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Als Kommissar Steve Fabian diesen Fall übernimmt, ahnt er nicht, dass es ihn in eine Welt führt, in der Raum und Zeit keine Rolle mehr spielen. Zwischen Traum und Realität gibt es Anderswelten - zwischen Vision und Wirklichkeit andere Wahrheiten. Die spirituelle Reise führt ihn zu sich selbst - und vielleicht geht es dabei auch um dich.
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Seitenzahl: 226
Veröffentlichungsjahr: 2016
Angelika Bull
Wenn du deinen Weg verloren hast,
versuche ihn wiederzufinden
oder suche dir einen neuen,
aber bleib niemals stehen.
© 2016 Angelika Bull
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
ISBN 978-3-7345-6632-5
Hardcover
ISBN 978-3-7345-6633-2
e-Book
ISBN 978-3-7345-6634-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Die Fragen aller Fragen
Du blickst zurück, du siehst ein Kind
und schaust es fragend an.
Weißt du nicht, wer wir wirklich sind,
du bist noch so nah dran …
Deine Seele räuspert sich,
sie hat noch sehr viel vor.
Spürbar inspiriert sie dich;
das braucht kein offnes Ohr.
Lebe und erfahre dich,
die Wahrheit zeigt sich dir im Sein.
Gottes Fenster öffnet sich
und die Erinnrung holt dich ein.
von Heinz Stolley
aus dem Buch: Ein Wechselbad der Gefühle
ISBN 978-3-8495-9124-3
Kwie Kontrolle
Solange du Kontrolle über dich hast, solange du zu wissen glaubst, was Wirklichkeit und was Wahrheit ist, scheint deine Welt klar und verständlich zu sein.
Owie Ohnmacht
Wenn du die Kontrolle verlierst, sich Vision und Wirklichkeit vermischen, beginnst du zu ahnen, dass da noch mehr ist, als deine reale Welt. Vielleicht sind Visionen in Wahrheit andere Wirklichkeiten.
Mwie Macht
Du hast die Kraft Ohnmacht in Macht zu verwandeln - wenn du an dich selbst glaubst.
A wie Ausweg
Es gibt immer einen Weg. Entscheide dich und trage die Konsequenzen - bevor andere deinen Weg bestimmen.
20.Juli
Kommissar Steve Fabian sah sich in der kleinen Mansarde um. Der Raum wirkte durch das große Dachfenster sehr hell und freundlich.
Steve sah einen verspielt eingerichteten Raum und überall saßen kleine Figuren in Form eines Clowns oder Harlekins herum. Noch nie hatte er so viele verschiedene Clowns gesehen. Fröhliche Gesichter und traurige - die gesamte menschliche Mimik war hier auf kleinstem Raum vertreten. Die meisten Figuren hatten einen mit bunten Kostümen bekleideten Stoffkörper, wobei die Hände, Füße und Köpfe aus Porzellan gefertigt waren. Alle hatten sie fein gezeichnete Gesichtszüge und jede Puppe für sich war ein kleines Kunstwerk. Auch die Kissen auf dem Sofa hatten einen Clown als Motiv. Der Teppich war in einem dunklen Blau gehalten und die Wände dazu in zartblau abgestimmt. Die Möbel waren weiß lackiert und auch die Regale waren mit Clowns bestückt. Sie dienten zum Teil als Buchstützen, aber es lagen auch CDs dazwischen. Die Bewohnerin dieses Zimmers hatte ihre eigene Vorstellung von Ordnung.
Warum hatte sie versucht sich umzubringen? Steve sah sich die Fotos an, die an der Wand hingen. Alle zeigten Bühnenbilder aus Musicals und überall war dasselbe Mädchen zu sehen.
