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EINE MISSION. EIN AUFTRAG. EIN ZIEL: STILLE. Ein Serienkiller verbreitet Angst und Schrecken: Die Tatorte sind makaber inszeniert, die Opfer grausam gefoltert – scheinbar zufällig ausgewählt. Doch hinter dem Wahnsinn steckt ein kalt kalkulierender Plan. Die Kriminalbeamten Thomas und Karl stehen vor einem Albtraum, der jede Logik sprengt. Als plötzlich ein Kind verschwindet und in das perfide Spiel hineingezogen wird, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – gegen einen Täter, der ihnen immer einen Schritt voraus zu sein scheint. Was, wenn alles, woran du glaubst – Gerechtigkeit, Schuld, Erlösung – eine Lüge ist? Was, wenn das Opfer nicht so unschuldig war? Ein Thriller, der unter die Haut geht – abgründig, vielschichtig und mit einer verstörenden Wahrheit: Die Grenze zwischen Gut und Böse ist oft nur eine Frage der Perspektive.
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Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kristin Richter
Seelenfieber
Thomas und Karl ermitteln – Band 1
Kristin Richter
Seelenfieber
Du stirbst für deine Taten
Thriller
Texte: © 2025 Copyright by Kristin Richter
Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by Kristin Richter
Verlag:
Kristin Richter
Christgrün 5b
08543 Pöhl
Herstellung: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
1
15 Jahre zuvor
Sie schrie auf und schlug sich die Hände vor den Mund. Sie bettelte unter Tränen, er solle um Himmels Willen aufhören. Sie würde auch alles tun, damit sie wieder sein liebes Mädchen war. Egal was, aber er sollte endlich aufhören ihren kleinen Fips zu treten. Fips jaulte und versuchte den auf ihn niederprasselnden Tritten zu entkommen. Doch er wurde immer wieder getroffen und zu Boden geworfen.
„Hör auf!“, schrie sie voller Verzweiflung. Ihre Stimme überschlug sich.
Doch er lachte nur und spukte auf ihren kleinen Welpen.
„Putz das Bad, du kleine Missgeburt. Wenn ich nur einen Fleck finde, dann kannst du die kleine Töle im Garten begraben.“ Ein Speichelfaden lief ihm am Kinn entlang und tropfte langsam auf sein vor Dreck stehendes T-Shirt. Er unterstrich seine Drohung mit einem weiteren Tritt. Fips heulte erneut auf und sie konnte seine vor Panik geweiteten Augen sehen. Dann drehte ihr Vater sich um und schleppte sich in Richtung Küche. Wahrscheinlich holte er sich ein weiteres Bier. Fips hatte sich unter den Tisch geflüchtet. Er winselte immer noch vor Angst und wahrscheinlich auch vor Schmerzen. Schluchzend kroch sie zu ihm und nahm ihn vorsichtig in den Arm. Der kleine Welpe zuckte zusammen, drückte sich aber dennoch an sie und leckte ihr die Hand ab.
Sie hatte Fips vor 4 Monaten bekommen. Er war ein kleiner beiger Labrador mit einem dunklen Fleck auf der Stirn. Als ihre Mama plötzlich gestorben war, hatte ihr Vater ihr diesen kleinen Hund geschenkt, damit sie nicht mehr so traurig war. Sie hatte Tiere schon immer geliebt und sich, kaum konnte sie sprechen, einen Hund gewünscht. Ihre Mama war immer dagegen gewesen, weil es so viel Verantwortung war und sie nicht glaubte, dass sie die schon übernehmen konnte. Damals war ihr Vater noch so liebevoll. Sie hatte sich trotz der tiefen Trauer so gefreut und Fips war ihr sehr ans Herz gewachsen und hatte die Leere in ihrem Inneren wieder füllen können. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Beide schliefen jeden Abend aneinander gekuschelt zusammen ein. In letzter Zeit nahm sie ihn sogar heimlich mit in die Schule, weil sie Angst davor hatte, was mit ihm geschehen würde, wenn sie ihn nicht beschützen konnte. Ihre Lehrer hatten es natürlich bemerkt, zogen aber die falschen Schlüsse und ließen es zu, da sie wussten, dass sie erst vor kurzem ihre Mutter verloren hatte. Doch sie kannten nicht den wahren Grund, warum sie Fips nicht zuhause ließ und sie hatte nicht den Mut sich jemanden anzuvertrauen.
