Sie wissen müssen. Er wird gleich da sein. Wenn er uns hier findet … Nehmen Sie Ihre Geliebte mit, und – werden Sie glücklich.« Ihre Worte klangen erschrocken und traurig zugleich. Sie waren leise gesprochen, als hallten sie aus ferner Vergangenheit wider.

Zwei im Boot

So stehen wir heute da: heldendes einundzwanzigsten jahrhundertsdeppen hinter sonnenbrillen und kappender blick gen unendlich gebrochen in plaste

»Wann hörst du endlich auf zu rudern? Das nützt doch nichts.« Ich habe ihn das schon mehrfach gefragt, und er hat nicht ein Mal geantwortet. Ich fragte ihn dann nicht mehr. Wenn er mit mir reden würde, könnte ich ihm sagen, warum ich zu dem Entschluss gekommen bin, aber wir redeten nicht miteinander. Andererseits, warum auch? Reden hätte auch nichts gebracht. Vor dem Aufbruch von unserer Insel hatten wir gelegentlich noch miteinander gesprochen. Manchmal gab es sogar Gespräche. Wir malten uns dann aus, wie süß die Freiheit sein würde, was wir essen und trinken würden, und dann die Frauen, wenn wir einmal von hier weg sein würden. Reden hatte natürlich keinen Sinn, aber das Aussprechen von etwas, genau gesagt, unsere gesprochene Erinnerung an Erlebtes, gäbe uns Hoffnung. Dort draußen hinter dem Horizont, das wussten wir doch, gab es eine Freiheit. Wir sehnten sie auf eine Art herbei, wie es sich vermutlich kein Mensch, der in Freiheit lebt, vorstellen kann. Freiheit ersehnen, wie wir es taten, können nur Menschen, die von der Welt ausgeschlossen waren wie wir.

Wir wussten nicht, warum und wie es geschehen war. Wir wussten nur, dass es so war, und das war furchtbar real. Das Letzte, an das ich mich im früheren Leben erinnere, war eine Frau auf meinem Schoß mit einem Glas Champagner in der Hand, die Flasche zu dreihundertfünfzig Dollar. Hier auf diesem sandigen Eiland fand ich mich wieder. Sie hatten mich auf den Strand geworfen und gesagt, dass ich von nun an frei sei. »Frei wie Robinson, schauen Sie doch, ist das nicht fabelhaft, die Sonne, das Meer, die Fische, alles da, um Sie glücklich zu machen, alles wie auf einer Postkarte.« Dann verschwanden sie und ließen mich zurück. Später traf ich ihn an. Auch er war ausgesetzt und mit den gleichen Worten zurückgelassen worden. Wir waren beide ratlos und fragten uns immer wieder, was geschehen war.

Auf dem kleinen Hügel gab es natürliche Zisternen. Sie enthielten Regenwasser. Der Hügel war nicht sehr hoch. Trotzdem bestiegen wir ihn zu Beginn mehrmals täglich, um nach Rettung zu sehen. Aber es gab keine Rettung, kein Schiff, nirgendwo. Wie bei Robinson Crusoe, aber kaum ausgestattet mit Werkzeugen und anderen Utensilien, wie er sie vorgefunden hatte, lebten wir notgedrungen weiter. Das Fischen gelang uns bald. Es gab Bäume mit Früchten und Schatten vor der Sonne und natürlich das Meer. Zwischen uns beiden, die sich vorher nie getroffen hatten, gab es zu Beginn Annäherungen. Jeder erzählte dem anderen sein Leben. Wir wechselten uns ab bei den Verrichtungen und sprachen auch über Privates, belanglose Dinge meist.

Damals hatten wir noch geglaubt, dass es vielleicht einmal gelingen könnte, von hier wegzukommen. Wir mussten nur gesund bleiben und ausharren. Dabei ein Wort zu wechseln verkürzte die Zeit. Wir kamen sogar so weit, dass er eines Abends begann, mir eine Geschichte zu erzählen, eine vollkommen frei erfundene, wie er sagte, beim Fischen ausgedacht. Mir fällt das Erzählen nicht ganz so leicht, aber ich übernahm daraufhin den Versuch, das Leben meiner Großeltern zu erzählen, von Beginn an, immerhin in 1894. Unsere Zweifel daran, dass wir gerettet werden würden, waren uns lange nicht bewusst, sehr lange.

Wäre es anders gewesen, hätte es zwar auch nichts genutzt, aber trotzdem wundere ich mich heute.

Eines Abends brach er mitten im Gespräch ab, schaute mich direkt an, was er sonst nie tat. Er redete gewöhnlich zum Himmel, mit halb angehobenem Kopf, auch wenn er mit mir sprach.

»Das hier wird doch alles nichts mehr. Hier kommen wir nie weg.«

Das hatte mich nicht wie ein Schlag getroffen, aber es wunderte mich doch, wie sehr ich auf diesen Satz innerlich vorbereitet gewesen war. »Nein, das wird nichts mehr«, stimmte ich zu, »wir werden hier verrecken. Wenn ich nur wüsste, wie wir in diese Lage gekommen sind. Weißt du es denn?« Das Letzte, an das er sich erinnerte, war, dass er in einem Krankenhaus gelegen hatte.

Ab jenem Zeitpunkt wurde uns unsere Lage immer bewusster. Eines Tages würden wir durchdrehen, eines Tages. Es würde uns verrückt machen, dass wir alles kannten, und nicht etwa, dass wir verhungern konnten oder unheilbar krank werden würden. Wir kannten jeden Felsvorsprung am Ostufer und jedes Sandkorn im Westen. Sogar die Fische schienen uns zu kennen. Sie ließen sich willig fangen, wie zum Hohn. Noch ihr letztes Zucken im Sand am Strand sagte uns: So viele von uns ihr auch vernichtet, ihr seid nicht frei und werdet niemals mehr frei sein. Und damit ihr sehr lange was davon habt, opfern wir uns. Die Sonne tat ein Übriges. Oft war sie uns früher willkommen gewesen. Ganz zu Anfang hatten wir uns ihr sogar nackt ausgesetzt, um zu bräunen, damit wir später den Mädchen gefielen. Den Mädchen gefielen, höhnte es bald, hier gab es sie nicht, aber diese Sonne gab es. Es war, als wollte sie uns sagen: Schaut her, es hat euch doch immer an Licht gefehlt, an Sonne und Wärme. Hier habt ihr sie, ich gebe sie euch. Stattdessen suchten wir den Schatten. Dort dösten wir die Mittage über. Mehr als einmal träumte ich davon, wie sie uns verhöhnten, das Meer, die Fische, die Sonne, der Sand, die Bäume, der Strand, einfach alles hier, sogar der blendend blaue Himmel.

