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Das Buch stellt eine Einführung in die Grundzüge der Seelsorgelehre und in die seelsorglichen Handlungsfelder der Gegenwart dar. Das spezifische Konzept dieser Seelsorgelehre orientiert sich an folgenden Eckpunkten: o Seelsorge wird im Dialog mit humanwissenschaftlichen Erkenntnissen verantwortet. o Die Seelsorgelehre bezieht soziologische Kategorien zur Kontexterhellung ein. o Seelsorge wird verstanden als Funktion der Gemeinde, nicht als eine davon isolierte Therapiepraxis. o Seelsorgetheorie wird im Gespräch mit praktischen Erfahrungen entfaltet. Kommentierte Literaturhinweise sowie eine didaktische Aufbereitung der Darstellung dienen der Nutzbarkeit des Buches als Grundlagenliteratur für die Examensvorbereitung.
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Veröffentlichungsjahr: 2015
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utb 2147
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Jürgen Ziemer
Seelsorgelehre
Eine Einführung für Studium und Praxis
4., neu bearbeitete und erweiterte Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Dr. theol. Jürgen Ziemer ist Professor em. für Praktische Theologie an der Universität Leipzig.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Ehret/Trew: Plantae selectae, Nürnberg 1750–1773.
© 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf dervorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, StuttgartSatz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel
UTB-Band-Nr. 2147
ISBN: 978-3-8463-4319-7 (UTB)
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
Einleitung: Seelsorge – erste Verständigungen
Literatur
1. Leben im Ungewissen – Zu den Kontexten heutiger Seelsorgepraxis
1.1 Lebensbedrohlicher Sicherheitsverlust
1.2 Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens – soziologische Aspekte
1.3 Herausforderungen im vereinten Land
1.4 Auf dem Wege zu einer neuen Moral?
1.5 Kirchen im Wandel
Literatur
2. Seelsorge in der Geschichte
2.1 Die Gegenwart der Ursprünge
2.1.1 Die Seele und die Geschichtlichkeit der Seelsorge
2.1.2 Biblische Ursprünge und Maßstäbe
Literatur
2.2 Wandlungen des Seelsorgeverständnisses
2.2.1 Seelsorge als Kampf gegen die Sünde (Alte Kirche)
2.2.2 Seelsorge als Beichte (Mittelalter)
2.2.3 Seelsorge als Trost (Luther)
2.2.4 Seelsorge als Hirtendienst (Schweizer Reformation)
2.2.5 Seelsorge als Erbauung (Pietismus)
2.2.6 Seelsorge als Bildung und Lebenshilfe (Aufklärung)
2.2.7 Seelsorge und Seelsorgelehre im 19. Jahrhundert
Literatur
3. Seelsorge und Seelsorgelehre in der Gegenwart
3.1 Poimenische Herausforderungen
3.2 Hauptströmungen der Seelsorgelehre im 20. Jahrhundert
3.2.1 Seelsorge als Verkündigung im Gespräch (kerygmatische Seelsorge)
3.2.2 Seelsorge als Beratung (Seelsorgebewegung)
3.2.3 Seelsorge als biblische Therapie (evangelikale Seelsorge)
Literatur
3.3 Pastoralpsychologie als Grunddimension in der gegenwärtigen Seelsorgelehre
3.3.1 Pastoralpsychologie – Verständigungen über den Begriff
3.3.2 Konturen pastoralpsychologischer Seelsorgelehre
3.3.3 Themen der Diskussion um Pastoralpsychologie
3.3.4 Worauf kommt es an? Konturen für die Zukunftsentwicklung einer pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge (Zusammenfassung)
Literatur
3.4 Differenzierungen der Seelsorgelandschaft im 21. Jahrhundert
3.4.1 Profilierungen des pastoralpsychologischen Seelsorgekonzepts
3.4.4.1. Tiefenpsychologische Seelsorge
3.4.1.2 Systemische Seelsorge
3.4.2 Alternative Seelsorgekonzepte
3.4.2.1 Alltagsseelsorge
3.4.2.2 Geistliche Begleitung
3.4.2.3. Seelsorge als Lebensberatung
3.4.3 Seelsorge als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen
3.4.3.1 Feministische Seelsorge
3.4.3.2 Interkulturelle Seelsorge
Literatur
4. Konturen eines theologischen Seelsorgeverständnisses
4.1 Seelsorge als Praxis des christlichen Glaubens (grundlegende Aspekte)
4.2 Seelsorge als Befreiungsgeschehen (emanzipatorischer Aspekt)
4.3 Seelsorge als Orientierungsarbeit (ethischer Aspekt)
4.4 Gemeinde als Ort der Seelsorge (ekklesiologischer Aspekt)
4.5 Seelsorge als solidarische Praxis (diakonischer Aspekt)
Literatur
5. Seelsorge als psychologische Arbeit
5.1 Welche Psychologie braucht die Seelsorge?
5.1.1 Psychotherapiekonzepte im Überblick
5.1.2 Kriterien für eine poimenische Rezeption
5.2 Psychologische Aspekte von Seelsorge
5.3 Proprium christlicher Seelsorge?
Exkurs: Charaktertypen
Literatur
6. Das Gespräch in der Seelsorge
6.1 Was ist ein seelsorgliches Gespräch?
6.1.1 Die Form des seelsorglichen Gesprächs
6.1.2 Die Sprache des Gesprächs und die Sprachen der Seelsorge
6.1.3 Die Struktur der seelsorglichen Beziehung
6.2 Seelsorgliche Verhaltensweisen im Gespräch
6.2.1 Verstehendes Verhalten
6.2.2 Annehmendes Verhalten
6.2.3 Ermutigendes Verhalten
6.2.4 Authentisches Verhalten
6.3 Der Weg des Gesprächs
6.4 Interventionen im seelsorglichen Gespräch
6.5 Das seelsorgliche Gespräch als geistliches Geschehen
6.6 Störungen im Gespräch
6.7 Weitervermittlung in besonderen Fällen
Literatur
Exkurs: Kurzzeitseelsorge
7. Der seelsorgliche Beruf
7.1 Wer übt Seelsorge?
7.2 Wer bin ich als Seelsorgerin?
7.3 Seelsorgliche Kompetenz
7.4 Ausbildung zur seelsorglichen Arbeit
7.4.1. Lernfelder einer Seelsorgeausbildung
7.4.2. Seelsorgeausbildung im Theologiestudium
7.4.3. Ausbildung und Fortbildung für seelsorgliche Praxis
7.5 Supervision und Seelsorge für Seelsorgerinnen und Seelsorger
7.6 Seelsorgliche Schweigepflicht
Literatur
8. Lebensthemen in der Seelsorge
8.1 Wer bin ich? – Auf der Suche nach Identität
8.1.1 Wahrnehmungen im Umkreis der Identitätsfrage
Exkurs: Zur Diskussion um den Identitätsbegriff
8.1.2 Von den Schwierigkeiten selbst zu sein (psychologische Aspekte)
8.1.3 Theologische Vertiefung
8.1.4 Seelsorgliche Praxis
Literatur
8.2 In Beziehungen leben
8.2.1 Wahrnehmungen
8.2.2 Diagnostische Aspekte: Kommunikationshindernisse
8.2.3 Theologische Vertiefung
8.2.4 Seelsorgliche Praxis
Literatur
8.3 Auf der Suche nach Sinn
8.3.1 Die seelsorgliche Wahrnehmung der Sinnfrage
8.3.2 Humanwissenschaftliche Aspekte zur Sinnfrage
8.3.3 Theologische Aspekte
8.3.4 Seelsorgliche Praxis
Literatur
8.4 Mit Ängsten leben
8.4.1 Wahrnehmungen der Angst – phänomenologische Aspekte
8.4.2 Sichtweisen der Angst – anthropologische Aspekte
8.4.3 Angst im biblisch-theologischen Verständnis
8.4.4 Mit Angst leben – seelsorgliche Aspekte
Literatur
8.5 Mit eigener Schuld umgehen
8.5.1 Begegnungen mit Schuld in der Seelsorge
8.5.2 Anthropologische Aspekte
8.5.3 Theologische Aspekte zum Schuldverständnis
8.5.4 Zur seelsorglichen Praxis
Exkurs: Beichte und Seelsorge
Literatur
8.6 Glauben lernen
8.6.1 Begegnungen mit der Glaubensfrage in der Seelsorge
8.6.2 Psychologische Aspekte
8.6.3 Kriterien lebendigen Glaubens (theologische Aspekte)
8.6.4 Seelsorge als Gespräch über den Glauben
Literatur
9. Seelsorge in unterschiedlichen Lebenssituationen
9.1 Seelsorge in verschiedenen Lebensphasen
9.1.1 Grundlegende Aspekte für die Lebensaltersseelsorge
9.1.2 Seelsorge mit Kindern
Exkurs: Schulseelsorge
9.1.3 Jugendliche und junge Erwachsene
9.1.3.1 Seelsorgliche Einstellung
9.1.3.2 Seelsorgliche Themen
9.1.4 Mittleres Lebensalter
9.1.5 Der alte Mensch
Exkurs: Eine besondere Aufgabe: Seelsorglicher Umgang mit Demenzkranken
Literatur
9.2 Der kranke Mensch in der Seelsorge
9.2.1 Krankheit und Kranksein – anthropologische Aspekte
9.2.2 Biblisch-theologische Aspekte
9.2.3 Der seelsorgliche Umgang mit kranken Menschen
Exkurs: Psychische Krankheiten in der Seelsorge
9.2.4 Seelsorge an Sterbenden
Exkurs: Zur ethischen Problematik der sogenannten Sterbehilfe
Literatur
9.3 Seelsorge im Trauerfall
9.3.1 Die Wahrnehmung der Trauersituation
9.3.2 Zur Psychologie der Trauer
9.3.3 Das Evangelium in der Trauersituation
9.3.4 Zur seelsorglichen Praxis
Literatur
9.4 Seelsorge in Krisensituationen
9.4.1 Seelsorge als Krisenhilfe
9.4.1.1 Humanwissenschaftliche und theologische Aspekte zur Krisensituation
9.4.1.2 Seelsorge als Krisenintervention
9.4.2 Seelsorge und Trauma
9.4.3 Seelsorge bei Suizidhandlungen
9.4.3.1. Grundlegende Aspekte zur Suizidalität
9.4.3.2 Zur seelsorglichen Praxis bei Suizidhandlungen
Literatur
10. Institutionalisierungen seelsorglicher Arbeit
10.1 Psychologische Beratungsstellen
Literatur
10.2 Spezielle Seelsorgedienste
10.2.1 Krankenhausseelsorge
10.2.2 Gefängnisseelsorge
10.2.3 Seelsorge in der Bundeswehr (Militärseesorge)
10.2.4 Notfallseelsorge
10.2.5 Kur- und Urlauberseelsorge
Literatur
10.3 Mediengestützte Seelsorge
10.3.1 Telefonseelsorge
10.3.2 Internetseelsorge
Literatur
Adressenverzeichnis
Bibelstellenregister
Sachregister
Personenregister
Abkürzungen
BThZ
Berliner Theologische Zeitschrift, Berlin
DPCC
Dictionary of Pastoral Care and Connseling, ed. R. J. Hunter, Nashville 1990
EG
Evangelisches Gesangbuch
EKL
Evangelisches Kirchenlexikon,
3
1986ff.
