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GÜNSTIGER EINFÜHRUNGSPREIS. NUR FÜR KURZE ZEIT! Mit Sticknadeln durch einen mörderischen Urlaub. Humorvoller Cosy Crime an der Ostsee für Fans von Nancy Atherton und Gisa Pauly »Also machten wir gute Miene zum bösen Spiel, doch es wurde mit jedem Wiedersehen schwieriger. Wir alle wussten zu viel voneinander, konnten uns nichts mehr vormachen.« Unverhofft findet sich die Rentnerin Constanze in einer kleinen Pension an der Ostsee wieder. Doch was eine gemütliche Auszeit mit gutem Essen, Meerblick und Stickarbeiten hätte werden sollen, wird von einem rätselhaften Todesfall am Strand überschattet. Ausgerechnet Constanzes Zimmernachbarin wurde ermordet, und so will sie, die Sticknadel im Anschlag, den Fall aufklären. Dabei kommt sie Stich für Stich der Wahrheit näher und bald auch jenen in die Quere, die den Mord an der jungen Frau sorgfältig geplant haben …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cover & Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Die schwarzbunte Kuh streckte unvermittelt ihren Kopf zum Küchenfenster herein und ließ ein lautes Muhen ertönen. Constanze ließ vor Schreck den Brieföffner fallen und sah ihr Haustier missbilligend an.
»Dir auch einen guten Morgen, Elsa. Ich vermute mal, du wolltest die erste sein, die mir persönlich gratuliert. Aber Frauen in meinem Alter darf man nicht so erschrecken, weißt du?«
Die Kuh warf ihr einen langen und intensiven Blick zu, bevor sie sich zurückzog, um sich den Erdbeerpflanzen vor ihren Hufen zu widmen. Wegen der Augen hatte Constanze die Kühe angeschafft. Die Tiere strahlten so viel Ruhe aus, dass man sie einfach lieben musste. So war sie einige Monate nach ihrer Pensionierung spontan zu einem befreundeten Landwirt gefahren, und hatte ihm die ältesten Milchkühe abgeschwatzt, die noch auf seiner Weide grasten. Jetzt bekamen Emma und Elsa bei Constanze ihr Gnadenbrot und verwandelten den Garten ihres Hauses nach und nach in einen gut gedüngten Acker. Trotzdem bereute Constanze ihre Entscheidung nicht. Das alte Gehöft, in dem sie lebte, war vor langer Zeit das Heim vieler Nutztiere gewesen. Doch solange sie hier wohnte, hatte der alte Stall leer gestanden. Jetzt, da das Berufsleben hinter ihr lag, war es ihr eine Freude gewesen, den noch immer nach Heu riechenden dunklen Anbau erneut mit Leben zu füllen.
»Alle Gute zum Geburtstag, liebe Frau Schick, wünschen die kleinen Rabauken aus der 4b.« Constanze lächelte und legte die Postkarte beiseite. Diese Rabauken, wie sie sich nun selbst nannten, mussten ihre Schullaufbahn inzwischen abgeschlossen haben, aber wie in jedem Jahr dachten sie an ihre alte Lehrerin und schickten die obligatorische, selbst gemalte Grußkarte. Mittlerweile waren die Zeichnungen auf der Vorderseite nahezu professionell und zeigten in diesem Jahr zwei grasende Kühe.
Constanze schmunzelte und fuhr fort, den Stapel Briefe durchzusehen. Die meisten stammten von ehemaligen Schülern, denen sie geduldig das Stricken, Häkeln und Sticken beigebracht hatte. Meist mit nur geringem Erfolg. Aber Spaß hatte es den Kindern gemacht, und das war doch die Hauptsache. Wen kümmerte es heutzutage schon noch, ob jemand seine Socken selbst stopfen konnte oder nicht?
Der vorletzte Brief stammte von ihrer Bank und wurde ungelesen von Constanze beiseitegelegt. Es gab Dinge, mit denen sie sich an ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag nicht befassen wollte. Der letzte Umschlag sah mit seinen goldenen und roten Sternen aus, als ob es sich bei ihm um verspätete Weihnachtspost handelte. Dabei brannte ihren Kühen im Garten bereits die Julisonne auf die Hörner. Constanze suchte nach einem Absender und fand ihn auf der Rückseite. Eine Margarete Herbst aus Travemünde hatte ihr geschrieben. Da Constance ein sehr gutes Namensgedächtnis hatte, war sie davon überzeugt, diesen Namen das erste Mal zu lesen. Aber natürlich war es möglich, dass eine kleine Margarete, die einst in ihrem Klassenzimmer die Maschen fallengelassen hatte, jetzt in Travemünde mit einem Herrn Herbst verheiratet war.
