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"Sein Auftrag lautete schließlich nicht, mich bloß umzubringen. Er wollte meine Seele." Als ihr Leben von einer skrupellosen Bande bedroht wird, flieht die 17-jährige Cara zu ihrer Tante, die in einem schier unscheinbaren Dorf in Brandenburg wohnt. Dort hofft sie, in Sicherheit zu sein, doch stattdessen nimmt sie eine viel größere Bedrohung ins Visier. Wer hat es auf ihr Leben abgesehen? Schnell verdächtigt sie ihren Lehrer Acario, der eine unnatürlich düstere Aura ausstrahlt, und ihren älteren Mitschüler Josia, der sich ebenfalls äußerst mysteriös verhält. Bei der Suche nach Antworten kommt Cara einem gut gehüteten Geheimnis ihrer Familie auf die Spur, das ihren Glauben über sich und die Welt für immer verändert.
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Seitenzahl: 566
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Ein ungewolltes Zuhause
Kollaps
Traumwandler
Erschreckende Neuigkeit
Ein verlockendes Angebot
Stalker
Großstadtflair mit allen Nachteilen
Blackout
Dämonische Party
Geheilt
Die »befreiende« Wahrheit
Wer oder was bin ich?
Aussprache
Neues oder altes Leben?
Neuanfang
Erste Eindrücke
Prüfungsangst
Die Geister, die ich rief
Mysteriöse Offenbarungen
Die Gaben des Geistes
Überraschendes Wiedersehen
Fesseln und befreien
Die Macht der Finsternis
Beunruhigende Visionen
Übung macht den Meister?
Die Puzzleteile fügen sich
Reise ins Ungewisse
Verbotene Gefühle
Showdown im Untergrund
Endkampf
Nachwehen
Das Ende vom Anfang
Vertrauenist gut. Kontrolle ist besser.
Jetzt weiß ich, welche Wahrheit in diesem Sprichwort steckt. Leider zu spät!
Hätte ich die Warnungen, die mir sogar mein eigener Körper signalisierte, ernster genommen, stünde ich jetzt nicht in dieser ausweglosen Situation. Doch ich hatte es nicht wahrhaben wollen – nicht bei ihm. Ich hatte ihm vertraut, das würde ich nun teuer bezahlen.
Mit etwas Wichtigerem als meinem Leben. Dem Tod hatte ich in den vergangenen Wochen allzu oft ins Gesicht geblickt und es war bei Weitem nicht dasselbe Gefühl!
Sein Auftrag lautete schließlich nicht, mich bloß umzubringen. Er wollte meine Seele.
Mein Herz schlug so schnell und hart gegen meine Rippen, dass ich jeden einzelnen Schlag genau mitzählen konnte. Seine blutroten Augen fixierten mich und instinktiv umklammerte ich den Griff meines Schwertes fester. Es verlieh mir Kraft, wenn auch nur einen Hauch. Denn eines wusste ich, ich würde hier nicht heil herauskommen. Nicht mit ihm als Gegner. Er war zu stark.
Er verzog die Lippen zu einem grausamen Lächeln und kam langsam auf mich zu, um mich in ein Monster zu verwandeln.
Mein Herz schlug so schnell und hart gegen meine Rippen, dass ich mich kaum aufs Atmen konzentrieren konnte und glaubte, gleich das Bewusstsein zu verlieren. Mein Blutdruck war in der letzten Stunde bestimmt rapide angestiegen. Bereits vor sechs Monaten hatte Paps mich vor diesem Augenblick gewarnt und im Nachhinein wünschte ich, ich hätte ihn ernster genommen und mich vorbereitet. Dann würde ich mich jetzt nicht so furchtbar überrumpelt und hilflos fühlen.
Ich hatte nicht im Traum damit gerechnet. Doch nun war es so gekommen, wie Paps prophezeit hatte, und er hatte mich aufgefordert, die Sachen zu packen. Mit zwei prallgefüllten Koffern fuhren wir quer durch München zum Flughafen.
Wir sprachen währenddessen kein Wort miteinander. Er hatte es ein paar Mal versucht – ohne Erfolg. Ich war krampfhaft damit beschäftigt, aus dem Seitenfenster zu starren und ihn zu ignorieren. Das schlechte Gewissen nagte an mir, wie eine ausgehungerte Maus an einem Stück Käse.
Normalerweise war ich sehr nachsichtig, wenn wir uns stritten, und ließ mich meist durch einen seiner witzigen Sprüche erweichen. Doch an diesem Tag würde ich knallhart bleiben und nicht nachgeben.
Die ganze Zeit wetterte eine laute Stimme in meinem Kopf.
›Das kann nicht sein Ernst sein. Das passiert hier nicht wirklich. Das ist alles nur ein schlechter Scherz. Das kann nie und nimmer sein Ernst sein!‹
Es war sein Ernst.
Als wir auf den Parkplatz fuhren und in einer Lücke vor dem Flughafengebäude zum Stehen kamen, blieben wir ruhig sitzen.
Paps ließ die Hände am Lenkrad, als bräuchte er etwas, um sich festzuhalten, und seufzte tief.
»Bitte, Cara, versteh mich doch. Es ist zu gefährlich geworden. Du bist ...« Er stockte und zögerte. Ich schluckte hart und weigerte mich weiterhin, ihm meine Aufmerksamkeit zu schenken. »Du bist hier nicht mehr sicher. Glaub nicht, ich schicke dich gerne fort. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, dich hierzubehalten, würde ich darüber nachdenken, aber -«
Ich wandte mich abrupt zu ihm um.
»Gibt es denn wirklich keine, dass ich bleiben kann? Gib den Fall ab oder lass uns gemeinsam ins Zeugenschutzprogramm gehen!«
Sein noch recht jugendliches Gesicht verzog sich qualvoll. Tränen schimmerten in seinen hellbraunen Augen. Erschrocken zuckte ich zusammen. Sein Anblick war grotesk, denn so hatte ich ihn noch nie gesehen. Obwohl ... irgendwann hatte er schon mal so ausgesehen. Aber, das war vor langer Zeit gewesen.
»Ich wünschte, es wäre so einfach. Aber, das ist leider unmöglich. Diese ... Organisation hat herausgefunden, dass ich dabei bin, sie zu zerschlagen und ihren ... Boss zur Strecke zu bringen. Sie haben es auf mich abgesehen und würden mich überall finden. Sie besitzen weder Skrupel noch ein Gewissen und gehen über Leichen, um ihre Ziele zu erreichen.«
Seine Finger schlossen sich so fest um das Lenkrad, das seine Knöchel deutlich hervortraten. Ich konnte seinen vor Erregung donnernden Puls hören. »Ich kann da einfach nicht mehr tatenlos zuschauen. Das habe ich viel zu lange getan ...«
»W-woher weißt du denn, dass sie über deine Pläne Bescheid wissen?«, fragte ich.
»Sie haben mich angegriffen und ihr Boss drohte mir, dir etwas anzutun. Das kann und werde ich nicht zulassen, Cara! Ich ... kann dich nicht auch noch verlieren. Das würde ich nicht überleben ...«
Ich wandte den Blick wieder ab und sah auf meine im Schoß gefalteten Hände. Sie zitterten ein wenig. Ich konnte den Konflikt, der in ihm tobte, und die brenzliche Lage, in der wir uns befanden, bloß erahnen.
Paps war mit Leib und Seele Polizist, aber er war nur ein kleiner Fisch und in den vergangenen siebzehn Jahren hatte er keinen Verbrecher verhaftet, der eine größere Straftat als Diebstahl, beging! Wieso musste ausgerechnet er sich auf einmal dieser ominösen Organisation annehmen? Hätte das nicht jemand mit mehr Erfahrung tun können? Und der damit nicht die Zukunft seiner Tochter ruinierte?
Es fiel mir unsagbar schwer, das einfach widerstandslos zu akzeptieren.
»W-wann ... Wann kann ich wiederkommen?«
»Ich ... weiß es leider nicht. Es kann bloß ein Jahr dauern, oder ... auch länger«, gab er zu und holte zittrig Luft. »Judith hat dich bereits im örtlichen Gymnasium angemeldet. Du wirst auf jeden Fall dort deinen Abschluss machen.«
Ich brachte lediglich ein schwaches Nicken zustande. Ausgerechnet das letzte Schuljahr, das wichtigste überhaupt, konnte ich nicht mit meinen Freunden verbringen! Na gut, die bestanden nur aus einer einzigen Person – Lena. Seit dem Kindergarten war ich eher eine Einzelgängerin. Es fiel mir unheimlich schwer, Kontakte mit anderen Jugendlichen zu knüpfen.
Andersherum verhielt es sich genauso – die meisten hielten eher Abstand zu mir. Lena war die Einzige gewesen, die sich für mich interessiert hatte. Wir freundeten uns schnell an und waren seit der ersten Klasse unzertrennlich.
Diese Trennung würde die längste in elf Jahren sein. All die coolen Dinge, die wir uns für unser letztes gemeinsames Jahr vorgenommen hatten, zerbarsten in tausend Stücke.
