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»Mutter, Vater.« Florentin räusperte sich. »Ich habe beschlossen, mich sexuell zu betätigen.« Florentin ist bereit. Endlich will der Adelsspross erotische Erfahrungen machen. Schließlich ist er über zwanzig und immer noch ungeküsst. Effizient, wie er ist, hat er schon den richtigen Mann gefunden, um seine Wissenslücken zu beseitigen: Chad Hardman, Amateur-Pornodarsteller und Gelegenheits-Callboy, der sein Unwesen bevorzugt auf Kreuzfahrtschiffen treibt. Es gibt nur ein Problem: Chad Hardman ist soeben in Rente gegangen. Unter seinem echten Namen will Harm Hartmann endlich seriös werden. Sich einen richtigen Job suchen und ein geregeltes Leben führen, ohne sich von einem Liebhaber zum nächsten treiben zu lassen. Leider weiß er nicht, wie er das anfangen soll. Und er kann sich bestimmt nicht auf sein neues Leben konzentrieren, solange er von einem Sonderling wie Florentin von Lammbergen verfolgt wird. Wie soll er seine Karriere planen, wenn dessen unmoralische Angebote ihn ins Wanken bringen? Kann er Florentin widerstehen? Kann er ihn abblitzen lassen, obwohl Harm ihn mit jeder Minute, die sie zusammen verbringen, mehr ins Herz schließt? Enthält Träume, Schiffe und eine Angst und Schrecken verbreitende Seegurke.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Seegurken
Ein Roman von Regina Mars
Impressum
Seegurken
Text Copyright © 2021 Regina Mars
Alle Rechte am Werk liegen beim Autor.
Regina Mars
c/o
Papyrus Autoren-Club,
R.O.M. Logicware GmbH
Pettenkoferstr. 16-18
10247 Berlin
www.reginamars.de
Alle Rechte vorbehalten
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.
»Mutter, Vater.« Florentin räusperte sich. »Ich habe beschlossen, mich sexuell zu betätigen.«
Er nahm einen einzigen Klumpen Rohrzucker und rührte ihn in seinen Tee. Die Farbe des Getränks erinnerte an Lindenblätter im Herbst: honigfarben mit einem goldenen Schimmer, leuchtend gegen das reinweiße Porzellan. Der aufsteigende Dampf erfüllte seine Nase mit herb-köstlichem Duft.
Es war ein angenehmer Nachmittag. Sonnenlicht fiel durch die Fenster, brach sich in der Wasserkaraffe und zauberte Muster auf die Tischdecke. Draußen lärmte der Aufsitzrasenmäher. Hugo, der Gärtner, zockelte damit über die Anlage wie ein alterskrummer Jockey auf einem in die Tage gekommenen Pferd. Gegen Abend würde er damit fertig sein, den Rasen um die Villa und den umliegenden Park zu mähen.
Florentin hatte mit ihm über einen neuen Rasenmäher gesprochen, aber Hugo hatte gemeint, der alte reiche noch. Nicht, dass es wirklich darum ging. Florentins Mutter hatte ihn gebeten, für einen neuen zu sorgen, weil die alte Klapperkiste ihr peinlich war. Und ein Elektromotor wäre zudem umweltfreundlicher.
»Sexuell betätigen? Du?« Die Stimme seiner Mutter klang etwas gepresst. Sie blickte ihn vom anderen Ende des Tisches her an.
»Ja.« Florentin bestrich ein weiteres Scone mit Butter und Ananasmarmelade. Er liebte das Teegebäck, seit er ein Semester in Cambridge verbracht hatte. »Ich bin schließlich volljährig. Schon seit einer ganzen Weile. Man hat mir zu verstehen gegeben, dass es höchste Zeit sei, dass ich mich auf diesem Gebiet engagiere.«
»Ah.« Sein Vater hielt die Tasse auf halbem Weg zum Mund. Wie lange verharrte sie schon dort? »Also.« Er verstummte, anscheinend unsicher, was es sonst noch zu sagen gab.
Nichts weiter, wenn es nach Florentin ging. Er hatte sie informiert, nun war es Zeit, zum nächsten Punkt überzugehen.
»Mutter, ich fürchte, es wird schwer, Hugo davon zu überzeugen, den Rasenmäher aufzugeben. Er hängt sehr an dem alten.«
Er hatte Ärger erwartet. Oder den Befehl, sich den Bediensteten gegenüber durchzusetzen. Doch seltsamerweise rief sein Bericht keine Reaktion hervor. Seine Mutter musterte ihn, als hätte er sich in etwas Unbekanntes verwandelt. Dabei saß er ihr seit über einem Jahr täglich gegenüber und sah immer gleich aus: blond, schlank, mit sauberen Fingernägeln und tadellos geradem Rücken.
Sie richtete den Kragen ihrer Seidenbluse. Die Goldkette um ihren leicht gebräunten Hals bewegte sich, als sie einatmete. »Also … Liebling? Sag doch etwas.« Sie schenkte Florentins Vater ein schmales Lächeln.
Der räusperte sich. »Also. Florentin. Wer hat dir denn zu verstehen gegeben, dass du … dich sexuell betätigen solltest?«
Er räusperte sich erneut. Erkältete er sich etwa? Vermutlich, weil er gestern bei Regen ausgeritten war. In seinem Alter hätte er es besser wissen sollen. Aber die Hunde und Pferde brauchten Bewegung, sagte er immer. Seine breiten Hände ließen die Kaffeetasse langsam nieder. Er faltete sie. Florentin fand, dass sein Vater wie die Karikatur dessen aussah, was er war: ein Adliger in den mittleren Jahren. Es stimmte einfach alles, von den karierten Hosen bis zu den grau melierten Haaren mit den weißen Schläfen.
