Sechs - Michael Seitz - E-Book

Sechs E-Book

Michael Seitz

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Falco Brunners neuer Fall. Ein fesselnder Wien-Krimi zwischen Liebe, Sehnsucht und Tod. Band 3 der spannenden Krimi-Reihe von Michael Seitz. Mitten in der Nacht erhält Privatdetektiv Falco Brunner den panischen Anruf einer jungen Frau. Doch als er kurz darauf in ihrem Appartement in der Wiener Innenstadt eintrifft, ist sie spurlos verschwunden. Der Verdacht der Polizei fällt schnell auf ihn, denn Brunner kannte die Frau – Emilia –, die als Edel-Eskortdame arbeitete. Gelingt es Brunner nicht, seine Unschuld zu beweisen, wandert er ins Gefängnis. Falco Brunner taucht unter und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Die Spur führt ihn zu einer Gruppe der Jenischen, die zu den reisenden Völkern gehören. Wer war diese Emilia, die eine solche Faszination auf ihn ausübte? Und was ist mit ihr geschehen? Viel Zeit bleibt Falco Brunner nicht, denn der Verfassungsschutz ist ihm bereits dicht auf der Spur ... »Sechs« von Michael Seitz ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nervenzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unserer Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!

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Michael Seitz

Sechs

Ein Wien-Krimi

Knaur e-books

Über dieses Buch

Falco Brunners neuer Fall. Ein fesselnder Wien-Krimi zwischen Liebe, Sehnsucht und Tod. Band 3 der spannenden Krimi-Reihe von Michael Seitz.

Mitten in der Nacht erhält Privatdetektiv Falco Brunner den panischen Anruf einer jungen Frau. Doch als er kurz darauf in ihrem Apartment in der Wiener Innenstadt eintrifft, ist sie spurlos verschwunden. Der Verdacht der Polizei fällt schnell auf ihn, denn Brunner kannte die Frau – Emilia –, die als Edel-Eskortdame arbeitete. Gelingt es Brunner nicht, seine Unschuld zu beweisen, wandert er ins Gefängnis.

Falco Brunner taucht unter und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Die Spur führt ihn zu einer Gruppe der Jenischen, die zu den reisenden Völkern gehören. Wer war diese Emilia, die eine solche Faszination auf ihn ausübte? Und was ist mit ihr geschehen?

Viel Zeit bleibt Falco Brunner nicht, denn der Verfassungsschutz ist ihm bereits dicht auf der Spur …

Inhaltsübersicht

Den ReisendenVorbemerkungPrologMittwoch, 14. März 20181. BezirkMittwoch, 14. März, 7.00 Uhr, Gerichtsmedizin, Sensengasse, 9. BezirkAuf dem Weg in die AbteilungPdf.DateiMittwoch, 14. März 2018Polizeiwache Lainzer Straße, 13. BezirkPsychiatrie, Baumgartner Höhe (OWS)Pdf.DateiMittwoch, 14. März 2018Psychiatrie Baumgartner Höhe (OWS)Psychiatrie Baumgartner Höhe (OWS)Abends, 13. Bezirk – Hietzing23.00 UhrPdf.DateiDonnerstag, 15. März, 0.00 Uhr9. Bezirk, Christina Brunners Wohnung, SchlafzimmerMarriotthotel13. Bezirk, Gemeindeberggasse2. Bezirk, NestroyplatzWienerbergbrücke, MordabteilungHietzingPdf.Datei11.00 Uhr, PenzingWienerbergbrücke, Mordabteilung, zur gleichen Zeit13. Bezirk9. Bezirk, Alsergrund, Christinas Wohnung13.00 Uhr, Penzing, Grubers WohnungPdf.Datei13.30 Uhr, Grubers Wohnung, PenzingPdf.DateiGrubers WohnungPdf.Datei9. Bezirk, Alsergrund, Christinas Wohnung, Mitternacht13. BezirkPdf.DateiFreitag, 16. März, 7.00 Uhr, Grubers WohnungZwanzig Minuten später13. Bezirk, GemeindeberggasseGrubers Wohnung13. Bezirk, mittagsGrubers Wohnung, 14.00 UhrPdf.DateiWienerbergbrücke, Mordabteilung, 15.00 Uhr13. Bezirk, Hietzing, 21.00 Uhr13. Bezirk, Gemeindewohnung von Kevin Müllers Eltern13. Bezirk, Villa der Familie Unterberger, KellerPdf.DateiWienerbergbrücke, Mordabteilung, 23.30 UhrSamstag, 17. März, 13. Bezirk, 0.00 Uhr13. Bezirk, Gemeindewohnung von Kevin Müllers Eltern, zur selben ZeitPdf.Datei13. Bezirk, 1.30 Uhr1. Bezirk, 2.00 Uhr, FleischmarktKarlsplatz, U-Bahn-PassageNoch fünfundzwanzig Minuten22.45 Uhr, Karlsplatz-Passage, U4Getreidemarkt in Richtung Operngasse22.57 Uhr, Karlsplatz-Passage23.00 UhrKarlsplatz-Passage7.00 UhrEpilog, eine Woche späterGlossar
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Den Reisenden

 

Mein besonderer Dank gilt C., die bereit war, mir mit aller nötigen Diskretion aus ihrem beruflichen Alltag zu erzählen.

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Vorbemerkung

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um einen Roman. Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten einzelner Figuren mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären reiner Zufall. Auch die Passagen, die auf Ibiza spielen, entspringen meiner Fantasie. Ich habe dieses Buch bereits im Oktober 2018 an meine Agentin geschickt. Zum damaligen Zeitpunkt konnte kein Mensch ahnen, dass die Realität am Ende die Fiktion einholt.

Ich beteuere hoch und heilig, nichts mit jenem »Ibiza-Video«, das die Republik Österreich im Mai 2019 erschütterte, zu tun zu haben.

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Prolog

Das Hühnchen war am Morgen noch unserem Kater Beppi nachgejagt. Und wir Mädchen haben uns über die Szene köstlich amüsiert. Jetzt legte ich das Federvieh mit dem Kopf voran auf den Hackstock. Ich spürte den weichen Sand unter meinen Zehen. Wir Mädchen hatten die Beine des Hühnchens mit einem Isolierband zusammengebunden. Schon holte Großvater mit dem Beil aus. Ich schloss die Augen. Ein Schlag, eine kurze Erschütterung, die sich bis tief in meinen Körper fortsetzte. Als ich die Augen wieder öffnete, lag der Kopf des Hühnchens zwischen meinen Füßen. Das Blut an meinen Händen und in meinem Gesicht fühlte sich noch warm an.