Vor etwa einem Monat hatte der Alptraum begonnen. Ihr Vater verlor seine Arbeit. Warum genau wusste sie nicht, er hatte nie darüber gesprochen. Doch was sie mit ihren 11 Jahren wusste, war, dass ihr Vater viel zu viel Bier trank. Er stank danach und sie umarmte ihn nicht mehr so gerne wie früher. Anfangs war er ruhiger und in sich gekehrter geworden. Er saß nur noch vorm Fernseher und manchmal weinte er auch heimlich. Doch sie sah es in seinen glasigen Augen, dass er immer noch um Mama trauerte. Aber dann kam der Schnaps dazu und seine Wut auf alles und jeden stieg.
Er begann sein kleines Mädchen anzuschreien und sie bekam Angst vor ihrem Vater. Er war kaum noch er selbst, schrie und tobte fast jeden Abend. Er lallte schon am Vormittag und torkelte durch die Wohnung, manchmal brüllte er sogar den Tisch oder die Kommode an, weil er sich daran gestoßen hatte. Einmal warf er sogar den Küchenstuhl so sehr gegen die Wand, dass er zerbrach. Und obwohl er mit der Zeit immer aggressiver wurde, schlug er sie bis zum Schluss nie. Jedoch begann er ihre kleine Seele noch viel grausamer zu misshandeln. Er quälte Fips. Vor ihren Augen. Sie hätte jeden Schlag lieber selbst eingesteckt, aber das, was er tat, ertrug sie nicht. Oft hatte sie gar nichts falsch gemacht, doch er fand immer einen Grund, wenn er wieder einmal betrunken war, was inzwischen täglich der Fall war. Der Müll war nicht rausgebracht, die Gardine war nicht ordentlich genug, ein Bild hing aus seiner Sicht schief oder sie hatte sich erdreistet in ihrem Zimmer zu lachen. Doch manchmal gab es auch einfach gar keinen Grund.
Ein leises Winseln von Fips holte sie aus ihren Erinnerungen in die Gegenwart zurück. Sie ging mit Fips im Arm ins Bad und legte ihn vorsichtig in sein Körbchen. Sie hatte so große Angst um ihn. Immer noch liefen ihr Tränen über ihr Gesicht, doch sie traute sich nicht zu schluchzen. Heute war es besonders schlimm. Heute war sie sich sicher gewesen, dass er Fips umbringt.
Sie küsste ihn sanft auf seine zitternde Stirn und flüsterte ihm liebe Worte zu.
Als sie zu putzen begann, hörte sie ihren Vater auf der Couch schnarchen. Eine Mischung aus Angst, Verzweiflung und die ersten Keime von Hass flammten in ihr auf. Niemand durfte Fips weh tun. Niemand!
2
Gegenwart
Der Kaffee schmeckte bitter und war viel zu heiß. Thomas Rieger stellte den Becher auf die Mauer, an der er grade vorbeilief. Er wischte sich mit der Hand durchs Gesicht und fuhr durch seine nach hinten gekämmten braunen Haare. Ein kurzer Blick in die spiegelnde Autoscheibe zeigte ihm einen nicht ganz ausgeschlafenen Mann in der Mitte der dreißiger, mit Dreitagebart und einem charmanten Lächeln. So miserabel war er schon lange nicht mehr in den Tag gestartet. Sein Wecker hatte ihn im Stich gelassen, weshalb er erst durch einen Anruf unsanft geweckt wurde. Später war beim Bäcker seines Vertrauens die Kaffeemaschine kaputt, weswegen er sich jetzt diese Plörre aus der Tankstelle reinschütten musste. Und als wäre das Alles nicht genug, konnte sein Kollege Karl Brügger den Dienst heute erst ab Mittag antreten, sodass er jetzt allein zu diesem Tatort fahren durfte. Thomas hoffte, dass der Tag nicht so weiter gehen würde.