Einmal im Traum begegnete mir die Sonne. Sie höhnte: »Wir waren euch doch nicht so wichtig damals, als ihr frei gewesen seid. Wir waren doch nur Beiwerk, Accessoires für eure Kameras oder Schlachtfelder für eure Kriege. Der Sand war nicht die Erde unter euch, sondern nur Dreck unter euren Füßen. Ihr hattet soviel Stand, dass ihr auf sie gestemmt gegeneinander angetreten seid, habt Kriege geführt und die Erde mit Blut bespritzt und mich, die das letzte Ächzen Gefallener und das Weinen von Kindern hören musste, zum Verzweifeln gebracht. Habt ihr es endlich kapiert, wie sehr ihr uns braucht? Jetzt kommt ihr nicht mehr los von uns. Ihr wollt übers Meer gehen, jede Gefahr eingehen, um wieder irgendwo auf Land zu sein, an das ihr ebenso wenig gedacht habt wie hier am Strand. Fliegt doch zum Mars, Idioten, oder holt euch euer Gold vom Mond, das ist uns alles egal.«

Sie waren klare Drohungen, mein Albträume, so real, dass ich einmal davon aufgewacht und geschrien haben soll: »Ja verdammt noch mal, wieso fragt ihr mich das denn, wozu wollt ihr mich quälen? Ihr habt doch alles!« Sie erinnerten mich auch tagsüber daran, wie achtlos wir unsere Zeit hatten vergehen lassen. Die Zeit der Freiheit, die Zeit überhaupt, bevor wir hier ausgesetzt worden waren. Auf dem Eiland gab es keine Zeit.

Zu Beginn, als wir jenes Boot umgeschlagen am Strand fanden, eines Morgens nach einer an sich windstillen Nacht, waren wir enthusiastisch, auch wenn wir uns sehr über das Boot wunderten. Wie war es hierhergekommen? Strömungen!, fiel mir ein.

Es gibt hier unten Strömungen, die müssen es hergetrieben haben. Er ließ sich und ich ließ mich, ja, wir ließen uns zu einer spontanen Umarmung hinreißen.

Das Boot war gerade mal groß genug für vier Mann. Es war verdreckt, Reste eines Netzes ragten über die Bordwand ins Wasser. Daneben schwang, sich im Gang der Wellen wiegend, allerlei Angeschwemmtes, Reste von Wasserpflanzen, ein Netz, eine Plastiktüte, die Reste eines zerrissenen Kissens und so etwas wie ein Bilderrahmen. Das Boot schien dennoch sonderbar wenig mitgenommen von der See und dem Salzwasser. Es war sogar erstaunlich gut erhalten. Uns war das gleich, es war ein Boot, und ein Boot konnte Freiheit bedeuten. Obwohl, ich war sehr skeptisch, in diesen Breiten, weit im Süden gab es keine Schifffahrtsrouten. Ich behielt meine Zweifel für mich.

Er fummelte im Boot herum. »Hier, das Beste ist dieser Tank mit Süßwasser. Sieh mal, sogar ein Hahn ist dran. Das sind einige Liter, damit kommen wir weit, mein Lieber.« Ich schmeckte es und fand es erstaunlich gut. Es war nicht brackig wie unser Regenwasser aus den Zisternen. Dieses Wasser hier konnte unmöglich sehr alt sein. Daneben fanden wir das Beste, das Beste überhaupt, eine wasserdichte Metallkiste, die unter der Hinterbank angeschnallt war. Wir öffneten sie und fanden einen Schatz. Zwei Sixpacks Coca-Cola, drei Kommissbrote, knochenhart und dunkelbraun, drei Fleischbüchsen. Nicht mal deren Haltbarkeitsdatum war abgelaufen.

Ganz unten lagen zwei Päckchen Kaugummi und ein Zettel. Darauf stand in Portugiesisch:

»Das ist für euch, für euch und euren Aufbruch, und damit ihr die Hoffnung nie verliert. Achtet einander und gebt auf euch acht. Verliert nicht eure Würde, vergesst nie, wer ihr seid. Menschen! Und vergesst nie, was euch hält.

Ferdinand Magellan der Jüngere

Anno Domini Neunzehnhundertfünfundachtzig.«

Wir schauten einander an. Er warf den Brief in die Kiste zurück, und wir stürzten uns auf das Essen. Das Brot war essbar, wenn wir Stück für Stück im Mund zerkauten. Als ich zu einer Coladose griff, fasste er meine Hand und sagte: »Nur eine jetzt, die teilen wir uns, die beiden anderen nehmen wir mit, und mit dem Brot machen wir es genauso. Okay?« Das Haltbarkeitsdatum! Wie lange hielt sich eingemachte Fleischwurst denn? Jahre? Monate? Tage? Ich hatte mit vierzehn Tagen zu rechnen begonnen, um nicht den Mut zu verlieren. Unsere Insel lag dem Sonnenstand nach sehr weit südlich. Die Strömung hier betrug nach meiner Erinnerung ziemlich weiträumig drei Meilen pro Stunde. Wie viele Meilen war dann jener Mensch weg von uns, der dieses Boot ins Meer gesetzt hatte? War er anfangs auch im Boot gewesen? Der volle Wassertank und die Metallkiste sagten deutlich Nein. Die Entfernung dorthin war, so oder so, größer als Deutschlands längste Diagonale, schloss ich meine Berechnung entmutigt. Und wenn Fleischwurst sich länger hält als vierzehn Tage, dann betrug sie zweimal um die Erde. Ich verlor alle Hoffnung und erzählte ihm von meinen Überlegungen und Berechnungen. Er blickte mich nur an.