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Mittwoch, 14. März 2018

Er hatte geschlafen.

Die Ziffern auf dem Star-Wars-Digitalwecker zeigten 3.00 a. m. Auf dem Schreibtisch in seiner Einzimmerwohnung lag die Schachtel eines Lieferservice. Der Pappkarton verströmte einen unangenehmen Geruch nach Burgern, Käse und Zwiebeln. Auf dem Laptop, den er abzuschalten vergessen hatte, lief YouTube. Ein Rockvideo aus den Neunzigern. Anscheinend hatte er wenigstens noch die Boxen ausgeschaltet, bevor er sich auf das Bett gelegt hatte, um zu dösen. Bei der Gelegenheit musste er eingeschlafen sein.

»Jetzt noch mal ganz langsam, Emilia – und zum Mitschreiben«, krächzte er in das Handy. »Wo bist du?«

Sie zögerte. »In meiner Wohnung, Falco.«

»Soll ich die Polizei rufen?«

»… keine Polizei!«

Ihr Aufschrei ließ sein Trommelfell vibrieren, ein Geräusch wie von übersteuerten Lautsprechern hallte durch sein Ohr. Drei Sekunden lang hörte er nichts mehr. Er schaltete auf die Freisprechfunktion des Geräts und brüllte ihren Namen. Ein Knacken, ehe die Verbindung abbrach. Er spürte sein Herz bis zum Hals schlagen – plötzlich war er hellwach! Er versuchte, sie zurückzurufen. Einmal, zweimal. Er schrie eine Nachricht auf ihre Mailbox, an deren Inhalt er sich später beim besten Willen nicht mehr hätte erinnern können. Zuletzt warf er sich die zerknautschte Lederjacke über. In seinem rechten Ohr das Rauschen des titanischen Seegangs, in seinem linken das Hämmern seines Pulsschlags, lief Falco Brunner die drei Stockwerke nach unten. Der dreizehn Jahre alte Seat Leon, Turbo Diesel, Sportfahrwerk, dunkelblau – die Lieblingsfarbe seit seiner Kindheit! – sprang, ohne Mätzchen zu machen, an. Falco fror. Nach einer Frostperiode war die Temperatur in den letzten Tagen endlich über die Zehn-Grad-Marke geklettert. Die Nächte blieben jedoch kalt. Er steuerte den Wagen von seiner Wohnung an der Linken Wienzeile in Richtung 1. Bezirk – zu ihrer Wohnung. Er hatte Emilia Anfang November in einer Bar in der Innenstadt kennengelernt. Von ihrem Apartment aus blickte man direkt auf den Stephansdom. Im Hintergrund den sakralen Bau, entstand aus ihren beiden Körpern jenes Tier, das sich auf vier Armen und Beinen bewegte. Schweißnasse Haut. Zwei Köpfe mit Mündern, von denen einer den anderen verschlang, während Falco im lachsrosa Lächeln der Lippen zwischen ihren Beinen versank. In dieser Nacht war Falco neben ihr eingeschlafen. Miteinander schlafen und nebeneinander schlafen waren eindeutig nicht dasselbe. Seit seiner Scheidung war Emilia die erste Frau, an deren Seite er nach dem Sex eingeschlafen war. Emilia hatte zweifellos etwas Besonderes an sich.

Der Erste Wiener Gemeindebezirk glich um diese Zeit einem Friedhof. Wo tagsüber Touristen zwischen Graben und Kärntner Straße hinter Fremdenführern durch die altehrwürdigen Gassen schlenderten, bot sich ihm jetzt nichts als gähnende Leere. Er überquerte den Stephansplatz im Laufschritt. Er hustete. In der Loosbar gegenüber dem Dom, die gewöhnlich um vier Uhr morgens dichtmachte, hatte Falco Emilia nach Mitternacht kennengelernt. Unter all den Lebenskünstlern, Geschäftsleuten und Kunstschaffenden hatte ihr Stern heller gestrahlt als der aller anderen. Von ihren Augen, die zwei eisigen Seen glichen, ging ein seltsamer Zauber aus. Falco läutete an der Glocke zu Emilias Stiege. Über der Tür bröckelte die Substanz jahrhundertealten Stucks. Falco sah seinen Atem vor dem Gesicht zu Eiswolken gefrieren.

Er schrie: »Emilia, mach auf!«

Keine Reaktion.

Er bediente sich der bewährten Methode des »Klingel-Klaviers« und drückte wahllos wie ein verrückter Klaviervirtuose die Tasten neben den Namensschildern. Die meisten Wohnungen im 1. Bezirk befanden sich heutzutage im Besitz von Geschäftsleuten. Um diese Zeit war wohl auch der ehrgeizigste Mitarbeiter schon seit Stunden zu Hause. Wenige Menschen wohnten noch hier, kaum mehr als fünfzehntausend. Mieter, die über alte Verträge mit dem sogenannten Friedenszins verfügten, starben aus. Hatte die Großmutter für die Wohnung mit sechzig Quadratmetern einst ein paar Hundert Schilling bezahlt, belief sich eine Neuvermietung auf das Zehnfache. Falco hörte die Stimme einer unbekannten Frau – vernahm undeutlich die Worte: »… du kannst was erleben, so spät heimzukommen, Joschi …« Der Türsummer ertönte.

Falco erklomm die Stufen eines Stiegenhauses, vor dessen Türen Schilder von Anwaltskanzleien, Psychoanalytikern, Zahnärzten und Schönheitschirurgen in Messing prangten. Waschbecken mit verzierten Hähnen verrieten, dass hier vor hundert Jahren gewöhnliche Arbeiter und ihre Familien in sogenannten Bassenawohnungen gelebt hatten. Die Menschen hatten sich eine einzige Toilette im Hof geteilt. Relikte aus einem Wien, das nur noch in Büchern und alten Filmen existierte. Die Realität anno 2018 sah anders aus. Schien es nur ihm so – oder hatte sich die Stadt innerhalb weniger Jahre vom barocken Gemälde in ein Graffiti verwandelt? Und das Leben in seiner Geburtsstadt glich mehr und mehr einem Disneyland für Kulturinteressierte. Eine plastinierte Kulisse und die Erinnerung daran, wie es vielleicht einmal vor langer Zeit gewesen sein könnte …

Außer Atem erreichte Falco das Dachgeschoss.