Als er sein Ziel erreichte, duckte er sich unter dem gelben Polizei-Absperrband hindurch. Zahlreiche Passanten standen vor die Absperrung, glotzten und debattierten, was hier passiert sein mochte. Die Menge raunte und schimpfte leise, als sich Thomas scheinbar ungeniert durchdrängelte und die Seite der Absperrung betrat, die für die Umstehenden unerreichbar war.
„Guten Morgen Kommissar Rieger.“, wurde er von einer jungen blonden Frau begrüßt, die ihm die Hand entgegen streckte.
„Guten Morgen.“, begrüßte Thomas die junge Polizistin mit einem festen Händedruck. Er musste kurz überlegen, wie sie hieß. Sie trafen sich seit etwa 2 Jahren hin und wieder an den unterschiedlichsten Tatorten. Thomas konnte sich die Namen zu Gesichtern ganz schlecht merken. Er hatte das Talent, Namen in dem Moment wieder zu vergessen, in dem sich sein Gegenüber bei ihm vorstellte. Doch dann fiel es ihm wieder ein, Sindy Demmler.
„Wissen Sie schon näheres zum Tatgeschehen?“, fragte er neugierig.
Sindy schüttelte mit dem Kopf.
„Leider nein. Der Tatort ist sehr… nennen wir es grotesk. Aber machen Sie sich doch selbst ein Bild.“
Sie machte eine einladende Handbewegung Richtung Hauseingang.
„Der Tote heißt Roland Henning. Er lebte allein hier, soweit wir wissen, ist er geschieden und hatte keine Kinder. Sein Arbeitgeber, ein Bus-Unternehmen, hat uns informiert, als er nach dem Urlaub nicht an seinem Arbeitsplatz erschienen ist und weder auf Anrufe noch auf das Klingeln seiner Kollegen an der Haustür reagierte.“
Während Sindy Demmler kurz die bisherigen Ergebnisse zusammenfasste, gingen sie durch die Eingangstür, gefolgt von einem schmucklosen Eingangsbereich, direkt in den Keller des Einfamilienhauses. Ein beißender, süßlicher Geruch schlug Thomas entgegen. Sogleich begann sein Magen zu verkrampfen und er war froh, dass er heute früh keine Zeit gehabt hatte zu frühstücken. Er kannte den Geruch von Tod und Verwesung, doch sein Magen begann jedes Mal zu rebellieren.
„Wissen wir, wie er ums Leben gekommen ist?“, fragte Thomas, während er sein Taschentuch aus der Jackentasche fingerte, um es sich vor Mund und Nase zu halten. Mit der anderen Hand holte er aus seiner Jackeninnentasche ein kleines Fläschen Minzöl und beträufelte das Taschentuch damit. Im Laufe seiner Dienstjahre, hatte er sich dies zur Angewohnheit gemacht, um den Tatortgeruch besser auszuhalten.
Sindy hatte bereits Luft geholt, um zu antworten, doch Thomas brachte sie mit einer Geste zum Verstummen, da sie die letzten Stufen der Treppe erreicht hatten und damit am Tatort angekommen waren.
Thomas blieb stehen, und ließ seinen Blick durch den Keller schweifen. Die Beschreibung „grotesk“, die seine Kollegin genutzt hatte, traf die hier vorgefundene Situation nicht einmal annähernd. Die Szene schien einem schlechten Horrorfilm entnommen worden zu sein.
Etwa in der Mitte des Raumes war ein Ring an der Decke befestigt, an dem eine schwere Eisenkette hing. Am Ende der Kette lag der Tote, vermutlich Roland Henning. Die Kette war mit einer Art Metallhalsband an seinem Hals befestigt. An den Wänden des Kellers standen Töpfe, Teller, Flaschen und Gläser. Der Inhalt der Gefäße war schimmlig und verdorben. Es war teilweise kaum noch zu erkennen, was der Inhalt einmal gewesen war. Thomas glaubte Kartoffeln und Gemüse zu erkennen, war sich aufgrund der Konsistenz und des grünen fellartigen Schimmelüberzugs nicht sicher. Die verdorbenen Lebensmittel trugen noch zusätzlich zum scheußlichen Geruch in diesem Raum bei.