Das war der Zeitpunkt, ab dem er kaum noch sprach. Wir machten das Boot am selben Tag noch flott, so gut es ging. Schon am kommenden Morgen ruderten wir davon. Genauer gesagt, er ruderte uns davon. Ich hatte mein linkes Bein bis zum Knie vor Jahren bei einem Unfall verloren. Darum konnte ich diese Arbeit nicht mit ihm teilen. Als ihm das nach ein paar meiner Versuche klar wurde, sagte er: »Na ja, kannst dich schlecht abstützen, ein Bein reicht nicht. Lass mich ran.« – »Aber ich kann navigieren«, sagte ich wie zur Entschuldigung. Er antwortete nicht.

Er öffnete die Kiste und gab mir von allem die Hälfte. »Warum tust du das?«, fragte ich verwundert. »Am Ende wird es hart, da sollten wir das vorher klären.« Er wies auf die beiden Rationen. »Und den Zettel?«, fragte ich weiter. »Nicht wegwerfen, falte ihn zusammen und leg ihn zurück«, antwortete er. Ich war wütend. »Der Witzbold, der das geschrieben hat, kann sich seine Worte sonstwohin stecken.«

Er nickte und begann wortlos zu rudern. Wir saßen uns gegenüber und schauten meist auf den Boden des Bootes. Er hätte mich anschauen sollen. Das wäre die korrektere Haltung beim Rudern. Stattdessen blickte er auf seine Füße. Das war sicher anstrengend. Ich bemerkte schon am ersten Tag, das alles hier ging ihm gegen den Strich. Mir ging es jedenfalls so. Hätten wir gesprochen, wäre alles leichter gewesen, aber ich hatte mehrfach angesetzt, vergeblich. Er redete nicht mehr, seit er ruderte.

Manchmal blickte er geradeaus, an mir vorbei zum Horizont. In der Hoffnung ein Schiff zu sehen? »Aber«, sagte ich dann in wiederholter Regelmäßigkeit, »mein Lieber, hier gibt es keine Schiffe, und wenn es welche gibt, dann sind sie hunderte Meilen weit weg von uns. Ich habe abgeschätzt, wie weit südlich wir uns befinden. Schau, wie tief mittags die Sonne steht. Hier fahren keine Schiffe. Es gibt hier keine Schiffe, nicht einmal die Hoffnung darauf.«

Wenn wir miteinander geredet hätten, hätte ich ihm das näher erklären können und mir wäre leichter gewesen. Stattdessen ruderte er schweigend weiter. Erstaunlich, wie zäh er durchhält, fand ich, rudert zwei Stunden, nickt ein, wacht auf, wäscht sich das Gesicht und rudert weiter.

In den ersten Tagen nahm er nur einmal täglich häppchenweise von seinem Essen. Solange er das tut, dachte ich, hat er Hoffnung. Ich machte es ihm nach. Ich blickte in den Himmel. Er war wolkenlos blau, seit ewigen Zeiten, schien mir. Der Hunger wurde bald schon dringender. Ich hatte die Tage nicht gezählt, aber es konnten nicht sehr viele gewesen sein, da hatte jeder von uns noch etwas Brot und einen Schluck Cola. Trotz aller guten Vorsätze hatte ich anfangs mehr gegessen, als ich mir vorgenommen hatte. Er hatte es bemerkt, aber nichts gesagt. Er blieb eisern bei seinen Rationen.

Eines Tages kämpfte ich mit mir bereits am Morgen. Jetzt, nein, jetzt. Nein! Noch eine Stunde warte ich! Bis zum Sonnenuntergang warte ich, dann, dann werde ich alles auf einmal aufessen. Ich werde schlemmen wie nie vorher. Dann werde ich schlafen, bis die Sonne wieder aufgeht, oder auch für immer. Egal, wenn es denn so sein soll, dann werde ich endlich Gewissheit haben, dass mich nichts mehr in diesem Boot hält.

Ich ließ mein Bein seitwärts ins Wasser baumeln und schaute auf das Meer. Das machte ich mehrmals am Tag. Es war gut für den Kreislauf, dachte ich in den mir immer ferner erscheinenden Gedankengängen meines vorherigen Lebens. Ja, es war gut für den Fuß. Ihn tangierte das nicht, er machte es auch nicht nach, brauchte er auch nicht, so wie er stetig, fast wie eine Maschine, in die Riemen ging. Er war stark, ungeheuer stark, viel stärker als ich. Ich fühlte mich schlecht. Ich wollte ihm etwas sagen. Zum Beispiel, wie sehr ich ihn bewunderte und dankte und wie stark ich ihn fand und wie sehr leid es mir tat, dass wir so enden mussten und dass ich keinen einzigen Ruderschlag zu meiner Rettung hatte beitragen können. Welche Rettung? Er würde mir ohnehin nicht antworten. Seit einigen Tagen zeigte er kaum noch Anzeichen, dass er mich überhaupt wahrnahm. Ja, ich wollte gesund bleiben, auch wenn wir nicht miteinander redeten.

An jenem Abend strebte die Sonne wie stets langsam dem Horizont zu, rötete, fiel ins Meer und wurde tausendfach von diesem wie zum Abschied zerstreut. Schade, dass er das nicht wahrnehmen wollte. Er schwitzte. Ich brauchte ihn nicht anzusehen, um das zu wissen. Er tat mir leid.

Jetzt war die Sonne untergegangen, vielleicht an meinem letzten Abend. Langsam wandte ich mich um, schaute ihn an und dann auf mein letztes Stück Brot. Wie in einer heiligen Zeremonie griff ich danach und aß langsam alles auf, vor seinen Augen, wenn sie mich denn angesehen hätten. Den ganzen erbärmlichen Rest aß ich auf. Ich war erleichtert. Es war nichts mehr übrig, außer dem restlichen Wasser im Tank. Noch vier fünf Tage würde ich ohne zu essen durchhalten, vielleicht.