Die Wohnungstür stand offen. Gähnende Dunkelheit herrschte im Gang.

»Emilia? Alles okay?«

Keine Antwort. Falco keuchte und stürmte in die Wohnung. Er gab der Toilettentür einen Stoß. Seine Hand zitterte. Er drückte den Lichtschalter. Ein Nerzmantel glitt von einem antiken Kleiderhaken. Falco kam auf dem Kleidungsstück zum Stehen. In Küche und Wohnzimmer entdeckte er ebenfalls keine Spur von Emilia. Er öffnete die Tür zum Badezimmer. Eine rote Flüssigkeit versickerte in der Wanne. Er griff in einem Reflex nach der Flüssigkeit. Ein Rinnsal. Erinnerung an eine Szene, die sich hier kurz vor seiner Ankunft abgespielt haben mochte. Dann erspähte er die Scherben unterhalb des Waschbeckens. Der Spiegel, der gegenüber der Badewanne gehangen hatte, in dem sie einander beim Liebesspiel betrachtet hatten, bot einen Anblick kollateraler Verwüstung. Unzählige Tiegel, Töpfe, Pinsel, Lippenstifte, Farben, Eyeliner, Puderdosen. Make-up lag verstreut auf dem purpurnen Teppich.

Falcos Blick fiel auf das Mansardenfenster. Er starrte auf das hell erleuchtete Dach des altehrwürdigen Kirchenschiffs. Der Stephansdom mit seinem tausendjährigen Gemäuer war Zeuge eines Verbrechens geworden, das sich in diesen Räumen kurz vor seiner Ankunft abgespielt hatte. Falco wurde sich jäh dieser Tatsache bewusst, als ihn ein Schlag aus dem Hinterhalt traf. Seine Beine knickten ein. Er spürte noch, wie er mit der Stirn auf dem Boden neben der marmornen Badewanne aufschlug. Sein letzter Gedanke galt Emilia – und wie schön es war, mit ihr Seite an Seite aufzuwachen. Dann hüllte Schwärze ihn ein.

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1. Bezirk

Der Polizist leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht und brüllte ihn mit seiner Kommandostimme an: »Los! Aufstehen!«

Ein Notarzt in roter Weste musterte den Beamten mit verständnisloser Miene. »Lassen Sie mich den Mann erst einmal untersuchen! Sie sehen doch, er hat eine Platzwunde am Kopf.«

Eine Polizeibeamtin unterbrach den Arzt: »Wir wissen selbst, wie wir unsere Arbeit zu machen haben, Herr Doktor.«

Die Umrisse der Möbel erschienen Falco schemenhaft, als trüge er eine von Schlieren getrübte Brille. Seit einigen Monaten besaß er sogar eine Lesebrille und hatte sich widerwillig an diese neue Art des Sehens gewöhnt. Er erkannte rote Sofamöbel, eine Minibar und einen überdimensionalen Flachbildschirm. Zu seiner Verwunderung befand er sich in Emilias Schlafzimmer.

»Sieht mir nach Polyintoxikation aus«, sagte der Polizist zu seiner Kollegin. »Wir brauchen von dem Giftler[1] unbedingt einen Bluttest.«

Der Notarzt leuchtete in Falcos Augen. »Ich würde lieber vorher eine Gehirnerschütterung ausschließen, wenn Sie mich mal meine Arbeit machen lassen würden, dann ...«

Falco versuchte aufzustehen. Die Anwesenden machten ihm Platz. Er taumelte und drängte die verdutzte Beamtin zur Seite. Ihr Kollege riss in einem Reflex, um seine Flucht zu verhindern, an Falcos Lederjacke. Falco ergriff dessen Unterarm und bog das Handgelenk mit brachialer Gewalt Richtung Ellbogen. Der Polizist schrie auf. Falco torkelte durch den Gang ins Badezimmer. Wohin waren all die Schminkutensilien? – Das Blut! Die Fliesen leuchteten hell. Das gedimmte Licht war durch ein herkömmliches ersetzt worden. Ein Anblick wie aus einer Putzmittelwerbung bot sich Falco und den Beamten. Dazu zitronenfrischer Geruch. Die Polizistin und ihr Kollege rangen Falco zu Boden.

»Was haben Sie in der Wohnung gesucht?«, wiederholte der Polizist. »Wie heißen Sie überhaupt?«

»Brunner – Falco Brunner. Ich bin Privatdetektiv.«

»Wo haben Sie Ihren Ausweis, Herr Brunner?«

»Zu Hause …«

»An der Tür gibt es Aufbruchspuren«, meldete ein weiterer Kollege in amtlichem Tonfall.

Die Beamten hievten Falco auf die Beine zurück. Jäh wurde er des Spiegels gewahr, sah den goldenen Rahmen. Der Spiegel hing, als wäre nichts gewesen, gegenüber der Badewanne. Falco erkannte sein leichenblasses Gesicht darin. Wie die Karikatur eines Schlafwandlers, den jemand mit aller Gewalt aus seinen Träumen gerissen hatte. Ein großer Junge, der aus einem Albtraum aufgewacht war!, würde seine Ex-Frau Christina sagen. Ein großer Junge, der geschlafen hatte. Der vielleicht sogar geträumt hatte!

»Aber er war doch … da!« Falco zeigte auf den Boden.

»Was war dort?«, erkundigte sich der Notarzt.

»… Scherben!«

»Das spricht eher für eine Gehirnerschütterung mit Amnesie«, vermutete der Notarzt. »Ohne ein aussagekräftiges CT des Schädels gemacht zu haben, geht hier gar nichts.«

Handschellen klickten um Falcos Unterarme. Ehe er sich's versah, versuchten Sanitäter und Polizisten, ihn auf einer Trage festzuschnallen. Falco wehrte sich.

Er schrie: »Emilia …«

Ihr Name hallte durch das Stiegenhaus.

