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Eine Schülerin und ein Schüler, beide gehören zum Abiturjahrgang 1965, machen sich Gedanken über ihre Schulzeit. Um ihres Weiterkommens willens, erinnern sie sich, oft wider besseres Wissen geredet zu haben, Zeitungen Rundfunk, Fernsehen vermittelten ihnen höchstens die halbe Wahrheit. Die Lüge war allgegenwärtig, auch die Lehrer sagten ihrer Schülern , ging es um die Parteidoktrinen, selten, was sie selbst als wahr empfanden. Dabei erkennen die Schüler nicht alle Chancen, die sich ihnen damals boten, genutzt zu haben. Deshalb kommen sie auf den Gedanken Geschichten zu erzählen, die sie sich einander zuschicken. Der Schwerpunkt liegt in dem Gegenüber von sozialistischer Schule und kirchlicher Schülerarbeit. Lehrer und Schüler werden nicht nur in dem Dilemma, in dem sie sich befinden dargestellt, es werden auch Alternativen für ihre Entwicklung gezeigt. Als die beiden Abiturienten mit ihrem Projekt beginnen, wissen sie nicht, worauf sie sich einlassen und wohin es sie führen wird.
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Seitenzahl: 484
Veröffentlichungsjahr: 2025
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SED-Diktatur
kirchliche Schülerarbeit
Erfurter Geschichten aus den frühen
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Vorwort 5
Briefwechsel 1 7
Die Geisterschule 1 42
Briefwechsel 2 87
Die Geisterschule 2 94
Briefwechsel 3 121
Mein letztes Schuljahr, Tagtraum 136
Unser erstes Rendezvous 136
Bei Barbara 150
Der Schülerkreis 159
Bei der Pastorin 161
Inka 167
Kündigung einer Lehrerin 210
Was kommt nach dem Abitur? 247
Wir inszenieren ein Theaterstück 284
Nach Berlin und Potsdam 305
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Klingsor gibt vorerst auf 331
Das Abschlussfest 353
Unsere Fahrt nach Rügen 373
Mein Brief über Rügen und die Folgen 402
Briefwechsel 4 421
Nachbemerkung 430
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Rosaria und Lukas versuchen mit Geschichten Türen zu öffnen, durch die sie als Abiturienten in der DDR nicht gegangen sind, Wege zu beschreiten, die sie sich damals nicht entlangwagten, Chancen zu ergreifen, die sie nicht nutzten. Was sie aufschreiben, schicken sie einander zu, damit sie sich gegenseitig korrigieren und so ihr Projekt weiterführen können. Was wie eine Liebesgeschichte beginnt, entwickelt sich zu einem DDR-Panoptikum der frühen sechziger Jahre, unmittelbar nach dem Mauerbau, in dem der Schwerpunkt auf der sozialistischen Schule und der kirchlichen Schülerarbeit liegt.
Ihre Erzählungen reichen über die bloßen Tatsachen hinaus, weil beide glauben, die Wahrheit in ihrer Hintergründigkeit nicht im Oberflächlichen und Scheinbaren aufspüren zu können. Als sie mit ihrem Unternehmen beginnen, treten sie in das für sie noch Unbekannte ein, sehen die DDR wahrer als sie sie in der bloßen Wirklichkeit erlebten, erfahren aber auch, Geschichten zu schreiben führt sie nicht zu dem Erwartetem und Erhofften hin, sondern zu Erlebnissen, die sie nicht voraussehen konnten. Ob ihr Vorhaben erfolgreich verläuft, wissen sie nicht, denn sie befinden sich am Ende des Buches noch am Anfang ihres neuen Lebens.
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Liebe Rosaria,
vor sechzig Jahren sah ich Dich zum ersten Mal in der neunten Klasse des altsprachlichen Zweigs der Erweiterten Oberschule, kaum ein Tag vergeht seit jenem Vormittag, an dem ich nicht an Dich denke, dein Bild trage ich in mir, es begleitet mich durch mein Dasein, nicht nur in den Jahren, die wir miteinander erlebten und in denen wir uns beinahe täglich begegnen, sondern auch in den Jahrzehnten, in denen wir keine Kontakte zueinander knüpften.
Natürlich ereignete sich in diesem Zeitraum eine Menge, beide finden wir Partner, bekommen Kinder, Enkel, viel passiert bei Dir und mir, von dem wir beide nichts wissen.
Vor fünfzig Jahren sahen wir uns das letzte Mal, in meinem Gedächtnis bist du das junge Mädchen in meiner Schulklasse, wie könnte das auch anders sein?
Da mich diese Erinnerungen gleichermaßen beunruhigen wie mit Freude erfüllen, möchte ich sie nicht für mich allein behalten, sondern Dir Anteil an ihnen geben, deshalb schreibe ich Dir diese Zeilen.
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Ganz herzliche Grüße
Lukas
Lieber Lukas,
entschuldige, dass ich so lange Zeit verrinnen lasse, bis Du von mir eine Antwort erhältst. Deine Zeilen haben mich bewegt und Gefühle angesprochen, von denen ich schon annahm, dass sie nicht mehr in mir existieren. Dein Brief begleitet mich bei meinem Tagwerk, befindet sich immer in Sichtweite von mir, weil er ein Stück von Dir manifestiert und Du auf diese Weise bei mir bist. Kannst Du Dir vorstellen, was Deine wenigen Worte in mir auslösen? Sie erhellen mein Gemüt und berühren mich so stark, dass ich manches um mich her gar nicht mehr wahrnehme. So kam es durch meine Unaufmerksamkeit zu einem Unfall, Bremsen quietschen, Passanten schreien und ich erwache ich im Krankenhaus. Der Arzt erzählt mir, Glück habe ich bei dem Unfall sogar noch gehabt, alles hätte schlimmer ausgehen können, als es gekommen ist, zumal in meinem Alter.
In einigen Tagen verlasse ich das Krankenhaus, bleibe aber noch Monate auf Gehhilfen angewiesen. Geduld muss ich üben, und manches, was ich sonst im Haus und Garten verrichte, erledigen jetzt andere. Ich verfüge damit aber auch über Zeit, grenzenlose Zeit, die ich nutzen will nachzudenken und vielleicht auch, wenn Du magst, mit Dir in einen Briefwechsel zu treten. Schreib mir bitte, ob Du Dir das vorstellen kannst. Es gibt so viel Unausgesprochenes zwischen uns beiden, dass wir endlich in Worte fassen können. Ich sehe, was mir widerfahren ist als Chance an. Mit Dir kann ich sie
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nutzen, und vielleicht bringen wir alten Leute noch etwas zuwege.
Ganz herzlich grüßt Dich
Rosaria
Liebe Rosaria,
danke für Deinen Brief. Dass Dich meine Worte berühren, betrachte ich als ein Geschenk. Wie Du den Unfall und die darauffolgende Zeit der Rekonvaleszenz beschreibst, spricht mich sehr an. Alles hat zwei Seiten, und Dir ist gegeben, nicht nur die negativen Aspekte des Unfalls zu sehen. Natürlich wünsche ich, dass Du bald wieder auf die Beine kommst und alles ohne weiterreichende Folgen überstehst. Die Einschränkungen zum Nachdenken und darüber hinaus für einen Briefwechsel zu nutzen, ist für Dich und mich eine große Chance, die wir beide ergreifen sollten. Es gibt viel, über das wir uns austauschen können, unsere Gefühle füreinander, Mitschülerinnen und Mitschüler, Freundinnen, Freunde, Lehrerinnen, Lehrer, die weltpolitische Lage, wenn ich an den Mauerbau, die Entstalinisierung, die Kubakrise, den Sturz Chruschtschows, die Ermordung von Kennedy denke, all diese Geschehnisse treten uns auf unterschiedliche Weise entgegen, die Jahre zwischen 1961 und 1965 hatten es in sich, und wir sind als Jugendliche mit dabei gewesen.
Hoffentlich lege ich nicht schon zu viele Themen für unseren geplanten Briefwechsel aufs Tablett, aber es handelt sich lediglich um Vorschläge, die Du jederzeit korrigieren kannst, ich meine nur, wir sollten die Inhalte zumindest grob abstecken,
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bevor wir mit dem Schreiben beginnen. Also: Ich bin dabei und warte auf Deine Antwort.