»Sieh es als Chance, endlich aus deinem Schneckenhaus zu kommen und Kontakt zu anderen Teenagern zu knüpfen. Sieh es als eine Art Neuanfang. Ich denke, das würde dir guttun.«
»Ich will aber keinen Neuanfang! Alles soll so bleiben, wie’s vorher war!«, rief ich aufgebracht. Paps stöhnte und rieb sich die Schläfen. Das tat er immer, wenn er genervt oder verzweifelt war. Abrupt stieß er die Autotür auf und stieg aus.
»Komm jetzt. Nicht, dass du deinen Flug verpasst.«
»Ich wünsche mir nichts sehnlicher«, knurrte ich und stieg ebenfalls aus. Paps holte mein Gepäck und ich folgte ihm so langsam wie möglich ins Gebäude. Es fühlte sich an wie der Gang zum Henker. Durch mein Schneckentempo versuchte ich das Unvermeidliche doch noch zu vermeiden. Es half alles nichts. Paps sorgte dafür, dass wir vor der Schließung das richtige Gate ansteuerten – wo waren die elend langen Schlangen an Menschen, wenn man sie mal brauchte?! – alles ordnungsgemäß ablief und ich pünktlich in der Halle zum Boarding stand. Mir wurde speiübel.
Paps drückte mir Ticket und Reisepass in die Hand und strich sanft über meine Wange.
»Mach dich bitte nicht verrückt, Spatz. Ich bin optimistisch. Bald wird alles wieder wie früher sein. Dann komme ich dich holen. Ich gebe dir Bescheid, sobald sich die Lage entspannt. Du wirst bestimmt eine gute Zeit mit deiner Tante und Cousine haben.« Er lächelte mir aufmunternd zu. Ich bedachte ihn mit einem Blick, der deutlich sagte, dass er absolut keine Ahnung hatte. Mit Tante Judith kam ich recht gut klar, sie war eine ganz wundervolle Person. Soweit ich das beurteilen konnte. Außer auf den wenigen Familientreffen sah ich sie nie. Ich wusste aber zu hundert Prozent, dass ich mit meiner Cousine Alicia definitiv nicht auskam. Lag wahrscheinlich daran, dass sie nur schwarz trug, Black Metall hörte und keine Themen außer Krieg und Tod kannte. Alles Bereiche, über die ich nicht reden wollte.
Ich schluckte und versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die mir in die Augen schossen. Meine Lippen begannen zu zittern.
»Bitte, pass gut auf dich auf«, bat ich inständig.
Paps zog mich in eine feste Umarmung und ließ auch nicht los, als eine Durchsage ertönte.
»Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Boarding für Flug A777 nach Berlin ist jetzt gestattet.« Ich vernahm die Worte nur undeutlich, als steckte mir Watte in den Ohren. Paps ließ mich los und schob mich Richtung Schalter. Durch die Fenster konnte ich das Flugzeug sehen, in dem ich gleich sitzen würde, wenn ich nichts unternahm. Ich wollte nicht weg!
»Ruf mich an, sobald du gelandet bist. Ich verspreche dir, es wird alles wieder gut.« Eine letzte Umarmung, dann war ich an der Reihe, mein Ticket vorzulegen und durch die Tür zu gehen.
Ich warf Paps einen letzten, flehenden Blick zu, der signalisierte, dass er seine Meinung noch ändern konnte. Doch er lächelte nur tapfer und winkte. Ich biss mir auf die Unterlippe und wandte mich ab.
Es gab wahrhaftig kein Zurück mehr.
Kurz bevor ich den Flieger betrat, hielt ich inne und atmete tief durch. Ich musste unbedingt meinen Herzschlag beruhigen, jedoch hielt mich die Panik in eiserner Gewalt. Ich setzte mich ans Fenster und sah hinaus. Der Himmel färbte sich blassrosa.
Der Abend schritt voran.
Der Pilot gab über Lautsprecher durch, dass der Flug etwa eine Stunde dauern würde. Eine Stunde. Viel zu kurz. Die Zeitspanne würde niemals ausreichen, um mich einigermaßen so zu beruhigen, dass meine Tante nichts bemerkte und sich keine unnötigen Sorgen machte. Das Letzte, was ich wollte, war, meiner Familie auch Probleme zu bereiten.
Die sechzig Minuten verbrachte ich damit, aus dem Fenster zu schauen und die Tränen zurückzuhalten, die mir die Angst in die Augen trieb. Angst vor der ungewissen Zukunft und um Paps. Ich erlaubte mir, erst dann zusammenzubrechen, sobald ich alleine war. Je näher ich meinem Ziel kam, desto mehr begriff ich die unausweichliche Wahrheit.
Als die Stewardess durchgab, wir würden landen, lehnte ich mich zurück und schloss die Lider. Der Flieger kam etwas holprig, aber sicher auf dem Boden auf. Die Passagiere waren erleichtert, dass nichts schiefgegangen war. Ich war die Einzige, die sich nicht freute. Die Sonne war inzwischen gänzlich verschwunden und die wenigen Wolken hatten sich zu einer dunklen Masse vereinigt. Allzu deutlich prasselte Regen gegen die Scheiben.
›Herzlich willkommen im kalten, tristen Norden‹, dachte ich finster.
Im Gebäude des Flughafens Berlin Tegel war unheimlich viel los. Menschen jeden Alters und jeglicher Nationalität strömten durch die Hallen. Ich hatte das Gefühl, in dem Gedränge und Stimmengewirr hilflos unterzugehen. Mir wurde erneut flau im Magen. Ich musste schleunigst hier raus!
Es dauerte eine halbe Stunde, ehe endlich das Gepäck aus dem richtigen Flugzeug über das schwarze Band fuhr. Sobald ich meine beiden Koffer an mich genommen hatte, eilte ich aus der einen Halle in die nächste. Mein Blick fiel sogleich auf eine Frau, die wild mit ausgestrecktem Arm winkte. Im ersten Moment durchfuhr mich die Hoffnung, dass das nicht meine Tante war. Jeglicher Zweifel wurde ausgeräumt, als sie meinen Namen rief. Am liebsten hätte ich alles stehen- und liegenlassen und wäre zum nächsten Schalter gerannt, um mir den schnellst möglichen Flug nach Hause zu buchen. Doch da kam Tante Judith mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Dabei grinste sie so breit, dass ihr bestimmt die Wangen wehtaten.
»Ah, Cara, wie schön dich zu sehen! Wie geht’s dir? Hattest du einen guten Flug? Sobald wir zu Hause sind, kannst du deinen Vater anrufen. Er wird sich ebenso freuen, dass du wohlbehalten angekommen bist. Ich traue Flugzeugen nicht. Heutzutage kann man ja nicht vorsichtig genug sein. Von wegen die sicherste Art zu reisen! Die Leute, die so etwas behaupten, haben sicher nie in ihrem Leben einen Fuß in so ein Ding gesetzt! Schrecklich, was da alles geschehen kann. Na ja, wie dem auch sei. Gib mir deinen Koffer. Wir sollten aufbrechen. Wir haben schließlich noch eine Stunde Autofahrt vor uns und ...«
»W-wie, eine Stunde? Wohnt ihr so weit außerhalb?«
»Ach, richtig. Wir wohnen nicht direkt in Berlin, sondern in einer Kleinstadt in Brandenburg. Keine Sorge, sie liegt nicht am Ende der Welt. Wenn du allerdings groß einkaufen oder eine Shoppingtour machen willst, musst du nach Berlin. Bei uns gibt es leider keine Geschäfte. Mit der Bahn dauert es aber nur wenige Minuten bis nach Spandau oder zum Hauptbahnhof und von dort kommst du problemlos überall hin.«
Sie hob die Schultern, als wollte sie sich entschuldigen. Ich bekam keinen Ton heraus. Tante Judith führte mich zu einem großen, dunkelroten Van. Im Innenraum brannte kein Licht, bis auf ein bläuliches, das von einem Handydisplay herrührte. In seinem unnatürlichen Schein erkannte ich das Gesicht meiner Cousine. Sobald der Kofferraum geöffnet wurde, schaltete sich das Licht ein.
»Ah, Mann!«, schimpfte Alicia und kniff die Augen zusammen.
»Sie verkriecht sich andauernd in ihrem Zimmer und dunkelt es komplett ab. Als wäre sie allergisch gegen das Licht. Alicia, willst du deine Cousine nicht begrüßen?« Alicia machte sich nicht die Mühe, mich direkt anzusehen. Sie starrte stur auf ihr Handy und hob eine Hand.
»Hi, Cara. Willkommen in der Hölle«, murmelte sie.
»Alicia! Hör nicht auf sie, Cara. Unser Städtchen hat, trotz seiner geringen Größe, einiges zu bieten.«
»Ach ja? Und was? Ne olle Penne, das war’s! Und das ist keine Stadt, sondern ein verdammtes Dorf!« Tante Judith verzog verärgert die rot-geschminkten Lippen. Sie wollte etwas entgegnen, winkte dann aber ab und seufzte nur.
»Du wirst es ja selber sehen«, sagte sie knapp und stieg ein.
Sobald wir vom Parkplatz rollten, umgab mich ein vertrautes Umfeld. Unzählige Häuser aus Beton in verschiedenen Größen.