»Hier wohnt keine Frau mit diesem Namen«, sagte die Beamtin. »Wir haben ein älteres Ehepaar gefragt, das als einziges noch in diesem Haus wohnt. In der Wohnung, in die Sie eingebrochen sind, Herr Brunner, lebt seit Jahren kein Mensch. Die Bewohnerin ist schon vor Jahren in ein Altenheim im 2. Bezirk gezogen.«

In der schmalen Gasse zwischen den Häusern hielt sich die Kälte wie in einem Kühlschrank aus Steinen. Mit einem Ruck hievten die Rettungssanitäter Falco samt der Trage ins Wageninnere. Jemand schloss die Schiebetür. Falco spürte eine Nadel in seiner Ellenbeuge. Als er seinen Kopf unter Schmerzen drehte, sah er einen Sanitäter, der Ähnlichkeit mit Arnold Schwarzenegger in seinen besten Zeiten besaß. Das Arnie-Double legte ihm einen venösen Zugang. Eine Infusionsflasche hing über ihm. Sie hatten seine Arme und Beine mithilfe von Kabelbindern in den entsprechenden Positionen fixiert. Falco glaubte sich in einem schlechten Film.

Der Notarzt meldete in ein Funkgerät: »Der Patient ist verwirrt und hoch erregt, sieht nach einer Psychose aus. Zentrale, wir fahren jetzt auf die Baumgartner Höhe in die Psychiatrie und stellen unseren Verletzten einem Amtsarzt vor!«

»Ganz ruhig!«, sprach Arnold Schwarzenegger neben ihm. Falco starrte in Richtung des Tropfenzählers.

Die Polizistin sagte: »Und wir fahren auf alle Fälle schon mal hinterher.«

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Mittwoch, 14. März, 7.00 Uhr, Gerichtsmedizin, Sensengasse, 9. Bezirk

Draußen im Treppenhaus war alles ruhig. Nur die Tür der gegenüberliegenden Wohnung stand offen. Chefinspektor Bruno Horvath blickte nach links und nach rechts, bevor er von außen in den fremden Wohnungsflur spähte.

»Guten Morgen, was kann ich für Sie tun, Herr Nachbar?«

Die Stimme ließ ihn innerlich erstarren. Er brauchte eine Schrecksekunde, ehe er sich vom Anblick der auf dem Boden ausgelegten Folie und den Tiegeln mit frischer Farbe und Pinseln lösen konnte. Er hatte nur eine Tasse Kaffee intus und war spät dran. Der Lackgeruch verursachte ihm ein Brennen in den Nasenlöchern – und einen Druck im Gehirn.

Bruno blickte in das Gesicht eines Mannes, der ein Lächeln zur Schau trug, das ihm den Charme eines Trickbetrügers verlieh. Bruno schätzte ihn auf Anfang fünfzig, den Falten und seinem weißen Haar nach zu urteilen. Er roch nach Terpentin.

»Seit wann wohnen Sie hier?«, fragte Bruno.

Der Mann erwiderte: »Seit gestern. Genau genommen seit vorletzter Woche, aber das Möbelhaus hat gestern erst das Bett und die Schränke geliefert. Darf ich mich vorstellen, Egon Schlesinger.«

»Horvath«, entgegnete Bruno und schüttelte die ihm dargereichte Hand.

»Hor…«, sein Gegenüber stockte und musterte ihn ein paar Sekunden länger als nötig. Die linke Gesichtshälfte schien zu gefrieren. Bruno setzte ein Lächeln auf. »Entschuldigung«, sagte Schlesinger, »Herr Horvath, Sie haben mich gerade an jemanden erinnert, den ich einmal gut kannte.«

»Ach, wirklich?« Bruno hatte keine Zeit, mit dem neuen Nachbarn über Ähnlichkeiten zu plauschen. Vielleicht ein andermal! Er musste zu einem Termin in der Gerichtsmedizin, der Priorität hatte.

Egon Schlesinger nickte ihm zu. »Da sieht man mal wieder, wie schnell ein Mensch in Vergessenheit gerät«, sagte er. Gab es eine bedeutungslosere Floskel?

»Ja, so ist es«, stimmte Bruno ihm zu.

»Ist das nicht grauenhaft?«

»Was?« Bruno wunderte sich über die drastische Wortwahl. Einen Umzug mit Grauen in Verbindung zu setzen schien ihm etwas hoch gegriffen.

»Wie schnell wir Menschen vergessen, die aus unserem Leben verschwinden«, antwortete sein Nachbar und ließ seine Hand los. Bruno verabschiedete sich. Die Gerichtsmedizin befand sich nur zwei Straßenbahnstationen von der Wohnung entfernt. Eine Viertelstunde später stand er in der Sezierhalle mit verschränkten Armen, während das Gespräch mit dem Mann, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte, noch in seinem Kopf nacharbeitete.

»Wann ist es das jemals nicht?«, sagte Bruno vor sich hin.

»Was?«, fragte Christina – seine Lebensgefährtin.

Christina arbeitete als Gerichtsmedizinerin. Sie streifte ihre Einmalhandschuhe ab und warf sie achtlos in eine Nierenschale.

»Grauenhaft!«, antwortete er. Was für ein hässliches Wort!

Christina und sein Kollege Schweiger maßen Bruno Horvath auf eine Weise, dass er die Fragezeichen in ihren Augen buchstäblich sehen konnte: Sollten sie sich Sorgen um ihn machen?

Bruno räusperte sich.

Christina fuhr fort: »Die Tote war zwischen fünfzehn und höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Wenn ihr mich fragt, dann hat sie mehr als fünf Jahre in dem Kofferraum gelegen. Durch das Wasser, das in das Innere des Fahrzeugwracks eingedrungen ist, konnte kein Sauerstoff an die Haut gelangen. Dadurch hat auch keine Verwesung eingesetzt, ähnlich wie bei Moorleichen, sondern es hat sich diese Wachsschicht hier um sie gebildet.« Christina kratzte mit einer Pinzette über die sanft geschwungene Stirn der jungen Frau. »Das ist wie Seife. Nur leider kann ich noch nicht sagen, ob sie bereits tot war, als ihr Mörder sie samt dem Fahrzeug in der Donau versenkt hat, oder ob er sie lebend in den Kofferraum gesperrt hat und sie ertrunken ist. Die inneren Organe einschließlich der Lunge haben sich verflüssigt. Als ich den Brustkorb aufgemacht habe, ist mir ihr Innenleben durch die Finger regelrecht davongeschwommen – eine ekelhafte Brühe!«

»Wie hält eine so wunderschöne Frau das nur aus?«, fragte Bruno und versuchte damit, von seiner eigenen Benommenheit abzulenken. Bruno sehnte sich nach seinem Ex-Kollegen Falco Brunner. Mit Falco hatte er über alles reden können, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Auch wenn Falco im Grunde genommen ein Verrückter gewesen war, der sich durch sämtliche Frauenbetten vögelte.

