Seele auf Sinnsuche - Christoph Augner - E-Book

Seele auf Sinnsuche E-Book

Christoph Augner

4,8

Beschreibung

Mobbing, Burnout und Depression bekommen epidemische Ausmaße. "Besorgte Bürger" zünden Flüchtlingsunterkünfte an. Noch nie war die Psychologie so gefordert wie heute und noch nie war sie uns so wenig Hilfe. Denn Statistik, ein materialistisches Menschenbild und angebliche Objektivität liefern noch keine Antworten auf die zentralen Fragen nach Sinn und einem guten Leben. Der Psychologe und Hochschullehrer Christoph Augner macht sich auf die Suche nach einer Psychologie, die dem Leben wieder Halt gibt. Er zeigt, wie viel Veränderungskraft eine Psychologie haben kann, die den Mut hat, ihre Seele wiederzufinden und sich den großen Themen des Lebens zu widmen.

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Über den Autor

Über das Buch

Impressum

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Leseempfehlung

Christoph Augner

Seele auf Sinnsuche

Für eine Psychologie, die unserem Leben wieder Halt gibt

Patmos Verlag

Inhalt

Einleitung

Teil 1: Die Macht der Zahlen

1. Der Mensch als Objekt

Was der Materialismus mit unserer Seele macht

Ein Materialist stirbt den Heldentod

Der Mensch als Reiz-Reaktions-Kiste

Gehirn statt Seele und die Verführung der Allmacht

2. Psychologie als Naturwissenschaft

Was Psychologen so tun

Psychologie in der Krise

3. Erfolg als Maß aller Dinge

Das Primat der Ökonomie

Wie uns die Wirtschaft um unser Leben betrügt

Die Folgen einer „wertfreien“ Psychologie

Teil 2: Eine Psychologie, die uns Halt gibt

1. Sinn statt Zahlen

Die Berechnung der Seele – eine Mission ohne Sinn

Den Menschen als Ganzes sehen

2. Werte: Woher nehmen, wenn nicht stehlen?

Was kann ich wissen? Was soll ich tun?

Jenseits von Gut und Böse?

Psychologie als Trostspenderin?

Menschenbild und Freiheit

3. Die Suche nach dem Sinn

Was ist Sinn?

Sinnstiftende Beziehungen

4. Jenseits des Narzissmus

Der narzisstische Sozialcharakter

Alternativen zum Narzissmus

5. Das Leben – eine Beziehungsgeschichte

Der Mensch im Mittelpunkt

Spiritualität und Transzendenz

Kunst

6. Alles eine Frage der Perspektive

Die andere Seite der Depression

Die andere Seite der Angst

Die andere Seite der Aggression

Die andere Seite von Prioritäten: Wie die Probleme der Ökonomie uns die Sicht verstellen

Vision: die wichtigen Fragen stellen

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Für meine Familie

Meine Dankbarkeit gilt all jenen, die großen Anteil an der Entstehung dieses Buches hatten: Meiner Frau Kerstin Augner, Anton Bucher, Thomas Engl, Wolfgang Stricker.

Einleitung

Ich habe immer an Zahlen geglaubt. An die Gleichungen, die Gesetze der Logik, die zur Vernunft führen. Aber nach lebens­langen Bestrebungen dieser Art frage ich: Was ist die Logik in Wahrheit? Wer entscheidet, was Vernunft ist? Meine Suche führte mich durch das Physische, das Metaphysische, das Wahnhafte und wieder zurück. Und ich habe die wichtigste Entdeckung meiner Karriere gemacht. Die wichtigste Entdeckung meines Lebens: Nur in den rätselhaften Gleichungen der Liebe kann man irgendwelche logischen Gründe finden.