Ganz herzlich
Lukas
Lieber Lukas,
danke, dass Du auf meinen Vorschlag eingehst und mir Ideen über mögliche Inhalte unseres in Aussicht genommenen Briefwechsels mitteilst. Ja, was Du anführst, soll alles drin vorkommen, aber keine Briefe, die im Allgemeinen stehenbleiben und von jedem anderen auch geschrieben werden können. Auf jeder Seite wollen wir über unser Leben, unsere Gefühle und unsere Probleme schreiben. Damit kommen auch die geschichtlichen und gesellschaftlichen Ereignisse, die Du erwähnst, zur Sprache, aber immer so, wie wir sie erlebt haben. Wenn wir an unser Vorhaben mit der Meinung herangehen, dass wir schon alles wissen und es nur aufzuschreiben brauchen, führt der Briefwechsel zu nichts, bleibt eine Belehrung durch mich oder Dich, die uns keinen Schritt weiterbringt. Wir wissen zu wenig von uns selbst und übereinander, und das Schreiben kann uns zu etwas mehr an Klarheit führen, nach der wir beide verlangen. Vielleicht ist es am besten einfach anzufangen, jeder schildert einen beliebigen Ausschnitt aus unserem Schulalltag, den wir uns zuschicken und mit unseren Erinnerungen und Empfindungen checken. Wenn wir über Offenheit und den Drang nach der Wahrheit verfügen, brauchen wir uns gar nicht mehr allzu viele Gedanken zu machen, was wir schreiben wollen. Einfach beginnen, selbst wenn es am Anfang holpert und wir vielleicht Anlass zu ungewollter Komik geben, können und werden wir es
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ertragen und bringen vielleicht auch so viel Humor auf, nicht nur über die anderen, sondern auch über uns selbst zu lächeln.
Ganz herzlich
Rosaria
Liebe Rosaria,
das ist ein guter Einstieg, beenden wir die Vorreden, fangen wir einfach an:
Ganz spontan fällt mir der erste Schultag auf unserer EOS ein.
Mit Spannung sehe ich schon seit Tagen den neuen Mitschülern, der Schule und den Lehrern entgegen. Ein besonderer Tag soll es werden, erblicke ich doch Dich das erste Mal, wir sitzen fast nebeneinander, nur der Gang zwischen uns.
Damals beginnt, was mich ein ganzes Leben nicht loslässt, ich schaue nach Dir und bemerke jetzt als alter Mann, Dein Bild erweist sich in meiner Erinnerung nachhaltiger als andere Eindrücke, die hier auf mich einströmen, Du überstrahlst alles, vertreibst selbst die Schatten, die politische und gesellschaftliche Verhältnisse über uns werfen.
In den Sommerferien ereignet sich eine Menge. Am 1. August reist unsere Familie an die Ostsee. Wir unterbrechen die Fahrt, machen einen Abstecher nach Westberlin, in Ahlbeck erhalten wir Postkarten von Freunden aus der Bundesrepublik, die uns nahelegen, die DDR baldmöglichst zu verlassen. Dann kommt der 13. August, es ist ein Sonntag, ich höre meine Mutter betreten sprechen:
„Jetzt können sie mit uns machen, was sie wollen.“
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Der Unterricht von Dr. Curtius, unserem Klassenlehrer, beginnt nicht etwa mit Latein oder Griechisch, sondern äußerst politisch und militant. Ich sehe Dich im Blauhemd der FDJ in der Schulbank sitzen, nicht weil Du das schick findest, sondern weil ein Erlass alle Mitglieder des Jugendverbands auffordert, das FDJ-Hemd als Bekenntnis zu unserem Staat zu tragen, stelle aber gleichfalls mit Erstaunen fest, dass keineswegs alle Mitschüler im FDJ-Hemd zur Schule kommen. Wie ist das zu erklären? Warum erhalten einige Schüler einen Platz an der Erweiterten Oberschule ohne Mitglied in der Staatsjugend zu sein? Darüber können wir uns aber noch in einem der folgenden Briefe austauschen.
Der Sportunterricht besteht aus militärischem Drill:
„Stillgestanden, Rührt euch, Die Augen links, Kolonne bilden, Marsch, Marsch! 3, 4, ein Lied.“
Wie der Sportunterricht für die Mädchen verläuft, weiß ich nicht, obwohl wir parallel in einer Turnhalle zugange sind. Im Musikunterricht werden Kampflieder eingeübt:
„Drum Vorwärts Geschütze und Gewehre, Noch tragen die Völker des Westens die Ketten.“
FDJ-Regimenter bilden sich, übergroße Plakate in der Stadt weisen auf sie hin und sollen der Kampfbereitschaft der Massen Ausdruck geben, auch im Kunstunterricht gestalten wir Agitprop zum Thema 13. August, die friedliche DDR und den kriegslüsternen Westen in Bildern überzeugend darzustellen, ist unsere Aufgabe. Die Mauer heißt offiziell Antifaschistischer Schutzwall. Der Dritte Weltkrieg stand vor der Tür, nur der Mauerbau verhinderte ihn rechtzeitig. Wenn es um Sein oder Nichtsein geht, versteht unser Staat keinen Spaß. Wer nicht für
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uns ist, ist gegen uns, und wer meint, unser Staat ermöglicht seinen Feinden einen höheren Schulabschluss und danach noch ein Studium, hat sich gründlich getäuscht. Du erinnerst Dich sicher noch an einen Appell auf dem Schulhof, auf dem uns der Direktor mitteilt, ein Schüler wird von der Schule und allen anderen zum Abitur führenden Schulen verwiesen, weil er sich staatsfeindlich verhalten hat. Was er im Einzelnen verbrach, sagt er uns nicht, wir wissen aber, es kann vielerlei bedeuten, es reicht aus, den Mauerbau in Berlin infrage zu stellen, die FDJ-Regimenter, den militärischen Drill zu kritisieren oder ganz einfach Westfernsehen nicht nur selbst zu schauen, sondern andere dazu einzuladen und mit ihnen dann darüber zu sprechen. Die westlichen Massenmedien spielen in der DDR eine große Rolle. Da nahezu überall, bis auf den Dresdener Raum, das Westfernsehen, ARD, später auch ZDF, andere Programme gab es noch nicht, empfangen werden können, nutzen die meisten DDR-Bürger dieses Angebot zur Unterhaltung und zur Information. Die DDR- Programme, in der Unterhaltung langweilig, in der Information einseitig und unerträglich belehrend, werden kaum eingeschaltet.
Ausnahmen bilden u.a. alte Ufa - Filme am Montagabend, in deren Anschluss Karl-Eduard von Schnitzler erklärt, wie wir die Welt zu sehen und zu verstehen haben. Obwohl an Bosheit und Sarkasmus kaum zu übertreffen, schafft er mit seiner Sendung alles andere als einen Quotenhit. Da den Funktionären dieser Tatbestand nicht unbekannt ist, versuchen sie mit allen Mitteln die Jugend vom Konsum westlicher Medien fernzuhalten, kaum eine Unterrichtsstunde vergeht, in der das Thema nicht angesprochen wird, Dr. Curtius bekennt scheinbar frei und offen, selbst Radio Frankfurt gehört zu haben, und wenn er das
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als Klassenlehrer vor seinen Schülern offenlege, könne jeder von uns es ihm nachtun und auch über sein Fehlverhalten sprechen. Wir lassen ihn reden, keinen drängt es danach, ein Bekenntnis abzulegen, wissen wir doch, was für Folgen das nach sich zieht. In einer anderen Schulklasse malt die Lehrerin das Sehpferdchen, eine damals bei Kindern beliebte Zeichentrickfigur zwischen der Werbung im NDR, in der Pause an die Tafel und versteckt sich dann dahinter. Als die Kinder in den Klassenraum strömen und das Bildchen sehen, rufen einige spontan:
Das Sehpferdchen
und sehen dann erschrocken ihre Lehrerin hinter der Tafel hervortreten, die ihnen eine Standpauke hält. Es vergehen nur wenige Tage, und Curtius erscheint mit einer Liste, die er durch die Bankreihen gehen lässt. Auf dem Vordruck, der die Verpflichtung enthält, keine westlichen Sender zu hören oder zu sehen, ist jeder von uns mit Namen, Adresse und Geburtstag verzeichnet. Hinter unseren Namen ist Raum für unsere Unterschrift. Die ganze Klasse unterzeichnet und konsumiert weiter die Westprogramme. In der Presse kommen Schüler zu Wort, die angeben, von ihren Eltern gezwungen zu werden, Westfernsehen zu schauen. Bei der räumlichen Enge vieler Wohnungen lässt sich das auch nicht leicht vermeiden. In unserer Klasse gibt es nur einen Schüler, der Vater ist ein höherer Parteifunktionär, der keine Möglichkeit hat, Westfernsehen zu sehen, und der darunter auch leidet.
Heute, sechzig Jahre danach, frage ich mich, was uns angetan ist und welche Schäden bei uns und den Lehrern entstanden sind. Wir machen meist brav mit, reden wider besseres Wissen,
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unterzeichnen Verpflichtungen, an die wir uns nicht halten. Ist das nicht ein außerordentlicher Missbrauch gewesen? Hat nicht ein Lehrer eine pädagogische Verantwortung, die ihn leitet und sein Verhalten bestimmt? Was geschieht mit ihm, wenn er zu Handlungen gezwungen wird, die er nicht tun will und die seinem ethischen Empfinden widersprechen? Fragen über Fragen tun sich auf, und es ist alles andere als leicht eine Antwort darauf zu finden.
Glücklicherweise findet in unserer Schule nicht nur Indoktrination statt, wir befassen uns auch mit vielen Fachgebieten, die uns bereichern und im Leben weiterbringen. Unsere Lehrer sind sehr unterschiedlich gewesen, es lohnt sich durchaus, im Weiteren einen Blick auf sie zu werfen. Auch unsere Freundinnen und Freunde, mit denen wir im gleichen Boot sitzen und auf einer anderen Ebene reden als mit den Lehrern, sind von großer Bedeutung für uns.