HbS
Handbuch der Seelsorge, hg. von Wilfried Engemann, Leipzig 2007
Herbst, Seelsorge
Herbst, Michael: beziehungsweise: Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge, Neukirchen 2012.
Klessmann, Seelsorge
Klessmann, Michael: Seelsorge, Neukirchen 2008,
4
1012
Morgenthaler, Seelsorge
Morgenthaler, Christoph: Seelsorge, Gütersloh 2009
PrTh
Praktische Theologie. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Kirche Gütersloh (früher: Theologia practica)
PTh
Pastoraltheologie. Monatsschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft, Göttingen
PThI
Pastoraltheologische Informationen
RGG
Die Religion in Geschichte und Gegenwart
1
1998ff.
ThLZ
Theologische Literaturzeitung, Leipzig
TRE
Theologische Realenzyklopädie, Berlin 1976ff.
WA
Luther, Martin: Werke. Weimarer Ausgabe
WzM
Wege zum Menschen. Monatsschrift für Seelsorge und Beratung, heilendes und soziales Handeln, Göttingen
ZdZ
Die Zeichen der Zeit, Berlin, ab 1991 Leipzig
ZEE
Zeitschrift für Evangelische Ethik, Gütersloh
ZThK
Zeitschrift für Theologie und Kirche, Tübingen
Vorwort
Es gibt gewiß keinen Mangel an Literatur zur Seelsorge. Da mag es riskant erscheinen, sich mit einer neuen Seelsorgelehre herauszuwagen. Gibt es in diesen Fragen etwas mitzuteilen, das nicht schon geschrieben wurde? Und falls doch: was und wem wird es nützen? Die pastoralpsychologische Herangehensweise in Seelsorge und Seelsorgeausbildung hat uns Skepsis gegenüber theoretischen Gesamtentwürfen gelehrt. Die Gefahr eines Verlustes an Wirklichkeit und Dynamik ist unübersehbar, und seelsorgliche Kompetenz, das ist unbestreitbar richtig, erlernt niemand durch die Lektüre von Lehrbüchern. Diese können jedenfalls das notwendige Erfahrungslernen nicht ersetzen.
Gleichwohl kann, wie ich zuversichtlich hoffe, seelsorgetheoretische Literatur doch auch im Blick auf die Praxis von Wert sein: propädeutisch als Vorbereitung auf seelsorgliches Handeln und seelsorgliches Lernen und praxisbegleitend als Hilfe zur kritischen theologischen und humanwissenschaftlichen Reflexion von Seelsorgeerfahrungen.
Auch aus Bedürfnissen heraus, die sich im Rahmen akademischen Lehrens ergeben, erschien es mir naheliegend, die relevanten Stoffe einer Seelsorgelehre einmal aus meiner eigenen Sicht im Zusammenhang darzustellen. Die vorliegende Einführung wendet sich an Studierende und darüber hinaus an diejenigen, die in der seelsorglichen Praxis tätig sind. Es geht dabei bewußt um eine „Einführung“; das bedeutet, dass bei der Behandlung einzelner Themen eine Auswahl getroffen werden mußte und dass dem Elementaren zu Ungunsten des Spezielleren ein Vorrang einzuräumen war. Vielleicht findet das Buch so auch bei denen Interesse, die in säkularen Bereichen als Therapeutinnen, als Sozialarbeiter oder wie auch immer für die „Seelen“ von Menschen zu sorgen haben.
Die Grundausrichtung der vorliegenden Einführung ist pastoralpsychologischer Natur.
Gleichzeitig will ich jedoch versuchen, Anregungen aus der neu in Gang gekommenen poimenischen Diskussion aufzunehmen.
Erfahrungen in und mit der pastoralpsychologischen Seelsorgeausbildung hatten für mich selbst entscheidende Bedeutung. Hans-Joachim Wachsmuth zuerst und dann später Wybe Zijlstra (†) und Hans-Christoph Piper, sowie Hermann Andriessen und Reinhard Miethner waren mir unschätzbare Anreger und Begleiter. Die eigene Seelsorgelehre erwuchs weiter aus dem, was ich Studierende zu lehren hatte und was ich mit ihnen lernte. Einen wichtigen Hintergrund für die Darstellung der Seelsorge bilden die eigenen Besuche auf Krankenstationen und seelsorgliche Gespräche bei vielen verschiedenen sich bietenden Gelegenheiten. Ob aus solchen Erfahrungen heraus ein auch für die Praxis brauchbarer Entwurf entstanden ist, müssen die Leserinnen und Leser selbst entscheiden.
Während der Ausarbeitung des Buches habe ich viele Hilfe erfahren. Beim Schreiben des Manuskripts haben mich Renate Jurisch und Dorothea Schliebe unterstützt, bei dessen Durcharbeit halfen Astrid Kühme und Kathrin Jell mit wichtigen Hinweisen und Korrekturen. Letztere hat sich zudem bei der Herstellung der Register und bei den Korrekturarbeiten verdient gemacht. Werner Biskupski hat das Manuskript kritisch gegengelesen, und Friedrich-Wilhelm Lindemann gab mir sehr wichtige Hinweise zur Gestaltung des Psychologiekapitels. Ihnen allen sei ganz herzlich gedankt. Ein ganz besonderer Dank gebührt Michael Böhme, der nicht nur für ein verlagsgerechtes Typoskript gesorgt hat, sondern mir auch darüber hinaus jederzeit ein hilfreicher und freundschaftlicher Gesprächspartner war.
Ich danke dem Verlag dafür, dass er in einer Zeit nicht gerade boomenden Seelsorgeinteresses dieses Buch in sein Programm aufgenommen, sowie Frau Renate Hübsch für die entgegenkommende Weise, mit der sie das Manuskript betreut hat.
Nicht zuletzt danke ich meiner Frau. Sie hat mit ihrem Verständnis für die behandelten Gegenstände wie für den Autor mehr Anteil am Werden dieses Buches, als sich in Worten sagen läßt. Ihr sei es gewidmet.
Vorwort zur 4. Auflage
Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser Seelsorgelehre sind 15 Jahre vergangen. Inzwischen hat sich in unserem Land, im gesellschaftlichen und religiösen Leben der Menschen vieles verändert. Die Arbeit der Kirchen und insbesondere das Verständnis und die Praxis ihrer Seelsorge sind davon nicht unberührt geblieben. Wenn dieses Buch noch einmal in neuer Auflage erscheinen sollte, bedurfte es dazu intensiver Überarbeitung des gesamten Textes. Dazu haben mich dann eine überwiegend positive Resonanz der Leser wie auch konstruktive Hinweise kollegialer Kritik ermutigt.
Auf ein paar der größeren Veränderungen sei hingewiesen:
–In der Einleitung waren Präzisierungen zur genaueren Bestimmung von „Seele“ und „Seelsorge“ notwendig.
–Die Beschreibung der kontextuellen Situation heutiger Seelsorge musste naheliegender Weise an vielen Stellen aktualisiert werden (1).
–Auch die Darstellung der „Seelsorgelandschaft“ in der Gegenwart war neu zu überdenken und zu erweitern (3.3. und 3.4).
–Das theologische Kapitel ist fast völlig neu geschrieben worden (4).
–In anderen Abschnitten waren Ergänzungen einzufügen: z.B. über die Sprache der Seelsorge und Kurzzeitseelsorge (6), über Taufe, Schulseelsorge (9.1.1), Seelsorge mit Demenzkranken (9.1.5), Seelsorge und Trauma (9.4.2)), über Spiritual Care und Internetseelsorge (10).
–Bei den „Lebensthemen“ wurde ein Unterkapitel über Angst neu hinzugefügt (8.4).
–Aktuelle Literatur ist in allen Kapiteln eingearbeitet worden, allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Unvermeidlich war, dass auf diese Weise der Umfang des Buches wuchs und die Seitenzahlen sich verschoben. Das ist vor allem für den wissenschaftlichen Gebrauch ärgerlich. Trotz aller Änderungen ist aber diese Seelsorgelehre in ihrer Gesamtanlage und weithin auch in ihrem Textbestand die gleiche geblieben. Mein poimenischer Grundansatz hat sich nicht wesentlich verändert und ebenso wenig die feste Überzeugung, dass geübter und gelebter Seelsorge auf dem Zukunftsweg unserer Kirchen und Gemeinden unbedingt eine Priorität gebührt.
Bei der manchmal doch recht aufwändigen Erarbeitung dieser Neuauflage war es gut, gelegentlich auf fachlich-freundschaftlichen Rat zurückgreifen zu können. Ich danke dafür Werner Biskupski und Friedrich-Wilhelm Lindemann und ebenso meiner Frau, die auch die mühevolle Registerarbeit mit mir teilte. Herrn Moritz Reissing schließlich sei herzlich gedankt für Unterstützung und Hilfe bei der Herstellung des neuen Drucksatzes.
Leipzig, im Sommer 2015
Jürgen Ziemer
Eine Zeit nach seinem Tode sagte ein Freund:„Hätte er zu wem zu reden gehabt, er lebte noch.“1
1. Seelsorge ist vielen heute ein fremdes Wort geworden
Natürlich hat man von Seelsorge schon einmal gehört. Und es gibt eine ungefähre Vorstellung davon. Seelsorge ist nicht unbekannt, aber doch fremd. Vielen Zeitgenossen klingt das Wort etwas altertümlich und vielleicht auch exklusiv. Es gehört für sie zur Sprache einer Sonderwelt.