Constanze setzte den Brieföffner an, schlitzte den Umschlag auf und zog ein gefaltetes Blatt heraus. Goldener Glitzerstaub fiel sanft auf ihren frisch gewischten Küchenboden.
Herzlichen Glückwunsch, Frau Schick, Sie haben gewonnen!
Gewonnen? Constanze hatte noch nie etwas gewonnen. In ihrem ganzen Leben nicht. Nur einmal, mit vierzehn, hatte sie bei der Kirchenfest-Tombola einen Serviettenring erbeutet, aber das war lange her und zählte nicht. Was sollte eine Vierzehnjährige schon mit einem Serviettenring anfangen? Constanze jedenfalls hatte ihn zur Zopfspange umfunktioniert.
Wir freuen uns, Sie zu einem fünftägigen Aufenthalt in unserer Pension begrüßen zu dürfen! Das reichhaltige Frühstücksbüfett und ein gemütliches Zimmer mit Panoramablick werden Ihnen den Aufenthalt unvergesslich machen! Rufen Sie uns noch heute an, und stimmen Sie den Anreisetermin ab!
Das waren genug Ausrufezeichen auf nüchternen Magen. Constanze warf den Brief auf den Küchentisch und wischte sich den Glitzerstaub von den Fingern. Dann griff sie zum Telefon. Schnurlos natürlich, sie ging schließlich mit der Zeit. Auch ein Handy befand sich in ihrem Besitz, doch damit hatte sie sich noch nicht so recht anfreunden können. Meist lag es irgendwo mit leerem Akku in einer Ecke.
Zweimal tutete es, dann wurde abgehoben. »Guten Morgen, Adelheid.« Weiter kam sie nicht.
»Happy birthday to you, happy birthday to …«
»Ja, ich weiß, vielen Dank. Sag mal, kann es sein, dass du wieder mal meinen Namen und meine Adresse bei irgendeinem Preisausschreiben eingereicht hast?«
»Hab ich das?« Adelheid schien überlegen zu müssen. Ihre Freundin und langjährige Kollegin aus dem Bereich der Naturwissenschaften wurde allmählich schusselig. »Ja, kann sein. Ich habe so oft etwas gewonnen, die Leute werfen mich bestimmt schon zurück in den Lostopf, sobald sie nur meinen Namen lesen. Also nehme ich manchmal deinen. Ja, ich schätze, da war kürzlich so ein Kreuzworträtsel in diesem billigen Werbeblättchen, das immer ungefragt in meinem Briefkasten landet. Geht es um eine Reise? Haben wir gewonnen?«
»Ich habe gewonnen«, korrigierte Constanze. »Einen fünftägigen Urlaub am Meer.« Sie schnappte sich den Brief vom Tisch und rückte ihre Brille zurecht. »In Travemünde. Das liegt irgendwo im Norden, oder?«
»An der Ostsee, um genau zu sein. Wie kann man sich nur so wenig für Erdkunde interessieren.« Die übliche Missbilligung schwang in Adelheids Stimme mit.
»Da ich nicht nach Travemünde reisen will, steht es mir frei, zu wissen, wo es liegt.« Erneut rieselte goldener Staub vom Papier. Diesmal auf ihre Schuhspitzen. »Was machen wir denn jetzt, Adelheid? Dieser Preis gilt nur für eine Person, eine bestimmte Person. Mich. So steht es hier.«
»Das macht doch nichts, betrachte es einfach als mein Geburtstagsgeschenk für dich. Dann kann ich die Pralinen, die ich für dich gekauft habe, selber essen und alles hat seine Ordnung.«
»Eine Reise kann man doch nicht mit Pralinen gleichsetzen«, erwiderte Constanze. »Ich werde nicht fahren. Ich habe zwei Kühe zu versorgen und auf der Sessellehne liegt eine frisch angefangene Handarbeit. Ich kann hier nicht weg.«
»Wann bist du das letzte Mal überhaupt irgendwo hingefahren?« Jetzt klang Adelheids Stimme sanft. »War das die Klassenfahrt in den Teutoburger Wald?«
»Und wenn schon?«
»Und wann kannst du, wenn du einmal deine Kontoauszüge zurate ziehst, wieder einmal ein paar unbeschwerte Urlaubstage genießen?«
»Soll das etwa ein Verhör werden?« Constanze schnaubte verärgert.
»Ich gebe dir einen guten Rat, meine Liebe: Pack deine Koffer, und ich setze dich gleich am Montag in einen Zug nach Travemünde. Nur, um sicherzugehen, dass du nicht versehentlich am Mittelmeer landest. Bei dir und deiner Ortskenntnis weiß man nie.«
»Aber was soll ich denn an der Ostsee, ich kann nicht einmal schwimmen«, protestierte Constanze noch einmal.