Das musste sie sein! Sie war eine hübsche junge Frau, nur ein paar Jahre jünger als Steve, sah aber mit ihren sechsundzwanzig Jahren aus wie zwanzig. Ihre Zimmerwirtin beschrieb sie als sehr begabt und als ein fröhliches Geschöpf - bis vor ein paar Monaten ihr Freund bei einem Unfall ums Leben kam. Steve betrachtete nachdenklich die Bilder. `Also ein Selbstmordversuch? Aus Kummer ? Aus einem Gefühl der Traurigkeit heraus? Wie tragisch!´ Steve schüttelte den Kopf während er überlegte. `Hoffentlich überlebt sie, damit sie mir ihre Geschichte erzählen kann.´
Er nahm ein kleines Foto von der Wand. „Lisa...ein schöner Name“, murmelte er vor sich hin.
„Er passt zu einem wunderbaren Mädchen“, erwiderte eine Stimme hinter ihm. Steve drehte sich um und sah die Vermieterin in der Tür stehen.
„Sie war ein so liebes Kind. Warum hat sie mit mir nicht über ihren Kummer gesprochen, vielleicht hätte ich ihr helfen können.“
Martha Stone nahm Steve das Foto aus der Hand, sah es traurig an und sagte: „Als ich sie heute hier im Zimmer fand... oh, es war so entsetzlich!“ Sie konnte nicht weitersprechen, ihr liefen die Tränen über das Gesicht und verlegen wischte sie sich mit den Fingern über die Wange.
Nach einer Weile fand sie ihre Fassung wieder und sagte zu Steve: „Ich habe eine Kanne Tee gemacht, bitte kommen Sie mit ins Wohnzimmer. Ich möchte Ihnen mehr über Lisa erzählen.“
Beide gingen eine Wendeltreppe hinunter und betraten ein geräumiges Zimmer mit einer lindgrünen Sitzecke vor einem großen Eckfenster, auf dessen Fensterbank viele blühende Blumen standen. Nachdem sie sich gesetzt und einen Schluck Tee getrunken hatten, nahm Frau Stone wieder das Foto in die Hand, welches sie zuvor auf einen kleinen Tisch gelegt hatte.
„Wissen Sie Herr Fabian, dass Lisa eine wunderschöne Stimme hat? Sie hat lange in einem Musical gesungen, zusammen mit ihrem Freund Tom. Auch Tom war ein wunderbarer Sänger und wenn beide zusammen auf der Bühne standen, hat man die raue, reale Welt außerhalb des Theaters einfach vergessen. Der Zuhörer wurde in eine Traumwelt entführt - zu flüchtig, um Bestand zu haben und zu schön, um wahr zu sein. Tom und Lisa waren ein ideales Paar, auf der Bühne und privat - für die Ewigkeit gedacht.“ Frau Stone seufzte, legte das Foto umgedreht auf den kleinen Tisch zurück und umklammerte ihre Tasse, als suche sie irgendwo Halt. Als das Telefon im Flur schrillte, zuckte sie erschrocken zusammen. Sie ging in den Flur und nahm den Hörer ab. Steve konnte nicht verstehen was sie sprach, und als sie zurückkam, sah er, dass sie wieder weinte.
Schluchzend sagte sie: „Es war das Krankenhaus. Lisa liegt im Koma, die Ärzte können nichts weiter tun als abzuwarten.“
Steve wusste nicht, wie er sie trösten könnte: „Es tut mir sehr leid. Sie stehen ihr wohl sehr nahe?“ „Ja, sie hat keine Familie mehr, sie ist wie eine Tochter für mich.“
Wieder saßen beide eine Weile schweigend da bis Steve fragte: „Ist Ihnen in den letzten Tagen etwas ungewöhnliches an Lisa aufgefallen?“ Frau Stone schüttelte den Kopf. „Nein, sie war so still wie immer seit Toms Tod. Manchmal habe ich versucht mit ihr darüber zu reden, doch sie sagte immer nur ´es gibt nichts darüber zu sagen´. Sie schien so gefasst zu sein. Gar nicht wie jemand der Selbstmord begehen würde. Ich verstehe das alles nicht.“
Steve fragte behutsam: „Vielleicht hat sie den Tod ihres Freundes nie verkraftet und spielte Ihnen etwas vor?“ Frau Stone widersprach energisch: „Lisa glaubte an ein Leben nach dem Tod. Sie hatte keine Vorstellung wie es sein würde, aber für sie war das so, als ginge man durch eine Tür, mehr nicht. Ihre Eltern sind früh gestorben und sie sagte einmal zu mir, dass sie sie wiedersehen würde eines Tages. Sie sagte mehrmals ´man bringt sich nicht um´. Ja, das sagte sie, so dachte sie eben. Deshalb passt ein Selbstmord nicht zu Lisas Einstellung. Es passt einfach nicht!“ „
Ich werde mich noch einmal in Lisas Zimmer umsehen, vielleicht finde ich etwas, was Licht in das Ganze bringt“, sagte Steve und stand auf. Er nahm das Foto vom Tisch und ging zurück in Lisas Zimmer.