Obwohl nur bedingt ein religiöses Wort2, wird es doch schnell dieser Sphäre zugeordnet. Vermutlich würde man es von sich aus auch gar nicht in den Mund nehmen; denn wer es aktiv gebraucht, gibt sich zu erkennen. Auch Gemeindeglieder verwenden das Wort Seelsorge eher selten. Andere Begriffe wie „Gespräch“, „Beratung“ oder „Aussprache“ – im Grunde fast Synonyme für „Seelsorge“ – erscheinen unverfänglicher. Die Verknüpfung mit dem religiös-kirchlichen Kontext scheint dabei nicht so unausweichlich gegeben. Das Wort „Seelsorge“ hat Anteil an der Fremdheit von Glauben und Kirche in unserer Welt?3
2. Das Wort Seelsorge löst oft ambivalente Empfindungen aus
Auch unter Christen hat „Seelsorge“ einen unterschiedlichen Klang. Sie wird einerseits hoch geschätzt und auf der anderen Seite zugleich skeptisch beurteilt. In Auseinandersetzungen über das zukünftige Profil von Kirche und Gemeinden hat die Seelsorge meist einen hervorgehobenen Stellenwert. Viele Kirchenvorstände wünschen sich mehr seelsorgliche Aktivitäten in der Gemeinde, und bei Pfarrwahlen hat die Eignung der Bewerberinnen und Bewerber für die Seelsorge einen bedeutsamen Auswahlwert.4 In vielen Fällen wird aber gar nicht klar, inwieweit Menschen auch für sich selber ein seelsorgliches Angebot in Anspruch nehmen würden. Zuweilen findet sich die (unbewusste) Einstellung: Seelsorge ist sehr wichtig, aber ich hoffe, dass ich selbst sie nicht brauche. Was Seelsorge wirklich ist, liegt ja nicht so deutlich zu Tage, wie wenn es um Predigt oder Konfirmandenunterricht geht. Seelischer Hilfe zu bedürfen, erscheint zudem eher peinlich, ein Zeichen von Schwäche – sei es psychischer, sei es geistiger, sei es lebenspraktischer Art. Bei Seelsorge gehen die Gedanken zuerst an andere, die Beistand brauchen: Kranke, Zweifelnde, Sterbende, in Not Geratene. Manchmal haftet dem seelsorglichen Handeln gar ein Geruch des Weichen, Fürsorglichen, des Freundlich-Betulichen oder auch des Frömmlerischen an. Konkrete Erfahrungen müssen nicht unbedingt dahinterstehen. Das gilt auch angesichts der häufig zu beobachtenden Furcht vor einem moralisierenden Ermahnungston in der Seelsorge. Dem muss nicht widersprechen, dass mitunter gerade ein solches Verhalten einem Seelsorger nahe gelegt wird: „Herr Pfarrer, mit unserem Sohn sollten Sie mal ein seelsorgliches Wort reden!“
Die Ambivalenz gilt im Blick auf die Seelsorge auch für Pfarrerinnen und Pfarrer selbst. Der große Reiz dieser Arbeit und die Hoffnung, hier wirklich für die Menschen erreichbar und alltagsrelevant tätig zu werden, wird konterkariert von Zweifeln: Worauf lasse ich mich da eigentlich ein? Wie ernst muss diese Aufgabe wirklich genommen werden? Begebe ich mich da nicht auf ein viel zu offenes Feld? Kommen hier auf mich Erwartungen zu, die ich gar nicht erfüllen kann?
3. Seelsorge ist etwas zutiefst Menschliches
Gegenüber allen Voreinstellungen und Vorurteilen, so verständlich sie sein mögen, ist zunächst festzuhalten: Seelsorge ist eine unverzichtbare und grundlegende Weise menschlichen Miteinanderseins. Ob sie professionell im Rahmen einer kirchlichen Berufstätigkeit oder spontan als Reaktion unmittelbaren Betroffenseins ausgeübt wird, ist hier erst einmal von untergeordneter Bedeutung. Es ist einfach menschlich, sich gegenseitig zu raten und Rat zu holen. Und es ist menschlich, jemanden zu haben, dem man zu vertrauen vermag, dem man sein Herz ausschütten kann, dem man sich zumuten darf. Seelsorge hängt mit der menschlichen Fundamentalerfahrung zusammen, dass wir Angewiesene sind, dass wir nicht immer allein zu Rande kommen – weder seelisch, noch emotional, noch glaubensmäßig, noch lebenspraktisch. Wir brauchen Menschen, denen wir uns anvertrauen können; manchmal ist es gut, wenn sie nicht aus dem eigenen Umfeld kommen.
Seelsorge ist etwas zutiefst Menschliches, aber sie ist deswegen nichts weniger als selbstverständlich. Selbstverständlich ist viel eher, sich aus dem Wege zu gehen, sich fremd zu bleiben, andere sich selbst und ihren eigenen Problemen zu überlassen oder an die für Gesundheit und Wohlfahrt zuständigen Institutionen zu verweisen. Rolf Zerfaß hat als ein Modell für den menschlichen Aspekt von Seelsorge die Erfahrung von „Gastfreundschaft“ empfohlen. Gastfreundliche Seelsorge gibt dem anderen Raum, sie nimmt seine Bedürfnisse wahr, ohne ihn damit gleich zu vereinnahmen. Sie gibt und empfängt zugleich. Gastfreundliche und darin eben „menschliche“ Seelsorge „wagt es, sich fremden Menschen anzuvertrauen, weil sie die überraschende Erfahrung macht, dass uns bis heute im Fremden Gott begegnet.5
4. Seelsorge ist „Sorge um die Seele“
Dass Seelsorge etwas zutiefst Menschliches ist, erfüllt sich schon in dem, was der Begriff selber sagt: sie ist „Sorge um die Seele“. So banal diese Auskunft erscheinen mag, so ist sie doch gleichwohl auslegungsbedürftig. Denn: was ist eigentlich „die Seele“? Wer von ihr spricht, hat eine ungefähre Ahnung, aber im Zusammenhang einer Seelsorgelehre muss man doch etwas genauer werden.
„Seele“ erscheint uns zunächst als etwas Gegensätzliches zum „Leib“. Über Jahrhunderte haben sich gläubige Menschen an der von der griechischen Philosophie begründeten Vorstellung getröstet, dass es außer dem sterblichen Leib noch etwas Anderes gibt, das bleibt und um das zu sorgen sich lohnt. Bei näherem Zusehen freilich zeigt sich, dass in der Bibel von der Seele keineswegs in Abgrenzung zum Leib gesprochen wird, sondern im Zusammenhang mit ihm. Das hebräische Wort für „Seele“ heißt nefäs und hat eine leibnahe Bedeutung: Atem, Schlund, Leben; es steht für ganz vitale Lebensregungen: Hunger, Durst, Begehren, Liebe, Dankbarkeit, auch Klage, Zorn und intensives Sehnen. Oft sind es die tiefer gehenden Gefühle, die uns den Weg zur Seele weisen. Das Wort „Seele“ kann auch für das stehen, was wir in psychologischer Terminologie heute das „Ich“ oder das „Selbst“ nennen6, etwa wenn der 103. Psalm mit der Selbstaufforderung beginnt. „Lobe den Herrn, meine Seele“! Im Neuen Testament steht das griechische Pendant für die Seele „psyche“ an vielen Stellen faktisch für „Leben“, für das Leben des „ganzen“ Menschen (z.B. Mk 8, 35, Mt 6, 25). In biblischer Sicht gehören also Leib und Seele zusammen. Der Leib ist nicht „ganz“ ohne Seele, die Seele nicht ohne Leib.7
Aber noch einmal: Was ist dann die Seele? Eine Funktion unseres Körpers? Ein Produkt des Gehirns, wie es uns manche Neurowissenschaftler nahe legen?
Die Seele ist keine materielle „Substanz“, losgelöst von unserer körperlichen Existenz. Sie bezeichnet vielmehr eine grundlegende Beziehung der Person und des Leibes.8 Sie ist der „Ort“, wo Gottes Zuwendung zu uns und unsere Hinwendung zu ihm Ereignis werden: „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“ (Ps 43, 3). Seele ist Beziehung auf etwas, das uns leibhaft nahe ist und das zugleich über uns hinaus weist. Hier wird deutlich, wer von der „Seele“ spricht, berührt die religiöse Dimension. Das darf natürlich nicht so verstanden werden, dass nur im konfessionellen Sinn gläubige Menschen auf ihre Seele und auf Seelsorge hin ansprechbar wären. Die Seele dürstet, sie „hat“ nicht, sie ist Sehnsucht und Suchen. Und da sind gläubige von weniger gläubigen Menschen oft nicht weit entfernt. Die Seele ist, was Menschen als „Tiefe“ ihres Seins spüren, wohin ihr Herz neigt. Seelsorge, die für die Seele sorgt, fragt nach dem, was für die je eigene Seele wesentlich ist und so spricht sie den Menschen, schlicht gesagt, „persönlich“ an. Darüber freut sich die Seele, wie Augustin sagt, und: „Sie nährt sich von dem, woran sie sich freut.“9. Es ist die Freude darüber, als ungeteilt sein zu dürfen, was ich bin: leiblich, geistig, religiös. Die Seele als „Ort der Freude“ ist so auch der „Ort des Gewissens“10, an dem das Ich sich seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst wird.
5. Seelsorge ist unverzichtbares kirchliches Handeln
Gerade wenn wir mit Zerfaß Seelsorge unter anderem als Erfahrung von „Gastfreundschaft“ beschreiben wollen, wird deutlich, dass sie auch als eine Weise verstanden werden kann, in welcher Menschen das Evangelium begegnet. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Luther im dritten seiner „Schmalkaldischen Artikel“ zum Ausdruck gebracht hatte, dass das Evangelium neben Wort und Sakrament auch „per mutuum colloquium et consolationem fratrum“11, also durch wechselseitiges Gespräch und geschwisterliche Tröstung erfahren werde. Indem Menschen miteinander sprechen und füreinander aufmerksam werden – helfend, stärkend, herausfordernd, ratend, ermutigend – erfahren sie auch etwas von der Menschenfreundlichkeit Gottes in Christus, die in einer Gemeinde Gestalt gewinnt.
„Seelsorge findet sich in der Kirche vor…“, heißt es in diesem Sinne am Beginn einer der einflussreichsten Seelsorgelehren des 20. Jahrhunderts12 Dieser Satzanfang muss sowohl deskriptiv wie normativ verstanden werden. Kirche ist nicht Kirche ohne Seelsorge und sie kann es nicht sein. Wir haben als diese nicht zu überlegen, ob wir Seelsorge wollen oder nicht. Seelsorge als die Realisierung einer helfenden Beziehung zwischen Menschen, die sich im Horizont des Glaubens geschwisterlich verbunden wissen, gehört zur Auftragsgestalt der Kirche – nicht mehr und nicht weniger als der Gottesdienst, die Verkündigung oder der Unterricht. Damit sollten freilich Menschen außerhalb der Kirche von Erfahrungen seelsorglichen Handelns bewusst nicht ausgeschlossen werden. In der Seelsorge und durch sie könnte kirchliches Handeln gerade als grenzüberschreitend in Erscheinung treten.