Russell Crowe als John Nash im Film „A Beautiful Mind“

Wir leben in schwierigen Zeiten. Die Welt um uns herum dreht sich immer schneller. Wir strampeln uns ab, um irgendwie mitzukommen. Jeder soll noch mehr Leistung bringen, damit wir noch mehr Wohlstand haben. Tagtäglich wischen wir über unsere Smartphones und Tablets, um up to date zu sein, um nichts zu verpassen. Ständig sind wir mit unglaublich wichtigen Dingen beschäftigt, aber viel zu wenig mit den Menschen um uns herum. In der Zeitung lesen wir von Piloten, die nicht mehr leben wollen und über hundert Menschen mit in den Tod nehmen, von Teenagern, die ihre Mitschülerinnen und Mitschüler nieder­schießen, und jungen Menschen, die lieber in den Dschihad ziehen, als eine Berufsausbildung zu machen. Im Alltag spricht uns eine Frau das Menschsein ab, weil wir nicht schnell genug über den Bürgersteig gehen. Im Zug weigert sich ein Mann, im Kleinkindabteil aufzustehen; die Mutter mit ihrem Zweijährigen muss stehen bleiben. In der Arbeit werden Kolleginnen aus dem Team gemobbt, ein Mitarbeiter ist monatelang im Krankenstand, weil er einfach nicht mehr kann.

Während unser Zusammenleben immer schwieriger zu sein scheint, Konflikte, Wut, Verzweiflung und Ignoranz immer offenkundiger werden, wir einander immer weniger zu sagen haben, das Bedürfnis nach Erklärungen, nach Verstehen, ja nach Halt im Leben immer größer wird, macht die Psychologie einen erstaunlich weiten Bogen um die wichtigen Fragen des Lebens. Konsequent beschäftigt sie sich mit anderen Dingen. 2012 sah die Neue Zürcher Zeitung die Psychologie in der Krise, als Datenmanipulationen und erfundene Studien in der psychologischen Forschung aufgedeckt wurden.1 Zufall oder Symptom für eine tieferliegende Krankheit?

Die letzten Jahrzehnte hat die Psychologie damit verbracht, Physik und andere Naturwissenschaften an Exaktheit zu kopieren: Hypothesen werden in Experimenten getestet, statistische Daten – Zahlen – geben exakte Auskunft über den Zustand der Psyche. Man kann genau sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Person depressiv oder schizophren ist. Man hat physiologische Messverfahren entwickelt, mit denen man den Nachweis führen kann, dass eine Person trinkt, auch wenn sie gerade keinen Alkohol im Blut hat. Zuletzt sorgte eine Studie für Aufsehen, die den Zusammenhang zwischen Ekel und sexueller Erregung bei jungen Frauen analysierte. Die einigermaßen bizarre Versuchs­anordnung bestand darin, den Probandinnen nach der Präsentation ekelerregender Bilder auch noch pornographisches Material zu zeigen.2

Im Elfenbeinturm der psychologischen Forschung beschäftigt man sich offensichtlich mit kuriosen Themen und der Analyse von Spitzfindigkeiten – vieles davon hat kaum praktischen Nutzen. Wichtig sind hier vor allem „objektive Methoden“, mit denen man glaubt, den Gegenstand (das ist der Mensch) am besten erfassen zu können. In der „Praxis“ behandeln immer mehr Psychologinnen und Psychologen immer mehr psychisch Kranke. Mit mäßigem Erfolg könnte man unterstellen: In Österreich sind heute zwanzigmal mehr Menschen beruflich in der klinischen Psychologie tätig als 1991.3 Die Häufigkeit der Hauptdiagnose Depression bei Krankenhausentlassungen hat sich in diesem Zeitraum etwa versechsfacht (!).4

In anderen Bereichen verkommt Psychologie zum Teil als billige Unterhaltung, wenn etwa im Nachmittagsprogramm über Sachverhalte Auskunft gegeben wird, die der Engländer „common sense“ nennen würde. Geniale Ratschläge wie, dass in einer Partnerbeziehung auf „die gegenseitigen Bedürfnisse“ geachtet werden sollte oder mit 19 nun endlich eine Ausbildung in Angriff genommen werden könnte, sorgen bei den jugendlichen Darstellern für Unverständnis, werden aber vom Publikum laut beklatscht.