Liebe Rosaria, ich muss mir das alles zunächst von der Seele schreiben. Ich freue mich im Nachdenken über die gemeinsame Schulzeit nicht allein zu sein und warte mit Spannung auf Deine Antwort.
Ganz herzlich
Lukas
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Lieber Lukas,
Dein Brief enthält eine Menge Stoff, viel Holz, wie ich es als Lehrerin manchmal sagte. Ich kann mich an vieles erinnern, auch an die FDJ-Bluse, mit der ich nach dem 13. August, zum Glück nicht in der ganzen übrigen Schulzeit, im Klassenzimmer sitzen musste. Gern trug ich sie nie, aber mir blieb kaum eine Wahl, wollte ich das Abi machen und danach studieren, jede oppositionelle Handlung hätte meinen Plan zunichte gemacht.
Nicht nur einmal ist uns verkündet worden, welches Privileg es für uns sei, die Erweiterte Oberschule zu besuchen und auf dem C-Zweig die alten Sprachen zu erlernen. Verhielt sich jemand aufmüpfig, bekam er beiläufig zu hören, dass er hier nicht sein müsse, und dann waren er oder sie schnell ruhig.
Wenn Du über die Mitschüler ohne FDJ-Hemd schreibst, musst Du die Elternhäuser berücksichtigen, aus denen sie gekommen sind. Erinnerst Du Dich noch an die Frage nach dem Einzelvertrag, die Curtius am ersten Schultag stellte. Sieben oder acht Hände gingen hoch, meine und deine nicht. Ich wusste damals nicht, dass es so etwas wie Einzelverträge gibt und erfuhr erst später, was sie bedeuten. Wir hatten unter uns Kinder von Medizinprofessoren, Ärzten, Apothekern, Rechtsanwälten, Industriellen aber auch von Musikern und Sängern vom Theater. Da diese Berufsgruppen bis zum Mauerbau das Land in Scharen verlassen, was einen spürbaren Mangel hervorruft, will die DDR sie im Lande halten. Das geschieht mit Einzelverträgen, in denen u.a. die Zusicherung steht, dass ihre Kinder zum Abitur und Studium zugelassen werden und die Arztpraxis, Apotheke oder die Fabrik des
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Vaters übernehmen können. Diese Schüler kann man nicht wie die anderen unter Druck setzen, sie müssen auch nicht wie ich in der FDJ- Bluse herumlaufen. Dass sie in schönen Villen am Stadtrand wohnen, und materiell bessergestellt sind als wir anderen, brauche ich nicht zu erwähnen. Bei Dir, Lukas, bin ich nicht ganz schlüssig geworden. Ich meinte bis dahin, kirchliches Engagement wirke sich nachteilig für das Weiterkommen in der Gesellschaft aus. Und dann noch ein Pfarrerssohn! Wie passt das zusammen? Vielleicht kannst Du mich in Deinem nächsten Brief aufklären. Meine Eltern können mir nicht den Rückhalt eines Einzelvertrags geben, sie sind genauso abhängig wie ich.
Mein Vater führt privat eine Gastwirtschaft, die gut läuft und Einkünfte erwirtschaftet, die zwar nicht sehr hoch sind, aber deutlich über dem Durchschnitt liegen. Darauf ist er auch sehr stolz. Ein Kernspruch, den er oft von sich gibt, lautet: Ich habe alles richtig gemacht.
Er meint damit seine Gaststätte, die er zu der Zeit erwirbt, als es noch möglich ist, privat zu arbeiten. Kurze Zeit danach gibt es nur noch Konzessionen für staatliche Lokale, die wenigen privaten dürfen aber weitermachen. Das ist vorteilhaft für ihn und uns, denn es geht uns materiell gut. Wir sind aber vom Wohlwollen des Staates abhängig, müssen vorsichtig sein und können uns nicht allzu viel erlauben.
Nun zu Dir, ich nehme Dich auch am ersten Tag wahr, als ich die wenigen Jungen unserer Klasse sehe, weiß ich, dass nur Du einer bist, für den ich Interesse zeigen könnte. Du verhältst Dich eigenartig, deine Art, Dich in die neue Gemeinschaft einzubringen, erregt oft Ärger und Missfallen der anderen Jungen, hast deshalb anfangs einen schweren Stand, und tust
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mir manchmal leid. Das sind aber die Momente, in denen ich spüre, du bist mir nicht gleichgültig, brauchst mich. Du bist mir in deinem Verhalten, so unmöglich es den anderen erscheint, sympathisch, und das spürst du untergründig. Ich stelle mich oft und gern an Deine Seite, die Verbindung zwischen uns läuft auf verschlungenen Wegen, auf einer tieferen Ebene, dort wo unsere Gefühle angesiedelt sind, deshalb lässt sie uns auch ein ganzes Leben lang nicht los. Mit Deinen Interessen, Ansichten und Spleens bist Du ein Außenseiter, der in einer anderen Welt zu Hause ist als seine Mitschüler. Heute weiß ich wie das Blatt sich noch in der Schulzeit wandelt und die, die über Dich lachen, eher versuchen Dir nachzufolgen und sich mit ähnlichen Dingen zu beschäftigen wie Du. In der neunten Klasse bist Du einer gewesen, über den die anderen herziehen und sich erheitern. Erstaunlicherweise macht es Dir nicht allzu viel aus, gehst deinen Weg weiter und vergräbst Dich immer mehr in Bücher und Musik.
Ich bin auf meine Weise auch eine Außenseiterin. Mädchen können einander mehr verletzen als die Jungen es annehmen.
Unsere Blicke gehen nicht nur zu den Jungen, sondern in lauernder Weise zu unseren Mitschülerinnen. Wir registrieren genau, welchen Eindruck ein anderes Mädchen auf die Jungen in der Klasse macht und auf welche Weise sie das anstellt.
Dabei gibt es Abstufungen. Viele Mädchen spielen in den Jahren der Oberschule für die Jungen keine große Rolle. Ihre Zeit kommt später. Es gibt aber Mädchen, die berechtigte Chancen bei den Jungen haben, und die stehen in Konkurrenz zueinander. Ich weiß, dass mein Aussehen und meine Figur mich bevorteilen. Dass mein Gesicht, die schwarzen Haare, die braunen Augen, mein immer weiblicher sich entwickelnder
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Körper, der trotz der Rundungen straff und sportlich bleibt, anziehend wirkt, entgeht mir nicht, aber eben nicht nur mir, manche anderen Mädchen sehen durch meine Erscheinung ihre Chancen gemindert und schließen sich gegen mich zusammen. Hauptkritikpunkte sind die Klamotten, die bei ihnen eine große Rolle spielen. Kleider machen Leute. In Gottfried Kellers Erzählung geht es um einen Mann. Ich kann über mich als ein heranwachsendes Mädchen erzählen, über die ihre Mitschüler wegen ihrer nicht so schicken Kleidung herziehen, Parfum, Frisur, Modeschmuck und all die kleinen Accessoires, die noch hinzugehören, spielen natürlich auch eine Rolle. Das Angriffsverhalten geht nicht nur von unserer Klasse aus, auch die Mädchen aus den beiden Parallelklassen schießen kräftig mit, treffen und verletzen mich sehr, vielleicht im Gegensatz zu dir, der du dich oft in anderen Welten bewegst und auf das Geschwätz der Umgebung nicht achtest, wie ich es tue, vermute aber, auch Dir sind irgendwelche Gehässigkeiten über mich zugetragen, denn unsere Nähe ist ihnen unmöglich verborgen geblieben. Das Ziel solcher Bosheiten besteht einmal darin, einer Nebenbuhlerin irgendeinen Makel anzuheften und dann natürlich das eigene Selbstbewusstsein zu heben. Es tut gut, über Konkurrentinnen zu lachen, weil es ja vor einem selbst und den anderen zeigt, dass man über ihnen steht. Damit will ich meinen Erguss beenden. Ich denke, er macht Dir deutlich, wie sehr mich dieses Verhalten verletzt hat.
Bevor ich meinen Brief beende, spiele ich Dir noch einen Ball zu, weil ich denke, es ist wichtig, ihn beizeiten aufzunehmen: Es ist ein Mädchen, das auf jeden Fall dazu gehört, wenn wir uns über den ersten Schultag austauschen. Keinem aus der
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Klasse bleibt verborgen, wie Deine Augen in der Unterrichtsstunde mehrmals in die letzte Bankreihe auf meiner Seite blicken. Dort sitzt eine Blondine, von der Du die Augen nicht lösen kannst, obwohl Du Dich nicht traust, sie anzusprechen.
So ist er, denke ich bei mir, traut sich nicht das Mädchen anzusprechen, das er ganz offensichtlich liebt.
Ich habe damit nicht alle Fragen beantwortet, die Du in Deinem Brief stellst, werfe dafür aber neue auf, uns bleibt ja noch Zeit und die wollen wir miteinander nutzen.