6. Seelsorge ist eine Brücke zur entkirchlichten Welt
Längst ist die Welt, die uns täglich umgibt, weithin säkular geworden, und viele Menschen sind den Kirchen entfremdet. Was in ihnen gesprochen wird, ist vielen religionslos gewordenen Zeitgenossen nicht mehr ohne weiteres verständlich. Und auch von denen, die zur Kirche gehören, gibt es viele, die mit den überlieferten Worten des Glaubens für sich nicht mehr viel verbinden können.13 Und doch ist ein Interesse da, das was die „Seele“, das was „unbedingt“ angeht, zu kommunizieren. Der Seelsorge könnte in dieser Situation eine echte Brückenfunktion zur Welt zukommen. Sie ist eine Möglichkeit, Menschen ganz unmittelbar anzusprechen, ohne Vermittlung durch Formen oder Formeln des kirchlichen Lebens. Seelsorge ist Kommunikation über seelische Fragen, ohne besondere religiöse Voraussetzungen dafür zu fordern. In Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, einem unverkennbar nachchristlichen Roman, gibt es den Vorschlag für die Einrichtung eines „Weltsekretariats der Genauigkeit und Seele“ – von Ulrich, dem „Romanhelden“ zunächst „aus Spaß“, später immer ernsthafter erwogen. Dahinter steht das noch ganz unsichere Gefühl, es sei etwas nötig, „damit die Leute, die nicht in die Kirche gehen, wissen, was sie zu tun haben.“14 Es geht bei „Genauigkeit und Seele“ keineswegs nur um Moral, sondern um die den Menschen zuwachsenden Fragen, die durch Wissenschaft allein nicht zu beantworten sind. Seelsorge als „Dialog um Seele“ kann Menschen in ihrem Bemühen um Selbstreflexivität und Tiefe begleiten. Sie ist ein echter Dienst an den Menschen. Und wenn Seelsorge diesen an den verschiedenen Orten, wo sich das nahe legt, ausübt, dann nimmt sie eine Brückenfunktion wahr. Sie sollte es tun ohne aufdringlich-missionarische Absichten. Vielleicht jedoch eröffnet sie so dann auch wieder ein Zurückfragen nach dem, was sie zu ihrem Tun autorisiert.15
7. Seelsorge geschieht auf vielfältige Weise
Von anderen Formen einer helfenden Beziehung – etwa in der Sozialarbeit, bei unterschiedlichen Beratungsdiensten, in der Therapie – unterscheidet sich Seelsorge durch eine Vielfalt der Vollzugsformen Immer wieder wird es in der pastoralen Praxis Situationen geben, bei denen gar nicht klar ist, ob sie als „Seelsorge“ bezeichnet werden können. Die Grenzen zwischen einer informellen Begegnung und einem seelsorglichen Gespräch sind oft fließend. Zu denken ist hier an Gelegenheiten, bei denen sich ein Kontakt eher zufällig ergibt: das Gespräch am Schluss eines Gottesdienstes oder einer Gemeindeveranstaltung, die ungeplante Begegnung auf der Straße oder beim Spaziergang. Ähnliches gilt für manche kasuellen Anlässe – bei den vorbereitenden Gesprächen für Taufe, Trauung, Beerdigung, bei einem routinemäßig durchgeführten Geburtstagsbesuch, bei einem Begrüßungskontakt usw. Hilfreich kann hier die Unterscheidung von funktionaler und intentionaler Seelsorge sein, also einer Seelsorge, die sich „bei Gelegenheit“ ergibt, und einer Seelsorge, die bewusst als seelsorgliche Begegnung geplant und vereinbart wird. Wichtig ist es, alle diese Begegnungsformen als mögliche Gelegenheiten zur Seelsorge wahrzunehmen und für die Chancen der jeweiligen Situation offen zu sein. Seelsorge ist nicht festgelegt auf ein bestimmtes „setting“ – etwa den Besuch am Krankenbett oder das ausdrücklich vereinbarte Gespräch im Pfarrhaus. Für eine Seelsorgelehre haben diese Formen intentionaler Seelsorge freilich eine herausragende Bedeutung, denn an ihnen kann man in der begleitenden kritischen Reflexion erkennbar machen, was tendenziell auch für die weniger eindeutig strukturierten Prozesse einer funktionalen Seelsorge zutrifft.
8. Seelsorgelehre ist kritisch-konstruktiv auf Seelsorgepraxis bezogen
Seelsorgelehre – in der Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts: Poimenik16 – ist auf Praxis angewiesen und auf sie bezogen. Sie lehrt nicht eigentlich Seelsorge, aber sie lehrt Seelsorge besser zu verstehen und sie in den Zusammenhang pastoralen Handelns und kirchlicher Lehre einzuordnen. In der Seelsorgelehre werden Kriterien entwickelt für die theologische und humanwissenschaftliche Beurteilung geschehener und geschehender Seelsorge. Darüber hinaus richtet sie ihr Augenmerk auf den Zusammenhang des seelsorglichen Handelns mit anderen Weisen zwischenmenschlicher Hilfebemühungen und deren wissenschaftlicher Reflexion in unserer Gesellschaft.
Der Ansatz unserer Seelsorgelehre ist ein pastoralpsychologischer. Die pastoralpsychologische Herangehensweise bedeutet dabei methodisch, dass die Konfliktlagen des Einzelnen und der zwischenmenschliche Kommunikationsvorgang in der Seelsorge auch unter humanwissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet werden. Zugleich ist damit eine prinzipielle Offenheit für Handlungsansätze und Handlungsmodelle intendiert, die durch die pastoralpsychologische Bewegung für die Seelsorgepraxis erschlossen wurden.
Stärker als in dieser poimenischen Tradition bisher üblich geht es in der vorliegenden Einführung in die Seelsorgelehre darum, auch die kontextuellen Faktoren, die für Selbsterfahrungen des Einzelnen relevant sein könnten, in die Darstellung einzubeziehen. Individuelle Probleme haben oft soziale Ursachen. Seelsorgliches Handeln geschieht immer in einer konkreten gesellschaftlichen und kulturellen Situation. Sie genau wahrzunehmen heißt auch, die Bedingungen zu erkennen suchen, die für die spezifischen Lebens- und Leidenserfahrungen des Einzelnen verantwortlich sind.
Fazit: Und was ist nun eigentlich Seelsorge?
Der Wunsch nach einer schlüssigen Definition ist gut verständlich, aber kaum erfüllbar, und das nicht nur mangels Sprachkraft, sondern letztlich wegen der Eigenart der „Seele“, deren Wesen jeder Art von Definition entgegensteht. Von ihr sagt Heraklit (5. Jh. v.Chr.): „Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, wenn du auch alle Wege absuchtest, so tiefgründig ist ihr Wesen.“17
Versuchen wir dennoch eine Definition, müssen wir zunächst ziemlich allgemein bleiben. Etwa so:
Seelsorge ist zwischenmenschliche Hilfe durch personale Kommunikation in religiösen Kontexten.
Dies ist eine sehr allgemeine Umschreibung. Sie versucht der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es nicht nur christliche Seelsorge gibt, sondern auch beispielsweise jüdische und muslimische. Vielleicht empfindet aber mancher schon die Bestimmung „in religiösen Kontexten“ als einengend. Es gibt auch „weltliche“ oder neuerdings auch „philosophische“ Seelsorge. In der Tat ist Religionszugehörigkeit im persönlichen oder im rechtlichen Sinne keine Voraussetzung für Seelsorge, wohl aber ist eine Offenheit für das notwendig, was „menschlich und wesentlich“ ist. Denn darum geht es, wenn wir uns um die „Seele“ sorgen. Der Seele aber eignet, wie Heraklit sagt, eine „Tiefe“, und das bedeutet, dass sie in Bereiche führt, die wir dem Religiösen zurechnen.
Wenn wir nun die zunächst sehr allgemeine Definition mit der für christliche Seelsorge verbinden, könnte man auch so formulieren:
Seelsorge als „Sorge um die Seele“ kann umfassend als Sorge um das Menschsein des Menschen verstanden werden. Sie vollzieht sich in der vertrauensvollen Kommunikation existentieller Fragen im Horizont des christlichen Glaubens.
Wenn wir die Definition von Seelsorge nun in verschiedenen Fragehinsichten spezifizieren wollen, kommen wir zu folgenden Bestimmungen:
–Theologisch: „Seelsorge ist Zuwendung zum einzelnen Menschen als ‚Kommunikation des Evangeliums’“.18 Man könnte im gleichen Sinne von Seelsorge auch als „Vollzug christlicher Anthropologie“19 sprechen. (s. Kap. 4)
–Psychologisch kann Seelsorge verstanden werden als Beratung bei existentiellen und spirituellen Problemen im Rahmen eines relativ offenen Settings. (s. Kap.5)
–Soziologisch ließe sich Seelsorge beschreiben als intendierte Praxis solidarischer Gemeinschaft im kirchlichen Kontext. (s. Kap.1)
–Ekklesiologisch betrachtet ist Seelsorge Wesensmerkmal der christlichen Kirche als Gemeinschaft des Glaubens, konkret erlebbar durch die Gemeinde und in ihr. (s. Kap.4,4);
–Pastoraltheologisch gesehen ist Seelsorge geistlicher Auftrag und berufliche Aufgabe kirchlicher Mitarbeiter in den „Verkündigungsdiensten“, besonders im Pfarrberuf, aber auch ein wichtiges Engagement von Ehrenamtlichen in spezifischen Arbeitsfeldern. (s. Kap.7).
Alles dies sind Bestimmungen von Seelsorge, wie sie sich von unterschiedlichen Standorten her ergeben. Sie sind zutreffend und erweitern unser Bild von Seelsorge. Sie sollten aber andere Sichtweisen nicht ausschließen – die der Leiblichkeit etwa oder die einer ethischen Orientierung (s. Kap.4.3 und 4.5). Es ist wichtig, die Dynamik seelsorglichen Engagements in unserer Welt und Kirche nicht unnötig einzugrenzen. In unterschiedlichen Kontexten und unter unterschiedlichen Bedingungen hat Seelsorge jeweils eine andere Ausdrucksgestalt. Das gehört zu ihrem Wesen.20
Ist Seelsorge auch „missionarisch“? So wird gelegentlich gefragt. Seelsorge ist keine Missionsmethode, und sie will nicht Mitglieder werben. Aber wenn Seelsorge ist, was sie ist und soll, dann wirkt sie „missionarisch“21, weil sie Menschen an der Kraft des Evangeliums Anteil gibt, ohne dieses kirchlich zu etikettieren und ohne Gegenleistung zu erwarten.
In diesem Zusammenhang ist noch ein Wort notwendig zum unterschiedlichen Sprachgebrauch in der katholischen und in der evangelischen Kirche, Katholischerseits hat man bei „Seelsorge“ meist das mit im Blick, was traditionell die cura animarum generalis genannt wird, also den gesamten Bereich der Zuwendung zu den Menschen in der Gemeindearbeit (der Pastoral).22 Evangelischerweise ist dabei immer die cura animarum specialis gemeint, also ein besonderer Sektor der Gemeindearbeit, konkret die persönliche Begegnung mit dem Einzelnen, in der Regel das seelsorgliche Gespräch. So auch in diesem Buch. Wenn man den Unterschied beachtet, lässt sich über Seelsorge in Praxis und Theorie problemlos ökumenisch kommunizieren.
Was die Literatur zu Seelsorge und Seelsorgelehre anlangt, herrscht heute (2014) ein Wohlstand ohnegleichen. Es ist angesichts dessen nicht ganz leicht, den Überblick zu behalten. In den letzten Jahren sind kaum noch Forschungsberichte zur Seelsorge erschienen. Dafür ist jetzt an Lehrbüchern kein Mangel. Zuerst hatte Klaus Winkler 1997 mit seiner Seelsorge (22000), Jahrzehnte nach Thurneysen, wieder ein Lehrbuch vorgelegt, in dem er authentisch und eigene Weise eine psychoanalytisch fundierte Seelsorgelehre dargelegt hatte. Souveräne Kenntnis von Theorie und Praxis gegenwärtiger Seelsorge zeichnet Michael Klessmanns Seelsorge (2008) aus. Auch Klessmanns Sichtweise ist pastoralpsychologischer Natur, freilich mit großer Offenheit für die inzwischen vielfältig gewordene Seelsorgelandschaft. Das gilt in gleicher Weise für Christoph Morgenthalers Seelsorge (2009), einem überzeugend gegliederten und originell durchgeführten Werk. Die jüngste Seelsorglehre stammt von Michael Herbst (2012). Herbst bemüht sich in seinem monumentalen Werk um eine integrative Sichtweise von Seelsorge, die dann durch exemplarische Darstellung seelsorglicher Praxissituationen (Eheseelsorge, Kinderkrankenhaus) demonstriert wird. Zu diesen Lehrbüchern gesellt sich das von Wilfried Engemann herausgegebene Handbuch der Seelsorge (2007, 32015). Darin werden schulübergreifend von verschiedenen Autoren grundlegende Themen der Seelsorge und Seelsorgetheorie behandelt. Für eine grundlegende Orientierung im Fachgebiet Seelsorge muss auch unbedingt das Buch der katholischen Theologin und Medizinerin Doris Nauer, Seelsorge. Sorge um die Seele (2007) genannt werden. Dies Buch ist eine Art Fundamentalpoimenik, interdisziplinär und ökumenisch. Zu den wichtigen Werken der Seelsorgelehre gehören nach wie vor das von Isidor Baumgartner herausgegebene Handbuch der Pastoralpsychologie (1990) sowie dessen eigene Pastoralpsychologie (1990). Im Grunde sind dies auch Seelsorgelehren, einer eher katholischen Begriffstradition folgend.