Aber der sound of upper class5 tönt nicht viel besser: Management-Päpste touren mit Sprüchen wie: „Verlierer erkennt man am Start, Gewinner auch“ durch die Lande. Marketing-Sprüche und Banalitäten werden als wissenschaftlich-psychologi­sche Erkenntnisse verkauft. Auf heißen Kohlen zu gehen, erhöht die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und wem der Humor in unserer Gesellschaft ausgegangen ist, der holt ihn sich im Lachseminar zurück. Neueste Methoden zeigen auf, wie man mehr aus sich herausholt, sich weiterentwickelt. Doch wofür und wohin? Statt diese Fragen zu thematisieren, Erfahrungen einzuordnen, Sinnzusammenhänge zu ergründen, schottet sich die Psychologie lieber ab. Um nicht mit Esoterik verwechselt zu werden, wird die Polizei gerufen: Die Berufs­verbände versuchen, den Gesetzgeber zu möglichst vielen Marktzutrittsbarrieren zu bewegen. Im Psycho-Dschungel von Psychologinnen, Psychiatern, Psychotherapeutinnen, Mental­trainern, Coaches und Psychoastro­logen kennt sich kaum noch jemand aus – was das mit psychosozialer Versorgung zu tun haben soll, weiß niemand.

Am Beginn der Arbeit an diesem Buch standen ein Gefühl des Unbehagens, eine Unzufriedenheit über den engen Rahmen der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit sowie die Frage: Kann das für die Psychologie alles sein: Juniorpartnerin der Psychiatrie, Steigbügelhalterin merkwürdiger Heilsversprechen oder ein realitätsfremdes naturwissenschaftliches Elfenbeinturm-Dasein? Es kann nicht und es darf nicht alles sein. Schon Franz Brentano sah in der Psychologie die Grund- und Basiswissenschaft überhaupt, eine ganzheitliche Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen. Ihr Gegenstand ist die gesamte Fülle des menschlichen Lebens: Schönheit, Ekel, Brutalität, Kreativität, moralische Regeln, hinterhältige und selbstlose Taten, religiöse Gefühle, Liebe, Verbundenheit, Entfremdung, Langeweile, Ekstase, Leiden, Gruppenzwang, mutiges Heraustreten aus dem Gruppenzwang, Sinnsuche und vieles mehr.6

Mein Anliegen in diesem Buch ist es, Wege aufzuzeigen, die in diese Vielfalt führen. Dazu gehört zunächst die Bestands­aufnahme: Psychologie als Physik vom Menschen – dieses Konzept stößt an deutliche Grenzen. Das Modell vom Menschen als Datenquelle, die fixe Idee, er sei durch Zahlen objektiv analysierbar, das Postulat der wertfreien Erkenntnis, das alles hat Folgen: ethische Beliebigkeit und kritiklose Unterstützung ökonomischer Kosten-Nutzen-Logik. Dieses Menschenbild tut uns nicht gut. Auf der Suche danach, wie die Psychologie unserem Leben wieder Halt gibt, wird deutlich, dass es ohne Werte nicht geht: Was ist mir wichtig? Was macht für mich Sinn? Wie möchten wir als Menschen, als Partner, als Familien in der Gesellschaft gemeinsam zusammenleben? Die großen Fragen des Lebens lassen sich nicht „objektiv“ und „wertfrei“ beantworten. Die Psychologie kann uns vielmehr dabei unterstützen, unseren Weg in diesem Leben zu finden: Indem sie den Menschen in seiner Ganzheit in den Mittelpunkt stellt, indem sie seine transzendenten Bedürfnisse und Fähigkeiten nicht ignoriert, indem sie sich Bereichen öffnet, ohne die ein Verständnis des menschlichen Lebens nicht möglich ist – Literatur, Musik, Theater, Malerei, Religion und Spiritualität – Bereiche, die ohne Zahlen auskommen und die uns dennoch Sinnzusammenhänge deutlich machen.