Thomas trat näher und betrachtete die Leiche eingehender. Der Tote war von massiger Gestalt und lag auf dem Bauch, seine Haut war bereits verfärbt und sein Gesicht nicht erkennbar, da seine Gesichtszüge bis zur Unkenntlichkeit von Schwellungen und Wunden entstellt waren. Das Metallhalsband hatte braune Spuren am Hals hinterlassen. Sein linker Arm war ausgestreckt, als wollte er die Gefäße an den Wänden erreichen. Außerdem lagen überall Steine auf dem Boden verteilt, teilweise konnte man eingetrocknetes Blut an ihnen erkennen. Er blickte erneut zur Kette und folgte ihr mit seinem Blick langsam bis zur Decke. Im letzten Drittel erkannte er ein grünes Kabel, welches um die Kette gewickelt war. Das Kabel verlief über die Decke, bis hin zur Wand und führte zu einem kleinen Schalter an der Treppe.
„Was genau passiert ist, können wir noch nicht sagen.“, riss Sindys Stimme Thomas aus seinen Gedanken. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie neben ihn getreten war. Er war voll und ganz auf das vor ihm liegende Szenario konzentriert.
„Wir vermuten allerdings, dass Roland Henning überfallen und hier unten angekettet wurde. Ich kann nur vermuten was hier passiert ist, aber nach aktueller Sachlage war die Länge der Kette so bemessen, dass er die Speisen und Getränke beinah hätte erreichen können, eine Bestrafung ähnlich der des Tantalos aus der griechischen Mythologie. Die Steine, die Sie hier liegen sehen, dienten anscheinend als Wurfgeschosse. Dazu würde auch sein entstelltes Gesicht passen. Außerdem kann man über dem Schalter an der Treppe Strom in die Kette leiten.“ Sindy deutete mit der Hand zur Kellertreppe und mit einer ausholenden Armbewegung den Verlauf des Stromkabels an, bevor sie mit ihren Ausführungen fortfuhr.
„Der Täter hat sich wahrscheinlich an der Kellertreppe aufgehalten, hier seinen Beobachtungsposten bezogen, mit Steinen geworfen und dem Opfer Stromschläge verpasst. An der Treppe liegen weitere Steine auf einem Haufen.“
„Klingt nach keinem schönen Tod.“, warf Thomas ein.
„Davon können wir ausgehen. Wahrscheinlich hat der Täter über Stunden, wenn nicht sogar Tage sein Opfer gequält.“, erörterte Sindy.
Die Spurensicherung war emsig bei der Arbeit. Sie fotografierte und vermaß alles akribisch. Thomas beneidete die Männer und Frauen nicht. Der Geruch hier unten wurde immer unerträglicher. Aus ihrer Mitte erhob sich ein älterer Mann mit Halbglatze und ging lächelnd auf den Kommissar zu.
„Thomas, schön, dass du da bist.“
„Hallo Mike. Was hast du für mich?“ Thomas nickte dem Gerichtsmediziner Prof. Dr. Dr. Michael Kobold, den aber alle nur Mike nannten, zu.
„Wir müssen erst die Obduktion abwarten. Was ich dir bis jetzt sagen kann, ist das der Tote über einen längeren Zeitraum an Nahrungs- und Wasserentzug litt. Das war aber nicht die Todesursache. Zusätzlich wurden ihm Steine vor allem ins Gesicht und an den Kopf geworfen. Daraus sind sehr schmerzhafte Verletzungen entstanden, Todesursächlich war allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Stromschlag über die Kette an seinem Hals. Man kann die Brandmale noch erkennen. Der Täter hat verdammt viel Aufwand betrieben, um dieses Szenario herzustellen. Irgendjemand muss das Opfer sehr gehasst haben. Und jetzt frag mich bitte nicht nach dem Todeszeitpunkt. Genauer als ´vor etwa einer Woche´ kann ich‘s dir nicht sagen.“
Thomas nickte und zwang sich zu einem dankenden Lächeln. Nicht jeder Gerichtsmediziner gab in dieser Phase der Ermittlungen schon so viel Auskunft. Die meisten hielten sich bedeckt, bis die Obduktion vorbei war. Mike war da anders. Er teilte seine Gedanken schon frühzeitig mit den Ermittlern.