»Es war Anna. Sie hat mir erklärt, dass es eher ungewöhnlich ist, mit zweiundzwanzig Jahren noch keinerlei Erfahrung in dieser Hinsicht zu haben.« Florentin nickte seiner jüngeren Schwester zu, der Vierten im Bunde.
Sie ließ ihr Handy sinken und schaute drein, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt. Ihre runden Augen wurden noch runder. Der dicke Wimpernkranz darum war rabenschwarz, im Gegensatz zu ihren langen, blonden Haaren.
»Anna.« Seine Mutter lächelte. Scharfe Falten erschienen in ihrem Mundwinkel. »Was hast du deinem Bruder erzählt?«
Anna hob die dezent manikürten Fingernägel. »Nichts! Ich meine … Er ist wirklich alt genug. Schon über zwanzig und er hat noch nie ein Mädchen geküsst. Das ist doch nicht …« Sie verstummte.
Alle sahen auf die Tischdecke.
Nicht normal, hatte sie sagen wollen. Florentin wusste selbst, dass er seltsam war. Schließlich hörte er es oft genug. Um sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, nahm er einen Bissen von seinem Scone. Köstlich. Doch ein leichter Aschegeschmack lag unter den buttrigen Bröseln. Er konzentrierte sich auf seinen Atem. Nach einer Weile verschwand der Druck auf seinen Magen.
Er nahm einen Schluck Tee. »Ich war selbst nicht sicher, ob ich ihr glauben soll. Bisher bin ich gut ohne diese Dinge ausgekommen. Aber dann hat sie mir erotische Videos gezeigt, um mich auf den Geschmack zu bringen, und …«
»Du hast was?!« Ihre Mutter fuhr zu Anna herum. »Du hast deinem Bruder Pornos gezeigt?«
»Ich wollte ihm helfen!« Annas Augen blitzten. »Willst du denn, dass er für immer hier in der Villa sitzt und sich um eure Aktien kümmert? Er könnte mal ein bisschen Spaß haben.«
»Aber doch nicht Florentin.« Vater lachte hohl. »Es gefällt ihm hier. Nicht wahr, Florentin?«
Der Druck auf seinen Magen war zurück. Vorsichtig legte er die Hände links und rechts von seinem Teller ab. Die Tischdecke war kühl und seidenglatt unter seinen Fingern.
»Selbstverständlich gefällt es mir.« Er versuchte ein Lächeln. Er war nicht allzu gut darin, aber es schien ihm angebracht.
»Na, siehst du.« Vater schnalzte mit der Zunge. »Also wirklich. Anna. Ausgerechnet Florentin mit so etwas zu konfrontieren.«
Ich hasse es, wie ihr über mich redet, dachte Florentin. Als wäre ich ein Kind. Als wäre ich nicht im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte.
Nur, weil er etwas seltsam war. Na ja, SEHR seltsam, wenn man seinen ehemaligen Klassenkameraden Glauben schenkte. »Freak«, hatten sie hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Schon früh hatte er zwei Klassen übersprungen und hätte sich gern eingeredet, dass seine Seltsamkeit darin begründet lag, dass er nie unter Gleichaltrigen gewesen war. Aber das war es nicht. Sein ganzes Wesen war anders. Die Bahnen, in denen er dachte, waren so weit abseits der normalen, dass er diese oft missverstand. Egal, wie sehr er es versuchte.
Er hatte geglaubt, dass es ihm nichts mehr ausmachte. Natürlich war es einsam, so wenig verstanden zu werden, aber er kannte es und war gut darin, sein Leben zu leben. Er hatte sich daran gewöhnt, dass man ihm auf die Schulter schlug und »Ach, Florentin« sagte. Dass man ihn belächelte. Er hatte es sich sehr erfolgreich eingeredet. Nun, bis gestern.
»Obwohl ich nie verstanden habe, was meine Klassenkameraden daran fanden, sich gegenseitig die Zunge in den Hals zu stecken, bin ich nicht aus Stein.« Er dachte an eine besonders ausführliche Knutschetappe von Konstantin und Elisa während seines Abschlussjahres, der er entsetzt beigewohnt hatte. Warum hatten sie die in der Bibliothek abgehalten? »Ich habe Bedürfnisse, wie fast jeder andere Mensch auch.«
»Bedürfnisse welcher Art?« Das Lächeln seiner Mutter wirkte verzweifelt.
»Sexueller Natur.« Florentin sah sie an. Sie blickte an die gegenüberliegende Wand. Vermutlich war er wieder in ein Fettnäpfchen getreten. Welche Gesprächsthemen am Teetisch angemessen waren, würde ihm für immer ein Mysterium bleiben.
»Ah ja.« Sein Vater räusperte sich erneut. »Gut, gut.«
»Soll ich Doktor Finster anrufen, Vater?«, fragte Florentin. »Das klingt nach einer beginnenden Erkältung.«
»Oder danach, dass er mit dir über Sex sprechen muss.« Anna wirkte amüsiert. »Vater, hast du etwa nicht das Bienchen-und-Blümchen-Gespräch mit ihm geführt, als er klein war?«
»Ich habe ihm ein Buch gegeben, das die Angelegenheit sehr gut erklärt«, sagte sein Vater. Eine Falte erschien zwischen seinen Augenbrauen. »Er hatte keine Fragen, also habe ich die Sache als abgehakt betrachtet.«
Florentin hatte keine Fragen gehabt. Das Buch war wirklich sehr ausführlich gewesen.
»Und?« Seine Mutter lächelte immer noch. Es wirkte schmerzhaft. »Hast du schon … Also hast du schon jemanden, mit dem du … aktiv werden willst?«
Er nickte. »Ja. Danke, dass du nachfragst.«
»Gerne doch.« Sie sah in die Runde, aber die anderen beiden schwiegen. »Also. Und. Wer ist die Glückliche?«
»DER Glückliche.« Florentin nahm ein weiteres Scone von der Etagere. »Ich habe ihn in einem der Filme gefunden, die Anna mir gezeigt hat. Sein Name ist Chad Hardman.«
Stille. Es war so still, dass er nicht nur das weit entfernte Tuckern des Rasenmähers hörte, sondern sogar das Bröseln des neuen Scones. Das Lächeln seiner Mutter schmolz.