Auch er hatte nun seine Ruder abgesetzt und aß. Er aß, als ob er betete. Auch wenn er sparsam ist, dachte ich, reicht es auch für ihn nicht länger als eine Woche nach mir.

Am nächsten Morgen wachte ich bei hellem Tageslicht auf. Neben mir war etwas aufgeklatscht und zappelte. Ungeschickt griff ich danach und hielt es fest. Es war ein fliegender Fisch. Ich griff ihn fest. Er hatte die Ruder losgelassen und wirkte erschrocken.

»Lass ihn los, wirf ihn zurück, sofort«, schrie er mich an. »Wir können ihn uns teilen, frisches Eiweiß, ich hab nichts mehr zu essen.« – »Egal, ich will ihn nicht teilen, wirf ihn zurück.« Er bückte sich unter den Sitz, zog sein Essen hervor und öffnete das Papier. »Hier, die Hälfte ist für dich.« Ich hielt immer noch den zappelnden Fisch in den Händen. Er hatte wieder zu den Rudern gegriffen. »Wirf ihn zurück, er wird nicht geteilt, er kann nichts dafür.«

Ich brauchte ihn nicht zu fragen, wofür genau. Seine Körperhaltung war eindeutig. Ich schämte mich und warf den Fisch zurück. Es klatschte leicht. Er war augenblicklich verschwunden. Ich schaute noch länger auf den Ort, wo er verschwunden war, als ob er zurückkäme.

Dann blickte ich auf und sah ihn direkt an. Unsere Blicke begegneten sich zufällig, offenbar hatte er den Horizont abgesucht, während ich dem Fisch nachgeschaut hatte. Ich nutzte die Gelegenheit und sagte langsam und fast unhörbar: »Es gibt keine Hoffnung für uns. Ich habe navigiert. Es ist gut, dass wenigstens er weiterlebt. Ich habe dich verstanden.« Er antwortete nichts. Es war still. Die Wellen schlugen gegen die Bootswand. Er ließ die Ruder los, stand auf und gab mir die Hand. Dann teilte er das Essen. In seinen Augen sah ich Müdigkeit und Härte. Doch dann, ganz unerwartet, weichte diese Härte auf. Sein Gesicht zuckte, und er begann zu weinen. Er weinte so heftig wie ein Kind, so, wie ich noch keinen Mann hatte weinen sehen. Wir umarmten uns. Ich sagte ihm: »Ich wollte doch nur weiterleben, verstehst du?« – »Ich auch«, sagte er und setzte sich zurück an die Ruder.

»Warum hast du dann die ganze Zeit gerudert?« Er antwortete: »Hast du denn den Brief nicht gelesen? Ich konnte etwas für die Hoffnung tun. Ich konnte sie nicht ersitzen, verstehst du. Ich musste mein Essen mit dir teilen, damit es so lange ging, wie es gehen konnte, wir zusammen. Das gab mir Sicherheit und Hoffnung.« – »Es gibt keine Hoffnung, wir hätten miteinander reden können, um uns Halt zu geben.« – »Ich habe aber Hoffnung, ich hatte Angst, du würdest sie mir ausreden. Deshalb habe ich nicht gesprochen.«

Damit wäre unsere Geschichte zu Ende gewesen. Ich setzte mich fassungslos auf meine Bank. Er ruderte wie zuvor weiter. Wir aßen noch ein paar Tage unsere Reste, tranken das verbliebene Wasser, bis kein einziger Tropfen mehr kam. Wir warteten einen Tag, zwei Tage. Am Abend des zweiten Tages zog er die Ruder ein, nein, er warf sie nicht ins Meer. Er zog die Ruder nur ins Boot und schlief sofort erschöpft ein. So also, dachte ich, auf ihn schauend, sterben wir. Der eine hoffnungslos und der andere erschöpft. Was ist besser? Dann schlief auch ich ein.

Nein, unsere Geschichte war noch nicht zu Ende. Ich erwachte von einem Schiffshorn, das so laut war, als hinge es dicht über mir. Ich war sofort auf den Beinen, er auch. Keine Meile vor uns sahen wir ein Kreuzfahrtschiff. »Adventure Travel«, lasen wir. Sie ließen ein Boot zu Wasser. »Sie holen uns!«, schrie ich und riss ihn an mich, dass wir fast ins Wasser gestürzt wären. Er war fassungslos, einfach nur fassungslos, aber dennoch sehr sehr froh. Ich sagte wie immer nichts, aber ich sah es in seinen Augen.

Der Rest ist schnell erzählt. Wir wurden gerettet und in Decken gehüllt. Noch während wir im Boot saßen, surrten Helikopterdrohnen über unserem Boot mit Kameras daran. Jede unserer Bewegungen wurde gefilmt. Als man uns über Deck leitete, wurden wir von Menschenmengen bedrängt, wie es sonst nur bei Politikern und Sportlern zu sehen ist. Menschen wünschte sich Selfies mit uns, zogen uns an unseren Decken zu sich, wünschten Autogramme, einer wollte ein Interview. Wir waren sprachlos und sehr, sehr verwirrt. Er schaute mehr als hilflos zu mir herüber. Wir wurden gezogen, gedrängt und geschoben und ließen es geschehen. Wir waren schlaff, erschöpft und willenlos. Ich war seltsam freudlos. Ich wollte plötzlich weg von hier, weg von all den Menschen und dem Tumult.

Durch das Gedränge hindurch erblickte ich ein Poster mit der Botschaft Adventure Travel … Whale watching …Our this year‘s highlight … Rescue of real shipwreckers. Der Kapitän kam aus der Menge auf uns zu und wollte uns begrüßen. Mein Freund hatte das Poster auch gesehen und offenbar sofort dessen Sinn erfasst. Auch ich war entsetzt. Er aber sprang dem Kapitän an die Kehle und drückte so schnell zu, dass ihn niemand davon abhalten konnte.