Es fröstelte ihn ein wenig, als er den Raum betrat, umgeben von Lisas Gedanken und Emotionen - umgeben von dem Wunsch zu sterben? Steve sah auf das Thermometer neben der Tür, es zeigte vierundzwanzig Grad Celsius an, es konnte hier nicht kalt sein...und doch war es so. Vorhin war es ihm auch schon aufgefallen, aber er dachte es sei Einbildung.
„Es ist kalt in diesem Raum, seit Monaten ist es kalt hier. Genauer gesagt, seit Toms Tod.“
Frau Stone war Steve gefolgt und bemerkte seinen Blick zum Thermometer. Sie fuhr fort: „Warum war ich nur ausgerechnet heute morgen nicht im Haus? Wäre ich hier gewesen, hätte ich es vielleicht verhindern können oder ich hätte sie früher gefunden und sie läge vielleicht nicht im Koma.“ „Manchmal geschehen Dinge einfach“, sprach Steve mehr zu sich selbst als zu Frau Stone.
„Mag sein, aber es war wie verhext heute“, erwiderte diese. „Ausgerechnet heute früh zerbrach meine Kanne von der Kaffeemaschine, ich habe sie wohl nicht richtig auf den Tisch gestellt. Jedenfalls fiel sie zu Boden und zerbrach in tausend Scherben. Ich bin ja eigentlich Teetrinkerin, aber meine Freundinnen halten lieber Kaffeeklatsch ab und heute Nachmittag hätte das bei mir stattfinden sollen. Also bin ich schnell losgelaufen, um mir eine neue Kanne zu besorgen. Und dann ging wieder alles schief. Erst fand ich keine passende Kanne, dann brach der Absatz von meinem Schuh ab, so dass ich noch zu einem Schnellschuster musste und zuletzt fuhr mir die Bahn davon. Ich musste eine Dreiviertelstunde warten.“ „Ja, manchmal passiert so etwas“, meinte Steve nachdenklich, während er sich weiterhin im Zimmer umsah. „Frau Stone, wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre ich gerne einen Augenblick allein in diesem Raum.“ Steve sagte dies freundlich, aber bestimmt. Frau Stone nickte wortlos.
Sie schloss die Tür und überließ Steve sich selbst. `Vielleicht finde ich einen Abschiedsbrief oder ein Tagebuch´ , überlegte Steve. Aber so sehr er auch suchte, er fand kein Tagebuch und im Laptop gab es auch keine Hinweise. Steve leerte schließlich den Papierkorb. Er fand einen Einkaufszettel und einen angefangenen Brief, den er sich genauer ansah:
20.Juli, 3:00
Liebe Carol, wieder einmal kann ich nicht schlafen und wieder einmal erfasst mich eine große Traurigkeit. Ich muss wieder an Tom denken. Dieser ´Unfall´ damals...du weißt, was ich meine. Ich werde das Lied nicht los und höre es überall. Ich habe Alpträume und fühle mich beobachtet. Mir ist wieder so furchtbar kalt. Manchmal denke ich, ich werde verrückt...
Der Rest des Briefes war nicht mehr zu entziffern, da die Schrift zittrig und dadurch unleserlich war.