»Anna.« Sie sah ihre Tochter nicht an. »Wir sollten reden.«
»Ich habe ihm gar nichts gezeigt«, murrte Anna. »Ich habe ihm nur eine Seite aufgemacht und gesagt, dass er sich da umschauen soll. Rausfinden, ob ihm etwas gefällt.«
»Ich habe etwas gefunden.« Florentin butterte sein Scone. »Vielen Dank.«
Seine Eltern wirkten äußerst unglücklich.
»Florentin …«, begann seine Mutter, aber sein Vater unterbrach sie.
»Nein«, sagte er. »Junge. Ich weiß nicht, warum du denkst, es wäre eine gute Idee, dich von … dich mit einem Pornostar einzulassen. Aber das ist es nicht. Ich verbiete es!«
Verwundert betrachtete Florentin die Ader, die auf der Stirn seines Vaters pochte. »Du kannst mir nichts verbieten, Vater. Ich bin volljährig.«
»Ich verbiete es!« Sein Vater erhob sich, zornig leuchtend wie ein Donnergott. »Wag es nicht, dieses Haus zu verlassen!«
Nun starrten ihn alle an.
»Liebling«, sagte seine Mutter und ihre Stimme hatte einen rauchigen Unterton. »Bitte schrei nicht. Was soll Carolin denken?«
Carolin, ihr Dienstmädchen, brachte gerade neuen Tee. Ihr Gesichtsausdruck besagte, dass sie nichts hörte, nichts sah und vollkommen uninteressiert am Geschehen am Teetisch war. Mutter sagte stets, sie sei das beste Dienstmädchen, das sie je gehabt hatten.
»Martha.« Florentins Vater stand immer noch. »Ich kann nicht zulassen, dass unser Sohn so etwas veranstaltet.«
»So etwas?« Ein Grinsen zupfte an Annas Mundwinkel. »Erklär uns, was du meinst.«
»Sei ruhig!«, herrschte er sie an. »Wie kommst du dazu, deinen Bruder zu verderben? Es ist deine Schuld, wenn«, er überlegte sichtlich, »wenn er einem männlichen Pornodarsteller hinterherrennt. Was glaubst du, was passiert, wenn er … Also. Was denkst du, was so einer mit ihm macht? Hinter seinem Geld wird der her sein, sobald er kapiert hat, dass da etwas zu holen ist.«
»Ich renne ihm nicht hinterher«, sagte Florentin. »Ich habe ihm geschrieben und ihn hierher eingeladen.«
»Du hast was?!« Die Ader auf der Stirn war zurück.
»Es ist recht interessant.« Florentin nahm einen Schluck von seinem Tee. »Dieser Mann scheint nicht angestellt zu arbeiten, oder Schauspieler für eine Produktionsfirma zu sein. Er ist ein Freelancer. Laut seines Profils kann man ihm einfach ein Angebot schicken und er antwortet, ob es ihm zeitlich passt.«
»Sehr interessant«, sagte seine Mutter. »Aber ich möchte nicht, dass er herkommt. Wir … Es passt in den nächsten Wochen leider nicht. Du weißt doch, Edith von Steinheim und ihre Familie wollten uns besuchen. Und danach findet Annas Dressurwettbewerb statt. Ihr Team übernachtet hier.«
»Aber wir haben mehr als genug Platz«, sagte er. »Annas Team besteht nur aus sechs Leuten und wir haben einundzwanzig Gästezimmer.«
»Es wäre zu viel Arbeit.« Auch auf ihrer Stirn erschien eine Ader. »Für die arme Carolin.«
Carolin schwieg.
»Oh.« Florentin stellte seine Tasse zurück auf die Untertasse. »Natürlich, das verstehe ich. Ich fürchte sowieso, dass ich zu ihm kommen muss. Es scheint sein Markenzeichen zu sein, dass er seine Tätigkeiten auf Kreuzfahrtschiffen ausübt. Die Videos spielten alle in Schiffskabinen. Das wird dich freuen, Mutter: Eins wurde auf der Queen of Salt and Water gedreht. Es scheint, als hättet ihr den gleichen Geschmack.«
Sie wirkte nicht, als würde sie sich freuen. »Die Queen of Salt and Water wird für Pornodrehs genutzt?«
»Amateurpornos«, korrigierte er.
Die Queen of Salt and Water gehörte zu einer Schifffahrtsgesellschaft, deren Anteile seine Familie im letzten Jahr auf sein Anraten gekauft hatte. Zu ihrer Flotte gehörte unter anderem das drittgrößte Kreuzfahrtschiff der Welt, die Queen of Salt and Water. Sie war 362 Meter lang, 65 Meter hoch und konnte bis zu 6.780 Passagiere beherbergen. Eine schwimmende Stadt voller Vergnügungen und Möglichkeiten, Geld auszugeben.
»Das sollten wir sofort unterbinden«, sagte seine Mutter. »Auf der Stelle.«
»Was die Gäste in ihren Kabinen machen, ist doch ihnen selbst überlassen«, sagte Anna. »Vielleicht ist das sogar Werbung für uns.«
»Was soll das denn für eine Werbung sein?« Vater saß wieder, aber die Ader blieb. »Wenn das alle machen, kann man sich bald nicht mehr auf Kreuzfahrten blicken lassen.«
»Das kann man sowieso nicht.« Anna strich ihre Haare zurück. »Kreuzfahrten sind zu einem Amüsement für den unteren Mittelstand verkommen.«
Florentin fragte sich, ob ein Pornodarsteller zum unteren Mittelstand gehörte.