Christina versuchte ein Lächeln. »Ich bin nicht erst seit gestern in meinem Job«, holte sie ihn auf den Boden der Realität zurück. In ihre grünen Augen trat jenes Blitzen, das ihn schon als Jungen in seinen Bann gezogen hatte. Sie waren beide im Gemeindebau gegenüber dem Krankenhaus Hietzing – damals noch Lainz – aufgewachsen. Ein Wunder, dass sie nach ihrer Scheidung von Falco Brunner endlich zu ihm gefunden hatte. Der größte Wunsch seines Lebens hatte sich damit erfüllt. Zugleich hatte er seinen besten Freund Falco verloren.

»Was hast du sonst noch herausgefunden?«, fragte Bruno.

Christina präsentierte ihm in einer silbernen Nierenschale ein Stück blauen Stoff. »Unsere Leiche war nackt, als ihr Mörder sie in den Kofferraum gesperrt hat. Sie hatte keinerlei persönliche Gegenstände bei sich. Aber das hier – das könnte Teil eines Kleidungsstücks sein.«

»Wenn dem so ist«, hakte Matthias Schweiger nach, »wie kommt dann der Stoff in ihren Magen?« Schweiger war Falcos Nachfolger in der Abteilung. Bruno betrachtete nachdenklich das Profil seines Untergebenen. Schweiger gehörte einer neuen Generation von Polizisten an, die ihre Karrieren in Rekordgeschwindigkeit absolvierten. Immer jüngere Menschen, ohne jede Erfahrung, übernahmen verantwortungsvolle Aufgaben. Als Bruno und Falco Anfang der 1990er- Jahre ihre Laufbahnen begonnen hatten, waren die Kollegen in den Spezialabteilungen Ende vierzig und älter gewesen. Sie hätten ihre Väter oder Großväter sein können. Ein Umstand, der sich heutzutage grundlegend geändert hatte.

»Der Tod macht einem die eigene Vergänglichkeit bewusst«, sagte Bruno. »Vor allem wenn Menschen umgebracht werden, die deine Kinder sein könnten!«

Christina fuhr dienstbeflissen fort: »Vielleicht wurde die Frau ja mit einem Kopfkissen erstickt. Und in ihrem Todeskampf hat sie dieses Stück Stoff aspiriert, wodurch es zuerst von der Luftröhre angesaugt und schließlich über die Speiseröhre in den Magen gelangt ist. Außerdem waren ihre Arme und Beine mit Kabelbindern gefesselt.«

Bruno betrachtete nachdenklich die feinen Gesichtszüge ihrer Leiche. Die Totenblässe verstärkte noch den Ausdruck filigraner Zerbrechlichkeit. Sara, seine Tochter aus der Ehe mit Stefanie, war im Dezember siebzehn geworden. Die zarten Gliedmaßen der Toten, die winzigen Brüste, ihre Scham, die so verletzlich auf ihn wirkte … All das brachte ihm zu Bewusstsein, dass die Jugendlichen in diesem Alter noch Kinder waren! Auch wenn sie sich furchtbar erwachsen vorkamen. Welcher gefühlskalte Mensch tat einem Beinah-noch-Kind Derartiges an? Wer zerstörte innerhalb weniger Minuten Lebensentwürfe? Löschte Träume aus? Es stellte sich Bruno die Frage: Was hätte ich alles in meinem Leben versäumt, wenn ich als junger Mensch umgebracht worden wäre! Versonnen betrachtete er Christina.

»Ist dir nicht gut, Bruno?«, fragte sie.

Bruno spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn.

»Herr Horvath«, sagte Matthias Schweiger, »möchten Sie an die frische Luft? Ich kann das hier auch allein …«

Bruno antwortete: »Haben wir einen Gebissabgleich?«

Christina grinste. »Du träumst wohl! Ein paar Tage musst du dich schon noch gedulden, mein Lieber.«

Bruno atmete tief ein und aus. »Schweiger, Sie sehen sich sämtliche Vermisstenfälle an, die fünf bis acht Jahre zurückliegen. Geben Sie den Kollegen in der Abteilung ebenfalls Bescheid!«

»Jawohl, Herr Chefinspektor!«

»Kannst du eine Stoffprobe ins Labor schicken, Christina?«

Christina zog die weiße Einwegschürze aus und entsorgte sie in einem Abwurf für kontaminierte Einwegkleidung. »Schon erledigt!«

»Wie lange wird es dauern, bis du ein Ergebnis hast?«

Christina hob die Schultern. »Zwischen acht und zehn Tage vielleicht. Wird nicht einfach sein, die Herkunft zu bestimmen. Wenn es irgendeine vietnamesische Raubkopie eines Designerkleides von Dior oder Lagerfeld war oder eines Leiberls[2] von Adidas, dann werden wir Pech haben! – Es sei denn, die Kollegen vom Zoll haben irgendwann einmal zufällig eine Probe von ausgerechnet diesem Stoff genommen«, fügte Christina hinzu.

Bruno nahm sich vor, seine Ex-Frau Stefanie am Abend anzurufen. Er spürte das Bedürfnis, sie zu fragen, mit welchen Typen sich Sara zurzeit herumtrieb … oder nein, vielleicht auch lieber nicht! Am Ende sah seine Tochter in ihrem Vater einen Kontrollfreak und würde ihm nichts mehr erzählen, wenn er ihre Mutter dazu anstiftete, sie auszuhorchen.

Schweiger telefonierte. Bruno wies ihn an: »Und sagen Sie den Kollegen, sie sollen auch das Gesicht im Computer rekonstruieren, damit wir ein schönes Vermisstenfoto bekommen. Das hier«, er nickte in Richtung des Kopfes, »sieht nach blondem Haar aus. Unsere Tote war honigblond«, sagte er und wurde sich bewusst, dass Stefanie die Haarfarbe von Sara ebenfalls so bezeichnete. Wie pathetisch!, dachte er.

»Mach ich, Chef«, hörte er Schweiger neben sich, als stünde eine Wand zwischen ihnen.

Bruno fügte noch hinzu: »Wollen doch mal sehen, ob wir unserer Toten nicht wenigstens ihren Namen zurückgeben können. Vielleicht ist es dann etwas weniger grauenhaft.«

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Auf dem Weg in die Abteilung

Eine Viertelstunde später – im Dienstwagen, auf dem Beifahrersitz neben Schweiger – drehte er das Radio auf. Er hörte die Reste einer Nachrichtensendung: »… ist ein offensichtlich verwirrter Mann heute Nacht in eine Wohnung im 1. Bezirk eingebrochen. – Und nun zum Wetter, wie es aussieht, der kälteste März seit 1876 und keine Besserung …« Bruno schaltete das Gerät aus. Er lehnte sich zurück.