Wer eine fundierte und anregende Orientierung für die Praxis des seelsorglichen Gesprächs sucht, dem sei Unter vier Augen von Hans van der Geest (62002) empfohlen. In dem Buch werden wichtige Themen der Seelsorge an Hand von ausführlichen Praxisdokumentationen behandelt. Praktische Hilfen für Haupt- und Ehrenamtliche bietet Wolfgang Wiedemann in seinem, ganz aus der tiefenpsychologischen Tradition kommenden Buch Keine Angst vor der Seelsorge (2009) und jüngst auch Anfreas von Heyl mit einem Leitfaden zur Seelsorge (2014).
Ein erster Zugang zu der für die Entwicklung der pastoralpsychologisch orientierten Seelsorge so bedeutsamen nordamerikanischen Literatur kann über einzelne Artikel des profunden DPCC (1990) gefunden werden. Eine knappe, übersichtliche Einführung bietet Charles V. Gerkin (1997).
Eine unschätzbare Hilfe für alle theoretische Beschäftigung mit Seelsorge und Pastoralpsychologie stellt die Bibliographie zur evangelischen Seelsorgelehre von Martin Jochheim (1997) dar. Diese wertvolle Arbeit hat bisher leider keine Fortsetzung gefunden.
Überblicksartikel zu wichtigen poimenischen Neuerscheinungen sind zuletzt u.a. von Jochen Cornelius-Bundschuh (2002) und von Michael Klessmann (1999, 2001, 2003) erschienen.
Wörterbücher, bibliographische Hilfsmittel und Überblicke:
Cornelius-Bundschuh, Jochen: Aufbruch, Differenzierung und Konsolidierung. Tendenzen in der neueren Seelsorgeliteratur, in: Verkündigung und Forschung 47, 2002, 48–70
Dieterich, Michael u.a. (Hg.): Wörterbuch Psychologie und Seelsorge, Wuppertal 1996
Gastager, Heimo u.a. (Hg.): Praktisches Wörterbuch der Pastoralanthropologie, Göttingen 1975
Hunter, Rodney J. (Hg.): Dictionary of Pastoral Care and Counseling. Nashville 1990 (DPCC)
Jochheim, Martin: Bibliographie zur evangelischen Seelsorgelehre und Pastoralpsychologie, Bochum 1997
Klessmann, Michael: Seelsorge zwischen Energetik und Hermeneutik, in: PTh 90, 2001, 39–5
– Integration und Differenzierung, in: PTh 92, 2003, 127–143
– Neue Akzente in der Seelsorge, in: PTh 97, 2008, 2–13
Zeitschriften:
International Journal of Practical Theology, Berlin/New York 1, 1997ff.
Journal of Pastoral Care/ (seit 2002:) Journal of Pastoral Care and Counseling, Kutztown, N.Y. 1, 1947ff.
Journal of Pastoral Counseling, New York 1, 1966ff.
Lebendige Seelsorge, Freiburg i.Br. 1, 1950ff.
Pastoral Psychology, Great Neck, N.Y. 1, 1950ff.
Pastoraltheologie. Monatsschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft, Göttingen 1, 1911ff.
Praktische Theologie. Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Kirche, Gütersloh 1, 1966ff. (bis 1993 Theologia Practica)
Psychotherapie und Seelsorge, Kassel 2005ff.
Wege zum Menschen. Monatsschrift für Seelsorge und Beratung, heilendes und soziales Handeln, Göttingen 1948ff.
Gesamtdarstellungen, Handbücher:
Ahlskog, Gary/Sands, Harry (Hg.): The Guide to Pastoral Counseling and Care. Madison 2000
Asmussen, Hans: Die Seelsorge. Ein praktisches Handbuch über Seelsorge und Seelenführung, München 1933, 41937
Baumgarten, Otto: Protestantische Seelsorge, Tübingen 1931
Baumgartner, Isidor (Hg.): Handbuch der Pastoralpsychologie, Regensburg 1990
Baumgartner, Isidor: Pastoralpsychologie, Düsseldorf 1990
Becker, Ingeborg. u.a. (Hg.): Handbuch der Seelsorge, Berlin 1983, 41990
Clinebell, Howard: Modelle beratender Seelsorge, München 1971
Engemann, Wilfried (Hg.): Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 2007 (HbS)
Friedman, Dayle E.: Jewish Pastoral Care. A Practical Handbook from Traditional and Contemporary Sources, Woodstock 2001
Gerkin, Charles V.: An Introduction to Pastoral Care, Nashville 1997
Grund, Friedhelm: Menschenfreundliche Seelsorge. Ein Leitfaden, Gießen 2006
Hauschildt, Eberhard: Art. Seelsorge II. praktisch-theologisch, in: TRE 31, 2000, 31–54 – Art. Seelsorgelehre, in: TRE 31, 2000, 54–74
Herbst, Michael: beziehungsweise: Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge, Neukirchen 2012
Kiesow, Ernst-Rüdiger: Die Seelsorge, in: Handbuch der Praktischen Theologie, Bd. 3, Berlin 1978, 141–262
Klessmann, Michael: Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen 2008, 42012
Merle, Kristin/Weyel, Birgit (Hg.): Seelsorge. Quellen von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2009
Morgenthaler, Christoph, Seelsorge, Gütersloh 2009
Nauer, Doris: Seelsoge. Sorge um die Seele, Stuttgart 2007, 3. überarbeitete und erweiterte Auflage 2014
Nicol, Martin: Grundwissen Praktische Theologie, Stuttgart 2000, 99–129
Ruthe, Reinhold: Die Seelsorge-Praxis. Handbuch für Beratung und Therapie –Lebensstilanalyse – Gesprächsführung – Familienberatung, Moers 1998
Scharfenberg, Joachim: Einführung in die Pastoralpsychologie, Göttingen 1985. 21994
Schütz, Werner: Seelsorge, Gütersloh 1977
Stollberg, Dietrich: Art. Seelsorge, in: EKL IV, 1996, 173–188
Thurneysen, Eduard: Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 21957
Thurneysen, Eduard: Seelsorge im Vollzug, Zürich 1968
Trillhaas, Wolfgang: Der Dienst der Kirche am Menschen, Berlin 21958
Uhsadel, Walter: Evangelische Seelsorge, Praktische Theologie Bd. 3, Heidelberg 1966
Wicks, Robert J. u.a. (Hg.): Clinical Handbook of Pastoral Counseling, Vol. I und II. Mahwah, N.J. 1993
Winkler, Klaus: Seelsorge, Berlin/New York 1997, 22000
Wintzer, Friedrich (Hg.): Seelsorge. Texte zum gewandelten Verständnis und zur Praxis der Seelsorge in der Neuzeit, München 1978, 31988
Weitere Literatur zur Seelsorge allgemein:
Baumann, Urs/Reuter, Mark/Teuber, Stephan: Seelsorgliche Gesprächsführung. Ein Lernprogramm, Düsseldorf 1996
Bell, Desmond/Fermor, Gotthard (Hg.): Seelsorge heute. Aktuelle Perspektiven aus Theorie und Praxis, Neukirchen 2009
Bernet, Walter: Weltliche Seelsorge. Elemente einer Theorie des Einzelnen, Zürich 1988
Blühm, Reimund u.a.: Kirchliche Handlungsfelder, Stuttgart/Berlin/Köln 1993, 60–104
Dieterich, Michael: Seelsorge kompakt, Wuppertal 2006
Geest, Hans van der: Unter vier Augen. Beispiele gelungener Seelsorge, Zürich 1981, 62002
Gutmann, Hans-Martin: Und erlöse uns von dem Bösen. Die Chance der Seelsorge in Zeiten der Krise, Gütersloh 2005
Handbuch interkulturelle Seelsorge, hg. Karl Federschmidt u.a., Neukirchen 2002
Hartmann, Gert: Lebensdeutung, Göttingen 1993
Held, Peter: Systemische Praxis in der Seelsorge, Mainz 1998
Heyl, Andreas von: Seelsorge. Ein Leitfaden, Freiburg 2014
Josuttis, Manfred: Segenskräfte. Potentiale einer energetischen Seelsorge, Gütersloh 2000
Karle, Isolde: Seelsorge in der Moderne, Neukirchen 1996
Kohler, Eike: Mit Absicht rhetorisch. Seelsorge in der Gemeinschaft der Kirche, Göttingen 2006
Kramer, Anja/Schirrmacher, Freimut (Hg.): Seelsorgliche Kirche im 21. Jahrhundert, Neukirchen 2005
Kramer, Anja/Ruddat, Günter/Schirrmacher, Freimut (Hg.): Ambivalenzen der Seelsorge. FS Michael Klessmann, Neukirchen 2009
Lemke, Helga: Personzentrierte Beratung in der Seelsorge, Stuttgart 1995
Morgenthaler, Christoph: Systemische Seelsorge, Stuttgart 1999, 42005
Morgenthaler, Christoph/Schibler, Gina: Religiös-existentielle Beratung. Eine Einführung, Stuttgart 2002
Nauer, Doris: Seelsorgekonzepte im Widerstreit. Ein Kompendium, Stuttgart 2001 – Seelsorge. Sorge um die Seele, Stuttgart 2007
Piper, Hans-Christoph: Einladung zum Gespräch. Themen der Seelsorge, Göttingen 1998 – Kommunizieren lernen in Seelsorge und Predigt, Göttingen 1981
Pohl-Patalong, Uta: Seelsorge. Konzeptionen/Kontakte/Lebensgestaltung/Seelsorgegespräche, in: Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 675–686
Rauchfleisch, Udo: Arbeit im psychosozialen Feld. Beratung, Begleitung, Psychotherapie, Seelsorge, Göttingen 2001
Riedel-Pfäfflin, Ursula/Julia Strecker: Flügel trotz allem. Feministische Seelsorge und Beratung, Gütersloh 21999
Riess, Richard: Seelsorge, Göttingen 1973
– Die Wandlung des Schmerzes. Zur Seelsorge in der modernen Welt, Göttingen 2009
Rolf, Sibylle: Vom Sinn zum Trost. Überlegungen zur Seelsorge im Horizont einer relationalen Ontologie, Münster 2003
Scharfenberg, Joachim: Seelsorge als Gespräch, Göttingen 1972, 51991
Schibler, Gina: Kreativ-emanzipierende Seelsorge. Konzepte der intermedialen Kunsttherapien als Herausforderung an die kirchliche Praxis, Stuttgart 1999
Schneider-Harpprecht, Christoph (Hg.): Zukunftsperspektiven für Seelsorge und Beratung, Neukirchen 2000
– Interkulturelle Seelsorge, Göttingen 2001
– Seelsorge – christliche Hilfe zur Lebensgestaltung. Aufsätze zur interdisziplinären Grundlegung praktischer Theologie, Berlin 2012
Schneiderei-Mauth, Heike: Ressourcenorientierte Seelsorge, Salutogenese als Modell für seelsorgliches Handeln, Gütersloh 2015
Schmid, Peter F.: Im Anfang ist Gemeinschaft. Personzentrierte Gruppenarbeit in Seelsorge und praktischer Theologie. Beitrag zu einer Theologie der Gruppe, Stuttgart 1998
Seitz, Manfred: Praxis des Glaubens. Gottesdienst, Seelsorge und Spiritualität, Göttingen 31985
Stollberg Dietrich: Mein Auftrag – Deine Freiheit, München 1972
– Seelsorge praktisch, Göttingen 1970
Thilo, Hans-Joachim: Beratende Seelsorge. Tiefenpsychologische Methodik, dargestellt am Kasualgespräch, Göttingen 1971
Weiß, Helmut: Seelsorge – Supervision – Pastoralpsychologie, Neukirchen 2014
Wenz, Georg/Kamran, Talat (Hg.): Seelsorge und Islamin Deutschland, Seyer 2012
Wiedemann, Wolfgang: keine Angst vor der Seelsorge. Praktische Hilfen für Haupt- und Ehrenamtliche, Göttingen 2009
Wittrahm, Andreas: Seelsorge, Pastoralpsychologie und Postmoderne, Stuttgart 2001
Zerfaß, Rolf: Menschliche Seelsorge, Freiburg 31985
1Buber, Martin: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, 646.