»Du warst doch vollkommen begeistert von eurer Kreuzfahrt im letzten April.« Mutters Teetasse klirrte dezent. »Und Jules auch.«
»Wir haben die meiste Zeit auf dem Diamantdeck verbracht«, sagte Anna. »Unter unseresgleichen.«
»Hoffentlich habt ihr keine Videos in der Kabine gedreht«, murmelte Vater. Anna sah ihn schockiert an.
»Ich hoffe, das Thema ist damit beendet.« Florentin warf einen hoffnungsvollen Blick in die Runde. »Ich warte immer noch auf eine Antwort bezüglich des Rasenmähers.«
»Nein«, sagte sein Vater.
»Aber Hugo hängt wirklich an ihm.« Florentin seufzte. »Er ist darauf zu seiner zweiten Hochzeit gefahren.«
»Ich meine nicht den Rasenmäher, Florentin«, sagte Vater. »Ich meine diesen … Mann.«
»Chad Hardman?«
Die Ader auf Vaters Stirn pochte. »Ja. Den. Du wirst ihn nicht sehen, ist das klar? Ich verbiete es. Und ich verbiete den Bediensteten, dich zum Flughafen zu fahren.«
Florentin hatte einen Führerschein, aber das erwähnte er nicht. Er schwieg. Ein kleines Zupfen in seinem Magen erinnerte ihn daran, wie er Chad Hardman das erste Mal gesehen hatte. Einen blond gefärbten, tätowierten Muskelberg mit dem Lächeln eines Tigers und der Aura eines Erdbebens. Er verstand die Gefühle nicht vollkommen, die dieser Mann in ihm auslöste. Aber er wusste, dass er etwas tun musste. Dieses aufgeregte Zupfen in seinem Bauch bedeutete etwas. Ja, er fühlte sich seltsam. Als wäre er gerade aufgewacht, nach zweiundzwanzig Jahren.
Wie ein Hai, der zum ersten Mal Blut roch.
»Florentin, ich meine es ernst.« Vater sah so streng aus, dass Mutter sich über die Lippen leckte. »Du bleibst hier. Ist das klar?«
»Ja«, sagte Florentin. »Ja, na gut.« Entsetzt stellte er fest, dass er log. Es fühlte sich überhaupt nicht an, als würde er hierbleiben. Es fühlte sich an, als würde er trotzdem gehen. Aber das konnte er nicht. Oder?
Nachdem das Thema Rasenmäher endlich besprochen worden war (Florentin hatte einen Aufschub für Hugo und sein Gefährt aushandeln können), zogen sie sich zurück. Anna zu ihren Pferden, Vater zu den Hunden und Mutter in den Rosengarten. Es gab dort viel zu tun, seit der Frühling bei ihnen angekommen war.
Florentin betrat sein Büro, das bis vor kurzem noch Vaters Zweitbüro gewesen war und ließ sich auf dem Schreibtischstuhl nieder.
»Und nun?« Er schloss die Augen, roch das weiche Leder des Polsters und hörte das leise Summen des Rechners. Die Oberfläche des Mahagonischreibtischs war glatt und poliert, beinahe warm unter seinen Handflächen. Er mochte den Raum. Die hohen Fenster, die Nachmittagssonne, die sein Gesicht wärmte. Die Samtvorhänge und den gigantischen Teppich, der wie ein rotes Meer zu seinen Füßen lag. Er dämpfte alle Geräusche, so dass Florentin sich voll auf seine Arbeit konzentrieren konnte.
Normalerweise.
Heute war er unruhig, geradezu »hibbelig«, wie Hugo es nannte. Er überprüfte die Anlagen der Familie und erkundigte sich über die Fortschritte beim Bau der nahe gelegenen Eigentumswohnungen. Er überprüfte, informierte sich, justierte nach. Es war eine Ehre, bereits in solch jungen Jahren die Familiengeschäfte übernehmen zu dürfen. Vater hatte ihm erlaubt, sich darum zu kümmern, um selbst mehr Zeit für die Hunde und seine sportlichen Hobbys zu haben.
»Erledige deine Arbeit, Florentin«, flüsterte er, doch das Zupfen in seinem Bauch blieb. Und das andere auch. Etwas tiefer begann ein erwartungsvolles Kribbeln.
Vermutlich hatten seine Eltern recht. Anna hätte ihm diese Seite nie zeigen sollen. Er hätte nie diesen Chad Hardman bei seiner Arbeit sehen sollen.
Bilder zuckten durch sein Hirn und schossen direkt in seine Lenden. Breite Hände mit tätowierten Fingern strichen über zuckende Haut. Wanderten tiefer, erkundeten Hügel und Täler und … nun, Türme. Viele Türme. Die Anzahl an Chad Hardman-Videos war beachtlich. Florentin bewunderte seine Arbeitsmoral.
Er seufzte. Die Nummern verschwammen vor seinen Augen und sein Gemächt drängte gegen den weichen Stoff seiner Unterhose. War es das gewesen, was seine Klassenkameraden dazu gebracht hatte, ihren Trieben in der Bibliothek nachzugeben?
»Unverzeihlich«, murmelte er. »In der Bibliothek!«
Selbst wenn Chad Hardman nackt vor ihm stehen würde, wäre Florentin nicht versucht gewesen, seinen Trieben in einer Bibliothek nachzugeben. Für ihn war sie ein heiliger Ort des Wissens und kein … Also. Er seufzte erneut. Ein Kompromiss wäre vielleicht möglich. Wenn Chad Hardman wirklich nackt vor ihm stünde, könnte er seinen Trieben in einer weniger heiligen Abteilung der Bibliothek nachgeben. Der, in der die Romane seiner Großmutter standen, zum Beispiel.