Schweiger lächelte. »Die Leute werden auch immer verrückter«, sagte er und überquerte eine Kreuzung, als das grüne Licht bereits blinkte, in gefühlter Überschallgeschwindigkeit.

Bruno betrachtete sein Gesicht im Spiegel unter der Sonnenblende. Das einst braune Haar war im letzten halben Jahr fast komplett ergraut. Christina meinte, er arbeite zu viel, seit der alte Gruber – nach Jahrzehnten als Leiter der Abteilung an der Wienerbergbrücke – endlich in seinen wohlverdienten Ruhestand gegangen war. Wie sehr hatte Bruno aufgeatmet, als Anton Gruber, seines Zeichens Oberkriminalrat, endlich von einem Tag auf den anderen seine Pension angetreten hatte. Wegen psychischer Probleme, so hatten die Kollegen am Wienerberg hinter dessen Rücken gemunkelt. Eine Frau, Anfang vierzig, in Brunos Alter, hatte die Leitung übernommen. Gruber war ein Patriarch gewesen, der sich keine seiner Führungsaufgaben aus der Hand hätte nehmen lassen. Seine Nachfolgerin erwies sich als Meisterin im Delegieren. Ein neuer Führungsstil! Bruno war dabei ihr Lieblingsopfer, dem sie sämtliche Aufgaben übertrug. Bruno sehnte sich, auch wenn er es niemals für möglich gehalten hätte, nach seinem alten Vorgesetzten zurück.

»Haben Sie das gerade vorhin im Radio gehört?«, unterbrach Schweiger seine Gedanken.

»Was? Sie meinen das Wetter?«

»Nein, dieser Typ da … der einfach in die Wohnung im 1. Bezirk eingestiegen ist und nicht weiß, was er dort eigentlich wollte.«

Bruno empfand wenig Lust auf Small Talk. Er versuchte, eine berufliche Ebene herzustellen. »Was wissen wir eigentlich über das Tatfahrzeug, in dem unsere Leiche gefunden worden ist?«

»Das Kennzeichen war abmontiert«, antwortete Schweiger. »Und die Fahrzeugnummer war natürlich sorgfältig abgeschliffen.«

»Sieht nach organisierter Kriminalität aus.«

»Sie meinen Menschenhandel, Herr Chefinspektor?«

Bruno klappte die Sonnenblende hoch. Was bedeutete schon graues Haar? Christina fand ihn attraktiv, versicherte sie ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Nachdenklich betrachtete er Schweigers ultrablond gefärbtes Haar, mit dem er bei Veranstaltungen wie dem Christopher-Street-Day ohne jegliche Vorbereitungen den verdeckten Ermittler hätte geben können. Insgeheim fragte er sich – so wie jeder in der Abteilung –, wann Schweiger endlich einmal etwas von einer Freundin oder einer Verlobten verlautbaren ließe. Schweiger verlor kaum jemals ein Wort über sein Privatleben.

Das Vibrieren seines Smartphones riss Bruno diesmal aus seinen Gedanken. Auf dem Display stand: Stefanie – ein Wunder, dass seine Ex-Frau sich mal wieder bei ihm meldete! Für gewöhnlich überließ sie es ihm, ihr hinterherzutelefonieren. Von Anfang an hätte sie ihn am liebsten komplett aus ihrem und aus Saras Leben gestrichen. Stefanie hatte ihn drei Jahre lang mit einem anderen betrogen. Alles, was sie interessierte, waren seine Alimente. Hauptsache, er zahlte! Von zehn Anrufen, die er tätigte, hob sie in der Regel nicht öfter als ein einziges Mal ab. Er hatte es nach etlichen Schlachten bei Gericht geschafft, dass er seine Tochter wenigstens einmal im Monat besuchen durfte. Seit sie allerdings einen Freund hatte, verbrachte Sara die meiste Zeit bei dem Jungen, wofür er Verständnis zeigte. Sara war schließlich kein Kind mehr! Zuletzt hatte er seine Tochter an Weihnachten gesehen, als sie sich ihr Weihnachtsgeschenk von ihm geholt hatte. Sie war kurz angebunden gewesen und hatte in erster Linie nur Geld von ihm gewollt. Mit Sicherheit steckte auch hinter diesem Verhalten Stefanie.

»Was ist los?«, meldete sich Bruno ohne Begrüßung.

Stefanie antwortete: »Sara ist weg!«

»Was soll das heißen?!«

Seine Ex-Frau antwortete: »Sie ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen.«

»Vielleicht ist sie bei Mirko … oder Marco«, er versuchte den Namen ihres Angebeteten in Erinnerung zu rufen. »Oder bei einer von ihren Freundinnen!«

»Habe ich schon alle angerufen«, antwortete Stefanie.

Bruno starrte aus dem Fenster in den morgendlichen Berufsverkehr, der russischem Roulette ähnelte. Autos überholten links und rechts, Fahrer hupten laut und schnitten einen. Wer sich an die erlaubten fünfzig Stundenkilometer hielt, war in diesem Todesrennen verloren.

Bruno beschlich ein dunkler Gedanke. Handelte es sich wieder einmal um einen von Stefanies Tricks, um Unfrieden zwischen Vater und Tochter zu säen? Oder um an Geld zu kommen?

Bruno stellte sich seine Ex-Frau am anderen Ende der Leitung vor: künstliche Fingernägel, falsche blonde Strähnen, viel zu dickes Make-up. Zuletzt hatte sie sich die Lippen aufspritzen lassen. Botox um ihre Augen- und Mundwinkel ließ ihre Züge auf eine schaurige Art und Weise ausdruckslos erscheinen. Was war nur aus Stefanie, dem Mauerblümchen von früher, geworden?

Er seufzte. »Hast du sie auf ihrem Handy erreicht?«

»Nur die Mailbox.«

»Wo wollte sie denn hin?«

Stefanie nannte ihm die Adresse eines Klubs in Meidling bei der U-Bahn-Linie 4. »Dort hat ihre beste Freundin sie zuletzt gesehen. Sara ist angeblich schlecht geworden. Sie wollte kurz nach draußen. Die Freundin ist erst stutzig geworden, als Sara nicht mehr zurückgekommen ist.«

»Wann ist die Freundin genau stutzig geworden?«, hakte er nach.