`Der 20. Juli war heute. Was war geschehen? Sie schrieb den Brief und irgendetwas musste sie plötzlich veranlasst haben, Schlaftabletten zu nehmen. War es Absicht oder hat sie aus Versehen aufgrund ihrer Verwirrtheit eine Überdosis genommen?´ überlegte Steve. Wenn es kein Versehen war, könnte es tatsächlich eine Kurzschlusshandlung gewesen sein. Bei der Durchsicht des Zimmers hatte er ein Notizbuch mit Namen und Telefonnummern gefunden, jetzt nahm er es in die Hand und suchte nach dem Namen Carol. Er fand ihn aber nicht und Frau Stone kannte diesen Namen auch nicht.
`Wer war Carol? Ich hätte ihr gerne ein paar Fragen gestellt... ach was... es ist einfach nur ein persönliches Drama. Fertig! Warum mache ich mir Gedanken darüber?´ Steve rief sich zur Ordnung, er konnte hier nicht ewig bleiben. Es war spät geworden und er hatte noch einiges aufzuarbeiten. Gedankenverloren steckte er den Brief ein.
Als er sich von Frau Stone verabschiedete, bat er um ein Foto von Lisa und darum, das Zimmer so zu lassen wie es war. Sein Anliegen erstaunte ihn selbst, denn er hatte eigentlich keine Veranlassung noch einmal wiederzukommen. Und doch war ihm, als wäre er nicht das letzte Mal hier gewesen.
Im Büro angekommen schrieb Steve seinen Bericht und damit war für ihn die Angelegenheit offiziell erledigt. Wenn er doch nur den Rest des Briefes lesen könnte...
Steve galt als ausgezeichneter Kriminalist, mit einem Gespür für das Ungewöhnliche. Man sagte ihm nach, er würde meist intuitiv handeln und immer richtig liegen. Aber er konnte sich den Fakten nicht verschließen. Und so hatte er gelernt, Logik und Intuition zu verbinden, ohne sich in Illusionen und Fantasien zu verlieren. Dieses Mal aber waren neben der Intuition auch seine Emotionen betroffen und das machte das Ganze für ihn so schwierig. Er wusste nicht, wieso ihn Lisa so in den Bann zog. Er kannte sie nicht, und doch war er von Lisas Gesicht gefangen. Es war ihm so vertraut und doch konnte es nicht sein.
`War sie wie ihre Clowns? Trug sie eine Maske, um dahinter ihr wahres Ich zu verbergen? Ich kann den Fall nicht abschließen, er hat etwas mit mir zu tun. Ich weiß nicht wie und warum, aber es hat etwas mit mir zu tun. Ich würde gerne ihre Stimme hören, ich muss wissen, was für eine Stimme zu diesem zauberhaften Geschöpf gehört.´ Steve nahm sich vor, am nächsten Tag nochmals zu Frau Stone zu gehen, um sich ein paar Lieder von Lisa anzuhören.
Kurze Zeit später war Steve zuhause. Er hatte ein kleines Haus am Rande der Stadt in der er arbeitete - im Norden Deutschlands. Steve liebte den Norden und die Nordsee. Die Nordsee war nicht weit entfernt, unberechenbar und schön - wie das Leben. Das Häuschen hatte er von einer Tante geerbt, sonst hätte er sich so etwas nicht leisten können. Erst wollte er es verkaufen, weil es doch recht einsam lag. Aber nach kurzer Zeit war ihm die Einsamkeit lieb geworden und das Haus ans Herz gewachsen. Die Menschen hier waren zurückhaltend, nie aufdringlich und immer herzlich und hilfsbereit.
Wie so oft stand Steve hinterm Haus in seinem kleinen Garten und beobachtete Pferde, die in der Nähe auf einer Koppel majestätisch ihre Nüstern in den Wind streckten. Sie strahlten Lebensfreude und Kraft aus. Eine Weide entfernt grasten schwarzweiße Kühe, die ihm Gelassenheit und Frieden vermittelten. Alles war bestens geeignet, um vom hektischen Alltag Abstand nehmen zu können und für kurze Zeit alles zu vergessen.