»Dann ist dieser Urlaub die beste Gelegenheit, um es zu lernen. Ach, und um deine Kühe kümmere ich mich so lange. Happy birthday.«
Adelheid hatte aufgelegt. Constanze stand noch eine Weile unentschlossen in der Küche, in der einen Hand der Brief in der anderen das Telefon. Schließlich sagte sie zu sich selbst: »Ach, was soll’s?«, und wählte die Nummer unter der Adresse des Absenders. »Frau Herbst in der Pension September. Wie tiefsinnig. Na, hoffentlich ist das Essen gut und das Zimmer sauber.«
Verhör am 28. Juli 2024
Läuft das Band mit? Gut, ich möchte nicht alles zweimal erzählen müssen. Es wird schon beim ersten Mal schwierig genug werden. Wo soll ich nur anfangen? Vielleicht damit, wie Floppi und ich … für gewöhnlich verwende ich diesen Kosenamen nur, wenn wir allein sind, aber das ist jetzt auch schon egal. Also ich beginne damit, wie wir zum ersten Mal in der Pension September abstiegen. Das ist jetzt fünf Jahre her. Seitdem ist so viel passiert, Sie würden mich auf den Fotos von damals kaum wiedererkennen. Und Floppi auch nicht. Als wir gemeinsam die winzige Lobby betraten, hatte keiner von uns eine Ahnung, dass dies der Anfang vom Ende sein würde. Hätte es mir damals jemand gesagt, ich hätte auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre geflohen. So aber steuerten wir höflich lächelnd in eine Katastrophe, als ich aus der Hand von Margarete Herbst unseren Zimmerschlüssel entgegennahm.
Unsere Unterkunft war äußerst geschmackvoll eingerichtet. Fünf Jahre in Folge haben wir unseren Sommer in der Pension September verbracht, und dieses erste Zimmer war mir von allen stets das liebste. Von dort aus konnte man den Strand sehen. Und die Urlauber, wie sie auf dem Gehweg flanieren und dabei Fischbrötchen futtern, als hätten sie alle Zeit der Welt. Als gäbe es keine Büros, Terminkalender und Alltagsärgernisse. Rund um die Pension September herrscht immer Urlaubsstimmung und das spürt man. Damals dachte ich zumindest so.
Floppi und ich waren in jener Zeit sehr glücklich. Abends trieb uns der Hunger vor die Tür, und Margarete, also Frau Herbst wie ich sie damals noch nannte, gab uns die Rabattkarten. Für Gäste ihres Hauses, die ihre Mahlzeiten im Restaurant gleich nebenan einnahmen, gab es einen kleinen Preisnachlass. Zuerst wollten wir nicht dorthin und uns lieber selbst etwas suchen. Aber seltsamerweise gefiel uns an diesem Abend keines der vielen anderen Lokale auf Anhieb. Und so landeten wir doch im Gut und Dunkel, einer Mischung aus Cocktailbar und Imbissbude. Ja, Imbissbude, sage ich, obwohl sie es unter dieser Bezeichnung ganz gewiss nicht in den Reiseführern finden. Im Gut und Dunkel tut man gern etwas vornehm, doch ein einziger Blick in die Speisekarte bestätigt meine Behauptung, und deren Angebot hat sich in fünf Jahren nicht verändert.
Jedenfalls kamen wir recht spät, und es gab keine freien Tische mehr. Aber für Urs, den Kellner, war das kein Problem. Er setzte uns kurzerhand zu zwei anderen Pärchen, die, wie wir bald herausfanden, ebenfalls in der Pension September abgestiegen waren. Wie sich herausstellte, waren wir alle in einem ähnlichen Alter und hatten auch sonst viel gemeinsam: keine Kinder, gute Jobs, solche Dinge halt. Es dauerte nicht lange, und der Wein floss in Strömen. Es wurde gelacht und je später der Abend wurde, desto zotiger waren die Witze. Floppi führte sich unmöglich auf und gab an wie eine Tüte Mücken. Wie viel Geld wir beide verdienen würden und so weiter. Doch das schien niemanden zu stören, denn die anderen Paare verhielten sich ganz genauso. Jeder prahlte mit dem, was er meinte vorweisen zu können. Das trug nicht dazu bei, mich für diese Leute einzunehmen. Eine der anwesenden Damen lachte lauter als alle anderen und schenkte mir hin und wieder ein, wie ich fand, aufreizendes Lächeln. Ihr Name war … Nein. Nein, ich werde die Namen verwenden, die dieses Biest uns gegeben hat, denn unsere eigenen hat sie uns ebenso genommen wie alles andere. Und wenn Ihnen das nicht passt, stoppen Sie die Aufnahme und verschwinden Sie.