Ich freue mich auf deine Antwort
Rosaria
Liebe Rosaria,
Du erinnerst Dich richtig. Ich sitze nicht im FDJ-Hemd im Unterricht, obwohl meine Eltern über keinen Einzelvertrag verfügen, und ich als Pfarrerssohn keineswegs zu den Privilegierten gehöre. Warum ich die Zulassung bekomme, kann ich nicht genau sagen, weil sich der Staat nicht berechnen und in die Karten schauen lässt, einmal so und einmal so entscheidet und gern vieles im Unklaren behält. Eine unabhängige Instanz, an die man sich wenden und die den
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Staat zur Rechenschaft hätte ziehen können, existiert in der DDR nicht. Die Justiz ist nicht unabhängig, sondern der verlängerte Arm der Staatsmacht.
Was erklären kann, warum ich zu den Erwählten gehöre, ist der exponierte Ort, an dem mein Vater seinen Dienst verrichtet.
Die Lutherstätten besuchen Leute aus der ganzen Welt, darunter viele Amerikaner, Schweden, Dänen, Finnen und Norweger. Die Gruppen kommen mit einem vom Staat gestellten Reiseleiter, der die häufigen Fragen, ob die Christen in der DDR gleichberechtigt leben können, registriert und sicher auch weitermeldet. Dürfen Ihre Kinder Abitur machen, wird er nicht selten gefragt. Von daher vermute ich, liegt es im Kalkül der Funktionäre, mir den Besuch an der Erweiterten Oberschule zu gestatten.
Danke für den Ball, den Du mir im letzten Abschnitt zuspielst.
Deinem wachen Blick entgeht kaum etwas, denn ich weiß nicht, ob ich es mir traute, über Viola zu schreiben, wenn Du mich nicht dazu ermutigt hättest. Ich bemerkte gar nicht, dass meine Blicke zu ihr von Dir registriert und über sechzig Jahre in Deinem Inneren gespeichert worden sind, meinte vielmehr, es sei eine heimliche Liebe, von der außer mir keiner weiß. Dabei bilden Rosaria und Viola in mir eine Einheit, die sich nicht trennen lässt, euer Bild verbindet sich in meinem Inneren zu einem Ganzen, das mir aufzeigt, wie schön das Leben sein kann. Ich beginne damals die italienische Oper zu entdecken und bin besonders von Puccinis Oper Tosca fasziniert, die ich auf einer Tonbandaufnahme immer wieder gern anhöre. Zu Beginn der Oper singt der Maler Mario Cavaradossi, der in der Kirche an einem Bild arbeitet, die Arie:
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„Wie sich die Bilder gleichen“.
In dieser Arie finde ich euch beide wieder, nicht mehr getrennt, sondern auf einer höheren Ebene vereint. Er malt die Heilige Magdalene, denkt an seine Tosca und sieht dabei eine schöne Frau, die zum Gebet in die Kirche kommt. Er ist von der Schönen so beeindruckt, dass er, ohne es zu merken, der Heiligen auf seinem Gemälde ihre Züge verleiht. Cavaradossi wird aber ihr nicht, wie es Tosca anfangs vermutet, mit den Blicken auf die schöne Unbekannte untreu, sondern in seiner Liebe zu ihr eher gestärkt. Meine Begegnungen mit Viola sind nicht anderer Art als die des Malers mit der frommen Beterin.
Er hat sich von ihr inspirieren und dann wieder zu seiner Tosca führen lassen. Die Liebe kann kein Gefängnis sein, und der Blick über sie hinaus festigt sie mehr als er sie gefährdet. Das zeigt auch die Oper in ihrem weiteren Verlauf. Was ich über Tosca schreibe, sind Aussagen über Dich und Viola. So sehe ich es damals, auch heute stehe ich dazu, natürlich fasse ich es in der neunten Klasse nicht in diese Worte, aber darauf kommt es glücklicherweise nicht an, von meinen Gefühlen her habe ich es genau so empfunden.
Du erinnerst Dich noch gut an meine ersten Wochen in der neuen Schule, die nicht leicht gewesen sind, aber auch manches Schöne enthalten, wozu Du in erster Linie gehörst. Es ist schon merkwürdig, wie sich alles vollzieht, wir begegnen uns nicht intim, noch offenbaren wir einander mit Worten unsere Gefühle, und doch entwickelt sich eine Nähe, die bis in unser Alter besteht. Wir verbinden uns auf einer tieferen Ebene miteinander, beide befinden wir uns in einer Isolation, umgeben vom Unverständnis und wie Du schreibst, auch der
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Gehässigkeit der Mitschüler. Ist es da verwunderlich, dass wir Ausschau halten nach Menschen, die uns verstehen, die das ausfüllen können, nach dem wir verlangen? Indem Du auf mich blickst, erkennst Du auch einen Teil von Dir selbst, der dazu beitragen kann, Dich auf eine andere Ebene zu führen. Bei mir ist das nicht anders, ich kann es nur nicht direkt ausdrücken und bedarf eines Vermittlers, dieses Medium ist für mich die Oper gewesen, in ihr, mit ihr vermochte ich Verborgenes zur Sprache zu bringen und bewahre mir dadurch die Freude am Leben. Wenn ich die Melodien höre, mich in die Gestalten hineinzudenken versuche, fühle ich mich gut. Deshalb besuche ich viele Aufführungen im Opernhaus, die Preise für die Karten sind nicht hoch und selbst für Schüler erschwinglich, zumal ich immer den billigsten Platz kaufe und mich dann, unmittelbar vor Beginn, auf freie Plätze in den vorderen Reihen setze. Dann merke ich, nicht allein mit meiner Liebe zur Oper zu sein, mit Wolfgang unterhalte ich mich gern über die neusten Aufnahmen. Beide haben wir Zugang zu einem Tonbandgerät, auf dem wir Rundfunkübertragungen von Festspielen mitschneiden. Mit Puccini beginnt unsere Freude an der Musik, weil seine Töne so sehr unseren Gefühlen entsprechen.
Die italienischen Opern werden zu unserer Schulzeit hauptsächlich noch in deutscher Sprache gesungen, so dass wir die Einheit von Sprache und Musik wahrnehmen. In Madame Butterfly, der Tosca oder der Mimi sehe ich Dich, wie ich mich im Pinkerton, Cavaradossi oder Rudolfo wiedererkenne. Die revolutionäre Seite der Tosca, die soziale der Boheme oder die kolonialkritische der Butterfly sehen wir auch, aber uns bewegen die zwischenmenschlichen Beziehungen. Das andere kommt später und erreicht uns in einer Zeit, in der wir es
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verstehen. Wir sehen eben immer nur Teile und nie das Ganze.
Die Musik ist für mich eine andere Welt, in die ich gern auswandere.
In späteren Jahren, mag es mit dem Älterwerden oder einfach damit, dass zwei Schüler der Klasse ein besonderes Thema bewegt zusammenhängen, verändert sich das Verhalten der Mitschüler zu mir. Weder spotten sie, noch drücken sie ihren Ärger aus, versuchen vielmehr, sich uns anzuschließen, um mitreden zu können. Auf einmal ist es „in“ über Sänger, Aufführungen, die neusten Operneinspielungen zu reden.
Nicht nur Wolfgang und ich, sondern auch ein Teil unserer Mitschüler besuchen regelmäßig die Aufführungen im Stadttheater, zuweilen auch größerer Bühnen in der DDR. Wir entdecken die Opern Verdis und Wagners, deren gemeinsamen 150. Geburtstag die DDR mit Sonderkonzerten und vielen Aufführungen ihrer großen Werke feiert. Weiter schneiden wir Rundfunkübertragungen von Neueinspielungen mit, zu denen jetzt auch die Bayreuther Festspiele gehören.
Selbst Radio DDR schließt sich an Liveübertragungen aus dem Festspielhaus an, wirken doch zahlreiche ihrer Sänger, Musiker und Regisseure bei den Aufführungen mit. Die DDR führt Wagner häufig auf, doch beschränkt man sich auf fünf Opern: Rienzi, Holländer, Tannhäuser, Lohengrin und die Meistersinger. Tristan und Isolde, der Ring oder Parsifal sind zwar nicht verboten, werden aber so gut wie gar nicht aufgeführt. Schon deshalb ist es für uns unumgänglich, diese Opern auf Tonband aufzunehmen. Wir verschlingen sie, weil sie uns neue Welten eröffnen, die wir nicht irgendwo außerhalb, sondern in uns selbst entdecken.
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Das soll für heute genügen. Es ist wie immer nur ein Ausschnitt, der der Ergänzung bedarf.
Ganz herzlich und in Erwartung
auf Deinen Brief
Lukas
Lieber Lukas,
eine Menge offenbarst du über Dich, denn ich könnte in dieser Weise nie über mein Leben schreiben, meine Gefühle mit einer Opernarie zu erläutern – darauf käme ich nie, auf mich wirkt das ziemlich abgehoben, dennoch entbehrt es nicht eines eigentümlichen Reizes. Dass Du die Tosca heranziehst, um Deine ersten Begegnungen mit zwei Mädchen zu erläutern, lässt tief in Deine Person hineinschauen, ich wünschte mir, Du könntest direkter über Dich und deine Gefühle reden. Der Besuch des Opernhauses ist für Dich jedenfalls kein gesellschaftliches Ereignis, Du gehst nicht, um von anderen gesehen zu werden oder Eindruck zu schinden, mit heutigen Besuchern der Bregenzer Festspiele oder der Arena in Verona hast Du wenig gemein. Die Oper dient Dir als Medium, mit dem Du verarbeitest, was Dir mit Worten auszudrücken noch nicht möglich war, das jedenfalls kommt bei mir an, wenn ich Deine Zeilen lese.