Die Vögel verabschiedeten den Tag mit ihrem Gesang und begrüßten den Abend. Steve schloss die Augen und hörte ihnen eine Weile zu. Er spürte den leichten Wind in seinem Gesicht und sog die Luft tief ein. Es war ein gutes Gefühl. Wieder einmal war er froh, hier leben zu dürfen. Hier konnte er auftanken und seine Seele baumeln lassen. Schließlich setzte er sich in einen gemütlichen Sessel seines Wohnzimmers. Neben sich ein Stövchen mit einer Kanne dampfenden Tees auf einem kleinen Tisch. In einer Hand hielt er eine Tasse Tee und in der anderen Lisas Bild. Zierlich war sie, mit leuchtend blauen Augen und schwarzem Haar, welches zu einem Zopf gebunden war. Lebensfreude zeigte dieses Gesicht. `Was wargeschehen? Was nahm ihr die Freude am Leben? ´ Steve hing seinen Gedanken nach und las dann noch einmal den Brief. ´Unfall´ hatte sie geschrieben. Das war es , was ihm merkwürdig vorkam! War es kein Unfall gewesen? Zumindest Lisa schien das anzunehmen. Steve wollte sich in den nächsten Tagen unbedingt den Unfallbericht ansehen.
***
`Wo bin ich? Warum bin ich hier?´Lisa war sehr kalt. Sie sah sich um und konnte sich absolut nicht daran erinnern mit einem Boot aufs Wasser gerudert zu sein.
Warum war sie nicht zuhause in ihrem Zimmer? Oder schlief sie gerade und dies hier war ein Traum? Sie verstand das nicht. Wenn das ein Traum war, dann war er verdammt real.
Sie streckte eine Hand aus und berührte die Wasseroberfläche. Es war eindeutig nass und kalt. Außerdem konnte sie nirgendwo Land sehen. Wenn das ein See war, musste er riesig sein.
Lisa überlegte fieberhaft. Sie erinnerte sich, dass sie einen Brief schrieb, doch dann wurde sie wieder traurig und es war so furchtbar kalt. Sie erinnerte sich, dass Tom plötzlich im Zimmer stand! Er warseltsam bleich und fast durchsichtig.
Er winkte sie zu sich heran und wollte, dass sie ihm folgte. Aber sie konnte ihm nicht folgen, denn er war tot.
Lisa zitterte. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass das, was sie gerade erlebte, nicht real sein konnte. Es konnte aber auch kein Traum sein, was also war es dann? Sie wünschte sich, sie wäre wieder in ihrem behaglichen Zimmer und sie wünschte sich, sie wäre wieder glücklich. `Glück - was ist das. War ich jemals glücklich? Das hier muss ein Alptraum sein´ dachte sie noch. Erschöpft schlief sie ein und dann war da nur noch Dunkelheit.
***
Steve träumte wirres Zeug in dieser Nacht. Er sah Lisa auf einem Boot im Meer treiben, sie weinte. Doch jedes Mal, wenn Steve ins Wasser springen wollte, um zu ihr zu schwimmen, war das Meer wieder ein Stück weggerückt. Es lief ihm praktisch davon und so kam er nie an das Wasser heran. Steve war froh, schließlich aus diesem Traum zu erwachen.
21.Juli
Am Morgen schwang er sich auf sein Fahrrad und radelte ans Meer. Aber da gerade Ebbe war, war das Wasser weit weg. Sein Traum fiel ihm wieder ein. Er ertappte sich dabei, wie er nach einem Boot Ausschau hielt. Der Geruch vom Watt kroch ihm in die Nase und Steve sah hinaus zum Horizont. Ihm war als höre er das Rauschen der Wellen, aber es war nur die Erinnerung an seinen Traum. Steve setzte sich auf einen der zahlreichen Steine, schloss die Augen und stellte sich das Meer einfach vor, bis er es nach einiger Zeit zu sehen glaubte. Er suchte mit seinem inneren Auge nach dem Boot, fand es aber nicht.
Plötzlich schoss ein grässliches Ungeheuer aus dem Wasser und lachte hysterisch. Es klang wie die Stimme eines Mannes. Erschreckt riss Steve die Augen auf, aber vor ihm lag nur das Watt, friedlich und vertraut.
Nachdem Steve wieder im Haus angekommen war und gefrühstückt hatte, entschloss er sich, zunächst ins Krankenhaus zu fahren. Er setzte sich ins Auto und erreichte eine halbe Stunde später ein kleines, aber modernes Krankenhaus.