Betrachtet man Psychologie als Teil der Allgemeinbildung eines Menschen, als Anleitung zur Reflexion, als Möglichkeit, Perspektiven zu wechseln, erschließen sich neue Einsichten. Das Entwickeln neuer Ideen, die Initiierung öffentlicher Diskurse über Themen, die das Menschsein ausmachen – das wäre eine Psychologie, die im wahrsten Sinne des Wortes Sinn macht. Das Denken in Begriffen und Kategorien führt uns regelmäßig am Menschen und seinen Bedürfnissen vorbei. Wie können wir die Wege zu ihm – zu uns selbst! – zurückfinden? Im Kapitel „alles eine Frage der Perspektive“ möchte ich anhand der Themen Depression, Angst, Aggression und Ökonomie zeigen, dass Sichtweisen jenseits von Vorurteilen, Pathologisierung und Kosten-Nutzen-Denken möglich sind. Sichtweisen, die das Leben wieder als das sehen, was es ist: als Geschenk.

Teil 1: Die Macht der Zahlen

1. Der Mensch als Objekt

Mathematik wird dich nie zu einer höheren Wahrheit führen. Und weißt du warum? Weil sie langweilig ist, sterbenslangweilig.

Paul Bettany als John Nashs Alter Ego Charles Hernan im Film „A Beautiful Mind“

Was der Materialismus mit unserer Seele macht

In Film und Literatur kommen Psychologen oft nicht gut weg. In Krimiserien sind sie oft selber die Täter – man denke nur an die zahlreichen Folgen der legendären US-amerikanischen TV-Serie Columbo, in denen Psychologen die perfekten Morde verübt zu haben glaubten. Alternativ spielen sie verschrobene Freaks im Dienste der Sicherheitsbehörden, deren austauschbare Ratschläge von den richtigen Polizisten mit verächtlichen Blicken quittiert werden. Ein fast originalgetreues Abziehbild der Klischees lieferte Jack Nicholson im Film Die Wutprobe. Adam Sandler spielt dabei einen etwas schüchternen Werbemenschen für Katzenwäsche, dessen vorgebliches Aggressionsproblem behandelt werden soll – in Wirklichkeit geht es wohl eher um seine sozialen Phobien. Im Laufe der „Therapie“ wird klar, dass der Psychologe wesentlich gravierendere Probleme hat als sein Patient. Unvergesslich ist mir selbst eine Anekdote, in der ein Chirurg die Hauptrolle spielt. Wir sitzen in einer geselligen Runde, beide sind wir ein wenig das dritte Rad am Wagen, und so kommen wir ins Gespräch. Ich erzähle über meinen Beruf, er über seinen. Nach ein paar Gläsern outet er sich: „Ich glaube ja – das ist jetzt nichts gegen Sie – dass nur Leute, die selbst einen Knall haben, Psychologie studieren.“ Ich machte ihm keine Szene – und so nahm der Abend einen guten Ausgang.

Solche Bilder dominieren das Alltagsdenken der Durchschnitts-Bevölkerung. Das Problem dabei ist: Leider ist es nicht völlig falsch. Stereotypen entwickeln sich immer aus einem Körnchen Wahrheit und vielen Lügen. Die Sichtweise der Psychologie als Psychopathologie – daran ist die Disziplin auch selbst schuld. Fast alle Absolventinnen und Absolventen bewegen sich nach ihrem Studium in diesem Bereich. Die andere Seite ist die der Forschung, die sich weitgehend von Alltagsthemen und -problemen abschottet und verbissen am Projekt Psychologie als Naturwissenschaft arbeitet ...