Auf ihrem Œuvre beruhte der Reichtum ihrer Familie, was er ihr hoch anrechnete. Sie hatte das verarmte Geschlecht der von Lammbergens wieder zu Millionären gemacht. Auch ihre Arbeitsmoral war nicht zu verachten gewesen. Ein Buch pro Monat, über dreißig Jahre lang. Trotzdem. Vermutlich war es verzeihlich, wenn man vor Büchern wie »Die traurige Prinzessin und der heißblütige Scheich« und »Verführt und geschwängert in der Limousine des adligen Milliardärs« herumknutschte. Ein bisschen zumindest.
Chad Hardman hatte eine Narbe auf der Unterlippe. Florentin fragte sich, woher. Und noch mehr fragte er sich, wie es sich anfühlen würde, mit den eigenen Lippen darüber zu streichen. Gut, vermutlich. Die Narbe musste sich etwas härter anfühlen als der Rest.
Auch Florentin war etwas härter. Er rieb sich den Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger und stöhnte. Es half nichts. Vorsichtig lauschend ging er zur Tür und schloss sie ab. Wenn Carolin hereingekommen wäre, während er sich zu Kreuzfahrtpornos befriedigte, hätte sie ihm vermutlich schweigend eine Packung Taschentücher hingestellt und wäre wieder verschwunden. Aber trotzdem. Das hier war privat.
Der Schreibtischstuhl knarrte, als Florentin sich wieder hineinsinken ließ. Mit klopfendem Herzen setzte er die Kopfhörer auf. Er suchte die Website, die Anna ihm gezeigt hatte und die er seitdem mindestens fünfzig Mal aufgerufen hatte. Er hatte sogar eine Analyse der beliebtesten Techniken aufgestellt, sortiert nach Häufigkeit, Likes und Schlagwörtern. Er hatte versucht, hinter das Geheimnis der Aktivität namens Geschlechtsverkehr zu kommen.
Nun, soweit es Chad Hardman betraf, gab es keine Gesetzmäßigkeit. Er hatte keine bevorzugte Stellung, keine Lieblingsspielzeuge und kein Gimmick, bis auf die Kreuzfahrtschiffe. Er nahm und ließ sich nehmen, war brutal, zärtlich, geschmeidig und hart. Er stellte sich auf seinen Partner (oder seine Partner) ein und gab jedem das, was er brauchte. Ein erotisches Chamäleon.
Auch deshalb fragte Florentin sich, wie es wäre, mit Chad Hardman zu schlafen. Würde der wissen, was er brauchte? Bisher hatte Florentin das Gefühl gehabt, in dieser Hinsicht im Nebel zu stochern. Erregung war ihm nicht fremd, ganz und gar nicht. Aber sie hatte sich nie an einem bestimmten Objekt festgemacht. Oder einem bestimmten Menschen.
Bisher.
Florentins Herz zuckte, als sein liebstes Video auf dem Bildschirm erschien: »Chad Hardman fickt den notgeilen Kabinenjungen XXX GayPorn Free!!!1«. Hinter dem schmucklosen Titel verbarg sich ein Juwel: ein schwankendes Doppelbett, ein Bullauge im Hintergrund und im Vordergrund Chad Hardman, der sich in einem dunkelblonden Kerl versenkte. Dem Kabinenjungen aus dem Titel, welcher vor Glück die Augen verdrehte. Speichel lief über sein Kinn, als die breiten Hände, die Florentin so faszinierten, in seine Hüften griffen. Fleisch verformte sich, Haut rammte Haut, Schweiß tropfte.
Florentin öffnete seinen Gürtel und anschließend den Reißverschluss. Er sah sich noch einmal um, dann holte er sein Gemächt heraus und betrachtete es nachdenklich. Es war nicht so groß wie Chad Hardmans. Ja, im Vergleich war es geradezu winzig. Dank seiner Recherche wusste er, dass die Größe eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Sonst hätten nicht so viele Videos mit Längen geworben, die er bisher eher bei Zuchtbullen vermutet hätte.
Würde Chad Hardman zufrieden sein mit dem, was er ihm bieten konnte? Florentin sah auf und erblickte seine Spiegelung im Bildschirm, überlagert von dem noch nicht gestarteten Video. Breite Schultern, ein ebenmäßiges Gesicht, ordentlich gescheitelte Haare. Probeweise strich er mit den Fingern hindurch und versuchte, sie durcheinanderzubringen. Etwas wilder. Aber ein zahmer Stubenkater im Vergleich zu dem, was Chad Hardman war: ein reißender Tiger, sicher und stark.
Ich klinge schon wie Omas Heldinnen, dachte er und leckte sich über die Lippen. Wenn ich so weiter mache, werde ich als Nächstes von seinen Glutaugen schwärmen und sein süffisantes Lächeln bewundern.
Immerhin war Florentin ebenfalls muskulös. Da körperliche Aktivität sowohl die Leistungsfähigkeit des Gehirns als auch die Langlebigkeit förderte, spielte er regelmäßig Tennis, Golf und ging klettern. Und reiten. Zum Leidwesen seiner Eltern war er nur ein mittelmäßiger Reiter, aber er tat es genug, um ansehnliche Oberschenkel entwickelt zu haben. Waren Oberschenkel wichtig, wenn es um sexuelle Aktivitäten ging? Nicht so wichtig wie die Länge des Geschlechtsteils, wenn er nach seiner Auswertung von über fünfzig Videos ging.
Er zögerte noch einen Moment, dann startete er das Video. Chad Hardmans Gesicht erschien, richtete die Kamera, grinste und sagte »Hello«.