»Woher wusstet ihr, dass wir noch nicht verreckt waren?« Der Griff war hart. Der Kapitän würgte und bekam keine Luft. Er lief rot an. Mein Freund schrie: »Sag es!« Er zog sein Messer. »Sag es, oder ich bringe dich um, ich schwöre …« Er ließ dem Kapitän etwas Luft und schrie erneut: »Sag es, sag es! Dreckskerl, sag es mir, und dann sagst du es deinen Kunden und der Presse …!« Der Kapitän hustete und spuckte, dann quälte er den Satz heraus: »Euch konnte doch nichts … passieren, wir wussten … wie viel … Wasser ihr noch hattet … Jederzeit konnten wir euch … helfen … falls Gefahr …« Mein Freund drückte fester zu und hätte ihn umgebracht. Der Kapitän wehrte sich kaum noch. Da ging der erste Offizier dazwischen und riss meinen Freund weg. »Euch konnte nichts passieren, wir wusste immer, wo ihr wart.«

Bitte warten

Warum will er nicht singen?wir haben es ihm gesagtwir haben es ihn gelehrtsogar haben wir ihm vorgesungen

Alles, worauf er hoffte, würde sich hinter jener Tür vollziehen, an der ein Schild hing: »Bitte warten. Sie werden einzeln aufgerufen!« Daran glaubte auch er und nahm Platz in dem geräumigen Vorzimmer. Viele andere warteten mit ihm, auf das große Glück, auf ein besseres Leben, dass sie es einmal leichter haben würden, dass es ihren Kindern später besser ging. Diese Gemeinschaft, in der alle nur ein Ziel hatten, hinter jene Tür zu gelangen, bestärkte ihn darin zu bleiben, weil nicht falsch sein konnte, was alle taten. Geduldig abzuwarten galt als sichere Methode, in den Genuss dessen zu kommen, was man erhoffte.

Wenn wieder ein Glücklicher eintreten durfte, blickten alle auf. Wieder einer hat es geschafft! Es hat sich gelohnt! Seht ihr, ihr Zweifler da draußen hinter dem Fenster, schon wieder einer ist drin! Jeder Eintretende wurde als Bestätigung verbucht für die Richtigkeit ihrer Annahme, denn es gab nichts, außer den losen Worten derer von draußen, was dagegen sprach. Niemals kehrte jemand zurück. Und so träumten sie, wie glücklich sie sein würden, wie gut sich ihr Leben gestalten würde, wie leicht sie es einmal haben würden, wie ihre Kinder unbeschwert würden spielen können. Das wurde geträumt auf diesen Stühlen im unterkühlten, ja, kalten, aber hoffnungsvollen Vorraum.

In Momenten, in denen Wartende Schlag auf Schlag aufgerufen wurden, stieg ihre Stimmung ungemein und weitete sich zu Arroganz und Hochmut gegenüber denen draußen hinter dem Fenster aus. Wenn aber ewige Minuten lang nichts geschah und die Erfüllung verheißende Tür verschlossen blieb, schlich sich Unsicherheit ein, und Depression. Sie zogen wie ein frostiger Wind über die Gestalten auf den Stühlen und machten sie zittern und verunsicherten sie. Ja, auch misstrauisch, ob nicht der Nachbar schon heimlich aufgegeben hatte. Jeder Blick eines Wartenden nach dem Fenster wurde als Versuch eines Verrats gewertet.

Auch er war nicht frei davon und litt und hoffte und zweifelte mit ihnen. Bald würde er an der Reihe sein. Nur noch einer kam vor ihm. Ein älterer Mann in Arbeitskleidung. Durch den Lautsprecher erklang dessen Name. Der Alte erhob sich und ging langsam zur Tür. Sich noch einmal umdrehend, blickte er in Gesichter, die ihm erwartungsvoll und freundlich Mut machten und die sagten, ja flehten: »Geh schon, es ist endlich soweit.« Die Tür ging schließlich auf und schloss sich, begleitet von auflebendem und wieder abklingendem Gemurmel. Der nächste Aufruf galt ihm. Er spürte weiche Knie und war nervös, ja, zugegeben, auch unsicher und verängstigt darüber, was ihn erwartete. Andererseits, worauf er gewartet hatte, war greifbar nahe. Diese Tür dort musste er nur noch passieren, dann hatte es sich auch für ihn gelohnt! Sie war nun allein für ihn geöffnet, Entschädigung dafür, dass er diese lange, harte Zeit ausgehalten hatte. Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. Alles würde vergessen sein in wenigen Augenblicken.

Er öffnete sie und trat ein. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Der Raum, den er betrat, ähnelte dem, den er soeben verlassen hatte. Auch hier gab es Stühle. Und auch auf ihnen saßen Menschen. Deren Gesichter kamen ihm bekannt vor. Einige standen nervös im Raum und schauten dorthin, wo sich zwei Sanitäter zu schaffen machten. Sie betteten einen Mann auf eine Bahre. Es war der Alte, der vor ihm eingetreten war. Nach kurzem Erschrecken drängte er sich an den im Raum stehenden Wartenden vorbei und schob sich geschickt um die Sanitäter herum. So gelangte er zur gegenüberliegenden Seite des Raumes zu einer weiteren verschlossenen Tür. Daran hing ein Schild: »Bitte warten. Sie werden einzeln aufgerufen.«

Vorgesorgt

Zum himmel, zum himmel, ach, wir gutenstürmen wir nun nicht mehrwir haben blasen an den füßen undmüssen auch noch die dienstreise abrechnen

Zu den Orten, die diese Menschen mögen, fahren keine Züge. Darum stehen sie an der Straße und winken. Ich bin kein erfahrener Tramper, aber ich erkannte sofort, die beiden neben mir gehörten nicht zu diesem leichtfüßigen, schnellen Völkchen der Tramps, die zielbewusst, Hindernisse ignorierend und behände mit leichtem Gepäck auf ein Auto zustürmen, sobald sie die Bremslichter leuchten sehen. Die beiden neben mir hatten offensichtlich vorgesorgt. Das sah man ihrem Gepäck an. Sie waren offenbar auf jede erdenkliche Eventualität eingerichtet, auf Regen oder Sonne, Kälte oder Hitze, Waldwege oder Asphaltstraßen, auf jede Art, so schien mir, vorhersehbarer Widrigkeiten. Das erforderte mit Sicherheit weise Voraussicht und Planung. Das waren Fähigkeiten, die ich leider kaum habe, aber auch ich hatte aus Sicherheitsgründen mehr Gepäck mitgenommen, als ich schließlich brauchte. Ich ärgerte mich stets darüber, konnte es aber nicht ändern.