»Nach zwei Stunden. Sie hat gedacht, Sara hätte draußen irgendwelche Bekannten getroffen und sich verplaudert. Du kennst deine Tochter ja …«

Er fiel ihr ins Wort: »Natürlich kenne ich meine Tochter!«

»Dann weißt du auch, dass man sich hundertprozentig auf Sara verlassen kann. Was ist nur, wenn jemand ihr K.-o.-Tropfen in ihr Getränk gekippt hat …? Oh Bruno, ich halte das nicht aus!« Stefanie verfiel in Schluchzen, das in diesem Fall ausnahmsweise authentisch klang und absolut nichts von ihrer theatralischen Art besaß, sich zu inszenieren. Im Grunde genommen hatte er während ihrer Ehe als Erster das Interesse an seiner Frau verloren. Nicht sie an ihm! Über ihr Fremdgehen hatte er instinktiv Bescheid gewusst. Stefanie wiederum hatte gewusst, dass er es wusste. Nur geredet hatten sie kein Wort darüber. Sara hatte die Spannungen zwischen ihren Eltern irgendwann nicht mehr ertragen und sich Ritzwunden an den Unterarmen zugefügt. Ab diesem Zeitpunkt hatte auch eine Familientherapie nicht mehr gegriffen. Stefanie hatte ihn samt Sara verlassen und war zu seinem Nachfolger in die Jugendstilvilla im 13. Bezirk gezogen.

Es bringt jetzt nichts, einen Streit mit Stefanie anzufangen, beschwor ihn die innere Stimme der Vernunft.

Er fragte: »Hast du schon eine Abgängigkeitsanzeige[3] gemacht?«

Stefanie verneinte.

»Aber warum denn nicht?«

»Muss Sara da nicht erst einen ganzen Tag verschwunden sein? Ich dachte … du kannst das mit deinen Kollegen viel besser regeln und …«

»Sara ist minderjährig! Es ist völlig egal, wie lange sie vermisst wird. Mach dich auf den Weg zur Wachstube in Lainz. Das ist die nächste Adresse.«

»Aber was sollen deine Kollegen von mir denken, Bruno? Die Leute glauben doch sofort, ich hätte einen Fehler gemacht. Und dass ich eine schlechte Mutter bin!«

Brunos Hand verkrampfte sich um das Smartphone. »Dann nimm als seelischen Beistand deinen Herbert mit! Er ist immerhin … Er ist doch immerhin Architekt!«, knurrte er. Wie oft hatte sie vor ihm mit dem beruflichen Status seines Nachfolgers geprahlt.

»Herbert meint, Sara ist deine Tochter, Bruno, deshalb sollst du jetzt …«

»Jetzt auf einmal, ja?«, fiel er ihr ins Wort. »Wenn es ein Problem gibt, zieht Herbert es plötzlich vor, sich aus der ganzen Sache lieber vornehm herauszuhalten. Das ist typisch für diesen Alt-Hietzinger Geldadel! Der Sohn der Hofratswitwe drückt sich und überlässt die Rettung seines Stiefkindes lieber dem einfachen Gendarmen[4]!«

Stefanie schluchzte am anderen Ende der Leitung.

Bruno presste die Lippen aufeinander. So viel Unausgesprochenes lag zwischen ihnen in der Luft. So viel Wut hatte sich in seinem Herzen aufgestaut.

Bruno verstummte.

»Was ist los, Chef?«, fragte Schweiger.

Vor ihnen tauchte die Kaserne an der Wienerbergbrücke auf. Das barocke Gebäude, das einst Soldaten aus der k.u.k.-Monarchie beherbergt hatte, leuchtete im traditionellen Schönbrunner Gelb. Nur Bruno sah rot! Er wandte sich an Stefanie: »Wir treffen uns in einer Viertelstunde an der Lainzer Straße. Überleg dir schon mal, wie Sara gekleidet war – und ihre Frisur«, fiel ihm ein – ihr honigblondes Haar, das sie in letzter Zeit in allen möglichen Farben tönte. »Und wehe, du kommst zu spät!«

Wütend legte er auf.

[home]

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Als ich zwölf war, habe ich meinen Großvater einmal gefragt: »Wer sind wir?« Er blickte mich über den Bräunling[5] in seiner Tasse hinweg an und schlürfte das belebende Getränk. Mein Großvater hat gesagt, dass ich eine von ihnen sei – so wie meine Großmutter auch eine von ihnen gewesen ist. Ich habe nicht verstanden, was er damit gemeint hat. Mit siebzehn bin ich von daheim fortgelaufen. Ich wusste, dass es mir seit meiner Geburt vorbestimmt gewesen war. Der Fluss hat es mir verraten. Ich musste den Weg gehen. So wie jeder Mensch seinen Weg gehen muss.

»Wer bist du?«, hat mich der Wirt gefragt.

»Emilia«, lautete meine knappe Antwort. Der Wirt, in seinem Trachtenjanker, maß mich mit einem Blick, als wäre ich ein Stück Vieh, das zur Auktion feilgeboten wurde. Die Art und Weise, wie er meine Brüste und meinen Hintern begaffte, verriet mir seine Gedanken. Ich sah die Ausbeulung vorne in seiner Hose, verräterisch. Ich trug ein Kleid, aus dem ich rausgewachsen war, und stand barfuß in meinen Zehensandalen vor ihm.

»Wir brauchen noch eine Kellnerin für die Saison«, sagte er.

Das war mein Glück! Ich hatte kein Geld für eine Rückfahrt. Angemeldet hat er mich, soweit ich weiß, nicht. Ich hätte auch keinen Wert darauf gelegt, bei irgendeinem Finanzamt oder einer Gemeinde als eine Zahl unter vielen registriert zu werden. Davon wusste ich nichts! Das Wasser interessiert es auch nicht, ob du Steuern zahlst, hat mein Großvater gesagt, wenn er von der Schwarzarbeit auf den Feldern der Bauern nach Hause gekommen ist. Ich sah nur die Euros, die mir in Zukunft Eintritt in die Welt der Gadsche[6] bescheren würden! Geld regiert die Welt, sagt eines ihrer Sprichwörter. Ein Gefühl wie Angst – oder Existenzangst – kannte ich bis dahin nicht.