Menschenmassen, hell-erleuchtete Lokale reihten sich aneinander und Autos kamen aus jeder Richtung. Statt nur eine Stunde zu dem Dorf zu benötigen, brauchten wir allein diese Zeit, um überhaupt aus Berlin herauszukommen. Als wir die Lichter und den Lärm hinter uns ließen, meinte Tante Judith, dass es in der Hauptstadt immer so turbulent zuging. Am besten bewegte man sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fort. Ich empfand es nicht als tragisch, war ich durch meine Heimatstadt ja daran gewöhnt.
Die nächste Stunde fuhren wir auf der Autobahn, die zu beiden Seiten von Häusern gesäumt wurde. Keine Wälder, keine Berge. Ich fühlte mich, wie in eine andere Welt versetzt.
Unwillkürlich musste ich an Paps denken und erneut kamen mir die Tränen. Hoffentlich ging es ihm gut. Ich betete, dass er den Fall schnell löste und mich heimholte. Wie gut, dass ich die breite Rückbank für mich alleine hatte und es so dunkel war, dass Tante Judith mein deprimiertes Gesicht im Rückspiegel nicht erkennen konnte. Von ihrem Gesabbel bekam ich nur wenige Wortfetzen mit. Ich lehnte mich seitlich gegen das kühle Glas der Fensterscheibe und schloss die Augen, die mittlerweile ziemlich brannten.
Überrascht schreckte ich auf, als die glockenhelle Stimme meiner Tante durch das Auto schallte.
»Wir sind daaa! Aussteigen, Mädels. Alicia, hilf mir bitte mit den Koffern.« Mühsam richtete ich mich auf. War ich etwa eingeschlafen? Ich blinzelte und wischte mir über die feuchten Wangen. Als hätte ich im Schlaf geheult. Träge, wie eine alte Frau, stieg ich aus dem Auto. Die kleinen Lampen neben der dunkelbraunen Haustür brannten. Ebenso die Laternen, die die Straße säumten. Der Monsun war in ein sanftes Nieseln übergegangen.
Die beiden bewohnten ein kleines, weißes Haus mit Garten, das in einer scheinbar sehr ruhigen Siedlung stand. Es war so still ... Keine Autohupen. Keine Musik oder Stimmen, die aus Lokalen herüberdrangen. Nicht mal ein Hund bellte. Diese Umgebung war mir vollkommen fremd. Ich war es gewohnt, von hohen Häusern, Bergen und einem gewissen Lärmpegel umgeben zu sein. Diese Ruhe und flache Landschaft wirkten bizarr.
Tante Judith und Alicia trugen meine Koffer die Treppe hinauf in den ersten Stock und stellten sie in einem karg möblierten Zimmer ab. Alicia verschwand sogleich in dem angrenzenden Raum und schloss geräuschvoll die dunkle Tür.
»Wie gut, dass wir ein Gästezimmer haben. Sonst hättest du in Alicias Zimmer schlafen müssen und das hätte sie niemals freiwillig zugelassen. Ich habe es so kahl gelassen, damit du es nach deinen Vorstellungen gestalten kannst. Wir können auch die Wände streichen. Die Bettwäsche habe ich neu gekauft, du magst doch rot, oder? Ansonsten können wir gerne andere besorgen. Wir haben leider nur ein Bad, das müssen wir uns teilen. Da ich aber entweder wesentlich früher oder später als ihr beide raus muss, kommen wir uns nicht in die Quere. Pack jetzt erst mal in Ruhe aus. Wenn du Hunger hast, bedien dich frei in der Küche.«
Während sie redete wie ein Wasserfall, starrte ich auf das schmale Fenster mit der weißen Spitzengardine davor. Draußen war es so dunkel, dass ich nur mein Spiegelbild und den Raum sah. Stumm schüttelte ich den Kopf. Hunger war das Letzte, was ich verspürte. Mein Magen war zwar leer, fühlte sich aber an wie zugeschnürt. Genauso meine Kehle. Tante Judith legte mir sanft eine Hand auf die Schulter.
»Ich weiß, wie verwirrend das für dich sein muss. Es kam ja sehr überraschend, dass dein Vater dich zu uns geschickt hat. Aber, ich kenne meinen Bruder. Er hätte es nicht getan, wenn es nicht unausweichlich gewesen wäre. Ich hoffe, du verstehst das.«
Das Fenster verschwamm zu einer undeutlichen Masse aus Dunkelblau und Weiß. Himmel, war ich dünnhäutig!
»Ich wünschte nur, ich ... hätte nicht alles aufgeben müssen. Ich hab solche Angst, dass ... dass ihm was zustößt«, schluchzte ich. Tante Judith drehte mich zu sich herum und nahm mich fest in die Arme. Sobald mein Körper aufhörte zu zittern, ließ sie mich los und strich mir die Haare aus dem Gesicht.
»Keine Sorge, dein Vater ist ein mutiger, starker Mann. Der wird mit jedem fertig. Und was dich angeht, so bist du hier völlig sicher. Unser Städtchen und seine Bewohner sind gar nicht so schlecht, wie man vielleicht denkt. Zudem, es ist nur ein Jahr. Das schaffst du. Du bist stärker, als du denkst, Cara.«
Sie lächelte und strich mir mit dem Daumen eine entlaufene Träne fort. »Geh jetzt schlafen. Morgen wird es dir bestimmt besser gehen.«
Ich reagierte nicht darauf, da ich es stark bezweifelte. Sobald Tante Judith die Tür hinter sich geschlossen hatte und die Treppe hinunterging, warf ich mich auf das Doppelbett und vergrub das Gesicht im weichen Kissen. Nun konnte ich alles rauslassen, was ich bisher tapfer unterdrückt hatte. Ich weinte all meine Wut, den Frust und die Angst in den Stoff.
Nachdem die letzte Träne versiegt war, schleppte ich mich durchs Zimmer und suchte wie in Trance ein paar Sachen raus. Anschließend ging ich unter die Dusche. Das heiße Wasser beruhigte ein wenig meine strapazierten Nerven. Als ich mich in ein flauschiges Handtuch hüllte, fühlte mich kaum besser. Im Flur hörte ich Tante Judiths Stimme unten. Sie sprach mit jemandem. Es würde mich nicht weiter interessieren, wenn sie nicht einen gewissen Namen gesagt hätte.
»Tut mir leid, Josh, aber sie ist schon im Bett. Sie musste erst mal ankommen und vor allem runterkommen. Der Umzug hat sie doch sehr mitgenommen. Nein, ich denke auch, dass es die richtige Entscheidung war. Sie wäre in München nicht sicher gewesen. Du weißt ja, wie der Feind ist. Er und seine Schärgen sind unberechenbar. Tu mir einen Gefallen und sei vorsichtig, okay? Pass gut auf dich auf. Ich will dich nicht verlieren, wie ... wie Sophia.«
Ich erstarrte. Sophia. Das war Mamas Name. Sie war seit siebzehn Jahren tot. Was hatte sie denn mit der Verbrecherorganisation zu tun, hinter der Paps her war? Ich lauschte weiter und hoffte auf mehr Informationen, aber da verabschiedete sich Tante Judith schon. Schnell huschte ich auf Zehenspitzen in mein neues Zimmer. Ich war dankbar, dass sie ihn abgelenkt hatte. Ich konnte nicht mit Paps reden. Ich würde doch nur erneut zusammenbrechen und ihn anflehen, mich nach Hause zu holen, ganz gleich wie gefährlich es dort sein mochte.
Das würde keinen positiven Eindruck machen und ich wollte nicht, dass Tante Judith glaubte, ich würde es bei ihr ganz schrecklich finden. Auch, wenn sie mich vielleicht verstand. Es wäre nicht fair, da sie mich bei sich aufnahm. Bloß, weil wir eine Familie waren, war sie nicht dazu verpflichtet.
Eine lähmende Müdigkeit erfasste mich auf einmal. Ich wollte nur noch der unschönen Realität für ein paar Stunden entfliehen.
Nachdem ich meinen Pyjama angezogen hatte, das Einzige, was sich ein wenig nach zu Hause anfühlte und danach roch, legte ich mich ins Bett und knipste das Licht aus.
Mein Kopf dröhnte. Ich nahm mein Handy und schaltete es ein. Ein Foto erschien, das mir einen Stich versetzte. Es zeigte Lena und mich, wie wir verrückte Grimassen schnitten. Dieses Mädchen war ein echter Scherzkeks.
Von der zwei Nachrichten auf dem Bildschirm aufploppten.
Lena 18:07
Hey, Süßeee! :D Wie ist der Flug gewesen? Hoffe, du bist gut angekommen. Melde dich, sobald du da bist. Miss You!!!!
Lena 20:21
Okay, in den Nachrichten haben sie nix von einem Absturz berichtet, also bist du gut gelandet, ja? Ich kann nicht glauben, dass du weg bist! Vermisse dich jetzt schon wahnsinnig! Wir müssen uns unbedingt mehrmals am Tag schreiben und alles erzählen! Wie ist dein neues Zuhause? Ist dein Zimmer größer als das alte? Wie ist die Hauptstadt? Ich beneide dich so. Berlin soll der Hammer sein. Mann, ich will morgen nicht ohne dich zur Schule! Ich brauch dich hier! :´(
Ich biss mir auf die Unterlippe. Es reichte, für einen Tag hatte ich genug geheult! Ich schrieb nur eine kurze Nachricht, dass ich mich morgen melden würde. Zu mehr war ich nicht in der Verfassung. Ich steckte mir Kopfhörer in die Ohren, wählte eine ruhige Musik und schloss die Augen.