An jenem Tag kamen wir schlecht fort. Ich setzte mich zu den beiden, und wir unterhielten uns über den Trip. Ich saß im Gras. Sie setzten sich auf kleine Klappsesselchen. Sie war sehr schön und er offenbar ein Musiker. Er trug einen Pferdeschwanz und hatte eine Gitarre dabei. An sich gute Zeichen für Autofahrer. Sie zogen solche Menschen vor. Ich dagegen hatte es oft schwer, zuviel Gepäck und keine Gitarre. Wir sprachen über Musik. Sie kannten sich aus. Er nahm sich die Gitarre vor und spielte etwas. »Und weil wir unterwegs noch Mensch bleiben wollen«, meinte sie, »leisten wir uns auf Reisen immer etwas Luxus. Viel kann man sowieso nicht mitnehmen, des Geldes wegen und auch wegen des Gewichtes. Also ganz wenig, ein Stück gute Seife, eine schöne Bluse.«

Wir standen bald wieder an der Straße und winken. Es war immer noch sehr ruhig. Erfahrene Tramper, zu denen ich nicht zählte, saßen im Straßengraben oder schliefen im Gras. Sie schauten erst gar nicht auf die Straße. Nur selten hielt ein Wagen. Gegen Nachmittag kam ein weiterer Tramp, ein witziger Typ mit Bürstenschnitt, Brille, halblangen Jeans, Jesuslatschen, Kutte und aufgerollter Decke. Er grüßte uns alle freundlich und stellte sich nach dem ungeschriebenen Gesetz unter den Tramps an die ungünstigste Stelle der Straße. Ein Wagen kam, bremste und fuhr langsam unsere Reihe ab. Schließlich stoppte er bei dem Neuen. Der öffnete die Wagentür und wies auf die anderen. »Ich war der Letzte. Wollen Sie nicht die anderen mitnehmen? Sie warten schon lange.« Der Fahrer winkte ab. »Zu viel Gepäck deine Kumpels. Mein Kofferraum ist voll, der Rücksitz auch, steig ein.« Das Auto fuhr mit ihm davon. Angesichts des hereinbrechenden Abends blieb uns Zurückgebliebenen nichts anderes übrig, als auf dem nahen Campingplatz unsere Zelte aufzuschlagen und zu übernachten. Gott sei Dank hatten wir vorgesorgt.

Fragrance

Unter goldenen himmelnhat gott uns ein dach gebautdenn er will nicht, dass unsdie klunker erschlagen

Das Paket war angekommen. Harmlos lag es auf dem Sofa. Der Sparkassenangestellte Weiland Schimmelpfennig kniete davor und schüttelte den Kopf »Nein. Für mich, nein, nein, für mich!« Seine Hände zitterten. Immer wieder schob er die randlose Brille zurück, die ihm über die schwitzfeuchte Nase nach vorn rutschte. Die Familie war zurückgetreten und stand in einer Reihe hinter ihm. Einzig Albrecht, sein Ältester, durfte neben ihm assistieren. Sein Ältester, der einmal alles erben würde, sein Sohn, der sparte, wie andere spielten, der sparte wie er, der nach seinen, Weilands, Worten voraussichtlich noch vor seinen Vierzigern die Summe von hunderttausend Euro in sein Sparbuch eingetragen bekommen würde.

Weiland zog mit spitzen Fingern an dem Knoten, der sich zunächst als nur fest, dann aber als unauflöslich erwies. Er schwitzte. Sein Ältester stöhnte. Die Familie atmete schwer. Das Packband, das straffe, feste, sollte doch gerettet werden. »Ich ahnte es«, sagte Weiland schließlich. »Ein gordischer Knoten, wir werden das Messer nehmen müssen. Das schwarze, Frau.« Seine Gattin huschte aus dem Raum, beseelt von dem Gedanken, es möge nichts schiefgehen, und legte alsbald das Instrument in Weilands fähige Hand.

Schwer atmend setzte er die scharfe Schneide am Packband dicht neben dem Knoten an und sagte zu Albrecht »Der Schnitt muss sein, Junge. Es wird noch mancher Rückschlag folgen in deinem Leben. Lass dich nicht abbringen, das Notwendige zu vollziehen.« Und er erzählte zum hundertsten Male die Geschichte von dessen Oma: »Denk nur Oma Kaul, Junge. Zwei Weltkriege hat sie mitgemacht, und zweimal hat sie alles verloren. Zweimal zwei pralle Konten baren Geldes, einfach verduftet ist es, davongetragen ins Nichts. Und heute? Was tut sie? Sie spart! Alle Jubelmonate kommt sie zu mir in die Sparkasse und lässt sich ihr Erspartes im Beutelchen amtlich vorzählen. Nun gut, Junge, sie war von jeher misstrauisch, spart altmodisch zu Hause im Beutel, aber das Wichtigste ist: Sie spart wie du und ich. Vor zwei Monaten besaß sie fast neuntausend Euro, und morgen, so wahr dieses Paket heute gekommen ist, wird sie die Neunfünf überschreiten, und nach abermals zwei Monaten, mein Lieber, wird sie, die schon zweimal alles verloren hat, die magische Zehntausend im Strumpf die Ihren nennen dürfen.« Weiland las ein Staunen im Gesicht des Sohnes, ob solcher Disziplin. Ihn selbst sogar schüttelte der Gedanke an sie. Auch in Albrechts Augen wähnte er diesen Blick auf jenes ferne Ziel, eine Zahl, so groß, dass sie jeden, der davon hörte, erschüttern lassen würde. »Kei-ner-lei Ver-geu-dung un-ter keinen Um-stän-den, Albrecht. Glaub mir, sie gibt nichts aus, was nicht unmittelbar für ihr, dein, mein, und wenn Not am Mann ist, auch für unser aller Über-le-ben unabdingbar ist. Nach dem Krieg, sagte sie mir einmal, als sie gerade mal siebzehn Jahre alt war – stell dir vor, wie jung – hatte sie schon mehr als viele ihres Alters. Trotz – Gott behüte – zweimal alles weg. Bande, die!«