Es roch nach Desinfektionsmitteln und Steve fühlte sich unwohl. Er kannte den behandelnden Arzt von Lisa, Dr. Torsten Mosch. Steve fand ihn in seinem Büro und beide freuten sich den anderen zu sehen. Freundschaftlich umarmten sie sich und Steve fragte: „Wie geht es dir?“ „Tag Steve, schön, dass du mal wieder reinschaust. Mir geht es gut - viel Arbeit, aber das geht dir ja nicht anders. Was treibt dich hierher, du meidest doch Krankenhäuser, wenn es irgendwie geht?“
„Das stimmt. Aber ich bin wegen des Mädchens hier - der Selbstmordversuch - wie geht es ihr?“ „Sie liegt immer noch im Koma. Es ist alles ein wenig eigenartig.“ „Was meinst du? Was ist eigenartig?“ wollte Steve wissen. „Komm mit, ich zeige es dir, ich kann es dir nicht erklären“, antwortete Torsten.
Er machte eine Handbewegung, die Steve signalisierte, dass er ihm folgen sollte. Beide betraten den Korridor und am Ende des Ganges öffnete Torsten die Tür zu einem Zimmer. Sie traten ein und wurden von einer eisigen Kälte empfangen. „Mann, ist das kalt hier“ , entfuhr es Steve. „Ja, das meinte ich. Ich kann mir das nicht erklären“, erwiderte Torsten. „Hier ist es wie in einem Eiskeller und ich kann nichts dagegen tun.“
Steve erzählte ihm nicht, dass er diese Kälte gestern schon einmal gespürt hatte, im Zimmer von Lisa. Es konnte ja ein Zufall sein, obwohl er nicht an Zufälle glaubte. Steve betrachtete Lisa. Selbst in diesem Zustand war sie wunderschön. Auch die Blässe der Haut und die etwas eingefallenen Wangen konnten das nicht verbergen. Steve hätte gerne ihre Augen gesehen. Ob sie tatsächlich so wunderschön wie auf den Bildern waren?
Nach einiger Zeit gingen beide schweigend zurück in das Büro. Dort angekommen fragte Steve: „Hast du noch Besuch aus England?“
„Oh ja! Es ist unglaublich interessant, ich habe vorher noch nie mit einer Sensitiven gearbeitet. Sie hat sogar schon einige Male der Polizei geholfen, wenn es um vermisste Personen ging.“ „Und das funktioniert tatsächlich?“ wollte Steve wissen.
„Scheint so. Sie sucht hier Material für ihr Buch und leitet einige Selbsthilfegruppen. Janet ist sehr aufgeschlossen und kooperativ. Ich lernte sie letztes Jahr kennen, als ich meinen alten Freund Carl in England besuchte. Carl fragte mich, ob ich sie hier eine Zeitlang unterbringen könne. Ich fand die Idee ausgezeichnet und eine tolle Frau ist sie außerdem.“
„So, so! Sie gefällt dir wohl sehr?“ fragte Steve lachend. Torsten nickte: „Klar. Wir mögen uns. Aber wir haben beide auch sehr viel zu tun, da bleibt nicht viel Zeit für Privates. Und du weißt, dass ich schon eine Scheidung hinter mir habe. Ich gebe ja zu, dass ich manchmal ein wenig einsam bin, aber der Hauptscheidungsgrund war meine fehlende Zeit für uns. Daran kann ich im Moment nichts ändern, der Ärger wäre vorprogrammiert. Und davon hatte ich wirklich genug.
Aber kommen wir auf das Wesentliche zurück. Janet hat sich neben den Versuchen mit ihrer Sensitivität auch um Fälle gekümmert, die mit Nah-Tod-Erlebnissen zu tun hatten. Sie hat eine große Begabung auf diese Menschen zuzugehen und mit ihnen darüber zu reden. Es ist wirklich hochinteressant. Glaubst du an diese Dinge?“
„Ich...“, Steve zögerte. Auch er war dem Tod einmal näher gewesen, als ihm lieb war. Dadurch lernte er Torsten kennen, der ihm damals das Leben rettete und seitdem waren sie Freunde. Und doch erzählte er ihm nie, was er erlebt hatte, aber es veränderte sein Leben grundlegend.