Ein wesentliches Kennzeichen moderner Naturwissenschaft ist der objektive, wertneutrale Forscher, der sich unvoreingenommen seinem Forschungsobjekt nähert. Als sich Isaac Newton mit der Gravitation beschäftigte, beobachtete er, wie Gegenstände zu Boden fallen, mit welcher Geschwindigkeit sie das tun usw. Er rechnete, analysierte – eine rein kognitiv-rationale Tätigkeit. Dieses Vorgehen hat zu bahnbrechenden Erfolgen in der Physik und anderen Naturwissenschaften geführt. Doch was ist, wenn das „Forschungsobjekt“ der Mensch selber ist? Sicher, in Medizin und Biologie sind objektive Zugänge erfolgreich: Der Chirurg, der eine abgetrennte Hand wieder annäht, mag gut daran tun, mit möglichst objektiver Rationalität an die Sache heranzugehen. Ebenso wenn eine Physiologin die Funktionsweise innerer Organe erforscht. Doch wie geht das bei der Psyche? Wie kann man Gefühle „objektiv“ erforschen, wenn die eigenen Gefühle die Wahrnehmung beeinflussen? Ist es realistisch, die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind „objektiv“ zu erfassen? Kann das Glück, das jemand empfindet, wenn er seine Lieblingsoper genießt, mit Zahlen erfasst werden?

Fragen wie diese stellt sich die Psychologie kaum. Dazu kommt es nicht, weil gar keine Zeit bleibt: Die Lehrpläne an den Universitäten sind voll von Zahlen, Daten und Fakten. Methodik und Statistik, das Vorgehen bei Experimenten, die Auswertung von Datensätzen, die Entwicklung komplexer Modelle dominieren den Studienalltag. Zu fragen, was das Menschsein ausmacht, was das Leben überhaupt ist, wie ein gutes Leben aussieht – das löst an den psychologischen Fakultäten höchstens Kopfschütteln aus. Niemand wird abstreiten, dass für die Tätigkeit als klinischer Psychologe oder Psychotherapeutin Einfühlungsvermögen und Reflexionsfähigkeit wesentlich sind. Dass es wichtige Bedürfnisse, Bereiche im Leben gibt, die sich rational-analytischer Analyse nicht erschließen. In der psychologischen Forschung sind diese Bereiche weitgehend inexistent. Um als harte Wissenschaft zu gelten, braucht es Zahlen und Fakten sowie einen Forschungs­gegenstand – alles andere könnte als Gefühlsduselei und Beliebigkeit ausgelegt werden. Der Mensch als Objekt, durch Zahlen beschreib- und analysierbar, dieses Bild hat sich in der Psychologie etabliert. Doch der Weg dorthin war ein langer ...

Ein Materialist stirbt den Heldentod

Alles scheint für einen wunderbaren Abend bereitet. Lord Tyrconnel, der französische Gesandte in Berlin, lässt sich nicht lumpen: Als Dank für seine Genesung lädt er Doktor La Mettrie zu einem Fest ein, das es in sich hat. Manche Bankettteilnehmer sitzen noch gar nicht, da hat der Hausarzt von Preußenkönig Friedrich sich schon über die getrüffelte Fasanenpastete hergemacht. Reue kennt der doppelte Exilant aus Frankreich nicht: Moral hat die Religion erfunden, um uns gefügig zu machen – von allen Aufklärern ist er der Radikalste. Der Mensch ist eine Maschine, intellektuelle Leistungen sind ebenso auf physiologische Korrelate zurückzuführen wie Gefühle.