Die vertrauten Klänge ließen mich glauben, ich sei zu Hause. In meinem eigenen Zimmer, in meinem eigenen Bett.
Die fremden Gerüche und die Stille passten zwar nicht, aber das konnte ich ausblenden. Es dauerte nicht lange, bis ich endlich in einen unruhigen Schlaf glitt.
Am nächsten Morgen wurde ich durch ein Geräusch geweckt, das wie unregelmäßiges, schnelles Trommeln klang. Ich drehte mich auf die rechte Seite und versuchte es zu ignorieren, doch nach ein paar Minuten wurde es lästig und ich setzte mich auf. Blick zum Fenster und ich erkannte die Ursache. Frustriert stöhnte ich auf. Es regnete in Strömen – schon wieder.
Dabei hatte ich mal gelesen, dass es in Brandenburg eher selten regnet. War ja klar, dass das sich änderte, sobald ich hier war. Über der Spitzengardine, die nur die untere Hälfte des Fensters verdeckte, sah ich eine dunkelgraue Wolkendecke. Sie war so dicht, dass kein Sonnenstrahl es schaffte, sie zu durchdringen. Das Wetter passte perfekt zu meiner Stimmung.
Im trüben Licht sah ich mich das erste Mal in meinem neuen Zimmer um. Es war etwas größer als mein Altes. Die glatten Wände waren hellblau gestrichen, der Boden bestand aus hellbraunen Dielen, die bei jedem Schritt knarzten. Links befanden sich die einzigen beiden Fenster. Rechts neben der Tür stand eine breite Kommode. Gegenüber dem Bett standen ein Schreibtisch und ein fast leeres Bücherregal. Ich war eine echte Leseratte, hatte aber nur wenige meiner geliebten Bücher mitnehmen können. Die würde ich nachher einsortieren. Ob es in dem Kaff eine Bibliothek gab?
Ich zuckte zusammen, als es plötzlich an der Tür klopfte.
»Herein«, krächzte ich nach mehrmaligem Räuspern. Meine Kehle fühlte sich so trocken an, als hätte ich tagelang nichts getrunken. Wie erwartet, steckte Tante Judith ihren Kopf herein.
»Guten Morgen, Cara. Das Bad ist jetzt frei, dass du dich fertigmachen kannst. Ihr müsst in einer Stunde los.«
Ich durchwühlte meinen Koffer und entschied mich für eine dunkle Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt. Im Bad musterte ich mich im Spiegel. Für gewöhnlich fand ich mich recht hübsch, aber heute sah ich einfach nur fertig aus. Meine Haut war blass und unter meinen Augen lagen dunkle Schatten, die deutlich machten, was für eine Nacht ich hinter mir hatte. Nach dem Zähneputzen kämmte ich meine langen, hellbraunen Locken und flocht sie zu einem Zopf. Die Schatten versuchte ich mit Concealer zu verdecken. Zusätzlich trug ich etwas Lidschatten und viel Mascara auf. So sah ich weniger verheult aus.
Die Küche wirkte trotz des schlechten Wetters sehr hell. Die Wände waren gelb gestrichen und die Möbel weiß. Alicia saß bereits am Tisch, verputzte einen Toast und starrte auf ihr Handy. Wie erwartet, trug sie schwarz. Ich hatte sie noch nie in anderen Farben gesehen. Tante Judith holte gerade ein paar Eier aus dem kochenden Wasser. Sie lächelte.
»Da bist du ja. Möchtest du etwas essen? Wir haben Toast, Eier und Vollkornbrot. Du kannst auch gerne Müsli essen. Die Packung steht auf dem Schrank. Magst du einen Kaffee?«
Ich nickte stumm und ließ mir welchen einschenken. »In die Schule braucht ihr nichts mitnehmen, da ihr Mittagessen in der Mensa bekommt.«
MmmMensafraß ... Wie ich mich freute.
»Wie kommen wir zur Schule? Fährst du uns?«, fragte ich.
»Nein, dazu fehlt mir leider die Zeit. Ihr nehmt den Bus. Die Haltestelle ist nur ein paar Meter entfernt und ihr braucht nicht umzusteigen. Nehmt euch nachher Regenschirme mit. Alicia, du zeigst Cara alles, nicht wahr?«
Die Angesprochene zuckte nur mit den Schultern und Judith kräuselte verärgert die Lippen. Als Alleinerziehende hatte sie es anscheinend nicht leicht. Ihr Mann war vor fünf Jahren an einer schweren Krankheit verstorben.
Ich würgte einen Toast hinunter. Mein Magen fühlte sich noch immer an wie geschrumpft und am liebsten hätte ich gar nichts gegessen, aber Tante Judith bestand darauf. Nach dem Frühstück holte ich meinen fast leeren Rucksack. Die Schulbücher würde ich vor Ort bekommen.
Pünktlich und trocken erreichten wir die Bushaltestelle. Mit uns zusammen stiegen nur zwei weitere Personen ein – ein Junge und ein Mädchen in etwa meinem Alter. Die Fahrt dauerte nur zwanzig Minuten und endete genau gegenüber des Schulgebäudes. Während wir mit den anderen Dutzend Schülern über den Parkplatz gingen, musterte ich das Gebäude bis ins kleinste Detail.
Die Oberschule mit dem lateinischen Namen FONSVITAE, was übersetzt »Quelle des Lebens« bedeutet, war ein einziger, langgezogener Kasten aus dunkelroten Backsteinen. Das Innere sah aus, als müsste es mal dringend saniert werden. An den Wänden blätterte bereits der Putz ab. Alicia zeigte in einen schmalen Flur.
»Das ist der Verwaltungstrakt. Du musst dich wahrscheinlich im Sekretariat melden. Da erfährst du, wo du hinmusst«, sagte sie lahm und schlurfte die Treppe hinauf. Ich verzog skeptisch den Mund. Sie war ja noch nie besonders gesellig gewesen. Zumindest nicht innerhalb der Familie. Ich durfte mich eigentlich nicht darüber aufregen, denn ich war nicht besser.
Im Sekretariat traf ich eine Frau mittleren Alters mit kurzen, rot-gefärbten Haaren. Sie gab mir eine Bücherliste und meinen Stundenplan.
Dabei sah sie mich immer wieder eindringlich an, als müsste sie sich vergewissern, dass ich wahrhaftig vor ihr stand und keine Halluzination war. Lag vermutlich daran, dass das Dorf eher selten neue Bewohner bekam. Zumindest keine, die die Fünfzig nicht längst überschritten.
Nachdem alle Formalitäten erledigt waren, wandte ich mich zur Tür und hielt prompt inne, als sie sich öffnete. Der Junge und das Mädchen aus dem Bus standen vor mir.
Er registrierte mich mit einem kurzen, ausdruckslosen Blick, sie dagegen lächelte so freundlich, dass mir unwillkürlich ganz warm ums Herz wurde. Er ging zum Tresen.
»Hi. Josia und Elea. Wir sind ebenfalls neu an der Schule«, sagte er hastig. Während die Sekretärin nach den Unterlagen suchte, verschwand ich aus dem Raum. Die erste Stunde würde gleich beginnen und ich wollte am ersten Tag keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, indem ich zu spät kam. Ich holte die Bücher und warf einen Blick auf den Stundenplan.
Statt einer einzigen Klassengemeinschaft gab es hier für jedes Fach Leistungskurse. Daher bestand der neue Plan aus einer Reihe von Kursen der zwölften Klasse, die ich ab heute besuchte. Es war immerhin recht ähnlich, wie eine Klasse, nur dass ich für jedes Fach den Raum wechseln musste und ständig neue Gesichter zu sehen bekäme. Ich hatte ohnehin nicht vor, neue Freundschaften zu schließen.
Das Gebäude erstreckte sich über vier Etagen, inklusive Erdgeschoss. Mein erster Kurs, Geschichte 1, fand in einem Raum im ersten Stock statt. Ich versuchte, mir auf dem Weg dorthin den Stundenplan einzuprägen, um nicht den ganzen Tag mit einem Blatt vor der Nase herumlaufen zu müssen. Auf der Treppe blieb ich abrupt stehen, als mir ein Gedanke kam. Was hatte dieser Junge vorhin gesagt? Sie waren ebenfalls neu?
Als ich sagte, ich sei neu hier, waren die beiden doch noch gar nicht im Raum gewesen und von außen hatte man meine leise Stimme garantiert nicht gehört. Woher wusste dieser Josia – komischer Name –, dass ich neu war, wenn die beiden auch gerade erst in den Ort gezogen waren?
Dieses Rätsel beschäftigte mich so lange, bis ich vor dem Klassenzimmer stand. Die Tür war offen und ich sah, dass bereits etliche Schüler an den Tischen saßen. Sofort begannen meine Nerven wieder zu flattern. Ich blieb stehen und atmete ein paar Mal tief ein, um mich zu beruhigen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte eine helle Stimme auf einmal.