Thomas wunderte sich immer wieder, wie Mike diesen beißenden Geruch so lange aushielt. Er atmete bereits jetzt nur so viel wie nötig und kämpfte damit, den Inhalt seines Magens bei sich zu behalten. Dabei war er erst wenige Minuten in diesem Keller. Ob man diesen Gestank jemals wieder hier herausbringen würde?
„Danke Mike. Meldest du dich, wenn du mehr hast?“
„Klar, wie immer.“ Mike drehte sich um und gab einigen Kollegen der Spurensicherung Anweisungen.
Thomas verließ den Keller, Sindy folgte ihm mit schnellen Schritten, scheinbar ebenfalls froh, den Keller endlich wieder verlassen zu dürfen. Thomas war aufgefallen, dass sie mit jeder Minute etwas blasser geworden war. Es beruhigte ihn, dass der Geruch nicht nur ihm zusetzte.
„Wer hat den Toten gefunden?“, fragte Thomas, als sie den Hauseingang erreicht hatten. Er sog die frische Luft tief in seine Lungen und genoss es, wieder frei atmen zu können.
„Ein Streifenpolizist. Durch die Vermisstenmeldung wurde seine Wohnung geöffnet. Der beißende Geruch hat den jungen Kollegen schnell hier herunter geführt. Der Arme ist nervlich ziemlich fertig. Ich glaube das war sein erster Toter dieser Art.“ Die Stimme der Polizistin klang etwas schadenfroh.
„Gibt es Angehörige?“, wollte Thomas wissen.
„Nur eine geschiedene Ehefrau. Laut seinen Arbeitskollegen haben die aber seit Jahren keinen Kontakt mehr. Die Kollegen sind aber trotzdem an ihr dran, um sie zu befragen.“
Thomas nickte nachdenklich und lächelte sie dankend an. Dann wurde er aber schnell wieder ernst.
„Warum tut man jemanden sowas an?“ Thomas kratze sich an seinem Dreitagebart.
„Ich habe keine Ahnung. Sein Arbeitgeber meint, er wäre ein sehr beliebter Kollege. Um so einen grausamen Mord zum Opfer zu fallen, muss man jemanden schon sehr auf den Schlips getreten sein.“
„Oder zur falschen Zeit einfach am falschen Ort gewesen sein.“, überlegte Thomas nachdenklich. Roland Henning wäre nicht das erste Zufallsopfer. Doch hätte ein Täter, der ein willkürliches Opfer auswählt, sich so einen Aufwand für die Inszenierung im Haus des Opfers gemacht?
3
Gegenwart
Es war Abend geworden. Thomas kam endlich zurück in sein Büro, nahm sich einen Kaffee aus dem Automaten und setzte sich geschafft in seinen Bürosessel. Er schloss die Augen und genoss den Duft des Kaffees. Er sog den Geruch tief ein und verlor sich kurz in seiner eigenen Gedankenwelt. Er ließ den heutigen Tatort noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen. Das Bild des Toten auf dem Boden, die Metallkette, welche von der Decke hing, die Steine, die den Boden bedeckten und die gammelnden Lebensmittel am Rand des Kellerraumes. Er versuchte sich vorzustellen, wie es aussah als Roland Henning in seinem Keller erwachte. Was er wohl gefühlt hat? Wusste er, warum er in dieser Lage war? Und die Frage, die immer mehr Raum einnahm: Welches Motiv trieb den Mörder zu so einer Tat?
Er hatte sich noch den Garten angeschaut und sich einen Eindruck vom Haus gemacht. Der Garten war gepflegt, es gab einen Geräteschuppen und einen kleinen Pool. Auf der Terrasse standen abgedeckte Gartenmöbel. Im Schlafzimmer fand Thomas gepackte Koffer. Anscheinend war das Opfer gerade auf dem Weg in den Urlaub gewesen. Der Inhalt des Koffers verriet ihm, dass es ins Warme gehen sollte. Wohin er genau fahren wollte, hatten sie noch nicht herausgefunden.