Die raue Stimme jagte Schauer durch Florentins Körper. Heiser und rauchig und nur schwach mit einem deutschen Akzent unterlegt. Er rätselte schon seit einer Weile, ob Chad Hardman ein Pseudonym war. Und, woher der Mann kam. Wenn er sprach, glaubte Florentin, einen nordischen Dialekt herauszuhören. Ärgerlicherweise sprach Chad Hardman nicht allzu oft, da er meist mit anderen Dingen beschäftigt war. Häufig hatte er den Mund voll. Und dann war Florentin zu abgelenkt, um herauszufinden, ob er Hamburger oder Ostfriese war.
Die vernarbten Lippen grinsten weiter. Chad Hardman zwinkerte, dann ging er auf das blütenweiß bezogene Bett zu, auf dem bereits der Kabinenjunge wartete. Man sah Chad Hardmans breiten Rücken, tätowierte Muskelstränge und einen Hintern, der zwei sehr appetitlichen Brötchenhälften ähnelte.
Wie ferngesteuert wanderten Florentins Hände in seinen Schritt. Er umschloss sein Gemächt und es fühlte sich an, als würden Funken durch die zarte Haut sinken. Würde es so sein, wenn Chad Hardman ihn anfasste? Hoffentlich würde der bald auf seine Nachricht antworten.
Bald ist es soweit, dachte Florentin, während Chad auf dem Bildschirm den Kopf des Dunkelblonden packte und ihn an sich riss. Er eroberte dessen Mund mit purer Kraft und Florentins Atem ging schneller. Vernarbte Lippen pressten sich auf weiche, ein kräftiger Daumen strich über eine mit hellen Stoppeln bedeckte Wange. So hell wie Florentins, wenn er sich nicht täglich rasieren würde. Sein Herz schlug so schnell, dass ihm schwindlig wurde.
Er kannte es nicht, dieses Gefühl, das durch ihn rauschte, angsteinflößend und betörend. Es fühlte sich an wie etwas, das außerhalb seiner Reichweite lag. Er war ein Kopfmensch, wie man ihm immer wieder versichert hatte. Gut mit Zahlen. Ein Genie, seinen netteren Klassenkameraden zufolge. Aber für zwischenmenschliche Dinge wie Küsse fehlte ihm das Verständnis.
Chad Hardman war ein absoluter Meister im Küssen. Und darin, seine Zunge über die Lippen des Kabinenjungen schlängeln zu lassen. Ein glänzender Film blieb. Der Kabinenjunge stöhnte und Florentin ebenfalls. Hoffentlich nicht zu laut.
Als Chad fertig mit Küssen war, rannen bereits helle Perlen aus dem Penis des Kabinenjungen. Er packte zu und rieb sich, bis Chad ihm Einhalt gebot. Seine Hand legte sich auf die des Dunkelblonden und zog sie weg. Sie sahen sich an, stumm, keuchend. Sie brauchten keine Worte. Das war es, was Florentin immer wieder faszinierte. In stillem Einverständnis drehte der Kabinenjunge sich um und presste das Gesicht in die Kissen. Als würde er sich schämen, genau wie Florentin sich geschämt hätte, wenn ihn jetzt jemand sehen könnte. Oder hören. Ein weiteres Stöhnen entkam seinen Lippen.
Chad Hardman schlug auf die Hinterbacken des Kabinenjungen. Einmal, zweimal, bis rote Striemen erschienen. Der Junge schrie in die Kissen. Chad schlug wieder zu und der Junge brüllte. Es klang genussvoll.
Ein Profi, dachte Florentin bewundernd. Ein absoluter Profi, der immer genau weiß, wie weit er gehen muss.
In anderen Filmen bewegten sie sich oft ungelenk, rammelten wie Ziegenböcke und hatten Mühe, ihre Bewegungen aufeinander abzustimmen. Chad nicht. Seine Videos waren alle wie das hier: ein Spiel, ein Tanz. Selbst, wenn er seine Partner so hart stieß, wie er es gleich mit dem Kabinenjungen tun würde. Weil der es liebte.
Ich frage mich, was Chad Hardman selbst liebt, dachte Florentin. Vielleicht genau das: die ewige Abwechslung. Oder …
Der Gedanke war seltsam und Florentin war zu abgelenkt, um ihn zu Ende zu führen. Bekam Chad Hardman je das, was er liebte?
Dessen tätowierte Hände, auf denen sich Schlangenbabys aus einer zerbrochenen Eierschale wanden und alle fünf Finger eroberten, zogen die rotglühenden Backen des Kabinenjungen auseinander. Das Tigerlächeln erschien. Der Junge stöhnte. Ein Speichelfaden tropfte aus Chad Hardmans Mund in die schweißfeuchte Ritze. Er verrieb ihn mit dem Daumen auf der Rosette. Presste seinen Finger dagegen, versenkte ihn.
Florentins Hände rieben immer schneller. Hitze schoss in seine Lenden. Er würde es nicht schaffen, bis zum Höhepunkt des Films zu warten. Tierische Gier lenkte seine Bewegungen. Das Sehnen in ihm schwoll an, wurde zu einem alles verschlingenden Strudel …
Auf dem Bildschirm ploppte ein Fenster auf, mit einem schrillen »Pling«. Florentin schrak zusammen und hielt inne. Chad Hardman und der Kabinenjunge machten weiter.
»Oh«, murmelte Florentin. Trotz seiner Erregung ließ er die Hände sinken.
Es war die Nachricht, auf die er seit gestern wartete. Die Antwort auf seine Anfrage, ob Chad Hardman ihm bei seinen Anfängen in sexueller Hinsicht behilflich sein würde. Die Antwort lautete Nein.
Sorry, las Florentin. Ich bin nicht mehr im Geschäft. LG, Chad Hardman.
Er hätte zumindest die lieben Grüße ausschreiben können, war das Erste, was durch Florentins Kopf zuckte. Gefolgt von tiefer Enttäuschung. Er pausierte das Video und lehnte sich zurück. Sein Gemächt zuckte noch einmal hoffnungsvoll, bevor es enttäuscht den Kopf sinken ließ.