Heute wäre La Mettrie Neurowissenschaftler, doch im 18. Jahrhundert waren solche Thesen lebensgefährlich. Seine Heimat Frankreich musste er verlassen, sogar im liberalen Holland entkam er nur knapp dem Schafott – durch eine Flucht über die grüne Grenze. Friedrich, Preußenkönig, Autor des Antimachiavell und zu dieser Zeit noch Fan einer Gelehrtenrepublik, nahm ihn schließlich in Berlin auf. Hier glaubte La Mettrie, endlich so schreiben zu können, „als wäre man allein auf der Welt und habe von den Vorurteilen und Gehässigkeiten der Menschen nichts zu fürchten“7. Dem war nicht so. Bald fiel er auch beim deutschen König in Ungnade, wurde – wie überall – angefeindet und als Hofnarr verlacht.

La Mettries Programm ist ein radikaler atheistischer Materialismus, empirisch, rational, gestützt auf „den Beobachtungen und Experimenten der größten Philosophen und Ärzte. Alles was nicht einwandfrei aus der Natur kommt, was nicht Tatsache, Ursache, Wirkung ist, interessiert die Philosophie nicht“8. Der Verstand sei dazu da „alle Bomben der Theologie und Metaphysik zu entschärfen“9. La Mettrie überwand das Leib-Seele-Problem: Mentale Zustände (die Seele war hier nicht mehr nötig) seien determiniert durch körperliche Phänomene.10

Um sein Völlegefühl zu überwinden, schlägt der Franzose ein Billard-Spiel vor, kurz darauf wird ihm übel und er bricht schmerzgekrümmt zusammen. Die herbeieilenden Ärzte schickt er als „Scharlatene“ wieder weg. Die Selbstbehandlung aus Aderlass und Bädern bleibt erfolglos – drei Tage nach der Völlerei stirbt La Mettrie an einem kalten Novembertag 1751. Den Priester hat er als Atheist abgelehnt, mutig wie ein Stoiker wollte er sein, frei von Angst vor einem Leben nach dem Tod, dessen Existenz für ihn ausgeschlossen war. Wenn wichtige Zahnräder in der Maschine Mensch ihren Geist aufgeben, braucht es eben keinen Priester, sondern den Schrottplatz.

La Mettries merkwürdiges Ende komplettiert ein hedonistisches Leben ohne Rücksicht auf Verluste – Zynismus inklusive. Die Art des Todes – bis heute ist die Ursache unklar – sorgte bei Zeitgenossen für Spott und Hohn („Die Maschine ist kaputtgegangen“). Die „Einheitsfront“ gegen La Mettrie, die von den liberalen Aufklärern angeführt wird und sich vor allem gegen seine Auffassungen zur Moral richtet, beschwören noch nach seinem Tod eine Geisteskrankheit. Voltaire versteigt sich sogar zu der Aussage, Bücher wie „Der Mensch, eine Maschine“ seien nur entstanden, weil La Mettrie beim Schreiben immer betrunken war.

Auch wenn andere Materialisten – selbst Zeitgenossen wie Diderot oder D’Holbach – den Bezug auf La Mettrie vermieden, war mit dessen Werk die Grundlage für das materialistische Denken nach der Aufklärung gelegt. Wahrheit und Wirklichkeit sind demzufolge ausschließlich durch Erfahrung, Vernunft sowie durch das Gesetz von Ursache und Wirkung abbildbar.11 Der Mensch ist ein biologischer Apparat, der durch winzige Zahnräder betrieben wird.

Die Faszination der Maschinen-Metapher blieb bis heute bestehen. Die Maschinen des 21. Jahrhunderts sind Laptops und Smartphones, und entsprechend gilt unser Gehirn als Daten­speicher und Festplatte. Unser Körper wird als komplexer Roboter durch die Welt bewegt, der zielsicher auf Stimuli seiner Umwelt reagiert, sie weiterverarbeitet und der letztlich berechenbar reagiert. Diese Sichtweise ist in der zeitgenössischen Psychologie weit verbreitet, wie der Psychologiehistoriker Helmut E. Lück beschreibt: „Heute betrachtet man völlig selbstverständlich das menschliche Gehirn als Rechner, der mit Daten gefüttert wird und Ergebnisse auswirft, den Geist bzw. die Vernunft als die dazugehörige Software, die neuronalen Zustände des Hirns als interne Zustände eines Computers, mentale Denkprozesse als algorithmisch. Die menschliche Kognition wird zu einem Rechenvorgang.“12