Elea stand vor mir und musterte mich. Sorge lag in ihren eisblauen Augen. Neben ihr stand Josia, der mich mit grimmiger Miene musterte. Irgendwie machte der mir Angst.
Ich sah wieder zu Elea und nickte.
»J-ja, danke. Bin nur etwas nervös«, gestand ich.
»Das kann ich gut nachvollziehen. Wem ergeht es nicht so an seinem ersten Tag? Man darf sich nur davon nicht unterkriegen lassen, stimmt’s?« Sie wandte sich an ihren Mitstreiter. Er verzog keine Miene und betrat den Klassenraum. Elea seufzte und verdrehte die Augen. »Beachte ihn nicht, er ist immer so.«
Wir folgten ihm und suchten uns freie Plätze. Sobald ich mir einen Tisch ausgesucht hatte, setzten sich Elea vor und Josia hinter mich. Es wirkte fast, als hätten sie sich abgesprochen.
Die beiden waren merkwürdig, aber ich musste zugeben, in ihrer Gegenwart fühlte ich mich absolut wohl. Das war mir vorher noch mit keinem Menschen so ergangen, nicht mal mit Lena. Von ihnen ging etwas aus, das ich kaum beschreiben konnte. Es war beinahe so wie eine helle Aura, die sie umgab oder wie ein Licht, das sie von innen heraus leuchten ließ.
Die Stunde ging quälend langsam vorüber. Frau Wolf schien ihre Arbeit sehr ernst zu nehmen. Sie ließ ihre Schüler eine Jahreszahl nach der anderen herunterrattern und wurde wütend, wenn jemand eine Zahl vergaß.
Danach stand Mathe auf dem Programm. Ich hasste dieses Fach – wie die meisten Schüler. Aber den Lehrer lernte ich noch mehr zu hassen. Herr Meyer war ein klassischer Sadist, dem es Freude bereitete, seine Schützlinge mit komplizierten Aufgaben zu foltern und an der Tafel bloßzustellen. Mich rief er gleich drei Mal auf und grinste diabolisch, als ich jedes Mal kläglich versagte. Mit Josia und Elea versuchte er dieselbe Masche, aber die beiden verstanden offenbar etwas von Mathe.
Glaubte ich noch an einen Zufall, so kamen mir arge Zweifel, als ich mindestens einen von beiden in den nächsten Kursen wiedersah.
Nach der sechsten Stunde klingelte es zur Mittagspause. Sämtliche Schüler rannten ins Erdgeschoss und stürmten die Mensa. Die Schlange vor der Essensausgabe war dement sprechend lang. Sobald ich etwas Essbares ergattert hatte, hielt ich nach einem freien Stuhl Ausschau. Fast alle Gruppentische waren bis auf den letzten Platz belegt. Ganz hinten in der Ecke saßen nur zwei Personen an einem Tisch. Ich seufzte.
Irgendwie schaffte ich es kaum, denen aus dem Weg zu gehen. Mir blieb aber nichts anderes übrig, also steuerte ich auf sie zu. Die beiden schienen gerade in eine rege Diskussion vertieft zu sein. Sie sprachen aber trotzdem so leise, dass niemand in ihrer unmittelbaren Nähe etwas mitbekam. Ich war vermutlich die Einzige, die jedes Wort, trotz des Lärms, deutlich verstand. Josia beugte sich vor und zog wütend die Augenbrauen zusammen.
»Du hast es vorhin doch auch gespürt, nicht wahr? Einer von denen ist hier«, knurrte er.
»Ja, ich habe die Präsenz deutlich wahrgenommen, konnte sie aber bisher leider nicht lokalisieren«, erwiderte Elea.
»Wir müssen auf der Hut sein. Ich würde das ja viel lieber alleine machen. Versteh beim besten Willen nicht, weshalb man dich mir zugeteilt hat.«
»Vergiss es, ich bleibe. Zudem, du kennst doch Sacheja. Sie schickt keinen von uns gern allein auf eine Mission und schon gar nicht, wenn es sich um solch eine wichtige handelt. Das wäre zu gefährlich.« Josia schnaubte. »Vielleicht haben wir ja Glück und es wird gar nicht so gefährlich.«
»Hmpf, na klar wird’s das. Du hast die Präsenz doch gespürt und wer weiß, wie viele das sind. Wenn wir Pech haben, müssen wir die gesamte Schule evakuieren.«
»Es kann aber auch nur einer sein«, wandte Elea ein. »Hoffen wir das Beste.«
Ein paar Minuten schwiegen sie und eine Stimme in mir befahl, mir sofort einen anderen Tisch zu suchen. Aber meine Beine gehorchten mir nicht. Als wäre ich festgewachsen, stand ich mitten in der Mensa und starrte Josia und Elea wie hypnotisiert an. Sie schienen mich nicht zu bemerken.
»Was hältst du bis jetzt so von ihr?«, fragte Elea.
»Ein Ungesicht durch und durch.«
»Ja. Sacheja sagte mir, dass sie keine Ahnung hat. Dass sie bisher nicht aufgeklärt wurde.« Josia schüttelte den Kopf und rammte seine Gabel in das Essen.
»Absolut unverantwortlich!«
»Ich bin sicher, die Familie hatte ihre Gründe.«
»Kein Grund rechtfertigt so ein Verhalten! Sollte es hier zum Äußersten kommen, ist sie ein leichtes Opfer, weil sie total hilflos ist! Sie weiß weder wie man kämpft, noch wie man sich verwandelt.«
»Deswegen sind wir doch hier. Wir beschützen sie.«
Josia stieß erneut ein wütendes Schnauben aus und wandte sich um. Seine dunkelblauen Augen richteten sich direkt auf mich und verengten sich sogleich zu schmalen Schlitzen. Ich stand zu weit entfernt, aber irgendetwas sagte mir, dass er es wusste. Er wusste genau, dass ich sie belauscht hatte. Hastig sah ich mich nach einem freien Platz um und drehte mich weg.
Hoffentlich nahm er mir das nicht übel. Ich hatte ja ohnehin kein einziges Wort verstanden. Wessen Präsenz konnten sie hier spüren und wen sollten sie beschützen? Was war denn ein »Ungesicht«? Das war doch nicht mal ein richtiges Wort.
Den Rest der Pause schwiegen sie, aber ich spürte ihre Blicke auf mir ruhen und mir wurde ganz flau. Als es endlich klingelte, sprang ich erleichtert auf und brachte das Tablett weg. Leider stand jetzt ein Kurs auf dem Plan, den ich genauso sehr verabscheute wie Mathe – Sport!
Die kleine Turnhalle befand sich am Rande des Geländes. Ich überquerte den Hof mit gemischten Gefühlen. Hoffentlich war dieser Lehrer netter als Herr Meyer!
Da ich keine Sportsachen dabei hatte, bestand Herr Wagner nicht darauf, dass ich mitmachte, und ließ mich lediglich die Geräte aufbauen. War ich schon froh, ihnen entkommen zu sein, erschien Josia wenig später in der Halle.
Gerade noch verkniff ich mir ein genervtes Aufstöhnen. Er stellte sich dem Lehrer vor und der schickte ihn, wie mich, auf die Bank. Mit großem Abstand setzte ich mich neben ihn und konzentrierte mich auf die Übungen. Er ignorierte mich genauso.
Nach der Stunde warf ich einen Blick auf meinen Plan. Der letzte Kurs für heute war ... Latein? Ich blinzelte überrascht.
Das konnte doch nur ein Irrtum sein! Nein, ich hatte mich nicht verlesen. Dort stand schwarz auf weiß Latein im zweiten Stock, Zimmer 206 bei Herrn Acario.
Während ich mich auf den Weg machte, fragte ich mich immer wieder, wie das möglich war. Seit der zehnten Klasse hatte ich kein Latein mehr gehabt! Bestimmt war das ein Fehler. Der Lehrer würde, wie seine Kollegen zuvor, die Anwesenheitsliste durchgehen und feststellen, dass mein Name gar nicht draufstand. Somit wäre die Angelegenheit geklärt und ich würde im Sekretariat nach meinem richtigen Kurs fragen.
Ich suchte mir einen freien Platz am Fenster. Der Regen war längst versiegt und die Wolkendecke teilte sich, sodass der hellblaue Himmel endlich wieder zum Vorschein kam. Plötzlich spürte ich, wie jemand dicht neben mich trat. Eine warme, leuchtende Präsenz.
»Ist der Platz noch frei?«
Mein Kopf ruckte augenblicklich zur Seite. Neben mir stand, unverkennbar an seinem feingeschnittenen Gesicht und den intensiven, blauen Augen, Josia. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich wie gelähmt und zu keiner Antwort imstande. Fragend hob er die dunklen Augenbrauen. Was sollte ich sagen? Die Wahrheit, dass der Platz frei war, oder eine Lüge in Betracht ziehen? Ich wusste es nicht. In meinem Kopf war es auf einmal wie leergefegt!
Alles, zu dem ich in der Lage war, war ihn dümmlich anzustarren, als wäre er ein Alien. Sein eindringlicher Blick ließ mein Herz schneller schlagen und ein wohliger Schauer jagte durch meinen Körper.
»Ja oder nein?« Eine Spur Ungeduld lag in seiner Stimme.
Stumm nickte ich und er setzte sich.