»Nun«, sagte er zu Chad Hardman, der ihn vom Bildschirm her angrinste. Er war in der Bewegung eingefroren und holte gerade aus, um sich ein weiteres Mal im Hintern des Kabinenjungen zu versenken. »Nun, das ist bedauerlich, Mr. Hardman.«
Florentin schloss die Augen. Widersprüchliche Gefühle wirbelten durch ihn. Enttäuschung, Niedergeschlagenheit, Erregung und … Trotz.
Warum?
Trotz war ein vollkommen sinnloses Gefühl, also schob er es zur Seite. Er sollte denken. Einen neuen Plan machen. Sicher wäre ihm einer der anderen Männer auf dieser Website gern behilflich …
Aber er wollte Chad Hardman.
Mist, der Trotz war zurück. Florentin versuchte erneut, ihn zur Seite zu schieben, aber er tauchte immer wieder auf, wie ein Ball, den er unter Wasser drückte und der konstant nach oben drängte.
Ich will Chad Hardman!
Es war ein seltsamer Gedanke. Er hatte kein Anrecht auf Mr. Hardmans Hilfe. Gar keins. Der Mann war ein Freelancer und er hatte das Recht, Kunden abzulehnen. Vor allem, wenn er sich wirklich aus dem Geschäft zurückgezogen hatte.
Dennoch.
Florentin glaubte es selbst kaum, als seine Finger sich auf die Tastatur legten und zurückschrieben.
Das ist äußerst bedauerlich, tippten sie, ohne sein Zutun. Ist es wirklich ausgeschlossen? Was muss ich tun, damit Sie mein Angebot annehmen, Mr. Hardman? Geld spielt keine Rolle. Mit freundlichen Grüßen, Florentin Friedrich von Lammbergen
Seine Wangen brannten, als er die Nachricht abschickte. Er bot einem Mann Geld, um mit ihm zu schlafen! Dass es einmal so weit kommen würde, hätte er nicht gedacht. Niemals. Noch vor wenigen Wochen hätte er den Kopf geschüttelt über den fragwürdigen Kerl, der da in seinem Sessel saß und … Oh, Chad Hardman antwortete! Leider nur sehr knapp.
Nope, las Florentin. Sorry, Flo.
Flo? Florentin hasste Spitznamen und vor allem diesen. »Flo« klang, als besäße er sechs Beine, würde Hunde belästigen und Blut saugen. Das war doch nicht putzig.
Er atmete tief durch. Das eingefrorene Tigerlächeln strahlte ihn immer noch an. Sein Magen hob und senkte sich und etwas zupfte, tief in seiner Brust. Etwas flüsterte ihm zu, dass er nicht aufgeben sollte.
Aber er sollte aufgeben. Es war nur vernünftig. Chad Hardman war in den Ruhestand gegangen und er hatte seine Chance verpasst.
Florentin hätte die Website und seinen Hosenstall schließen sollen, um endlich weiter zu arbeiten. Er hatte noch viel zu tun, bis zum Abendessen.
Aber er fühlte sich nicht danach. Florentin von Lammbergen, absoluter Kopfmensch, verschränkte die Arme und … schmollte. Entsetzt über sich selbst entschränkte er sie wieder und atmete durch.
»Unwichtig«, sagte er. »Ich vergesse die Angelegenheit besser. Es ist ja nicht so, als hätte ich weitere Optionen. Ich kann ihm schließlich nicht hinterherlaufen und ihn anflehen, mir zu helfen. Zumal meine Familie dagegen ist.«
Er war niemand, der nachts aus seinem Fenster kletterte, den Porsche aus der Garage stahl und zu Erotikdarstellern fuhr, die nichts von ihm wissen wollten.
Also, theoretisch war er natürlich sportlich genug, um nachts aus dem Fenster zu klettern. Er hatte die Schlüssel für den Porsche und einen Führerschein. Aber praktisch war es … Nein, das war einfach nichts, was er tat.
»Außerdem weiß ich nicht einmal, wo Sie wohnen«, sagte er zu Chad Hardman, der ihn immer noch angrinste. »Ich kann also gar nicht zu Ihnen fahren, um zu verhandeln.« Er zögerte. »Natürlich spielen Ihre Videos stets auf Kreuzfahrtschiffen, was die Möglichkeit nahelegt, dass Sie sich immer noch auf einem befinden. Und natürlich gehört meiner Familie eins der Schiffe, auf denen Sie … Aber warum sollten Sie ausgerechnet dort sein?«
Wenn es so wäre, hätte er natürlich Zugriff auf die Fotos, die von jedem gemacht wurden, der an Bord ging. Jeder Passagier wurde fotografiert, um den Ocean Pass zu erstellen, der als Kreditkarte, Zimmerschlüssel und Personalausweis fungierte. Allerdings: Es wäre eine grobe Verletzung von Chad Hardmans Persönlichkeitsrechten gewesen, wenn er die Fotos benutzte, um ihn aufzuspüren.
»Aber die Wahrscheinlichkeit ist ohnehin gering«, sagte er sich. »Warum sollte er ausgerechnet auf der Queen of Salt and Water sein? Er könnte schließlich überall …«
Seine blöden Finger waren bereits auf dem Weg zum Telefon. Sein blöder Mund fragte Kapitän Nakada, ob er wohl einen Blick auf die Fotos der Passagiere werfen könnte.
»Ich glaube, dass ein alter Bekannter von mir an Bord ist«, log er. Er log! Entsetzlich! »Und ich würde ihn gern zu seinem Geburtstag überraschen.«
Er bekam Zugriff auf die Fotos. Und fand Chad Hardman, sofort. Mr. Hardman hatte kürzere Haare und war nicht länger blond, aber er war es. Eine Ahnung des Tigergrinsens lag um seinen ansonsten ernsten Mund. Florentins Magen überschlug sich.