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Du bist in Deinem Brief etwas gesprungen und schon über die neunte Klasse, in der wir momentan uns mit unseren Gedanken befinden, hinausgegangen. Ich denke an Wolfgang, die Wagneropern und Eure kulturelle Vorreiterrolle, wenn ich es einmal so ausdrücken darf. Etwas zu kurz gekommen scheint mir dein Elternhaus. Nur über die Lutherstätten und die vielen Ausländer zu schreiben, empfinde ich nicht aus-reichend, deshalb mache ich den Anfang und erzähle über meine Familie, von der ich einiges im letzten Brief schon berichtet habe. Ich habe meine Eltern geliebt und in ihrem Haus, das zugleich Wohnung und Arbeitsstätte ist, eine schöne Kindheit verbracht. Als Mangel empfinde ich, Einzelkind zu sein und ohne Geschwister aufzuwachsen. Das bringt ein Stück Einsamkeit in mein Leben, denn die Eltern können, bei aller Liebe, nie Bruder oder Schwester ersetzen, die sich auf gleicher Entwicklungsstufe befinden. Ich übernehme viel von den Eltern, und sie geben mir auch wichtige Ratschläge fürs Leben.
Je älter ich aber werde, umso mehr erkenne ich auch die engen Grenzen, um die ihr Leben kreist, und blamiere mich, wenn ich an anderer Stelle ausspreche, was ich zu Hause höre. Die Gastwirtschaft, das Haus, materielle Sicherheit, darum geht es bei uns, das macht ja auch einen wichtigen Teil des Lebens aus, aber es ist nicht alles, darüber hinaus gibt es noch eine Menge von Dingen, die unser Leben sinnvoll und schön machen, und davon erfahre ich in meinem Elternhaus nichts. Meine Eltern verstünden nicht ansatzweise den Brief, den du geschrieben hast, hielten dich bestenfalls für einen Spinner und lachten über dich. Ich bin einmal mit dir im Arbeitszimmer deines Vaters gewesen und staunte über die vielen Bücher. Da würde mir nie mehr langweilig werden, entfährt es mir damals ganz
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spontan. Bei uns gibt es keinen Bücherschrank, über Geschichte, Philosophie, Literatur oder Musik kann ich mich nicht mit meinen Eltern unterhalten und bleibe angewiesen auf das, was wir in der Schule lernen. Das ist problematisch, weil überall die Ideologie mit hineinspielt und uns auch Lehrer präsentiert werden, die eigentlich von ihrem fachlichen Wissen her gar nicht hätten unterrichten dürfen. Darüber müssen wir uns in einem der nächsten Briefe noch eingehender unterhalten. So bin ich auf das angewiesen, was Frau Trüb in Staatsbürgerkunde über Philosophie erzählt. Die Grundfrage der Philosophie als Ausgangspunkt, Basis und Überbau, Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte, Strategie und Taktik, die hegelsche Dialektik und den Materialismus von Feuerbach krame ich aus meiner Erinnerung heraus. Alles einfach, logisch und mit dem Verstand nachvollziehbar. Mit diesem Gerüst lässt sich die Welt erklären – Frau Trüb macht es uns vor. In ihrem Kosmos gibt es auch andere Philosophen.
Die einen haben den wissenschaftlichen Marxismus vorbereitet, die anderen gehen mit ihren Gedanken in die Irre oder, was noch schlimmer ist, schreiben den Ausbeutern nach dem Munde und begründen deren ungerechtes System. Marx macht die Philosophie zur unangreifbaren Wissenschaft, die von nun an von den Kapitalisten gefürchtet wird.
Unwiderruflich ist die Zeit der alten Philosophen vorbei und eine neue Epoche hat begonnen. Du kennst doch den Absolut-heitsanspruch der monotheistischen Religionen, genau das vollzieht sich hier, nur auf atheistischer Basis. Nun gibt es aber auch nach Marx bedeutende Philosophen, die keine Marxisten sind. Wie lässt sich das erklären? Bei uns in der DDR wären sie anachronistisch, und im ganzen sozialistischen Lager auch, sagt
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Frau Trüb. Denn wir haben die Wahrheit erkannt. „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist“, diesen Spruch bekommen wir häufig zu hören. Ich interessiere mich, im Gegensatz zu den meisten meiner Mitschülerinnen, für philosophische Fragen, will die Welt verstehen und nicht weiter im Dunklen tappen. Deshalb gehöre ich zu den Wenigen, die diese Gedankengänge ausprobieren und versuchen durch sie die Welt zu verstehen, die mir so rätselhaft erscheint. Auch mit dir komme ich darüber ins Gespräch. Wir tanzen miteinander, und ich finde kein besseres Thema als die Grundfrage der Philosophie. Darauf will ich von dir eine Antwort hören. Als Pfarrerssohn musst du doch auf einer anderen Seite stehen als die Marxisten. Auf deine Antwort bin ich gespannt, deshalb stelle ich die Frage:
Bist du Materialist oder Idealist, steht für dich die Materie oder der Geist am Anfang?
Schon sehr komisch, meine Fragestellung. Wir sind, begreife ich im Niederschreiben vielleicht gar nicht unähnlich gewesen.
Einem anderen Jungen hätte ich wahrscheinlich gar nicht diese Frage gestellt, auf der einen Seite möchte ich klug erscheinen, auf der anderen dich ausforschen, weil du mir nicht gleichgültig bist. Was du antwortest, weiß ich nicht mehr genau, im Gedächtnis ist mir aber geblieben, dass du neue, mir bis dahin unbekannte Gedanken entwickelt hast, die über das hinausgehen, was uns im Unterricht geboten wird. Daran bin ich interessiert, weil ich auf diesem Gebiet von zu Hause nichts erwarten kann. Mein Problem ist, dass ich anfangs vieles glaube, was ich im Staatsbürgerkundeunterricht höre. Der Marxismus ist auf den ersten Blick klar und einfach zu
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verstehen. Was ihn sympathisch macht, ist der positive Ansatz.
Wer möchte sich nicht für eine bessere und gerechtere Welt einsetzen und dafür kämpfen? Dass unsere Welt und besonders Deutschland diese Verbesserung brauchen, wissen wir ja alle. Lasst uns doch miteinander eine gerechtere Welt aufbauen. Haben wir nicht die besten Voraussetzungen, wenn unser Staat sich selbst auf dem Weg sieht, verwirklichen wir erst einmal den Sozialismus, dann können wir den Weg zum Kommunismus beschreiten, wo alles allen gehört. Was dann aus der Gastwirtschaft wird, die meine Eltern privat betreiben, darüber mache ich mir allerdings keine Gedanken.
Ganz herzlich
Rosaria
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Liebe Rosaria,
Du nimmst mich mit deinem Brief noch einmal in den Staatsbürgerkundeunterricht unserer Schulzeit mit. Er führt uns in die Grundlagen des Marxismus ein, die ich nach wie vor interessant finde, angefangen mit der Frage nach dem Ursprung, die ja eine uralte Menschheitsfrage ist, die verschieden beantwortet werden kann. Ich stimme dir zu, dass der Marxismus junge Menschen fasziniert durch Einfachheit und leichtes Verstehen. Endlich hat man den Punkt, von dem aus man die Welt erfassen und einordnen kann. Die Zukunft gehört dem Sozialismus, der einmal in den Kommunismus, das gelobte Land, einmünden wird und wir, die jungen Menschen, dürfen dabei sein, wenn sich die Welt zum Guten wandelt.
Gefühle dieser Art sind uns vermittelt worden, ich teilte sie, wenn auch nicht allzu lange Zeit, was auch mit meinem Elternhaus zu tun hat, über das ich in diesem Brief schreiben will. Aufgewachsen in der DDR, aber abgeschirmt durch hohe Klostermauern, denn mein Vater ist evangelischer Pfarrer in dem Kloster, in das Martin Luther einst als Mönch eintrat.