2Es erscheint durchaus sinnvoll, in der Nachfolge Sigmund Freuds auch von „weltlicher Seelsorge“ zu sprechen: vgl. etwa: Bernet, Walter: Weltliche Seelsorge. Elemente einer Theorie des Einzelnen, Zürich 1988. Über „philosophische Seelsorge“ vgl.: Schmid, Wilhelm: Was macht ein Philosoph im Krankenhaus, in: Kursbuch 175, Hamburg 2013, 90ff.
3Versuche, den Begriff „Seelsorge“ auch anderen Bereichen, etwa der Tätigkeit eines Arztes zuzuordnen, sind eher peripher geblieben: Frankl, Viktor: Ärztliche Seelsorge, Frankfurt a.M. 41995.
4Die großen Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD von 1974 und 1984 brachten die besondere Wertschätzung von Seelsorge und religiöser Kommunikation durch die Gemeindeglieder zum Ausdruck. Auch die Erhebungen von 1954 und 2004 weisen in diese Richtung: Engelhardt, Klaus u.a. (Hg.): Fremde Heimat Kirche, Gütersloh 1997, 357ff.; Huber, Wolfgang (Hg.): Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Gütersloh 2006, 355ff.
5Zerfaß, Rolf: Menschliche Seelsorge, Freiburg 31985, 28; vgl. dort auch den Gesamtzusammenhang 11–32; ferner: Baumann, Urs u.a.: Seelsorgerliche Gesprächsführung, Düsseldorf 1996, 61; Wagner-Rau, Ulrike: Auf der Schwelle, Stuttgart 2009, 97–118.
6Vgl. Horst Seebass in. Art. Seele II. 2 Alter Orient und Altes Testament, in RGG4 Bd. 7, Tübingen 2004, 1092.
7Ausführliche Darlegungen zum biblischen Seelenbegriff mit deutlich antidualistischer Ausrichtung bei: Naurath, Elisabeth: Seelsorge als Leibsorge, Stuttgart 2000, 20–43 und Nauer, Doris: Seelsorge, Stuttgart 2007, 23–43; vgl. auch Stock, Konrad. Art. Seele VI. Theologisch, in: TRE 30, Berlin 1999, 759–773, 771; Herbst, Seelsorge, 177–192; Eberhardt, Hermann: Praktische Seelsorge-Theologie, Bielefeld 21993, 19–53.
8Vgl. zu diesem Gedanken Schirrmacher, Freimut: Seelsorge als Beziehungsgeschehen, Neukirchen 2012, 94f.
9Augustin, Bekenntnisse, übertragen von Herman Hefele, Berlin 1959, Kap.13, 26f.
10Vgl. Naurath, Elisabeth: Art. Seele III.4. Praktisch-theologisch, in. RGG4 Bd. 7, Tübingen 2004, 1105.
11Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Berlin 51960, 449.
12Thurneysen, Eduard: Die Lehre von der Seelsorge, Zürich 21957, 9.
13Längst ist die Diagnose. die Dietrich Bonhoeffer schon 1944 dem traditionellen Christentum stellte, durch Erfahrungen erhärtet: Die großen Worte des Glaubens können den Menschen nicht mehr die Botschaft mitteilen, die hinter ihnen steht. Widerstand und Ergebung, Berlin 1972, 327ff.
14Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, (10. Kapitel) Bd. 2, Berlin 1975, 99f.; vgl. a.a.O., 106. 456.
15In diesem Sinn darf dann durchaus auch von „Mission“ gesprochen werden: Seelsorge als Angebot ohne Erwartung von Gegenleistung.
17Die Vorsokratiker, übersetzt von Wilhelm Capelle, Berlin 1958, 144.
18Meyer-Blanck, Michael: Theologische Implikationen der Seelsorge, in: HbS, 19–33, 31.
19so Lammer, Kerstin: Beratung mit religiöser Kompetenz. Beiträge zu pastoralpsychologischer Seelsorge und Supervision, Neukirchen 2012, 22; vgl. auch Herms, Eilert: Pastorale Beratung als Vollzug theologischer Anthropologie, in. WzM 29, 1977, 202–223.
20Der katholische Theologe Wolfgang Reuter nennt diesen Sachverhalt heutiger Seelsorge „Relationalität“ und diesen entspricht eine „multiperspektivische Offenheit“ in der Seelsorgepraxis: Reuter, Wolfgang: Relationale Seelsorge, Stuttgart 2014, 224. 227.
21Vgl. Ziemer, Jürgen: Seelsorge und Mission. Zu Orientierung in einem schwierigen Feld, in: Seelsorge – Muttersprache der Kirche, epd-Dokumentation, Hannover 2010, 6–12.
22Zu den unterschiedlichen Begriffen von Seelsorge und zur „Pastoral“ vgl. die Darstellungen und Bestimmungen von Doris Nauer, Seelsorge. Sorge um die Seele, Stuttgart 2007, 55ff; 62f.
In der Seelsorge begegnet uns der Mensch als Einzelner mit seinen Fragen und Konflikten, mit seinen körperlichen, seelischen und geistlichen Leiden. Die Probleme, die in der Seelsorge zur Sprache kommen, können aktuell veranlasst und/oder lebensgeschichtlich verankert sein. Sie dürften in aller Regel auch ein Reflex auf die mikro- und makrosozialen Gegebenheiten sein, in denen sich das Individuum befindet. Die „Befindlichkeit“ des Einzelnen hat immer auch einen Außenaspekt. Seelsorgliche Arbeit muss darum verbunden sein mit wacher Aufmerksamkeit für die Verhältnisse, in denen das Individuum lebt. Anders als in der konkreten Situation einer seelsorglichen Begegnung, in der die primäre Aufmerksamkeit dem Individuum gilt, ist es in der Seelsorgelehre wenn auch nicht üblich, so doch sinnvoll, zunächst den Blick auf die Welt des Einzelnen zu richten, ehe der Einzelne in seiner Welt wahrgenommen wird. Das ist im Rahmen einer kurzen Einführung nicht einfach zu leisten – zumal wir von Welt- und Gesellschaftsdeutungen unterschiedlichster Provenienz geradezu überschwemmt werden. Die Flut soziologischer und sozialphilosophischer Deutungsliteratur weist ja offensichtlich auf eine erhöhte Deutungsbedürftigkeit des gesellschaftlichen Seins und Lebens in der Gegenwart hin. Die ambivalenten Welterfahrungen der Individuen in der Moderne und mit der Moderne rufen mehr denn je das Verlangen hervor, Zusammenhänge und Ursachen zu erkennen. Für die Seelsorgelehre sollen hier wichtige Einsichten und Klärungsversuche soziologischer und religionssoziologischer Natur festgehalten werden. Das kann nicht umfassend und systematisch geschehen, sondern nur entlang der eigenen Wahrnehmungen und im Hinblick auf eine mögliche Relevanz für die seelsorgliche Arbeit.
Fragen wir nach einer Kernerfahrung, die das soziale und individuelle Leben in Deutschland (und darüber hinaus wohl auch in ganz Europa) zu charakterisieren vermag, ist wohl zuerst an den spürbaren Verlust an Sicherheit und Gewissheit zu denken. Der Begriff „Verlust“ legt dabei nahe, davon auszugehen, dass es vormals ein Mehr an Sicherheit und Orientierungsgewissheit gab. Ob das objektiv so war, können wir hier dahingestellt sein lassen. Nostalgische Verklärungseffekte sind nie auszuschließen. Subjektiv empfinden viele Menschen in unserer Gesellschaft jedenfalls einen Verlust. Und das ist mehr als nur ein verschwommenes Gefühl. Paradoxerweise muss diese Verlusterfahrung als die Kehrseite von gewachsenen Lebenschancen, neuen Daseinsmöglichkeiten und erhöhtem Freiheitsgewinn angesehen werden. Die „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) schattet ihre Strukturen und Problemlagen auch in den familiären und privaten Beziehungen des Einzelnen ab. Davon wird noch en detail zu reden sein. Zunächst sei an die überindividuellen Erfahrungen eines Sicherheitsverlustes erinnert.
•Im Bereich der modernen Technologie und der industriellen Warenproduktion erleben wir seit Jahrzehnten einen phantastischen Zuwachs an Lebens- und Erlebensmöglichkeiten. Mit Hilfe der mehr und mehr automatisierten Großproduktion können in nahezu unbegrenzter Quantität Nahrungsmittel und andere Lebensgüter hergestellt werden; digitale Kommunikationsnetze weltumspannender Reichweite lassen räumliche Distanzen zwischen Menschen und Institutionen gegen Null zusammenschrumpfen; neue Forschungsmethoden und präzisere Untersuchungsinstrumentarien erschließen immer mehr die Geheimnisse der Mikro- und Makrowelt des Lebens. Aber zugleich geht diese „gesellschaftliche Produktion von Reichtum einher mit der Produktion von Risiken“. Wir bekommen es zunehmend zu tun mit ganz neuen „Problemen und Konflikten, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen.“1 Es sind vor allem die ökologischen Risiken, die uns unsicher werden lassen, ob die Luft, die wir atmen, nicht verpestet, ob der Boden, den wir bebauen, nicht verseucht, ob das Wasser, das wir trinken, nicht vergiftet ist. Aber es wächst darüber hinaus auch die Angst vor Katastrophen, die das Leben auf der Erde generell gefährden. Dabei sieht sich der Einzelne, der von den wissenschaftlich-technischen Entscheidungsprozessen viel zu weit entfernt ist, immer weniger imstande zu beurteilen, wie real die heraufbeschworenen Gefahren – etwa im Bereich der Genforschung und deren Anwendung – wirklich sind.