Kapitän Nakada war immer noch in der Leitung. »Soll ich Bescheid sagen, dass Sie an Bord kommen? Wir haben immer einige Kabinen für die Anteilseigner und ihre Familien reserviert.«
»Das wäre sehr freundlich«, sagte Florentin. »Wenn ich heute Nacht losfliege, könnte ich in Marseille an Bord gehen.«
Was tust du da?, fragte er sich. Florentin! Du bist niemand, der sich bei Nacht und Nebel davonmacht, um … um was zu tun? Mit Chad Hardman zu verhandeln? Um herauszufinden, ob es einen Grund für seinen Ruhestand gibt? Und, ob er bereit wäre, eine letzte Vorstellung zu geben?
Nein, es war ganz und gar unmöglich, dass er so etwas tat. Absolut unmöglich. Vollkommen.
»Ich sollte lieber den Bentley nehmen«, murmelte er. »Anna hängt so an dem Porsche. Und ich muss Giannis Bescheid sagen, damit die Cessna bereit ist, wenn ich am Flughafen ankomme.«
»Das war gut.« Martin lehnte sich in den Kissen zurück und schaute an die Decke. Er gähnte. Martin schlief immer ein, Minuten, nachdem er fertig war. Harm hatte schon so oft mit ihm geschlafen, dass er ihn in- und auswendig kannte.
»Fand ich auch.« Harm wälzte sich von ihm herunter und zog das Kondom ab. Bei Privatkunden benutzte er sie. Bei Filmen ließ er sich vorher ein negatives Testergebnis zeigen. »Ziemlich gut.«
»Danke, dass ich dein letzter Kunde sein durfte. Es war mir eine Ehre.« Martin gähnte erneut. »Bist du sicher, dass du in Rente gehen willst?«
Harm brummte etwas Zustimmendes und schaute ebenfalls an die Decke. Sie war weiß. Er sog den Duft nach Schweiß und Sex in seine Nasenlöcher, der die winzige Kabine erfüllte. Das Brummen der Schiffsmotoren ließ die Matratze unter seinem Rücken vibrieren. In den Kabinen am Heck war es immer laut, oft so sehr, dass einige Passagiere nicht schlafen konnten. Harm machte das Geräusch nichts aus, genau wie die trägen Bewegungen der Queen of Salt and Water. Sie halfen ihm beim Einschlafen. Martin offenbar auch. Dem fielen schon die Augen zu. Leider öffnete er sie noch einmal und sah Harm an.
»Warum?«, fragte er. Seine Augen waren von Fältchen umringt und sein Bauch stach in die Höhe wie ein treibendes Fass. Er war nicht nur Harms letzter Kunde. Er war auch einer seiner ersten gewesen. Vor fast zehn Jahren hatte er Harm angeboten, mit auf seine Kabine zu kommen. Auf einem anderen Schiff, vor langer Zeit.
Es kam ihm vor, als seien Jahrhunderte vergangen, seit er zugestimmt hatte. Halb krank vor Liebeskummer, jung und verzweifelt. Damals hätte er nie gedacht, dass aus einer heimlichen Verabredung und einem zugeschobenen Fünfziger eine Karriere werden würde. Eine lange, geile Karriere mit einigen Tief- und sehr vielen Höhepunkten.
Eine Karriere, die nun offiziell beendet war.
»Hab keine Lust mehr«, brummte Harm, was nur ein Teil der Wahrheit war. Aber alles, was er preiszugeben bereit war.
»Das ist alles?« Martin pennte schon halb, aber er war nicht blöd.
»Ja.« Harm stand auf. Der Schweiß trocknete auf seiner nackten Haut. Er fuhr sich durch die Haare, die sich ungewohnt anfühlten. Chad Hardman hatte blonde, zerzauste Haare. Harm Hartmann hatte kurze, schwarze, die sich anfühlten wie Teppichboden.
Leider gab es noch zu viele Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Beide hatten gigantische, muskelbepackte, von Kopf bis Fuß tätowierte Körper. Harms Haut war überzogen mit einem Flickwerk aus Bildern, die er mal witzig gefunden hatte. Bei den meisten war er besoffen gewesen, was die kotzende Raupe auf seiner Schulter erklärte. Immerhin waren sie alle schwarz. Oder ausgebleicht-blau. Ein Teil war krakelig, ein anderer so kunstvoll und schön, dass sein Herz eng wurde, wenn er sie anschaute. Er wusste auch nicht, warum.
Als er beschlossen hatte, aufzuhören, hatte er gerade bis zum Anschlag in einem Rugbyspieler gesteckt. Harm hatte auf seine Hände gesehen, die sich in die Hüften des Kerls gekrallt hatten und die Schlangen auf seinen Fingern betrachtet und … aus. Die Müdigkeit, die er mit den Jahren immer stärker gespürt hatte, war über ihm zusammengebrochen. Er hatte den Job zu Ende gebracht (er brachte den Job immer zu Ende), und hatte dann alle weiteren Dates und Aufträge gecancelt. Nur für langjährige Kunden wie Martin hatte er eine Ausnahme gemacht.
»Und?«, brummte Martin, der eigentlich pennen sollte und stattdessen unangenehme Fragen stellte. »Was wirst du jetzt tun?«
»Erst mal mache ich die Fahrt zu Ende.« Sie war schon lange gebucht gewesen und er liebte Schiffe wie die Queen of Salt and Water. Sein Erspartes reichte, um die Fahrt zu Ende zu bringen und sich dann in Ruhe zu überlegen, für welche Jobs er als ehemaliger Pornodarsteller, Callboy, Barkeeper, Steward, Animateur und Raumpfleger geeignet war. Sicher viele. Nur hatte er das blöde Gefühl, dass eine ganze Menge wegfielen, weil man überall im Internet Videos fand, in denen er sich durch die Sieben Weltmeere vögelte.