Lutherforscher bezeichnen die Jahre, die der spätere Reformator hier verbringt als entscheidend für seine spätere Entwicklung, was den Andrang erklärt, den das Kloster durch die Zeiten hindurch erlebt. Der Kontakt zu Menschen aus anderen Ländern gehört zu meinem Leben, denn ständig besuchen uns Ausländer, um das Kloster und die Kirche zu besichtigen. Wer eingelassen werden will, muss an unserer Haustür klingeln. Nach der Reformation bleibt dieses Kloster als Gedenkstätte, im Gegensatz zu den anderen Klöstern, in
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seiner Bausubstanz vollständig erhalten. In die leeren Gebäude ziehen ein Ratsgymnasium und später ein Waisenhaus ein. Zu meiner Zeit eine Kirchliche Schule und später eine Predigerschule. Im Krieg zerstören zwei Luftminen Teile des Klosters, wodurch ein Trümmergelände entsteht. Die der Kirche gehörenden Teile werden aufgebaut und wieder genutzt, die von der Reformation an der Stadt zugeschlagenen Teile bleiben sich selbst überlassen, sind aber von einer hohen Mauer umgeben und nach außen abgeschlossen. Nur ab und zu führt man Sicherungsarbeiten durch. Mit der Zeit erobert die Natur das Trümmergelände zurück, und ein Ort der Zerstörung wandelt sich zu einem Paradies, so empfinde ich es, denn Büsche und Bäume wachsen zwischen den Steinen, Grillen zirpen und Vögel bauen ihre Nester. Dieses Areal wird für mich zu einem Garten der Phantasie, in dem die Geschichten spielen, die ich gerade höre und lese. Anregungen dafür finde ich ausreichend in den Bücherregalen meiner Eltern. Da stehen viele Märchenbücher, die klassischen griechischen Mythen und Sagen bis hin zu denen der Isländer, Normannen oder der Volksbücher. Auch an Jugendbüchern entdecke ich eine reiche Auswahl. Viele in deutscher Schrift, die nur am Anfang sonderbar auf mich wirkt, bald aber selbstverständlich wird. Das Kloster stellt eine Welt für sich dar, da gibt es nicht nur die Bildungseinrichtungen, sondern auch eine Beschaffungsstelle für den kirchlichen Bedarf, mit Verwaltungsangestellten und Packern, die Klosterbibliothek von überregionaler Bedeutung, für die ein Bibliothekar zuständig ist, ein Gemeindebüro mit Mitarbeitern und einen Kirchenmusiker, der die Orgel spielt, aber auch ein Orchester und verschiedene Chöre dirigiert, regelmäßig führen sie die
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großen Oratorien von Bach, Händel, Mozart, Haydn, Mendelssohn und Brahms auf.
Ich bin unter diesen Menschen aufgewachsen, kenne sie von Kind an wie sie mich auch. Natürlich bekomme ich auch mit, dass die Welt, in der ich lebe, bedroht ist. Nach dem Krieg erlebe ich zunächst einen Zulauf zur Kirche, der aber in den folgenden Jahrzehnten spürbar nachlässt. Einmal die starke Abwanderung nach dem Westen. Gerade die Menschen, die sich aktiv in den Gemeinden engagieren, verlassen die DDR aus verstehbaren
Gründen.
Das
spürt
besonders
der
Kirchenmusiker, dem die Stimmen junger Männer allmählich abhandenkommen. Aber die Zahlen lichten sich auch aus anderen Gründen, die atheistische Propaganda verstärkt sich von Jahr zu Jahr, wer in die Partei eintritt, muss aus der Kirche austreten und ohne die Parteimitgliedschaft ist ein beruflicher Aufstieg schwierig. Die Polizei ist ausschließlich von SED-Kadern besetzt, die Armee später ebenso und in den Schulen gehören die meisten Lehrkräfte der Partei an. Es gibt Ausnahmen, die aber eher die Regel bestätigen. Ich führe Dinge an, die für dich nicht neu sind, um dir deutlich zu machen, dass sie auf mich als Kind einwirken. Ich sehe in unserem Staat eine Macht, die darauf aus ist, die Welt, in der ich lebe zu zerstören. Das formulieren manche Funktionäre ähnlich, wenn auch mit anderen Worten. Die meisten nehmen sich aus taktischen Gründen zurück, denn nach der Verfassung der DDR darf keiner wegen seiner Religionszugehörigkeit benachteiligt werden. Papier ist aber bekanntlich geduldig.
Frau Trüb, unserer Staatsbürgerkundelehrerin, rutscht es schon einmal heraus, dass man die Kirchen jederzeit verbieten könne und vielleicht auch solle. Dass wir es bisher noch nicht
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getan haben, zeugt von zu großer Toleranz unseren Gegnern gegenüber, tönt sie ganz offen im Unterricht. Ob solche Äußerungen selbst von Parteiseite gesehen nicht eher töricht sind, will ich nicht weiter diskutieren, glücklicherweise bleiben sie singulär und werden von keiner anderen Lehrkraft ungeschützt so übernommen. Die Strategie besteht aber zweifellos
darin,
die
Kirchen
immer
kleiner
und
unbedeutender werden zu lassen. Das merkt jeder, obwohl es die Funktionäre in dieser Deutlichkeit kaum aussprechen. Wie verhalte ich mich, wenn solche Anwürfe kommen? Ich protestiere nicht, wie ich es vielleicht hätte tun sollen, sondern sehe mit heißem Gesicht auf die Schulbank und bin froh, wenn der Ausfall vorüber ist. Die Lehrerin missbraucht mit solchen Aussagen ihre Autorität, selbst die Partei hätte sie kritisiert, weil sie sich mit ihren unbedachten Äußerungen nicht an ihre taktische Linie hält. Aber es erfolgt nichts, weil mir der Mut fehlt mich zu melden und dagegenzureden, auch zu Hause tue ich den Mund nicht auf. Das Geschehene sitzt aber als Existenzbedrohung tief in mir bis heute. Man kann jetzt darüber streiten, ob mein Verhalten richtig war oder nicht. Ich konnte damals nicht anders reagieren, es ist ja keine Auseinandersetzung gleich gegen gleich. Ich fühle mich ganz am Boden, ausgeliefert und hoffnungslos unterlegen. Vielleicht ist es für mich auch deshalb so wichtig, mich mit meiner Schulzeit zu befassen, damit ich Vorfälle wie diese bearbeiten und mit dir besprechen kann. Dabei fällt mir ein Morgenappell in der Grundschule ein. Er verläuft mit Fanfarenklängen, Trommelwirbel, Liedern und kurzen Ansprachen wie eine säkulare Morgenandacht. Nach dem Ende des Appells fordert die Direktorin die Pioniere der einzelnen Schulklassen auf, sich
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in Klassenräume zu begeben. Die Nichtpioniere, wie sie die Schüler, die der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ nicht angehören, bezeichnen, werden vor allen anderen herabge-stuft und müssen allein auf dem Appellplatz zurückbleiben, aus jeder Klasse drei bis fünf Schüler, von denen auch ich einer bin.
Nachdem alle Pioniere in den Schulklassen sind, erhalten auch wir die Erlaubnis abzutreten. Das empfinde ich demütigend, von der Direktorin beabsichtigt, wie wir wenigen es auch wahrnehmen.
Das ist’s, was ich mit diesem Brief loswerden will.
Ganz herzlich
Lukas
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Lieber Lukas,
mit Interesse habe ich deinen Brief gelesen, enthält er doch manches, von dem ich damals nichts kapierte, vielleicht auch nichts mehr weiß, weil ich es nicht mit den Verletzungen erlebte wie du. Meine Eltern sind aus der Kirche ausgetreten, ich bin zwar noch katholisch getauft, in der dritten Klasse zur Kommunion gegangen, hatte aber nie einen emotionalen Bezug zum Glauben. Er spielt im Leben meiner Eltern keine Rolle, sie sind dabei, als es selbstverständlich ist, einer der Glaubensgemeinschaften anzugehören, und als das nicht mehr der Fall ist, gibt es für sie keinen Grund für eine weitere Mitgliedschaft. Schon gar nicht sehen sie ein, Kirchensteuern zu entrichten, die für Private nicht niedrig sind. Warum sollen wir für etwas zahlen, was für uns keine Bedeutung hat? Dass sich der Kirchenaustritt günstig für meine weitere Entwicklung auswirkt, nehmen wir dankbar an. Von zu Hause und der Schule her sind Religion und Kirche negativ besetzt. Wenn ich im Westfernsehen einmal eine religiöse Sendung ansehe, man kann zu unserer Schulzeit noch nicht auf andere Programme umschalten, empfinde ich sie im Sinne des Marxismus als Volksverdummung. Von dir kommt nichts, was mir die Kirche sympathisch macht, dabei hättest du einige Möglichkeiten gehabt. Es gibt die kirchliche Schülerarbeit, die parallel zu unseren Unterrichtsstunden an einem Abend in kirchlichen Räumen veranstaltet wird, und die du mit anderen Schülern unserer Klasse auch besuchst. Als ich dich einmal auf sie anspreche, gibst du eine ausweichende Antwort und wechselst
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schnell das Thema. Du willst mich nicht dabeihaben, denke ich und das verstärkt meine Abneigung nur noch. Die Themen, die ihr dort besprecht, interessieren mich. Nach deinem letzten Brief denke ich, dass es an deiner tiefen Verunsicherung der Religion und Kirche gegenüber liegt, an Ängsten, die dich verändern, dich mir beinahe unkenntlich machen, denn wenn ich das Thema nur berühre, erstarrst du. Befürchtest du von mir nicht verstanden, abgewiesen oder ausgelacht zu werden?
Schirmst du deshalb dieses für dich sensible, ja existentielle Gebiet ab und lässt mich nicht herankommen? Eigentlich schade, eine verpasste Chance für mich und für dich. Ich denke, wir haben jetzt einen wichtigen Punkt erreicht, von dem aus wir unser Verhältnis betrachten können.