Die Befragung der Nachbarn gestaltete sich schwierig. Die direkt angrenzenden Nachbarn waren selbst im Urlaub und die die zu Hause waren, wussten nicht viel über Roland Henning, außer dass er da wohnte. Traurig wie wenig sich die Nachbarn doch füreinander interessierten. Wie viele Verbrechen könnten verhindert werden, wenn sich die Menschen nur wieder mehr umeinander und weniger um sich selbst kümmern würden. Sollte der Täter aus dem näheren Umfeld kommen? Ein Nachbar, dem keiner so eine Tat zutraute? Was wenn, … .
Ein Klopfen riss Thomas aus seinen Gedanken.
Kommissar Karl Brügger betrat sein Büro. Thomas begrüßte ihn mit einem Lächeln und nickte ihm zu, während er auf den Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches deutete.
„Komm rein Karl. Was konntest du herausfinden?“ Sein Kollege und langjähriger Partner war gegen Mittag zu ihm gestoßen und hatte den Tatort ebenfalls angeschaut. Die Leiche war zu diesem Zeitpunkt bereits abtransportiert worden. Das hatte dem Keller aber nichts von seinem bizarren Ambiente genommen.
„Ich habe mit der Ex-Ehefrau des Opfers gesprochen.“ Begann Karl, während er zum Stuhl ging und sich setzte, „Angelika Braun, sehr nette Frau. Sie wohnt in München. Sie ist vor 6 Jahren, direkt nach der Scheidung aus Chemnitz weggezogen und hat dort unten einen neuen Partner gefunden, den sie auch heiratete. Sie hat, wie bereits vermutet, keinen Kontakt mehr zu Roland Henning.“ Karl reichte Thomas die schriftliche Aussage über den Schreibtisch. „Sie war schockiert, als sie vom Tod ihres Exmannes gehört hat. Konnte sich aber auch nicht vorstellen, wer dies getan haben sollte. Sie beschrieb ihn als sehr jähzornig, aber dennoch liebenswert. Allerdings betonte sie auch, dass sie nicht wusste, was in den letzten Jahren im Leben ihres Ex-Mannes passiert sei.“
Thomas blickte zu Karl und überlegte.
„Sobald wir genaueres zum Todeszeitpunkt haben, befrage sie bitte noch mal, wo sie sich in dem Zeitraum aufgehalten hat. Mein Gefühl sagt mir, dass sie nichts damit zu tun hat. Aber sicher ist sicher.“
Karl nickte und lehnte sich zurück. Auch er sah müde aus.
„Gehen wir heim, heute können wir eh nichts mehr tun. Irgendwas sagt mir, dass wir die nächsten Tage nicht viel Ruhe bekommen.“ Thomas trank seinen letzten Schluck Kaffee aus und stand auf.
4
zwei Wochen zuvor
Sein Schädel brummte als er aufwachte. Er konnte den metallenen Geschmack von Blut auf der Zunge schmecken. Der Boden, auf dem er lag, war kalt und rau. Er stöhnte und versuchte sich aufzurichten. Es gelang ihm sogar, trotz der schweren Kette um seinen Hals, deren Gewicht versuchte ihn wieder nach unten zu ziehen. Er fasste sich vorsichtig an den Hinterkopf und ertastete eine große schmerzende Beule.
Was war passiert? Wo war er und wer hatte ihn niedergeschlagen? Er versuchte sich krampfhaft an die letzten Stunden zu erinnern, doch in seinem Kopf herrschte ein dicker Nebel.
Er fasste sich an den Hals und zuckte zurück. Er konnte etwas Metallenes spüren. Vorsichtig betastete er das eiserne Halsband. Sei Herz begann schneller zu schlagen. Die Panik stieg in ihm auf und er versuchte sich das Ding vom Hals zu reisen. Vergeblich. Ein Schloss hielt die Vorrichtung an Ort und Stelle. Ohne Werkzeuge würde er nichts ausrichten können. Wer hatte ihm dieses Ding um den Hals gelegt?
Er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, schüttelte mehrmals seinen Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Mit einer Hand schlug er sich selbst ins Gesicht. In der Hoffnung, dass er aus diesem Alptraum erwachen würde. Er versuchte sich des metallenen Ringes um seinen Hals erneut zu entledigen, zog und zerrte daran. Fast wahnsinnig vor Panik gab er es wieder auf. Seine Kopfschmerzen wurden durch seine Befreiungsversuche nur noch unerträglicher.