»Sag mal, verfolgst du mich?«, fragte ich und biss mir im selben Moment auf die Zunge. Verflixt! Das hatte ich doch gar nicht fragen wollen! Ruckartig hob Josia den Kopf und feuerte einen imaginären Pfeil auf mich ab.
»Wieso glaubst du, ich verfolge dich?«, fragte er scharf.
Ich schluckte beklommen.
»Weil ... Weil wir dauernd dieselben Kurse besuchen. Da wir uns die nicht aussuchen dürfen, kann das doch kein Zufall sein!« Josia musterte mich schweigend.
»Und was, wenn es genau das ist?«
»Ich glaube nicht an Zufälle«, entgegnete ich.
»Selbst wenn es so wäre, was für ein Motiv soll ich haben? Was bringt es mir, ein Mädchen zu verfolgen, das ich kaum kenne?«
»Genau das begreife ich ja nicht! Es sei denn ... Bist du ein Mitglied dieser Organisation, die mein Vater gerade zerschlägt? Seid ihr uns auf die Schliche gekommen und mir gefolgt?«
Josia runzelte die Stirn.
»Was?«
»Gib’s zu! Du willst mich entführen, damit ihr meinen Vater erpressen könnt!«, rief ich.
»Spinnst du? Du hast wohl zu viele Thriller geguckt. Ich habe rein gar nichts mit irgendeiner Organisation zu tun. Zumindest mit keiner bösen ...«
»Und was willst du dann von mir?«
»Gar nichts, wir wollen nur ...« Er hielt inne. »Ich will dir eine Frage stellen. Hast du, während der letzten sieben Stunden, ein unangenehmes Gefühl verspürt? Oder den Geruch nach Schwefel bemerkt?«
Den Geruch nach Schwefel? Hatte der Kerl ’ne Meise?
»Ähm ... nein? Außer, wenn du den Gestank im Chemielabor meinst«, sagte ich. Es war offensichtlich nicht die Antwort, die Josia sich erhofft hatte, denn er rieb sich die Schläfe und stieß ein entnervtes Knurren aus.
»Nein, das meine ich nicht. Hast du etwas gespürt, bei dem dir innerlich eiskalt wurde und du am liebsten sofort weggelaufen wärst?«
»N-nein. Hab ich nicht.« Josia nickte.
»Das habe ich erwartet. Du hast wirklich keine Ahnung.«
Ich öffnete den Mund, um nachzufragen, da unterbrach mich die Tür, die mit einem langgezogenen Quietschen ins Schloss fiel. Jegliches Gespräch erstarb und wir alle richteten unsere Aufmerksamkeit auf den Mann, der gerade hereingekommen war.
Auf einmal spürte ich sehrwohl eine intensive Kälte. Es hatte aber nichts mit der Raumtemperatur zu tun. Die war noch recht angenehm. Eher war es so, als würde sich meine Körpertemperatur verändern! Als hätte ich Eiswasser getrunken, das sich in meiner Brust ausbreitete. Ein dumpfer, schmerzhafter Druck breitete sich in meinem Kopf aus. Ich verzog das Gesicht und rieb mir die Schläfe.
Josia warf mir einen kurzen Blick zu.
»Genau das habe ich gemeint«, murmelte er und ballte die Hände unter dem Tisch zu Fäusten.
Der Lehrer lehnte sich rücklings gegen sein Pult und streckte die langen Beine aus. Er war noch recht jung, vermutlich erst Ende zwanzig, Anfang dreißig und sah unglaublich gut aus. Seine makellose Haut war so blass wie die eines Vampirs. Sie passte gut zu seinen schwarzen Locken, die ihm in die Stirn fielen. Er musterte uns mit einem umwerfenden Lächeln.
»Schönen guten Tag, zusammen. Mein Name ist Stefan Acario. Sie kennen mich nicht, aber das wird sich bald ändern. Ich bin nämlich erst vor Kurzem an die Schule gekommen und ersetze Herrn Bauer, der ja unglücklicherweise verschieden ist. Aber wir werden uns bestimmt auch gut verstehen.«
Er holte ein Klemmbrett aus seiner Tasche und prüfte die Anwesenheit. Hatte ich vorhin noch gehofft und gedacht, dass es sich um ein Missverständnis handeln musste, dass ich hier gelandet war, so war ich mir jetzt, da Josia auch in dem Kurs war, nicht mehr sicher. Tatsächlich rief Herr Acario wenig später meinen Namen auf. Ein Ruck fuhr durch meinen Körper, als sich seine Augen auf mich richteten. Sie waren so dunkel, dass man die Pupille kaum sehen konnte. Wärme schoss mir in die Wangen und gleichzeitig breitete sich die Kälte weiter in mir aus, dass ich zu zittern begann. Peinlichberührt wollte ich mich abwenden, doch da blickte er auch schon zu meinem Sitznachbarn.
Dessen Reaktion ließ mich stutzen.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Josia sich versteifte und die Hände so fest zusammenballte, dass die Knöchel deutlich hervortraten. Herr Acario hob erst eine Augenbraue, verzog die sinnlichen Lippen dann aber zu einem merkwürdigen Grinsen. Es wirkte beinahe überheblich. Die Miene meines Mitschülers hatte sich in eine ausdruckslose Maske verwandelt, aber die Augen hatte er zu Schlitzen verengt. Es erweckte fast den Anschein, als mochte Josia Acario nicht.
Aber, warum nicht?
War es möglich, dass sie sich bereits kannten?
Die komplette Unterrichtsstunde hingen alle wie gebannt an Herrn Acarios Lippen. Er besaß eine dunkle, aber sehr angenehme Stimme, der man weitere Stunden lauschen könnte. Mir erging es kaum anders, obwohl ich noch immer heftig zitterte, als hätte ich Schüttelfrost. Allmählich bekam ich davon Kopf-und Bauchschmerzen.
Josia blieb die ganze Zeit über ebenfalls angespannt. Er sah aus, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er sitzenbleiben oder dem Lehrer an die Kehle springen sollte. Zwischendurch warf er mir immer wieder verstohlene Blicke zu und streckte schließlich eine Hand nach mir aus.
Ich fuhr zusammen, als er ganz zaghaft die meine berührte. Seine Haut fühlte sich rau, aber angenehm warm an und obwohl mich seine Reaktion völlig überrumpelte, war es enorm tröstlich.
Leider konnte er die Kälte nicht vertreiben. Lange hielt ich das sicher nicht mehr aus.
Als es endlich klingelte, wollte keiner aufstehen.
Alle waren noch wie gebannt. Nur Josia stand hastig auf und sah mich auffordernd an. Langsam erhob ich mich.
Da richteten sich Herr Acarios Augen auf mich.
Ein scharfer Schmerz fuhr mir in den Schädel.
Ehe ich mich wieder hinsetzen konnte, gaben meine Beine nach und ich sackte zusammen. Leider verfehlte ich den Stuhl und landete direkt daneben auf dem Boden. Meine Mitschüler keuchten erschrocken. Josia war blitzschnell an meiner Seite und richtete mich langsam wieder auf. Ich konnte sein Gesicht nur schemenhaft erkennen.
Neben ihm erschien ein zweites, verschwommenes Gesicht.
»Cara, geht es Ihnen gut? Haben Sie sich verletzt?«
Acarios Stimme klang besorgt. Kraftlos und mehr ohnmächtig als wach, lehnte ich an Josias breiter Schulter. Mein Körper schmerzte – sowohl von dem Sturz als auch vom Zittern.
»Ich bringe sie ins Krankenzimmer«, verkündete Josia und wollte mich hochheben, doch da packte Acario ihn am Arm.
»Nein, lassen Sie mich das tun. Ich habe schließlich eine Aufsichtspflicht, der ich nachkommen muss und die Schwester wird einen Bericht von mir haben wollen. Also?«
Ich spürte, wie sich Josias Griff um michverstärkte.
»Das können Sie vergessen. Ich bringe sie hin«, knurrte er.
Was hatte er denn auf einmal? Warum wollte er verhindern, dass unser Lehrer mich ins Krankenzimmer brachte? Was sollte denn passieren?
»Wollen Sie wirklich hier einen Aufstand machen?«, fragte Acario so leise, dass nur Josia und ich es hörten. Irrte ich mich, oder klang seine Stimme bedrohlich? »Wir möchten doch beide keine unnötige Aufmerksamkeit erregen, oder?«
Widerstrebend übergab Josia mich dem Lehrer, der mich aufhob und nach draußen trug. Verblüfft stellte ich fest, wie kalt er sich anfühlte. Vielleicht war er wirklich ein Vampir.
»Meine Güte, Sie zittern ja, wie Espenlaub«, murmelte er.
»B-bitte, mir ... geht’s viel b-besser«, stammelte ich.
Auf keinen Fall wollte ich, dass er mich in diesem Zustand quer durch die Schule trug! Meine Argumentation erzielte natürlich nicht den gewünschten Effekt. Acario bestand vehement darauf, mich zu tragen und mich somit dem Gespött der Schüler auszuliefern! Ein Stimmengewirr umgab mich und ich spürte die verwunderten Blicke auf mir ruhen. Schnell kniff ich die Augen zusammen, um sie nicht mehr sehen zu müssen.