Mein erster Arbeitgeber steckte mich in Trachtengewänder, die zuvor seine Tochter getragen hatte. Damit passte ich perfekt zur Bergkulisse und zum Wörthersee. Seine Tochter studierte in Wien, erfuhr ich von meinen Kollegen. Eine Köchin verriet mir hinter vorgehaltener Hand, dass das Kind seit fünf Jahren nicht mehr nach Hause gekommen war. Ich trug die Kleider der Wirtstochter zum Kellnern auch in meiner Freizeit. Ich besaß nichts anderes.

Als ich ein Mädchen war, liebte ich es, mit den Füßen im Fluss zu waten. Das kalte Wasser der Pielach fühlte sich an wie eine Erinnerung; es erzählte von all den Orten, die es bereits hinter sich hatte. Ich lauschte den Geschichten, die ich hinter dem Rauschen vernahm. Vielleicht ist das der Grund, warum ich ausgerechnet am See meinen ersten Sommer in Freiheit verbracht habe.

»Du bist ein geschicktes Mäderl!«, lobte die Chefin gleich am dritten Tag mein Talent.

Am Anfang konnte ich nicht besonders gut schreiben. Wenn zum Beispiel jemand ein Schnitzel bestellte, notierte ich mir auf dem Block ein X, Schnitzel mit Erdäpfelsalat kürzte ich ab mit Xk, ein Seidel Bier bedeutete: +, und so weiter. Als Kind war ich häufig krank gewesen, und später hatte ich die Schule geschwänzt.

»Dass eine wie du nicht viel in die Schul’ gegangen ist, das war mir klar!«, sagte der Wirt. »Aber Hauptsach’, du ziehst den Leuten das Geld aus der Taschen mit deinem schönen Arsch, Menscherl[7]. Eine wie du kann des! Des hab ich dir auf den ersten Blick angesehen.«

Er sprach die Worte unverhohlen vor seiner Frau aus. Ich lächelte, weil er gerade mein Rechentalent gelobt hatte. Außerdem faszinierte es mich, ihn und seiner Frau dabei zuzusehen, wie sie miteinander umgingen. Was sich vor mir abspielte. Aber meine Sinne registrierten Worte, die durch den Raum schwebten, ohne dass sie ausgesprochen worden waren. Dunkel streifte mich die Erkenntnis – der eigentliche Grund, warum die Tochter der beiden dem Elternhaus fernblieb. Und ich spürte das daraus entstehende Gefühl in meinem Bauch – schwer wie ein Monolith. Meine Heimat, das Waldviertel, ist voll von diesen gigantischen Steinen, von denen eine magische Wirkung auf uns Menschen ausgeht.

Wenn ich mir meine Geschichte so durch den Kopf gehen lasse – diese ersten Zeilen überfliege, dann lässt sich leicht sagen: Mein Leben gleicht am Anfang noch einem Märchen, ähnlich dem von Aschenputtel. Auch ich habe Toiletten geputzt, Geschirr gespült bis tief in die Nacht – und dazwischen hat mich der Wirt in meiner Stube besucht. Ich tat ihm den Gefallen, weil er mein Chef war. Und weil ich ihn auf eine Weise anziehend fand. Ich begriff, warum seine Tochter ihm fernblieb. Dafür brauchte ich bald nur noch zu kellnerieren, brauchte mir die Finger nicht mehr schmutzig zu machen. Und schließlich auch nur noch zu bestimmten Stunden – die Nachmittagsschicht, wenn nicht viel los ist am See, gehörte mir. Er passte sogar auf, dass seine Frau nicht zu hart mit mir umgegangen ist. Am liebsten hätte sie mich dafür erwürgt – ich habe es ihr angesehen! Ich habe ihre Blicke gespürt, die sich wie Dolche in meinem Rücken angefühlt haben. Wie sehr muss sie ihre Tochter verabscheut haben dafür, dass sie ihr den Mann abspenstig gemacht hat! Und jetzt sah sie in mir diesen Tochterersatz. Wenn ihr Mann zu mir in meine Stube gekommen ist, war ich selbst meist schon sternhagelvoll.

Ich habe ihm meinen Arsch hingehalten. Ich sah es als meine Pflicht an. Immerhin war ich dafür seine Prinzessin! Nie zuvor hatte ein erwachsener Mann mir so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Die Jungen, mit denen ich zuvor Sex gehabt hatte, hatten mich nur ausgelacht. Wie ein Hund hat er meine Zehen geleckt. Und ich habe dafür ihn ausgelacht!

»Eine wie du«, sagte er – wenn er mich am nächsten Tag traf – verächtlich zu mir, »eine Dahergelaufene … Wer wird sich in der nächsten Saison noch an dich erinnern? – Kein Mensch!«

Ich sah jedes Mal den Schmerz und die Demütigung in seinen Augen. Ich starrte ihn schweigend an, genoss die Wirkung, die ich als Siebzehnjährige auf einen erwachsenen Mann ausübte. Er schlug mir ins Gesicht – und brach im nächsten Moment in Tränen aus. Er bot einen erbärmlichen Anblick. – Von da an wusste ich, dass ich in diesem Spiel über ihm stand. Er war Wachs in meinen Händen. Ich fühlte mich glücklich in diesen Tagen. Gar nicht wie eine Sklavin, sondern viel mehr wie eine Königin, der tagsüber jeder Wunsch von den Augen abgelesen wurde; nachts umschlang ich ihn mit meinen Beinen. Ich stellte mir dabei das Gesicht seiner Frau vor. Der Alkohol tat ein Übriges! Und mit der Zeit brauchte ich immer weniger davon.

In meinen freien Stunden bin ich dem Ruf des Wassers gefolgt. Am See gab es eine Stelle, deren Existenz mir eines der Zimmermädchen verraten hatte. Man musste eine halbe Stunde gehen. Steine ragten dort aus dem Wasser. Zwischen Bäumen und Sträuchern war man dort vor fremden Blicken vollkommen geschützt. Ich setzte mich auf einen der Steine und ließ meine Füße in das kühle Wasser baumeln.

Sofort wurde mir die Wirkung bewusst. Der Fluss, den es zu Hause gab, schien auf magische Weise auch mit diesem See verwandt. Du lässt einen Tropfen von deiner Haut in das Wasser perlen. Der Tropfen verteilt sich augenblicklich in jedem Fluss, See oder Meer … das Wasser ist zu jeder Zeit an jedem Ort gleichzeitig – so wie unser Leben. Wir bestehen aus Wasser. Wir sind überall. Miteinander verbunden.