„Was ist mit dir?“ Torsten sah Steve fragend an. „Ach nichts. Entschuldige bitte, ich bin wohl nicht ganz bei der Sache.“ Steve war noch immer nicht bereit darüber zu sprechen.
Torsten sah ihn nachdenklich an und fragte ihn schließlich: „Hast du nicht Lust heute Abend zum Essen vorbeizukommen? Da kannst du dann auch Janet kennenlernen. Ich würde mich freuen.“ Steve sagte zu, da er neugierig auf Janet war, und weil er ein wenig Ablenkung gebrauchen konnte.
Früher als geplant, saß er bei Frau Stone im Wohnzimmer und trank eine Tasse Tee. „
Hat Lisa Ihnen jemals etwas über den Unfall erzählt?“ wollte Steve von Frau Stone wissen. „Es war im Februar“, begann Frau Stone. „Es war kalt und mitten in der Nacht. Tom hatte wohl die Kontrolle über den Wagen verloren. Jedenfalls kamen sie von der Straße ab und der Wagen prallte gegen einen Baum und dann rutschte er in einen tiefen Wassergraben. Lisa wurde vorher aus dem Wagen geschleudert und wie durch ein Wunder hatte sie nur ein paar Kratzer abbekommen.“
Steve sah Frau Stone erstaunt an. „Ich wusste nicht, dass Lisa auch im Wagen gesessen hat.“ Frau Stone nickte und erklärte: „Sie hatten beide einen Auftritt an diesem Abend, wie so oft. Nach dem Auftritt waren sie noch etwas essen und fuhren danach gemeinsam hierher - Tom übernachtete manchmal hier, wenn es spät geworden war. Als sie am Morgen nicht da waren, wusste ich, dass etwas passiert sein musste.“ „An welchem Tag war es genau und wo ist es passiert?“ wollte Steve wissen. „Warten Sie..., ja, es war der 20. Februar. Auch der Zwanzigste eigenartig...“
Frau Stone machte eine kleine Pause, dann fuhr sie fort: „Es passierte nur ein paar Kilometer von hier, kurz vor der Ortschaft. Es soll gegen drei Uhr morgens gewesen sein.“
„Hat Lisa jemals erwähnt, dass an dem Unfall etwas ungewöhnlich gewesen sei?“ wollte Steve wissen.
„Ungewöhnlich?“ Frau Stone überlegte. „Nein...aber sie sagte einmal etwas eigenartiges. Wochen später. Ich sagte ihr damals, wie furchtbar ich es fände und dass sie so ein schönes Paar wären. Ich sagte auch, Tom sei viel zu früh gestorben und das Schicksal sei so grausam gewesen. Lisa sah mich an und antwortete ´Tom hat es so gewollt!´ Mehr nicht, nur ...Tom hat es so gewollt. Ich fragte sie noch, wie sie das gemeint habe, aber sie hat mir nie darauf geantwortet. Wissen Sie, was das bedeutet?“ „Nein, tut mir leid,“ antwortete Steve ausweichend.
Dann wollte er noch einmal Lisas Zimmer sehen und bat darum, ihn eine Weile allein zu lassen.
`Und wenn es nun kein Unfall war?´ überlegte Steve. Lisa jedenfalls schien das zu glauben.
Steve sah sich in Lisas Zimmer um und ging schließlich zu einem Kassettenrekorder. Als er sah, dass eine Kassette darin war, stellte er das Gerät an, setzte sich auf das Sofa und hörte einem Lied zu, das von einem Mann gesungen wurde. Es war ein Liebeslied und handelte von einem jungen Soldaten, der in den Krieg ziehen musste. Er schwor seinem Mädchen, dass seine Liebe selbst den Tod überdauern und er sie nie verlassen würde.