Himmel, war das peinlich! Ich bettelte stumm darum, das Bewusstsein jetzt in diesem Augenblick zu verlieren, doch es geschah nicht. Mit dieser Schmach musste ich, wohl oder übel, leben.
Das Krankenzimmer lag im Verwaltungstrakt. Dort legte Acario mich auf einer Liege ab und erstattete der Krankenschwester Bericht. Sie untersuchte daraufhin meinen Kopf und stellte mir ein paar Fragen.
Nachdem sie zu der Diagnose kam, dass mir nichts weiter fehlte, bis auf eine Beule und 38 Grad Fieber, riet sie mir, liegenzubleiben, bis ich abgeholt wurde. Sie fragte, ob ich vorher irgendwelche Anzeichen einer Erkältung gehabt hatte und ich verneinte. Ich hatte mich auch nicht erschöpft oder gar krank gefühlt.
Ich erzählte knapp von meinem Umzug und sie erwiderte, dass das Fieber und die Erschöpfung daher rühren konnten. Die Ursache war, ihrer Meinung nach, weniger physisch als psychisch. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ja, ich war am Abend zuvor total fertig gewesen, aber heute Morgen ging es mir doch gut! Zumindest solange, bis ich in Latein saß.
Äußerst merkwürdig.
Josia war uns gefolgt und hatte meinen Rucksack mitgenommen, den er neben die Liege stellte. Dann lehnte er sich mit vor der Brust verschränkten Armen an den Türrahmen, bis Herr Acario verschwand.
Ich versuchte zu entspannen und wieder zur Ruhe zu kommen. Was gar nicht so einfach war. Seit die Schwester und ich alleine waren, war Kälte in meiner Brust abgeklungen und das Zittern hatte nachgelassen, aber mein Kopf fühlte sich noch immer an, als steckte er in einem Schraubstock. Ich öffnete erst wieder die Augen, als die Stimme der Krankenschwester zu mir durchdrang. Tante Judith stand vor ihrem Schreibtisch und ließ sich über meinen Zustand aufklären.
»Sie war kurz nach dem Unterricht kollabiert und hat eine kleine Schwellung am Hinterkopf davongetragen. Ich habe ihre Temperatur gemessen, sie lag anfangs bei 38,2 Grad und ist seitdem weder gesunken noch angestiegen. Sie schläft seit einer Stunde.«
»Ich verstehe. Merkwürdig.« Judith runzelte die Stirn.
»Passiert ihr das häufiger?«
»Nicht, dass ich wüsste. Aber, ich sehe sie auch viel zu selten und kann das daher nicht beurteilen. Sie zog erst gestern aus München zu mir.«
»Was ist mit ihren Eltern, wenn ich fragen darf? Im Sekretariat ist einzig Ihre Nummer hinterlegt.«
»Ja, ich bin ihre Tante und momentan ihr Vormund. Ihr Vater ist aus beruflichen Gründen in München geblieben. Er übertrug mir die Verantwortung für Cara. Ich werde ihn nachher anrufen und fragen, ob das schon mal vorgekommen ist. Vielleicht war es auch nur die Anstrengung des Umzuges.«
Sie strich mir sanft über die Wange. Deutlich sah ich die Erleichterung in ihrem Gesicht, als sie merkte, dass ich wach war. »Wie geht es dir, Cara? Du hast mir ja einen Schrecken eingejagt ... Wenn es dir soweit wieder besser geht, fahren wir nach Hause. Dort kannst du dich weiter ausruhen.«
Ich nickte schwach. Langsam half sie mir von der Liege und stützte mich auf dem Weg nach draußen. Inzwischen war der Parkplatz fast gänzlich leer. Auf der Fahrt fragte Judith mich, ob mir so etwas Derartiges schon mal passiert sei und ich verneinte. Auch konnte ich mir den Grund für das Fieber nicht erklären.
Zu Hause begleitete sie mich in mein Zimmer und fragte, ob sie noch etwas tun konnte, ehe sie wieder zur Arbeit fuhr. Ich brauchte nichts. Obwohl ich noch ziemlich erschöpft war, konnte ich nicht einschlafen. Die Kopfschmerzen legten sich allmählich. Weil ich keine Lust hatte, herumzusitzen, beschloss ich, das Haus zu erkunden. Links neben der Treppe befand sich die Doppeltür zum Wohnzimmer. Die Wände waren zart orange gestrichen, das Sofa und die Sessel waren mit hellen Stoffen bezogen und vor dem Couchtisch befand sich ein großer Kamin. Auf dem Sims standen mehrere Fotos von Tante Judith und Alica, aber es gab auch welche von der Familie.
Onkel Georg war nur auf einem abgebildet. Ich wusste, dass die beiden sehr selten bis gar nicht von ihm sprachen und auch nicht wollten, dass sein Name erwähnt wurde. Paps trichterte mir, seit der Beerdigung, vor jeder Familienfeier ein, meinen Onkel mit keinem Wort zu erwähnen. Da ich jetzt bei ihnen lebte, würde ich auch garantiert nicht damit anfangen. Manche Dinge musste man einfach ruhen lassen.
So ähnlich erging es auch Paps mit Mama. Er wollte sogar noch weniger, dass über sie gesprochen wurde. Nicht mal ich sollte ihn mit Fragen löchern. Auf zwei Bildern waren wir beide zu sehen. Er sah so fröhlich aus.
Ehe ich darüber nachdenken konnte, griff ich zum Telefon und wählte unsere Nummer. Es piepte in regelmäßigen Abständen. Ungeduldig trommelte ich mit den Fingern auf dem Tisch herum. Meine Hoffnung und Vorfreude wurden jäh vernichtet, als ich seine Stimme hörte.
»Hallo, dies ist der AB von Joshua und Cara. Wir sind gerade nicht daheim, aber wenn Sie Ihren Namen und ggf. Ihre Rufnummer hinterlassen, melden wir uns, so schnell wie möglich.« Ein langgezogener Piepton. Ich öffnete den Mund.
Langsam nahm ich das Telefon vom Ohr und schaltete es aus. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und Tränen benetzten meine Augen. Die Gesichter auf den Fotos verschwammen zu einer undeutlichen Masse. Kraftlos sank ich in den Sessel. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Das Heimweh verstärkte sich dadurch nur und unwillkürlich kroch auch wieder die Angst um Paps in mir hoch.
Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Wenn diese Organisation ihn doch geschnappt hatte und jetzt gefangen hielt? Vielleicht folterten sie ihn sogar?!
Verzweifelt vergrub ich das Gesicht in den Händen und weinte hemmungslos. Nachdem ich mich ein wenig beruhigt hatte, versuchte ich mir einzureden, dass ich überreagierte.
Sicher war er im Revier und es ging ihm blendend! Er würde garantiert länger und härter arbeiten, jetzt, da niemand mehr zu Hause auf ihn wartete. Ich schluckte. Meine Kehle brannte. Für ein Jahr würde er niemanden haben, der auf ihn wartete, das Essen kochte, die Wohnung putzte und seine Wäsche wusch.
Wenn wenigstens meine Mutter noch leben würde.
Sie starb sechs Monate nach meiner Geburt und Paps zog mich ganz alleine auf. Zwar kam ab und zu meine Oma vorbei oder er engagierte eine Nanny, aber die meiste Zeit war er alleine. Allein mit seinem Kummer und seiner abgrundtiefen Trauer. Mama hatte eine Leere hinterlassen, die keiner füllen konnte, nicht einmal ich. Sie hatten sich sehr geliebt!
Es wurde leichter, je älter ich wurde. Oma meinte oft, dass er ohne mich zugrunde gegangen wäre. Durch mich kam er gar nicht erst in Versuchung, an ihrem Tod zu zerbrechen.
Ich hoffte inständig, dass es ihm gut ging. Besser als mir, und er sich schnell an die neue Situation gewöhnte.
Niedergeschlagen torkelte ich auf mein Zimmer. Irgendwie musste ich auf andere Gedanken kommen.
Ich legte mich wieder aufs Bett und schrieb Lena eine Nachricht. Kurz darauf antwortete sie und berichtete von unseren Mitschülern, die sich überhaupt nicht weiterentwickelt zu haben schienen sowie von unmöglichen neuen Lehrern.
Mit ihr darüber zu schreiben tat nicht so weh, wie ich befürchtet hatte. Im Gegenteil, es lenkte mich ab und vertrieb den Schmerz.
Doch nach zehn Minuten setzten die Kopfschmerzen wieder ein. Ich schrieb noch eine kurze Nachricht an Paps und schloss die Augen.
Vielleicht vertrieb ein wenig Schlaf das unangenehme Pochen hinter den Schläfen. Zum Glück dauerte es nicht lange, ehe ich in die Traumwelt eintauchte.
Leider weckte mich nicht der Regen, obwohl ich dieses Mal dankbar dafür gewesen wäre. Nein, es war ein Traum.
Ich riss die Augen auf und merkte erst nach ein paar Sekunden, dass ich mich wieder in der Realität befand. Ich starrte an die weiße Decke mit der silbernen Lampe, lauschte meinem Atem und dachte über den Traum nach. Er war so real gewesen. Alles hatte sich echt angefühlt. Ich spürte jetzt noch die eisige Kälte, die von ihm ausgegangen war, in meiner Brust und zitterte unwillkürlich.