Als La Mettrie starb, dauerte es noch über hundert Jahre, bis die moderne Psychologie aus Medizin und Philosophie entstand – ein Gegensatz, der sich bis heute nicht auflösen ließ. Die beiden Richtungen rangen um die Vorherrschaft: geisteswissen­schaftliche gegen naturwissenschaftliche Psychologie oder verstehen vs. beschreiben. Kurzum, beschreiben gewann. Der Gedanke, dass letztlich alles im Menschen berechenbar sei, dass im Sinne eines eliminativen Materialismus das Leib-Seele-Problem gelöst sein würde, dass all die mentalistischen Theorien Schnee von gestern sein würden, war zu verführerisch. So verführerisch, dass eine Forschergruppe des ausgehenden 19. Jahrhunderts sogar einen materialistischen Eid ablegte, in dem sie sich verpflichtete, „keine anderen als physikalisch-chemische Kräfte im Organismus anzunehmen“13.

Der Mensch als Reiz-Reaktions-Kiste

Die ersten psychophysiologischen Messungen und die Gründung der Experimentalpsychologie, die vor allem auf Wilhelm Wundt zurückgeht, ebneten endgültig einen wissenschaftlichen Weg, in dem die Psyche zum Versuchskaninchen wird. Das Ziel war es, das menschliche Erleben und Verhalten zu zerstückeln und zu zergliedern, in kleinste Einheiten zu zerlegen – bis zur Unkenntlichkeit. Was heute weitgehend ignoriert wird: Mit der Völkerpsychologie schuf Wundt, der alles überragende Gründervater der modernen Psychologie, auch einen geisteswissenschaftlichen Strang.

Befeuert wurde die Entwicklung in Richtung Experimental­psychologie durch den Siegeszug der Naturwissenschaften am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Physik schien nur noch wenige Jahre zu brauchen, um „fertige“ Wissenschaft zu sein (das wurde schließlich von Einstein im wahrsten Sinne des Wortes relativiert). Sie schien das ideale Vorbild für die Erklärung psychologischer Sachverhalte zu sein. Nicht umsonst verwendete man schließlich den Begriff Psychophysik. Hier sollten die Beziehungen zwischen „physischen Reizen und den ihnen entsprechenden Erlebnissen“14 untersucht werden. Reizschwellen und Unterschiedsschwellen für verschiedene Sinnempfindungen sind Gegenstand von Messungen und Berechnungen, also: Ab wann wird ein Reiz als Reiz wahrgenommen bzw. ab wann ein zweiter Stimulus als stärker oder schwächer als ein erster Stimulus empfunden?15

Man erahnt es: Der wichtigste Begriff ist der Reiz. Was verstehen die Psychophysiker unter den Psychologen darunter? Nochmals bemühen wir das Wörterbuch: In der Psychologie gehe es um „die äußere oder innere Einwirkung, die über Rezeptoren (Sinnesorgane) auf einen Organismus einwirken kann. Die Reaktionsfähigkeit des Organismus heißt Reizbarkeit […] und ist allgemeines Zeichen des Lebendigen.“16 Der merkwürdig gekünstelte Tonfall des Eintrags macht schon deutlich: Hier geht es um das Zerlegen, Zerteilen, Atomisieren. Es ist ein bisschen, wie wenn man ein Bild von Picasso nicht als Ganzes auf sich wirken lässt, sondern nur einzelne, winzig kleine Farbtupfer „analysiert“. Am Ende wird man vergessen haben, dass wir es mit einem schönen Bild zu tun haben. Wir betrachten nicht eine schöne Landschaft oder bewundern den Anblick einer schönen Frau, sondern ein Reiz trifft uns, der uns aktiviert oder der eben auch gerade unter der Reizschwelle liegt.