Weiland tat es. Das Paketband platzte auf und, ja, es würde dank seines goldenen Schnitts fast vollständig wiederverwendbar sein. Er zog das Band mit spitz geformten Fingern vor sich stramm und hielt es der Familie hin. Seine Frau atmete tief. Wenn Weiland nicht wäre, mag sie wohl gedacht haben, so manches wäre uns durch die Finger geglitten! »Weiland, ich …«, sagte sie bloß. Doch er strich schon sanft über das Packpapier. Er fand, es knisterte erregend und roch. Er wusste keinen Ausdruck dafür außer – erotisch. Und was erotisch roch, kostete, und was kostete, lohnte zu sparen, lohnte es aufzuheben. »Riech mal«, sagte er zu seiner Frau. »Weiland«, antwortete sie, »du hast recht, es riecht ganz schwach nach Götterspeise.« Ihr Gatte war verstimmt. Götterspeise! Er wandte sich ab. Diese Frau würde nie etwas riechen. »Riecht mal, Kinder. Albrecht du, riech nur. Ist das nicht ein großer Duft, so als hätte die Welt soeben unser kleines Zuhause betreten?« – »Ich rieche nichts, Vater«, antwortete Albrecht tonlos. »Dass du das so sagen kannst, so direkt, von Angesicht zu Angesicht, und in solch einem Moment, das hätte dein Vater nicht erwartet.« Weiland drehte sich weg und verschloss die Gram in seinem Herzen – niemand fühlte, was er fühlte. Er war wieder allein, einsam und groß, aber allein – auch sein Ältester verstand also nicht die Größe dieses Moments. Sei es denn, alles Verstehen hat Grenzen. Doch Weiland konnte viel einstecken. Schon entfernte er einen ersten Bogen Papier aus dem eröffneten Paket, einen zweiten, einen dritten. Er faltete das Papier ordentlich und legte es beiseite, bevor er weiterforschte. Zwei Knäuel Papier folgten. Sie würden sich problemlos glattbügeln lassen, etwas feucht … Und da sah er es, das Geheimnisvolle, eingepackt in goldene Alufolie und beschriftet mit »Für Weiland«.

»Für Weiland«, rezitierte er. Bei verschwommener Sicht entfernte er das Goldpapier. Er fühlte mehr, als dass er sie sah, eine Flasche, ach was, ein Flakon, einen Kristall aus feinstem geschliffenen Glas mit edler silberner Kappe. »Eau de parfum pour hommes«, las er. Und im Stillen stellte er einmal mehr für sich fest: In dieser Vermögensklasse trifft nur Französisch den Ton.

Weiland hob den Kopf und schaute aus dem Fenster. Draußen fetzte ein Wind an den Bäumen, es pfiff leicht. Die ersten Regenspuren zeigten sich am Glas – er schob seine Brille zurecht »… aber hier drinnen ist Frieden, nicht, Kinder, Frau, in meinem Haus nicht, nicht wahr Frau – mag es draußen auch noch so hart … – Albrecht, was sagst du?«. Er fuhr fort, ohne die Antwort zu erwarten: »Das da ist bares Geld, da hat aber einer tief in die Tasche greifen müssen …« Dann wurde er nachdenklich und schaute aus dem Fenster. Sollte er, Weiland, tatsächlich dieses Wasser anbrechen und sich schnöde ins Gesicht reiben? Er, der sich nie schmückte, und dann gleich so teuer? Ist denn nicht die Einfachheit des Lebens, der Verzicht der Schlüssel zum Glück des Menschen? Einfach leben, mehr verlangte er doch nicht von sich und der Welt, hatte er nie verlangt … Er nahm die Brille ab, hauchte sie an und putzte sie eingehend mit dem blauen Tüchelchen, dass er immer zur Hand hatte. Dann setzte er sie wieder auf. Ganz unnötig, fand er, an der Brille lag es nicht, dass er auf solche Gedanken kam. Er blickte erneut auf die Flasche. Wie sollte er die ausreichende Menge für einmal bemessen? Wie verhindern, dass schon beim Öffnen des Flakons zu viel des Duftes unkontrolliert und ungenutzt verflog? Alles wollte gut bedacht sein. Wieder kam er auf, dieser Hauch von Glück von tief unten: Er hatte etwas geschenkt bekommen, ganz umsonst! Beim Gedanken an »umsonst« griff er sich das Packpapier, um nach dem Absender zu forschen. Wer in aller Welt schenkt so was Wertvolles einem, ach was, mir?

»Albrecht, sag was! Umsonst! Hörst du?« – »Hat denn einer einen Absender angegeben?«, fragte sein Ältester. »Nein, nichts … hier, guck, kein Name. Dass die Post so was versendet!« Weiland war bereit, an ein Wunder zu glauben. Und wenn, warum hatte der Herr oder die Dame der Gesellschaft, die sich bemüht hatte, ihm ein Geschenk zu senden, wenn auch einem Banker …? Nein! Warum hatte der Herr oder die Dame der Gesellschaft nicht ihm, einem Banker, nicht gleich Geld geschenkt? Das hätte ebenso edel verpackt sein können, wenn ein Geschenk denn dargebracht werden musste …

Und wann sollte er tatsächlich das Eau in Anwendung bringen? Nach dem Rasieren etwa? Rasierwasser besaß er zuhauf. Von seiner Frau bekam er jedes Jahr ein neues Fläschchen. Andererseits, das hier war nicht ganz unoriginell – ein Flakon, ein Eau! War das nun eine Belohnung von jemand Höherem, der sich ihm nicht öffnen wollte? Eine dezente Geste der Anerkennung für jahrelange, erfolgreiche Entbehrungen? Dann aber wieder diese Zweifel – sollte er, der Inhaber eines beträchtlichen Kontos, sich von nun an umgeben mit solchem Duft? Nur so konnte es gemeint sein, ein versteckter Hinweis, ein Mensch, der ihn wirklich kannte. Wie sorgsam dieser Mensch gewesen war beim Einpacken und wie dezent in allem!