•Auf allen Ebenen der politischen Entscheidungsprozesse werden zunehmend neue Gefahren „produziert“. Paradoxerweise sind diese Gefahren nach der Überwindung des politischen, ideologischen und militärischen Ost-West-Gegensatzes eher gestiegen als gesunken. Die allgemeine politische Situation ist an den Rändern Europas, im Nahen Osten und in der islamischen Welt unberechenbarer geworden. Das Bewusstwerden historischer Ungerechtigkeiten, ethnischer Unterdrückung und die Erfahrungen offensichtlicher und schwerwiegender Chancenungleichheiten schaffen ein Konfliktpotenzial, das mit demokratischen Mitteln schwer unter Kontrolle zu halten ist. Es wäre ganz und gar falsch, den durch die „Wende“ von 1989 erkämpften Freiheitsgewinn auch nur für einen Augenblick zur Disposition zu stellen. Aber die Gefährdungen der Freiheit und des Lebens müssen gesehen und ernst genommen werden. Zygmunt Bauman spricht von neuen Erfahrungen einer „Weltunordnung“: „Seit das große Schisma aus dem Wege ist, sieht die Welt nicht mehr aus wie eine Totalität; sie sieht eher aus wie ein Feld zerstreuter und disparater Kräfte … Niemand scheint mehr die Totalität unter Kontrolle zu haben.2 Schon stellen sich Situationen ein, die höchst gefährliche nationalistische und totalitäre Formen einer „Gegenmodernisierung“3 auf den Plan rufen.
•Ein hohes Maß an Sicherheitsverlust ist mit der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation eng verknüpft. Unabhängig von den Zyklen wirtschaftlicher Progression und Rezession müssen wir heute angesichts der immer geringer werdenden Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft in den industriellen Produktionsprozessen davon ausgehen, dass in Zukunft keineswegs mehr für jeden Arbeitswilligen auch ein Arbeitsplatz im Sinne einer Vollbeschäftigung zur Verfügung stehen wird.4 Für einen großen Teil der Bevölkerung stellt dies einen dauerhaften Destabilisierungsfaktor dar – auch wenn man in Rechnung stellt, dass neue Verteilungsmuster einen gewissen Ausgleich schaffen können. Der Einzelne gerät auf dem Arbeitsmarkt ziemlich schnell in eine Konkurrenzsituation, die ihn existenziell und psychisch überfordern kann. In einer solchen Konkurrenzsituation wächst für alle diejenigen die Unsicherheit, die mehr oder weniger aus der Leistungsnorm fallen: die schlecht Ausgebildeten, die Älteren, vielfach auch die Frauen, die Behinderten, die Ausländer und so weiter. Diese Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt könnte von einem Entsolidarisierungseffekt begleitet sein, der die Gefahr verstärkt, dass ganze Bevölkerungsgruppen zu „Verlierern“ werden.
•Zunehmend geraten die Sicherheitsrisiken für unsere persönlichsten Angelegenheiten an einer noch an einer ganz anderen Stelle ins Blickfeld: in der digitalen Welt, in die wir durch das Internet täglichen Zugang haben. Datensicherheit ist im privaten wie auch im öffentlichen Bereich ein unausweichliches Problem geworden. Täglich senden wir eine Fülle von Daten in das elektronische Medium. Wir verschicken persönliche Botschaften, beteiligen uns an Internetforen wie Facebook, nehmen Internetdienste unterschiedlichster Art in Anspruch. Alle diese Daten, so viel Vertraulichkeit auch zugesichert sein mag, sind unserer Verfügbarkeit entzogen. Es werden „Profile“ erstellt, die uns ungebeten maßgeschneiderte Werbung zutreibt. Eine verunglückte Mail, ein peinliches Foto – es entstehen unverwischbare Spuren. Viele haben es noch gar nicht begriffen, aber es entsteht in unserer Welt „eine neue Transparenz, durch die… jeder Mensch in allen Bereichen des Alltagslebens pausenlos überprüft, beobachtet, getestet, bewertet, beurteilt und in Kategorien eingeordnet werden kann.“5 Dabei ist vielfach eine Ambivalenz zu spüren: es gibt einerseits ein schier unbegrenztes Bedürfnis sich virtuellen Adressaten in einen anonymen Raum hinein mitzuteilen, andererseits die Verunsicherung und Beunruhigung darüber, was damit geschehen könnte. Es sind viele Vorkehrungen nötig, um wenigstens ein Mindestmaß man Sicherheit herzustellen. Das betrifft auch solche Dienste wie die Internetseelsorge. Sie sind absolut sinnvoll, aber nicht möglich ohne ein ganzes Arsenal an Regulierungen und Sicherungsmaßnahmen.6
Die auf den vier Ebenen – technologischer Fortschritt, Politik, Arbeitsmarkt, virtuelle Kommunikation – angedeuteten Verunsicherungsprozesse haben in gewisser Weise ihr Pendant in alltäglichen Bedrohungserfahrungen der Einzelnen. Viele Menschen haben Angst, vor allem Angst vor Gewalt. Sie fühlen sich, ihre Würde und Integrität, ihr Eigentum, ihre Gesundheit, ihre Ruhe, ihre Ordnung permanent und massiv gefährdet. Ausdruck dieser Angst ist die in unserer Gesellschaft herrschende und stetig zunehmende Kriminalitätsfurcht und Terrorismusangst. Durch ständige Gewaltinszenierungen im Fernsehen und in der Boulevardpresse wird sie noch gesteigert und gesteuert. Ganze Industrie- und Logistikunternehmen sind im Gegenzug damit beschäftigt, immer neue Schlösser, Verriegelungen und Alarmanlagen zu erfinden und zu produzieren. Ausbildungsinstitutionen bieten Selbstschutztrainings an. Die Sorge um die persönliche Sicherheit erhält einen Eigenwert. Für viele Menschen bedeuten die Verunsicherungen im täglichen Leben eine deutliche Mobilitätseinschränkung und Interaktionsbegrenzung. Aus Angst bleibt man lieber zu Hause. Dabei muss man beachten, dass den Ängsten und Bedrohungen besonders diejenigen ausgesetzt sind, die sich nicht so gut zu wehren vermögen, die in ihre Sicherheit nicht so reichlich investieren können: die sozial Schwachen, die Arbeitslosen, die Ausländer und unter ihnen nicht zuletzt ein großer Teil der Frauen. Für den weiteren Zusammenhang ist darauf aufmerksam zu machen, dass die „tägliche Verunsicherung vielleicht auch vor dem Hintergrund verlorener traditioneller Gewissheiten“7 verstanden werden muss. Mögen die Gefährdungen für die Individuen „objektiv“ nicht größer sein als zu früheren Zeiten, so sind die Menschen, die heute nur noch selten ihren Tag „mit Gott“ beginnen, ihnen doch in gewisser Weise schutzloser ausgeliefert. Insofern hat die Kriminalitätsfurcht etwas Symptomatisches. Es ist die Furcht des seines Lebens nicht mehr sicheren und des durch religiösen oder anderen Zuspruch auch nicht mehr ohne weiteres versicherbaren Menschen. Die besondere Folgegefahr angesichts der alltäglichen Verunsicherungen liegt in der deutlichen Zunahme der Aggressionsbereitschaft und in fragwürdigen, scheinbar komplexitätsreduzierenden Optionen (Fundamentalismus verschiedener Prägungen, Nationalismus, Rechtradikalismus usw.). Die Situation begünstigt die populistischen Vereinfacher jedweden Coleurs.
Haben wir die Verunsicherungserfahrung des Einzelnen und seiner Bezugsgruppen eher phänomenologisch beschrieben, so kann es jetzt hilfreich sein, zum besseren Verständnis der grundlegenden Wandlungsprozesse in unserer Gesellschaft Aspekte einer soziologischen Theorie heranzuziehen, wie sie sich einerseits im Anschluss an die Systemtheorie (Niklas Luhmann) und andererseits im Zusammenhang mit der seit Jahren geführten Postmoderne-Debatte (wofür in Deutschland stellvertretend die Namen von Wolfgang Welsch und Ulrich Beck genannt seien) ergeben haben. Das kann freilich nur in ganz knapper und fokussierender Weise geschehen – mit dem Ziel, die wichtigsten Theorieelemente der gegenwärtigen Diskussion für unseren poimenischen Zusammenhang zur Verfügung zu stellen.8
1. Differenzierungen in der Gesellschaft
Grundlegend für das Verständnis des Wandels unserer Gesellschaft – also für Modernisierungsvorgänge, an denen wir Anteil haben – ist die Einsicht in die neuen Differenzierungsprozesse innerhalb der Sozialstrukturen. Dabei treten an die Stelle bisheriger „stratifikatorischer“ (also etwa schichtspezifischer) Differenzierungen andere eher „funktionale“ Differenzierungsformen. Das hat weitreichende Konsequenzen für unser Selbst- und Weltverständnis. Für den Einzelnen bedeutet das, dass seine soziale und personale Existenz etwa als Arbeiter, Christ, Familienvater, Wähler, Vereinsmitglied ihn mit ganz unterschiedlichen Erfahrungsbereichen, die kaum noch etwas miteinander zu tun haben, in Beziehung bringt. Einzelpersonen und soziale Organisationen stehen nicht mehr in einem überschaubaren und stabilen Zuordnungsrahmen zueinander, sondern sie sind gegebenenfalls funktional aufeinander bezogen. Die Sozialbeziehungen sind von daher weitgehend gelockert und entflochten. „Ein gemeinsamer Nenner dieser Konsequenz dürfte in einem Zuwachs an Komplexität, in einer Reduktion von zentralistischen Kontrollchancen und in der Generalisierung von Fremdheit liegen.“ „Generalisierung von Fremdheit“ meint dabei die „massive Steigerung von Kontingenz, Inkohärenz und Dissens …“9.Eine Folge der funktionalen Differenzierungsprozesse in der Gesellschaft ist freilich auch, dass es nun keine Institution mehr gibt, die sozusagen für das Ganze und seinen Zusammenhang steht. Das hat besonders weitreichende Auswirkungen auf die Rolle von Religion und Kirchen in der modernen Gesellschaft. Die Kirchen sind in der Gefahr, ihre tragende Funktion für die Gesellschaft (die sie jedenfalls in den alten Bundesländern bisher noch innehatten) zu verlieren. Sie sind nicht mehr im Status einer selbstverständlichen Gegebenheit präsent, sie müssen vielmehr ihre Existenz immer wieder durch den Erweis ihrer tatsächlichen Relevanz als sinnstiftender Instanz für die Gesellschaft begründen.