Wir wissen heute mehr als uns damals bekannt ist und können uns an heikle Bereiche heranwagen. Briefe erröten nicht, sagt ein altes Sprichwort, in dem viel Wahrheit steckt. Deshalb sage ich dir jetzt einige Dinge, die ich im direkten Gegenüber mich auszusprechen gar nicht trauen würde. Du bist ein schüchterner verklemmter Junge, als ich dich das erste Mal sehe und erlebe. Ich merke das an deinem Verhalten im Unterricht genauso wie in deinen Kontakten zu deinen Mitschülern. Dein Verhalten ist von einem Minder-wertigkeitskomplex bestimmt, den du zu überdecken versuchst, indem du dich vor anderen hervortust und dabei meist ziemlichen Schiffbruch erleidest. Unfreiwillige Komik verbindet sich mit vielen deiner Auftritte, denn du wirkst absonderlich ohne es zu wollen und dennoch bist du es. Heute sehe ich in deinem Auftreten missglückte Versuche, deine Persönlichkeit zu festigen, indem du Anerkennung von anderen erlangst. Du erreichst aber meist das Gegenteil davon,
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flüchtest in die Welt der Bücher, holst dir aus ihnen Kenntnisse, die alles, was wir wissen und begreifen um Längen überragen und bringst sie in die Unterrichtsstunden ein. In manchen Fächern bist du der einzige Schüler, der sich mit wirklichem Interesse beteiligt. Dann hast du ausgesprochenes Glück: Frisch von der Uni tritt Herr Klingsor seine erste Stelle bei uns an, der wie du von der Literatur angetan ist. Wir nennen ihn, wegen seiner nervenden Vorliebe für den mittelalterlichen Minnegesang, Klingsor. Klingsor trifft auf uninteressierte Schüler, die seinem Unterricht zwar folgen, ohne aber sich von der Literatur emotional anrühren zu lassen. Als er unserer Klasse am Beispiel von Bürgers Ballade „Leonore“ das Grauen des Krieges am Schicksal einer durch den Tod zerbrochenen Liebe aufzeigen will, erntet er mehr Gelächter als Anteilnahme.
Nicht das Leid Leonores und ihr Schmerz um den gefallenen Geliebten erregen unsere Gemüter, sondern Verse wie diese: Tanz uns den Hochzeitsreigen
Wann wir zu Bette steigen
Muss heute noch nach hundert Meilen
mit dir ins Brautbett eilen
Ich bringe dich zur Wette
noch heut ins Hochzeitsbette
Die Verse mögen genügen. Ich würde es heute noch als bedenklich ansehen, sie sechzehnjährigen Jugendlichen vorzutragen, weil die sich eher über die ungeschützten sexuellen Stellen der Ballade erheitern als ihren tieferen Sinn
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verstehen zu wollen. Nach dem für ihn misslungenem Vortrag erfolgt ein Donnerwetter von Klingsor, in dem er uns Unreife, Kunstbanausentum und manche weitere nicht schmeichel-hafte Dinge vorwirft. Wir hören ihn an, ohne von seinen Worten sehr berührt zu werden und verlassen mehr in heiterer Stimmung als in Betroffenheit das Klassenzimmer. Vorn am Lehrertisch steht Klingsor, der sein Lernziel nicht erreicht hat, ziemlich verzweifelt. Damals lache ich über ihn, heute tut er mir, trotz seines pädagogischen Ungeschicks doch leid. Ist es da verwunderlich, dass er sich über dein Interesse für seinen Unterricht freut? Endlich ein Schüler, der das mit offenem Herzen aufnimmt, was er uns vergeblich zu vermitteln versucht, der nicht nur wiedergibt, was er im Unterricht hört, sondern sich darüber hinaus beschäftigt und Gedanken und Fragestellungen selbstständig weiterentwickelt. Ihr standet oft in den Pausen oder auf dem Schulhof beieinander und redetet über Literatur. Klingsor führt das erste Mal eine Klasse in die Literatur ein. Jede Stunde bereitet er mühsam vor, kann also nicht, wie seine Kollegen, auf Skripte aus den vergangenen Jahren zurückgreifen. Weil er am Anfang steht, ist er aber auch offener als die Lehrer, die schon alles wissen und den Lernstoff als geschlossenes System ansehen. Mit solchen Lehrern hättest du dich nie unterhalten können, weil sie selbst keine Suchenden mehr sind, ihren Stoff beherrschen, ihn so vermitteln, wie man es von ihnen erwartet, aber in Wirklichkeit mehr die Totengräber der Literatur als ihre Förderer sind. Die eigentliche Leistung von Klingsor ist der dramatische Zirkel, den er an unserer Schule ins Leben ruft. Theaterspielen ist wichtig für junge Menschen, die in der Entwicklung sind, und er will ja ihre Entwicklung fördern, indem er ihnen Rollen gibt,
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in die sie sich hineinversetzen können. Du merkst schon, worauf ich so langsam hinsteuere. Unsere gemeinsame Zeit in der Theatergruppe. Wir haben einen Abend in der Woche, an dem wir uns treffen und gemeinsam an einem Projekt arbeiten. Du weißt, dass jetzt einiges kommt, das mich und dich bewegt, und über das wir uns unbedingt austauschen müssen. Gespannt bin ich, wie du meinen Brief aufnimmst und auf ihn antwortest. Bin ich mit meinen Vermutungen in die richtige Richtung gegangen oder siehst du es anders? Ich bin froh, dass wir zu dieser Stelle gekommen sind.
Ganz herzlich
Rosaria
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Liebe Rosaria,
wie ich deinen Brief aufgenommen habe, brauche ich dir vielleicht gar nicht zu schreiben, du wirst es wissen, auf jeden Fall aber ahnen, wie schon die letzten Zeilen von dir es andeuten. Natürlich hast du in den meisten Dingen Recht, wenn auch nicht in allen, deshalb tauschen wir ja auch Briefe aus, um uns zu ergänzen, gegebenenfalls aber auch zu korrigieren. Was du schreibst und beschreibst, worüber du nachdenkst, worauf du kommst, sind Geschehnisse, Gefühle, Gedanken, die ich mir auf die eine oder andere Weise auch gemacht habe. Ich verspürte sogar den Drang, etwas davon aufzuschreiben und habe es dann auch getan und eine Erzählung verfasst. Dann ließ ich sie zehn Jahre lang liegen und bin erst durch deinen letzten Brief angeregt worden, sie noch einmal zu lesen. Sie umfasst nur ein paar Seiten und ich gab ihr den Namen „Die Geisterschule“. Dahinter steht die Vorstellung, dass die meisten Menschen in der Zeitspanne zwischen Geburt und Tod nicht zu ihrer wahren Existenz finden und danach noch lange Zeit benötigen, um zu ihr zu gelangen. In dieser Periode, die für sie alles andere als angenehm ist, sehen sie all das, was sie im Leben falsch machten oder versäumten, erhalten aber auch die Chance, erneut ins Dasein gerufen zu werden, wenn jemand intensiv an sie denkt. Dass das einer von den noch Lebenden tut, ist ihr größter Wunsch, dann kehren sie ins Leben zurück, können an ihm teilhaben und eventuell auch ihr Schicksal erleichtern. Sie sind abhängig von den Lebenden, weil
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sie sofort wieder dort landen, wo sie mit ihrem Versagen allein sind, wenn der oder die Betreffende aufhören, an sie zu denken. Ich schicke dir jetzt mein Werk und bin auf deinen Kommentar gespannt.
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Die Geisterschule von Lukas (1)
Dr. Curtius, mein Latein- und Griechisch- Lehrer, steht vor unserer Schule und hält Ausschau.
„Ich warte schon lange Zeit und freue mich, dich in unserer Schule zu begrüßen“, beginnt er das Gespräch.
„Wir, die Lehrer und Schüler, überlegten, wer den ersten Kontakt zu dir herstellen kann. Alle meinen, dass du gegen mich die wenigsten Vorbehalte hast. Du interessierst dich für meine Fächer, sie spielen in deinem Studium und darüber hinaus eine Rolle, ich bin dein Klassenlehrer. Von den Schulstunden her haben wir den meisten Kontakt.“
„Sie sind aufgeregt.“
„Wir blicken auf unser Leben aus der Perspektive verständiger Menschen und können nichts ändern. Das ist schrecklicher als Langeweile. Wir möchten aus diesem Zustand heraus und setzen auf dich große Hoffnung.“
„Wie kann das geschehen?“
„Wenn du an uns denkst, kehren wir ins Leben zurück und verändern vielleicht dies und das ein wenig.“
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„Überschätzen sie mich nicht?“
Rosaria steht vor mir.