Die Experimente des russischen Physiologen Ivan Pawlow gehören mittlerweile zum Schulbuchwissen: Ein Hund, dem Futter vorgesetzt wird, reagiert mit Speichelfluss als Vorbereitung auf die erhoffte Mahlzeit. Ertönt ein Glockenton beim Vorsetzen der Futterschüssel, reagiert der Hund nach einigen Wiederholungen allein auf den Glockenton mit Speichelfluss. Der Hund hat etwas gelernt: Beim Glockenton gibt’s Futter. Soweit das Modell der Klassischen Konditionierung, die Grundlage des Behaviorismus.

Nicht nur Tiere reagieren auf äußere Reize, sondern auch der Mensch: Durch systematische Steuerung von Reizen – so die Theorie – kann man das Verhalten einer Person kontrollieren. Bis heute beherrscht diese Sicht der Dinge das Weltbild der Wirtschaft, mittlerweile als Neobehaviorismus. Dieser verhaltenswissenschaftliche Ansatz entstammte ursprünglich den Allmachts­fantasien eines gewissen John B. Watson. Sein Programm: die Zerschlagung aller geisteswissenschaftlichen Ansätze der Psychologie. In seinem Aufsatz Psychology as the Behaviorist Views It schrieb Watson: „Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht, ist ein vollkommen objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft. Ihr theoretisches Ziel ist die Vorhersage und Kontrolle von Verhalten. […] Bei dem Bemühen, ein einheitliches Schema der Reaktionen von Lebewesen zu gewinnen, erkennt der Behaviorist keine Trennungslinie zwischen Mensch und Tier an. Das Verhalten des Menschen in all seiner Feinheit und Komplexität macht nur einen Teil der behavioristischen Forschungen aus.“17

Die mangelnde Unterscheidung zwischen Mensch und Tier führte Watson schließlich auch in die ethische Sackgasse. In einem seiner berühmten Experimente wurden dem elf Monate alten Albert Phobien aller Art an-konditioniert. In weiteren Schriften riet Watson von der Muttermilch ab und entwickelte die Verrücktheit, dass Kinder von einem Elternpaar zum nächsten rotieren sollten, um nicht falsche Gewohnheiten und Bindungen entstehen zu lassen. Kinder, die krank geboren werden, sollten seiner Meinung nach „schmerzlos“ getötet werden.18

Zentral für Watson und den Behaviorismus war die Negation genetischer Disposition. So absurd das alles klingen mag, so erfolgreich war das Lernen durch Konditionierung. Besonders dankbare Abnehmer fand der Behaviorismus im Marketing. Nachdem die ersten Ökonomen Zweifel am unhaltbaren Konzept des Homo oeconomicus beschlichen, wandte man sich auch in diesem Bereich den verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen zu. Behaviorismus und Neobehaviorismus kamen besonders bei der Analyse des Käuferverhaltens eine große Bedeutung zu, und dies gilt noch immer. So schildern die Ökonomen Thomas Foscht und Bernhard Swoboda das Käuferverhalten als „Response“ auf verschiedene „Marketing Stimuli“, wie etwa Produkt, Preis oder Kommunikation. Das Modell der Black Box hat der Neobehaviorismus mittlerweile verworfen – hier sind der Theorie nach „intervenierende Variablen“ angesiedelt, also aktivierende oder kognitive Prozesse, die den „Organismus“ (das wäre der Mensch) steuern. Inwieweit solche Konzepte zutreffend sind, ist mehr als fraglich. Im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung könnte man die Hypothese aufstellen, dass je länger man den Konsumentinnenn und Konsumenten suggeriert, sie seien nur eine Reiz-Reaktions-Kiste, desto eher werden sie es selber glauben und sich modellkonform verhalten.

Gehirn statt Seele und die Verführung der Allmacht