2. Der Einzelne auf sich gestellt – Individualisierung
Es deutet sich schon an, dass der beschriebene Differenzierungsprozess in unserer Gesellschaft auch bedeutsame Konsequenzen für den einzelnen Menschen hat. Die hier relevanten Beobachtungen werden in dem soziologischen Terminus der Individualisierung zusammengefasst. Individualisierung bedeutet, dass für den Einzelnen einerseits die überkommenen Traditionen mit ihren sinnstiftenden und normsetzenden Vorgaben an Prägekraft deutlich eingebüßt haben, und dass sich andererseits die Einbindungen in die herkömmlichen sozialen Institutionen und Formationen (Familie, Schicht, Klasse, Kirche) signifikant gelockert haben.10 Damit wird für den Einzelnen zunächst ein deutlicher Freiheitsgewinn spürbar. Der eigene Entscheidungsspielraum im Blick auf die persönliche Lebensgestaltung, die berufliche Selbstverwirklichung, die politischen, religiösen oder kulturellen Engagements ist erheblich gewachsen. Aber an die Stelle der alten Bindungen, die auch Orientierung und Geborgenheit boten, können schnell neue Abhängigkeiten treten: z.B. von aktuellen Marktlagen und Konsumgewohnheiten, von den infrastrukturellen Gegebenheiten der Lebensregion, vom bürokratisch-rechtlichen Ordnungssystem, vielleicht auch von unterschiedlichen Beratungsinstitutionen und Lebenshilfeangeboten, denen sich das Individuum in seiner Orientierungsnot anvertraut. Entscheidend ist: Der Einzelne muss die Auseinandersetzung damit jetzt für sich selbst erledigen, er muss versuchen, seine Identität aus sich selber heraus zu definieren. Diese ist nicht mehr wie früher schon durch die traditionellen Zugehörigkeiten (Familie, Beruf, Klasse, Konfession) gegeben. Besonders einschneidend und auffällig wirkt sich Individualisierung im Bereich der familialen und partnerschaftlichen Lebensformen aus. Die Anziehungskraft traditionaler Familienstrukturen lässt spürbar nach. Singleexistenzen11, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Patchwork-Familien und ähnliches – das sind neue Lebensformen12, die im Prozess der Individualisierung zunehmend an Bedeutung gewinnen.
3. Immer Tempo voraus! – Zeitstrukturen in der Leistungsgesellschaft
Zeit ist ein unerhört kostbares Gut in der modernen Gesellschaft. Wer daran spart, gewinnt. Wer sie verschwendet, verliert. Wer in abhängiger Beschäftigung arbeitet, spürt freilich weniger direkt materiellen Gewinn und Verlust, sondern eher den ungeheuren Zeitdruck. Alles muss schnell gehen, denn die Konkurrenz schläft nicht. Der technologische Fortschritt, der so viel Zeitersparnis möglich macht, führt keineswegs zu zeitlicher Entlastung, er steigert eher die Komplexität der Arbeitsabläufe und verstärkt das Gefühl der Zeitknappheit. Hartmut Rosa hat unter dem Begriff der „Beschleunigung“ beschrieben, wie sich die Zeitstrukturen der Moderne verändern.13.
Die neuen Zeitstrukturen bewirken, dass das Heute immer stärker durch das Morgen bestimmt wird, weil Wachstum der unbedingte Imperativ der modernen Ökonomie ist. Das biblische „Sorget nicht für morgen“ (Mt 6, 34) wirkt dagegen antiquiert oder utopisch – wie man will.
Gestern ist vergangen, morgen ist das Richtmaß. Das gilt nicht nur von der Zeit und den Produkten. Auch der „Marktwert“ von Arbeitskräften ergibt sich weniger aus Erfahrungen auf Grund erbrachter Leistungen als auf einem „Fähigkeitspotential“, das in die Lage versetzt mit immer neuen Herausforderungen und Bedingungen konstruktiv umzugehen.14 Wo Zeit eine immer kostbarere Ressource ist, sind „flexible“ Menschen15 nötig, fähig, sich immer neu einzustellen und umzustellen. Bei diesen Anforderungen freilich bleibt mancher auf der Strecke – abgedrängt von den Erfolgsspuren des beruflichen Lebens und mit leicht auszumalenden weiteren Folgen für Seele und Leib.
Die Strukturen permanenter Beschleunigung haben es an sich, sich auch des privaten Zeitumgangs der Menschen zu bemächtigen. Auch hier gilt die Momo-Weisheit ungemindert: „Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger Zeit haben wir.“16 Klug ist, wer es versteht, sich dagegen zur Wehr zu setzen und für Unterbrechungen und Ruhepausen zu sorgen. Oft freilich sind im Alltagsstress auch die „Zeitoasen“ – paradoxerweise – nur zu erreichen, wenn man sich beeilt!
4. Geschlechterdifferenzierung: Die Gender-Perspektive
Zu den zweifellos herausragenden Veränderungen in unserer Gesellschaft gehört der Prozess einer neuen Geschlechterdifferenzierung. Die heute veränderte Rolle der Frauen muss auf dem Hintergrund der Individualisierungsvorgänge begriffen werden, die im 19. Jahrhundert einsetzten. Damals brachte die Industrialisierung und eine mit ihr verbundene moderne Arbeitsorganisation (Arbeitsteilung!) vor allem für die Männer ein höheres Maß an Selbstverwirklichungschancen: Sie arbeiteten nun außerhalb und konnten so ihren Erfahrungshorizont Tag für Tag erweitern. Sie hatten besseren Zugang zu Ausbildungsangeboten, sie verdienten den Lebensunterhalt der Familie, gewannen damit gewollt oder nicht gewollt eine höhere Machtstellung und sie erwarben sich Freiräume der Selbstgestaltung nach getaner Arbeit (wobei weitgehende schichtspezifische Unterschiede zu berücksichtigen bleiben!). Anders die Frauen: Sie hatten an der Individualisierung als persönlichem Freiheitsgewinn kaum Anteil. Elisabeth Beck-Gernsheim beschreibt die Situation so: „Der weibliche Lebenszusammenhang wird im 19. Jahrhundert nicht erweitert, sondern im Gegenteil: enger begrenzt auf den Binnenraum des Privaten. Neben der physischen Versorgung der Familienmitglieder wird vor allem auch die psychische zur besonderen Aufgabe der Frau – das Eingehen auf den Mann und seine Sorgen, das Ausgleichen in familiären Spannungssituationen … Je mehr der Mann hinaus muss in die feindliche Welt, desto mehr soll die Frau ‚voll und rein und schön‘ bleiben …“17. Inzwischen hat ein mehr als 100 Jahre langer Kampf um die rechtliche, soziale, politische und kulturelle Gleichstellung der Frauen spürbare Veränderungen im Geschlechterverhältnis heraufgeführt. Die Frauen vollziehen den bisher „fast ausschließlich Männern vorbehaltenen Individualisierungsschub und holen auf ihre Weise nach: mit Erwerbsarbeit, Ausbildung, Berufsleben, Hochschulbildung, Alleinleben, Alleinerziehung, ebenso wie Scheidung, Verzicht auf Kinder, Verzicht auf Ehe und Verzicht auf Heterosexualität – um nur einige Stichworte zu nennen.18 Diese nachholende Individualisierung der Frauen hat weitreichende Konsequenzen. Viele traditionelle, gerade auch in der Kirche verankerte Vorstellungen von der Rolle der Frauen erweisen sich als gesellschaftliches „Konstrukt“.19 Der auf dem angelsächsischen Boden entstandene Begriff „Gender“ wird für die Bestimmung der Geschlechterrolle maßgebend. Es geht dabei um die gesellschaftlichen Zuschreibungen. Die überkommenen Klischees der Zuordnung von Frau und Mann in Ehe und Familie, in Beruf und Gesellschaft werden hinterfragt. Das neu erstrittene Recht auf die Verwirklichung der eigenen Vorstellung von persönlicher Identität und erfülltem Leben bringt herkömmliche Beziehungsmuster ins Wanken. In vielen seelsorglichen und beraterischen Gesprächen mit Paaren spielen die Probleme, die sich aus dem gewachsenen Lebensgestaltungswillen der Frauen ergeben, eine herausragende Rolle. Viele Männer und viele traditionell von der Männerrolle her geprägte Institutionen haben Schwierigkeiten, sich darauf einzustellen. Ein besonderes Problem stellen in diesem Zusammenhang die Gewaltübergriffe gegen Frauen dar. Frauen treten heute eher aus der Unsichtbarkeit und dem Schweigen heraus. Gewalthandlungen gegen Frauen werden in der Gesellschaft bewusster wahrgenommen. Dennoch wird Gewalt (und sei es in subtilen Formen des mobbing) in manchen Fällen immer noch als Mittel angesehen, verlorenes Terrain zurück zu erobern und die früheren „strukturellen Herrschaftsverhältnisse“ zwischen den Geschlechtern zu erhalten.20 Das ist besonders auf dem angespannten Arbeitsmarkt deutlich – unter anderem auch durch die Entwertung der so genannten Frauenberufe.
Der Prozess der Gleichstellung und Gleichachtung von Männern und Frauen ist noch keineswegs zum Abschluss gekommen. Für diesen Zusammenhang darf gerade im seelsorglichen Handeln die Aufmerksamkeit nicht geringer werden.21
5. Markt der Lebenshilfe – als Folge kultureller Pluralisierung
Neben der Individualisierung und zugleich in engem Zusammenhang mit ihr spielt in der modernen Gesellschaft auch der Prozess wachsender kultureller Pluralisierung eine profilbestimmende Rolle. Es gibt keine Kontrollinstanz, die die bestehenden Angebote an lebensorientierendem Wissen in der Gesellschaft sortiert und kanalisiert. Kultur, Religion und Lebenswissen werden gleichsam auf dem Markt gehandelt. Es herrscht eine Konkurrenz der oft weit auseinander driftenden Angebote. Nebeneinander existieren sehr unterschiedliche Kunst- und Stilrichtungen – für nahezu jeden Geschmack und Lebensstil. Zur Bewältigung elementarer Lebensaufgaben – wie Gesundheitsvorsorge, Kindererziehung, Freizeitgestaltung – sind wir umworben von einer fast unübersehbaren Fülle multimedialer Ratgeber, Lebenskunstphilosophien und Weltanschauungslehren. Und auf dem Sozialhilfe- und Beratungsmarkt konkurrieren private, staatliche und kirchliche Institutionen mit ihrem je spezifischen Angebotsprofil. Religiöses und Parareligiöses, Psychologisches und Parapsychologisches, Esoterisches und Spätaufklärerisches liegt auf dem weltanschaulichen Warentisch nebeneinander und gelegentlich auch durcheinander. Der Einzelne muss sondieren, wählen, entscheiden. Das hat seine angenehmen, das Leben reich machenden und die individuellen Möglichkeiten erweiternden Aspekte. Aber es kann auch beunruhigen und den beschriebenen Verunsicherungseffekt verstärken. Mitunter befindet sich das Individuum in der Situation von Buridans Esel, der sich nur zwischen zwei Heuhaufen entscheiden musste, an dieser Anforderung jedoch scheiterte und verhungerte.