Nachdem ich mich einigermaßen beruhigt hatte, stand ich auf und ging in die Küche. Tante Judith saß am Tisch und verspeiste einen Toast. Überrascht hob sie die Augenbrauen.
»Oh schön, du bist wach. Wie geht es dir, Cara?«, fragte sie.
»Ein bisschen besser, glaub ich. Wie spät ist es?«
»Es ist halb acht.«
Irritiert sah ich aus dem Fenster. Es war doch noch hell!
»Etwa morgens?« Sie nickte. »Ich hab den Nachmittag und die Nacht verpennt?«
»Offensichtlich. Du warst gestern ziemlich fertig. Deswegen habe ich dich auch nicht geweckt. Wenn man fiebert, ist Schlaf immer noch die beste Medizin. Ich habe dich auch heute in der Schule krankgemeldet.«
Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber.
»Das ... wäre doch nicht nötig gewesen. Ich hätte das schon irgendwie überstanden«, murmelte ich. Skeptisch verzog Tante Judith den Mund.
»Cara, ich bin seit achtzehn Jahren Krankenpflegerin und du kannst meinem Urteil vertrauen. Dein Fieber war in der Nacht noch einmal angestiegen und es wäre unverantwortlich gewesen, dich in diesem Zustand in die Schule zu lassen.« Sie stand auf und stellte mir ein Glas Wasser vor die Nase. Ich war so durstig, dass ich es in einem Zug leerte. Anschließend maß sie noch einmal meine Temperatur. Sie war noch ein wenig erhöht.
»Du solltest etwas essen. Bist immer noch sehr blass.«
Sie stellte mir Toast und Marmelade hin, doch ich beachtete es kaum. Mich beschäftigte etwas anderes. Die Bilder meines Traums spukten mir noch immer durch den Kopf.
»Kannst du mir sagen, was heute Nacht mit dir los war?«
Verwirrt blickte ich sie an.
»W-was meinst du?«
Tante Judith setzte sich wieder und machte ein sehr ernstes Gesicht.
»Ich habe immer mal wieder nach dir gesehen. Deine Temperatur hielt sich relativ konstant, aber so gegen drei Uhr morgens stieg sie rasant an. Du hast gestöhnt und dich herumgewälzt. Dabei immer wieder ein Wort gemurmelt. Acario? Was bedeutet das?«
»Das ... ist der Name meines Lateinlehrers. Stefan Acario. Er ist auch neu hergezogen. Ich ... hab von ihm geträumt«, antwortete ich leise.
»Ah ja, verstehe. Ist er so süß?«
»Himmel, ich bin doch nicht in ihn verliebt! Er hat mir Angst gemacht!«, widersprach ich laut. Vielleicht ein wenig zu heftig, denn Tante Judiths Lippen kräuselten sich.
»Er hat dir Angst gemacht? Warum das? Ist er unfreundlich zu euch, oder behandelt er euch schlecht?« Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, er ... ist eigentlich sehr nett. Aber, in meinem Traum, da ... war er mir unheimlich. Etwas ... Düsteres ging von ihm aus.« Ich hatte sofort ihre volle Aufmerksamkeit. Ernst bat sie mich, zu erzählen. Ich tat es nur widerstrebend, weil ich Schiss hatte, sie würde mich auslachen. »Ich lag auf einem Sofa in einer großen Halle. Die war ... echt beeindruckend. Die Decke war mit weißem Stuck verziert und ein großer goldener Kronleuchter mit unzähligen Kristallen hing daran herab. Sie wurde von rot-braunen Marmorsäulen gestützt. Oder vielleicht waren die auch nur zur Zierde da, keine Ahnung. Jedenfalls gab’s da eine breite Treppe, die nach oben führte. Rechts vom Eingang standen ein paar Sofas und Sessel vor einem riesigen Kamin. So einen Großen habe ich noch nie gesehen, wahrscheinlich sollte er die ganze Halle heizen. Darüber hing ein Wappen – ein goldener Löwenkopf.«
Tante Judiths Augen weiteten sich. Sie wirkte regelrecht fassungslos. »Alles okay?«, fragte ich unsicher.
»J-ja, ja, natürlich. Erzähl bitte weiter. Du befandest dich also in einem Schloss oder einer Burg?«
»Es war eher ein Schloss. Ich hätte es für ein Luxushotel oder für ein Museum gehalten, aber nie für eine Schule.«
Tante Judith sah aus, als würde sie jeden Moment vom Stuhl fallen. Was war denn auf einmal mit ihr los? Als sie keine Anstalten machte, etwas zu sagen, fuhr ich fort. »Wie gebannt starrte ich auf das Wappen, bis plötzlich Schritte hinter mir erklangen. Ich drehte mich eilig um, bereit, meine Anwesenheit irgendwie zu erklären, falls ich da gar nicht sein durfte. Doch der, der gerade auf mich zuging, war ... mir nicht unbekannt.«
Ich sah es so deutlich vor mir, als stünde ich erneut dort. Als wäre es Realität, statt Traum. Es hatte sich auch überhaupt nicht so angefühlt. Im Kamin brannte ein Feuer, dessen Wärme mir entgegenschlug. Doch, kurz bevor ich die Schritte hörte, wurde mir eiskalt und die Atmosphäre erschien mir irgendwie erdrückend. Es war dasselbe Gefühl, wie in der Schule! Erneut begann mein ganzer Körper zu beben. Die Person kam langsam immer näher.
»Hallo, Cara«, begrüßte mich eine tiefe Stimme. Ich drehte mich um und wusste nicht, ob ich überrascht sein sollte, Herrn Acario vor mir zu sehen. Er wirkte kein Bisschen verwundert und lächelte. »Wie schön, Sie zu sehen. So ... schnell habe ich gar nicht mit gerechnet. Obwohl ... Sie sind ja noch nicht geschult darin abzublocken, wie alle anderen das ständig machen. Ich rate Ihnen, nehmen Sie sich die nicht als Vorbilder. Mit der Zeit wird es sehr lästig und man muss die Bürde auf sich nehmen, persönlich mit denen zu reden. Das ist noch ätzender – für beide Parteien!« Er schüttelte den Kopf.
»Was machen Sie hier?«, fragte ich und wandte den Blick ab. Seine pechschwarzen Augen sahen mich so durchdringend an, als wollten sie mir in die Seele schauen. Es war kaum zu ertragen. Die Kälte breitete sich in meiner Brust aus, bis in die Zehen- und Fingerspitzen. Als würde Eiswasser statt Blut durch meine Adern fließen!
»Ich wollte jemanden sehen. Sie, um genau zu sein«, antwortete er. Ich zuckte leicht zusammen.
»M-mich? W-wieso?« Sein Lächeln war umwerfend und dennoch erfasste mich der Wunsch, so schnell wie möglich zu fliehen. Ich fühlte mich in seiner Gegenwart überhaupt nicht wohl und das war mir unbegreiflich. Vielleicht weil er ein Fach unterrichtete, das ich verabscheute. Hoffentlich war er nicht hier, um michVokabeln abzufragen!
»Es tat mir so leid, dass Sie während meines Unterrichts zusammengebrochen sind. Dass ich nicht bemerkte, wie schlecht es Ihnen die ganze Zeit gegangen sein muss. Ich machte mir Gedanken, wie es Ihnen jetzt wohl gehen mag, da beschloss ich einfach, Sie zu besuchen.« Er sagte das so locker, als wäre es ganz normal seine Schüler in ihren Träumen zu besuchen.
»W-wieso ausgerechnet hier? Wo sind wir überhaupt?«
»In einer Eliteschule«, erwiderte Herr Acario mit leicht gereizter Stimme. Er schien diesen Ort nicht sehr zu mögen. Er musterte die Halle mit einem abfälligen Blick.
»Eine ... Schule?«
Nie im Leben hätte ich dieses prächtige Schloss für eine Schule gehalten!
»Ja, eine für ganz besondere Jugendliche. Hier kommen allein die hin, die über spezielle Talente verfügen.«
»Unterrichten Sie etwa auch hier?«
»Nein! Ich betrete diesen Misthaufen nur, wenn es absolut unvermeidlich ist. Ich habe ja leider nicht immer Einfluss auf den Treffpunkt.«
»Wie meinen Sie das?« Ich war verwirrt. Wie konnte er einen so schönen Ort als Misthaufen bezeichnen? Ob er diese Gebäude allgemein nicht mochte, weil sie ziemlich protzig wirkten? Oder lag es an seinen Bewohnern? Er verdrehte die dunklen Augen.
»Diesen Ort hätte ich niemals für unser erstes Treffen ausgewählt. Hier fühle ich mich absolut unwohl. Sie waren es, die diese Halle zu unserem Treffpunkt machte, meine liebe Cara.«
Ich runzelte die Stirn.
»Was? Wie ... Wie sollte ich denn ..?«
»Wahrscheinlich Ihr Unterbewusstsein. Hier fühlen sich alle sicherer als da draußen. Oder einer dieser zwei Witzfiguren hat Sie darauf gebracht. Es kann so viele Gründe geben. Aber die sind zweitrangig. Hauptsache, wir sind beide jetzt hier.«