„Der arme Curtius vermag dich nicht zu halten. Weißt du, wie viel Zeit vergangen ist, seit ihr die paar Worte gewechselt habt?“
„Nicht viel.“
„Für dich. Für uns ist es lang gewesen. Dein zögerliches Verhalten macht uns Sorgen. Du kommst und bist gleich wieder weg. Kaum hast du Curtius gesehen, kehrst du um und beschäftigst dich mit anderen Dingen. Weißt du, was dann mit uns geschieht?“
„Wie sollte ich?“
„Wir werden dann aus der Zeit, deiner Gegenwart, geworfen und irren als Gespenster umher.“
„Du stehst real vor mir. Wer kann dir dein Menschsein streitig machen?“
„Du, indem du mich vergisst, so einfach ist das. Mit den anderen verhält es sich auch so. Nur wenn du dich für einen interessierst, an ihn denkst und dich auf ihn einstellst, tritt er ins Dasein, das ihm sonst verschlossen bleibt.“
„Ich denke oft an dich.“
„Deshalb stehe ich vor dir. Schon als wir uns das erste Mal in der neunten Klasse der Erweiterten Oberschule begegnen, ist mir klar gewesen, dass du mich liebst. Du brauchst lange, es mir zu sagen und als du es aussprichst, steht mein Hochzeitstermin fest. Erst als du sicher bist, keine positive
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Antwort von mir zu erhalten, bekennst du dich zu deiner Liebe.“
„Liebst du mich?“
„Du bist mir nicht gleichgültig. Ich mag dich, schon weil du dich von den anderen unterscheidest. Deine sehnsüchtigen Blicke und dein zunächst schwerer Stand in unserer Klasse, bringen dich mir nahe. Ich versuche dir zu helfen, unterstütze dich, wenn dir die anderen zu arg zusetzen. Ich spüre, du brauchst mich, wir beide gehören zusammen. Ich merke, dass ich vieles an dir toleriere, was andere nicht können und frage mich nach dem Grund und entdecke ihn in meinem Herzen, das mir sagt, ich liebe dich. Ich suche Gespräche, nähere mich auf verschiedenen Wegen, gehe so weit, wie ein Mädchen gehen kann, bemerke, es erregt dich, wenn ich scheinbar vergesse, die Knöpfe meiner Bluse zu schließen, obwohl dir kaum bewusstwird, was mit dir geschieht. Dein körperliches Empfinden ist deinem Geist voraus, der nicht zulassen will, was sich in dir ereignet. Als ich mir dein Verlangen nach mir sicher bin, möchte ich dir helfen, es auch auszusprechen. Bei einer Probe des Dramatischen Zirkels sitzt du am Tisch, ich stehe hinter dir, beuge mich im Gespräch über dich und presse dabei meine Brust an deine Schulter. Es entgeht mir nicht, wie du erbebst, mir entgegenstrebst und zugleich arg verunsichert erscheinst. Du spürst zum ersten Mal eine liebende Frau, begreife ich in diesem Augenblick, warte auf eine Reaktion von dir, hoffe, dass die Hemmungen bei dir fallen, du die Angst verlierst mich anzufassen und deine Gefühle aussprichst, aber du sagst nichts, gehst ins Kloster und lässt mich stehen. Wenn ich dir gleichgültig gewesen wäre, verstünde ich es, ich spüre
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aber ganz tief in mir, dass du mich liebst und dich nach mir sehnst und dennoch den Weg zu mir nicht beschreitest, obwohl ich dir solche Brücken baue. Monate dauert es, bis endlich unser Telefon klingelt, und ich deine Stimme höre. Du willst mit mir ins Theater gehen. Ich hatte die Vorstellung schon gesehen, und du weißt nicht weiter. Hättest du nicht einfach sagen können: Dann lass uns einen Spaziergang machen und in einem Lokal einkehren. Als ich dich frage, warum du nicht schon lange etwas gesagt hast, gibst du keine Antwort. Ich möchte es dir nicht zu einfach machen, beende das Gespräch, hoffe aber, dass du in den nächsten Tagen wieder anrufst. Wir sehen uns aber erst nach den Sommerferien, und ich bin es, die dich anspricht, an das verpasste Rendezvous erinnere, und du bleibst stumm. Enttäuscht begebe ich mich auf meinen Platz,
will
das
Spiel
nicht
verloren
geben
und
herausbekommen, was dich zurückhält von dem, was du im Innersten willst.“
„Dabei vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke.“
„Ich versuche dir zu helfen, mache Andeutungen, die dich ermutigen sollen, mich anzusprechen. Du reagierst nicht, deine Hemmungen sind zu groß. Du bist ein verunsicherter Junge und tust mir leid.“
„Kanntest du mich damals so gut?“
„Dein Verhältnis zu dir selbst ist gestört. Du tust nicht, was du willst. Ich liebte dich damals wie du mich, doch du kannst es nicht für wahr halten.“
„Bist du mir in der Entwicklung so überlegen?“
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„Wäre ich dann hier? Ich habe meine Defizite, die mir in meinem Leben erheblich zu schaffen machen. Bei allen schulischen und nach dem Studium, auch beruflichen Erfolgen gelange ich über einen äußerst begrenzten Horizont nie hinaus.
Mir fehlen die Anregungen, die du und andere Mitschüler in ihren Elternhäusern erhalten. Ich gehöre zu den Schülerinnen, die über Sexappeal verfügen, muss aber auch mit dem Neid der anderen leben. Mädchen können einander ziemlich zusetzen.
Ich reagiere nicht gelassen und freundlich, wie ich es besser hätte tun sollen. Es kommt zu Kränkungen, die ich nicht verzeihe. Deshalb ziehe ich mich immer mehr zurück und schädige auf diese Weise mich selbst am meisten, gelange nie zu einer Einstellung, mit der ich gut leben kann. Aufgewachsen in einem Elternhaus, in dem es außer Arbeit und Geldverdienen nichts gibt, nehme ich an, dass das auch meine Fundamente sein müssen und alles andere sich dann von selbst ergibt. Ich meine, auf diese Art glücklich werden zu können und werde bitter enttäuscht. Vielleicht ahne ich, bei dir zu finden, was mir fehlt und fühle mich deshalb zu dir hingezogen, rede sicher auch eine Menge dummes Zeug, heute kann ich dir sagen, dass ich damals nicht selbst spreche, sondern nur erzähle, was ich zu Hause oder anderswo aufschnappe, plappere es einfach nach, auch die Tiraden der Staatsbürgerkunde-Lehrerin, weil ich nie anderes höre.
Manchmal möchte ich dich mit meinem Gerede auch treffen und dir wehtun, auf andere Weise komme ich ja nicht an dich heran. Du bist dann enttäuscht von mir, lässt mich aber kaum an deinem Leben teilnehmen.“
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„Ich erinnere mich an deine Worte gut. Du greifst mich mit ihnen nie persönlich an. Es geht oft um kirchliche oder religiöse Dinge.“
„Ich will dich provozieren, wenn ich dir erkläre, dass ich die Religion für Volksverdummung halte und unsere Familie aus der Kirche ausgetreten ist.“
„Trotzdem bringt uns das nicht auseinander.“
„Das soll es ja nicht. Ich befürchte, dass du Theologie studierst.
Wie hättest du dann eine Familie ernähren können, frage ich mich und dich damals. Ich versuche, dich von der Kirche zu lösen, weil ich dich heiraten möchte. Im Nachhinein begreife ich, mein Verhalten ist töricht.“
„Die Schule stärkt eher meine Bindungen an die Kirche. Fast alle Lehrer tragen das Bonbon, wie wir das SED-Parteiabzeichen nennen, an Jackett oder Bluse. Die meisten von ihnen fügen sich irgendwann dem Druck, der auf sie ausgeübt wird, treten aus der Kirche aus und sagen ihren Schülern, was die Partei von ihnen verlangt, freiwillig sind sie nicht Genossen geworden, dennoch stellen sie sich in den Dienst einer Macht, die uns liquidieren will. So kommt es jedenfalls mir, der ich hinter den Mauern des Klosters aufwachse,
vor.
Das
stärkt
in
mir
ein
Zusammengehörigkeitsgefühl mit Menschen, zu denen ich mich in der Pubertät viel kritischer hätte verhalten müssen. Wir bekommen bald mit, dass unsere Lehrer nicht zu dem stehen, was sie sagen. Ich bedauere sie damals nicht, wie ich es heute tue, ich beginne sie zu verachten. Wie soll ein System Zukunft haben, das auf Lüge aufgebaut ist, frage ich mich.
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„Mir ist recht bald klar geworden, dass ich nicht studieren kann, wenn ich mich nicht mit unserem Staat arrangiere. Er ermöglicht mir, die Erweiterte Oberschule zu besuchen, und wenn ich mein Studium antrete, zahlt er mir ein Stipendium.
Warum soll ich mich nicht für ihn einsetzen und Partei für ihn ergreifen. So denke ich damals.“
„Du sagst, unsere Mitschüler und die anderen Lehrer sind auch hier?“
„Sie sind hier, lungern herum, wie ich es tue, wenn ich nicht durch dich ins Menschsein zurückkehre. Du kannst sie rufen, brauchst dich von mir nicht zu verabschieden, ich begleite dich, wir kehren noch einmal in die Schulzeit zurück.“
„Das klingt gut.“
„Fangen wir mit Curtius an. Er leidet unter seinem kurzen Auftritt.“