Es konnte nur die Stimme von Tom sein. Schließlich setzte eine Frauenstimme ein, die Stimme von Lisa. Lisa spielte eine verzweifelte Frau, die ihren Freund nicht ziehen lassen wollte. Auch sie schwor über den Tod hinaus, dass ihre Liebe für immer sei. Ihre Seele würde ihm folgen, wohin er auch gehe. Beide Stimmen verschmolzen zu einer Einheit. Frau Stone hatte ihren Eindruck vollkommen richtig beschrieben. Der Zuhörer vergaß alles um sich herum, war gefesselt von diesem Gesang und litt mit ihnen. Die Realität existierte nicht mehr oder vielmehr - es existierte eine völlig andere! Steve hatte den Eindruck, dass beide sich wirklich liebten.
War es eine Liebe, die den Tod überdauerte? Eine Liebe, die so stark war, dass der Überlebende die Angst vor dem Tod vergaß, nur um mit dem Partner wieder vereint zu sein? Konnte einer ohne den anderen nicht leben?Steve hielt das durchaus für möglich.
Frau Stone hatte Steve erzählt, dass die Aufnahme etwa ein Jahr alt war. Das Stück endete tragisch, denn der Soldat fiel im Krieg. Und das Mädchen starb schließlich an gebrochenem Herzen. `Vielleicht war das sogar ein Happy-End? Wenn man an ein Leben nach dem Tod glaubte, dann konnte man das so sehen´, dachte Steve.
Die Kassette spielte ständig dasselbe Lied, wie in einer Endlosschleife. Frau Stone erklärte ihm, dass Lisa oft ein und dasselbe Lied hintereinander aus verschiedenen Auftritten aufgenommen hatte, um zu hören, wo noch Verbesserungen möglich waren. Sie schloss dann beim Hören des Bandes die Augen und versank im Lied, vergessen waren Raum und Zeit. Steve fragte sich unwillkürlich, was an diesem Gesang noch verbessert werden sollte, ihm schien er perfekt. Und so saß er nun allein im Raum und hörte, wie vor ihm Lisa, mit geschlossenen Augen dieses Lied. Immer und immer wieder. Er spürte den Kummer in den Stimmen, die Verzweiflung und die tiefe Zuneigung.
Schließlich holte Steve Lisas Brief hervor und las ihn wohl zum zehnten Mal, in der Hoffnung, Antworten zu finden. Aber er fand keine. Er kam schließlich zu dem Ergebnis, dass er unbedingt Carol finden musste, aber wo sollte er anfangen zu suchen? Beim erneuten Durchblättern des Notizbuches stieß er auf den Namen eines Dr. F. Malek, keine Adresse, nur eine Telefonnummer. Er beschloss, sich gleich morgen darum zu kümmern.
Steve sah auf die Uhr und erschrak. Es war spät geworden, die Zeit war wie im Flug vergangen. Wenn Gedanken auf Reisen gingen, hatte nichts eine Bedeutung mehr. So musste auch Lisa gefühlt haben, wenn sie in ihre Musik vertieft war. Steve musste sich beeilen, steckte das Foto und den Brief wieder ein, verabschiedete sich von der Zimmerwirtin und fuhr nach Hause.
Nach einer erfrischenden Dusche zog er sich etwas eleganter für das Abendessen an und freute sich darauf, die junge Dame kennenzulernen, von der Torsten so schwärmte. Ganz in Gedanken, steckte er das Foto und den Brief von Lisa auch jetzt wieder ein und machte sich auf den Weg zu seinem Freund.
„Hallo Torsten, bin ich zu spät?“ fragte Steve wenig später seinen Freund, als dieser ihm die Tür öffnete.
„Nein, nein. Janet ist schon da, aber wir haben uns auch ohne dich glänzend unterhalten“, grinste Torsten Steve an und führte ihn in die Küche, wo Janet Laurence an einem kleinen Tisch stand und Tomaten schnitt. „Janet, das ist Steve! Unser Freund und Helfer bei der Polizei. Steve, das ist Janet.“ Nachdem Torsten die beiden einander vorgestellt hatte öffnete er eine Flasche Wein. Steve fand, dass Janet auf eine besondere Weise eine schöne Frau war, und ihm fielen sofort ihre geheimnisvollen grünen Augen auf.