Nun blickte Weiland seine Lieben warm an. Die Brillengläser reflektierten das Fensterlicht. Er warf einen Blick auf den Ältesten, der aber, offensichtlich dem Regen und dem Wind draußen hinter dem Fenster große Aufmerksamkeit widmend, quasi »zurückgerufen« werden musste. »Was denkst du, Albrecht, soll ich?« Der Älteste sah zu ihm hin. Weiland griff zum Schraubverschluss und drehte ihn auf. Ein Duft schlug hervor, ein Duft, ein, ein nie dagewesener erhabener, aber dennoch sehr frischer Duft! Weiland spürte, wie er unfassbar Großes leisten könnte, wenn er dieses, er las es noch einmal laut, »Eau de parfum pour hommes« zukünftig anlegte. Er führte den Hals des Flakon vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, damit sich das Etikett nicht abgriff, an sein rechtes Ohr, von dort die Kinnlade entlang bis hin zu seinem Grübchen … Da passierte es! Die Bewegung stockte, ganz geringfügig nur. Ein kurzes Zurückschrecken des Zeigefingers. Ein Augenblick der Haltlosigkeit – und aus! Der Flakon glitt ihm aus den Fingern und nahm den Weg allem Irdischen. Er sauste ordinär nach unten, tat einen Hüpfer auf dem Sofa … Der Älteste sprang hinzu. Zu spät. Er fasste in die Leere. Der Flakon schlug auf dem Steinboden. Peng!

Weiland erstarrte. Nein, er würde nicht hinsehen auf das Bild der Ausschweifung und Zerstörung auf dem Küchenboden. Ein Duft stieg auf, ein großer, nie gekannter erfasste ihn. Er nahm ihm den Atem, drang ein in sein Gehirn und in sein Gedächtnis. Das Gedächtnis eines Bankers, eines Mannes, der es zu was gebracht hatte, dachte er noch. Seine Frau sprang mit einem Lappen in die Szene. Weiland herrschte sie an: »Den Mantel, Frau. Du rettest nichts mehr. Ich ahne, wer die Größe hatte, mir solch ein Geschenk zu machen, auch wenn es nun zerbrochen daliegt. Ich werde sie finden und mich bei ihr entschuldigen. Nur eine Frau, meine Liebe, nur eine zu Gefühlen fähige Frau ist solch einer Tat fähig. Du rettest nichts mehr, sag nichts. Ich hätte schon viel früher gehen sollen. Dieses Eau, in solch einem Flakon und mir allein geschenkt, hat die Entscheidung gebracht. Ich ahne bereits, wer sie ist. Ich gehe, das hätte ich längst tu sollen, aber diesmal ist es für immer!«

Ohne die Ausführung des Befehles abzuwarten, herrschte er zur Garderobe, setzte seine Brille zurecht und warf den Mantel über. Dann ging er zur Tür und schlug sie hinter sich zu. Alberts Geschwister waren erschrocken; die Mutter setze sich auf einen Stuhl. Es trat eine unfassbare Stille ein. Der Kleine schluchzte. Albert fasste sich als Erster. Er ging an ihnen vorüber zum Fenster und öffnete es sehr weit, so weit, dass Regen auf den Küchenboden schlug. Der Wind zerrte an den Vorhängen. Einen Augenblick lang stand er nur da. Dann, langsam, drehte er sich um und sagte: »Wir lassen das Fenster auf, es stinkt alles nach Parfüm.« Und dann setzte er hinzu: »Wirf dir nichts vor, Mutter. Das war sehr in Ordnung von dir.«

Mississippi RiverWeltkrieg-Rückrunde, 1942

Musik klingt über den himmelnunter dem meer kreuzen sich die katzensie zeugen jenen, der den grabenzwischen gott und böse aufbrechen lässt

Bestehjew lehnte sich zurück in seinen Sessel. Er richtete die amerikanischen Augen gegen die Decke. Er saß ganz hinten in einer geheimen Sitzung des Pentagon. Sein Land war im Krieg, dem bedeutendsten der Geschichte, Weltkrieg-Rückrunde, ausgerechnet auch noch gegen Deutschland, die verbissensten Autobauern der Welt. In einer solchen Situation Berater der amerikanischen Regierung zu sein, war ein Knochenjob, aber er brauchte das Geld, was wollte er machen. Zu Hause auf dem Nachttisch neben seinem Bett stapelten sich die Rechnungen. Heute ging es einzig und allein um eine Frage: Wie beschafft die Regierung Kohlenstoff für die Panzerstahlproduktion? Stahl besteht aus Eisen und Kohlenstoff, das weiß jeder, aber erst einmal haben! Eisen gab es genug. Zur Not konnten alle Autos Amerikas konfisziert werden. Aber wo kriegte man den Kohlenstoff her? Der hatte sich auch damals schon in die Luft verflüchtigt als ZehOhhZwei. Alle Ansätze zur Lösung der Kohlenstoffproblematik waren durch die Angestellten des Pentagons ausgeschöpft worden. Die Wälder waren abgeholzt und zu Holzkohle verarbeitet, die Kohleminen brachen immer öfter infolge von Raubbau ein. Alles Organische wurde auf Beschluss der Regierung eingezogen und verkohlt. Aber es half nichts. Der Kohlenstoff reichte nicht; nicht hinten und nicht vorne.