Derjenige, der ihn hierhergebracht hatte, wollte mit ihm bestimmt nicht nur nett plaudern. Das musste irgendein kranker Psycho gewesen sein, so einer wie aus den Filmen, die er sich allzu gerne abends anschaute.
Er versuchte sich zu beruhigen und atmete tief ein und aus. Es gelang ihm sogar, sein Atem wurde etwas ruhiger, sein Herz hämmerte nicht mehr ganz so schmerzhaft in seiner Brust und das Rauschen in seinen Ohren nahm ab. Um ihn herum war es stockfinster. Er konnte nichts erkennen. Es mussten Minuten vergangen sein, bis er wieder halbwegs klar denken konnte, als er plötzlich die Luft hörbar durch die Nase einsog… es duftete, nach Hähnchen, nach frischem Kuchen und nach allerlei anderen Leckereien, die er aber in seiner immer noch vorhandenen Panik nicht einordnen konnte. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, als er auf einmal ein Atmen hörte. Sein Kopf fuhr herum. In der Dunkelheit war jemand. Sein Peiniger? Er versuchte das Atmen zu orten und ihm eine Richtung zu geben, doch es gelang ihm nicht. Seine Sinne waren immer noch von den wahnsinnigen Schmerzen im Kopf getrübt.
Dann ging das Licht an. Seine Augen taten weh und er hielt sie sich im ersten Moment mit beiden Händen zu. Langsam blinzelnd gewöhnten sich seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse und er erkannte, wo er war. In seinem eigenen Keller. Etwas umgestaltet, aber es war definitiv sein Keller. Von der Decke hing eine Kette, die an seinem Hals befestigt war. An den Wänden auf dem Betonboden standen Flaschen, Schüsseln, Teller und Töpfe, die mit Essen und Flüssigkeiten gefüllt waren. Ein goldbraun gebackenes Hähnchen, daneben Kartoffeln, Rotkraut, Kroketten, Erbsen und Möhren standen an der Wand vor ihm. Zu seiner linken entdeckte er einen Sauerbraten und Bratwurst. Es stand eine Schüssel mit Sauerkraut und eine mit Klößen nicht weit davon entfernt. Er konnte Rotwein und Säfte entdecken. Wenn er es recht erkannte, stand sogar eine Kanne Kaffee bereit und verströmte einen belebenden Duft. Zu seiner Rechten standen Kuchen und Torten. Apfelstrudel, Schwarzwälder-Kirsch sowie Schokokuchen. Die meisten Speisen dampften noch ganz leicht und lockten mit einem köstlichen Geruch. Seine Nase hatte ihn also nicht getäuscht.
Als er sich umdrehte und Richtung Kellertreppe schaute, erkannte er einen Schatten. Dort saß jemand und beobachtete ihn. Roland erstarrte.
„Wer bist du?“, fragte Roland. Seine Stimme klang brüchig und gleichzeitig panisch.
Er bekam keine Antwort.
„Wer bist du und was willst du?“, er versuchte seiner Stimme mehr Festigkeit zu geben. Doch sie schien sich im Gegenteil zu überschlagen.
„Magst du nicht zugreifen? Ich habe lecker gekocht?“, entgegnete die fremde Person an der Treppe. Die Stimme klang fast etwas patzig, als wenn er das Essen verschmähen wollte.
„Wie …?“ Roland war verwirrt. Seine Kehle brannte seitdem er aufgewacht war und er hätte viel gegeben, etwas aus den unzähligen bereitgestellten Flaschen zu trinken auch um den schlechten Geschmack in seinem Mund herunterzuspülen. Sein Magen knurrte auffordernd. Erst jetzt bemerkte er, was er für einen Hunger hatte. Wie lange war er schon hier unten? Doch er saß wie versteinert da, unfähig auch nur einen weiteren Ton von sich zu geben.
„Nicht? Schade. Ich komme später wieder. Vielleicht hast du es dir dann anders überlegt.“ Mit diesen Worten stand die fremde Gestalt auf und ging langsam die Stufen der Kellertreppe hinauf. Dann drehte sie sich nochmal um. „Ich komme in ein paar Tagen wieder.“ Er glaubte ein
Lächeln in den Worten zu hören.
Es dauerte einen langen Moment, bis Roland seine Fassung wiederfand und er aus seiner Starre erwachte. Als er endlich etwas erwidern konnte, war keiner mehr da.
Er starrte mit offenem Mund fassungslos auf die leere, im Schatten liegende Kellertreppe. Als er seine Lähmung endlich auch körperlich überwunden hatte, stand er auf und blickte sich um. Sollte er wirklich etwas davon essen oder trinken? Was, wenn es vergiftet war? Aber wenigstens einen Schluck Wasser. Was hatte er schon zu verlieren? Seine Kehle war völlig ausgetrocknet und schmerzte bereits und er brauchte doch nur einen Schluck, einen winzigen Schluck. Er bewegte sich auf die Wand zu, an der eine Flasche Mineralwasser stand. Abrupt blieb er stehen, das Metall um seinen Hals klimperte. Die Kette hatte ihn gestoppt. Er streckte seine Arme aus, doch er kam nicht einmal in die Nähe der Flasche, um seine Begierde nach Flüssigkeit stillen zu können. Er drehte sich um, unterdrückte eine erneute Panikattacke und versuchte die andere Wand zu erreichen. Doch das Ergebnis war dasselbe. Und plötzlich begriff er. Er sollte gar nicht an die Speisen kommen, er sollte das Wasser gar nicht erreichen können. Sein Entführer wollte ihn inmitten dieser Köstlichkeiten verhungern lassen.
Roland begann wütend zu werden. Er riss an der Kette um seinen Hals, versuchte die Teller mit seinen Füßen zu erreichen, rannte gegen die Kette, zerrte und zog mit aller Kraft. Doch es war sinnlos, die Kette hätte einem Elefanten Stand gehalten. Die Öse an der Decke hatte er selbst dort angebracht, noch während sein Haus gebaut wurde. Wenn nicht zufällig die Decke über ihm zusammenstürzen würde, war der Haken fest verankert. Er sank auf die Knie, seine Hände vors Gesicht gepresst. Er würde hier qualvoll verhungern und verdursten. Er schrie seine Verzweiflung in den leeren Keller heraus. Aber ihn würde keiner hören.
Er weinte und tobte noch lange so weiter. Er fragte sich immer wieder nach dem „Warum“, fand aber einfach keine Antwort.
Er hatte jegliches Zeitgefühl hier unten verloren und irgendwann, es hätten Minuten oder Stunden seit seinem Aufwachen vergangen sein können, rollte er sich auf dem Boden zusammen. Er umfasste seine angezogenen Beine mit den Armen und schlief auf dem kalten Beton, wimmernd und schluchzend, ein.
Vor der Kellertüre stand eine in schwarz gekleidet Gestalt und lächelte, wissend, dass dies der richtige Weg war Roland Henning die Augen zu öffnen und all den anderen, die noch folgen sollten.
5
Gegenwart
Als Thomas seine Haustüre aufschloss, war es bereits 23 Uhr geworden. Er schloss die Türe hinter sich, hing seine Jacke an die Garderobe und legte seinen Schlüssel in die kleine Schale auf der Kommode neben der Tür. Er betrat sein Wohnzimmer, auf dem kleinen Tisch rechts neben ihn, blinkte auffordernd der Anrufbeantworter. Wie schon oft fragte er sich, warum die Menschen, die etwas von ihm wollten, ihn nicht einfach auf seinem Handy anriefen.
Er drückte auf die Wiedergabetaste und lauschte erst der Ansage, er habe eine neue Nachricht, dann wurde sie abgespielt.
„Hallo Papa. Ich wollte nur fragen, wann du mich am Samstag abholen kommst. Mama meinte ich solle dich nicht auf Arbeit stören, deshalb spreche ich es dir jetzt auf Band. Papa, ich freu mich schon ganz doll auf unser Wochenende. Gehen wir in den Zoo? Oder ins Schwimmbad? Melde dich bitte Papa, hab dich lieb.“