Puh, ist das stickig hier drinnen, können Sie kein Fenster aufmachen? Direkt am Meer, wo der Wind geht, wird es niemals stickig. Aber an jenem ersten Abend im Gut und Dunkel war die Luft ebenfalls schlecht. Irgendwann konnte und wollte ich nicht mehr. Die Gesellschaft der anderen Pensionsgäste wurde mir lästig, und der Alkohol stieg mir allmählich zu Kopf und ließ die Welt um mich herum immer schneller rotieren, bis ich sie nur noch anhalten wollte, um auszusteigen. Dieser von mir bereits erwähnten Frau mit dem vielversprechenden Lächeln, später bekam sie den Namen Flora zugeteilt, schien es ähnlich zu gehen. Ob sie ebenfalls zu viel getrunken hatte oder sich tatsächlich krank fühlte, weiß ich natürlich nicht. Aber es fiel mir eben auf, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie schwitzte übermäßig und trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischplatte herum, was nicht nur mir, sondern auch ihrem Mann auffiel, der ihr riet, doch schon aufs Zimmer zu gehen. Auch ich ließ Floppi wissen, dass ich vorgehen würde, und so verabschiedeten Flora und ich uns zeitgleich von der ausgelassenen Gesellschaft und gingen gemeinsam zurück in die Pension, wo wir uns noch auf den Stufen hinauf gegenseitig eine Gute Nacht wünschten. Rückblickend bestand darin mein erster Fehler. Doch ich legte mich sorglos schlafen, denn ich glaubte, es gäbe keinen Grund für Misstrauen. An diesem ersten Abend konnte ich ja nicht ahnen, wie sich die Dinge entwickeln würden.
Erst Adelheids Klapperkiste, dann der Zug, noch ein Zug und schließlich dieses Taxi, dessen Fahrer eine Schwäche für Country- und Westernmusik besaß und sie nach Herzenslust auslebte. Constanze verfluchte sich selbst und konnte sich nicht mehr erklären, warum sie sich überhaupt auf diese Reise eingelassen hatte? Es wäre so einfach gewesen, Adelheid aufs Entschiedenste zu widersprechen und den Brief von dieser Frau Herbst in kleine Schnipsel zu zerreißen. Aber sie hatte sich von ihrer Freundin einlullen lassen und von dem Gedanken an einen kleinen Urlaub, einer Abwechslung, wie sie ihr schon lange nicht mehr vergönnt gewesen war. Nie, wenn man es genau nahm. Andere pensionierte Lehrerinnen mochten finanziell gut zurechtkommen, doch nicht Constanze, und es war ihr unmöglich zu sagen, woran es lag. Irgendwie war in ihrer Kasse ständig Ebbe. Dabei brauchte eine Frau ihres Alters doch nicht viel zum Leben.
»Das macht dann fünfzehn Euro, bitte.« Der Fahrer hielt den Wagen an und seine Hand auf. Wenn Sie es genau bedachte, wusste sie vielleicht doch, warum ihr das Geld immer zwischen den Fingern zerrann.
»Stimmt so.« Sie drückte ihm einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand und schalt sich selbst eine Närrin. Lernte sie denn niemals dazu?
Der Vorteil an einem großzügigen Trinkgeld und vermutlich auch ihrem fortgeschrittenen Alter lag darin, dass der Mann ihr das Gepäck ins Haus trug und es in der winzigen Rezeption, direkt vor einem Tresen aus Birkenholz, abstellte.
Constanze ließ den Blick über Kunstblumen, cremegelbe Wände und hellgrüne Auslegeware schweifen. Hübsch. Nicht sonderlich überragend und ganz gewiss nicht einen einzigen Stern wert, aber hübsch. Auf der Metallglocke neben dem Gästebuch lag kein Staubkorn und in der Luft lag ein Duft Jasmin, deren Ursprung Constanze in dem tiefroten Potpourri vermutete, der in einer schlichten Glasschale auf der einzigen Fensterbank stand.
»Ah, Frau Schick. Und wie passend der Name ist, jetzt da Sie vor mir stehen. Hatten Sie eine gute Fahrt?« Eine in schlichtes Schwarz gekleidete Frau mit dunklem, im Nacken zu einem Zopf gebundenen Haar und freundlichem Gesicht war aus einer von zwei sich gegenüberliegenden Türen in einem kleinen Flur getreten und hielt ihr die ausgestreckte Hand entgegen.
Constanze lächelte müde. Sie hatte schon bessere Sprüche zu ihrem Nachnamen gehört, aber auch wesentlich schlechtere. »Eigentlich nicht«, gab sie zu. »Der erste Zug hatte Verspätung, den zweiten verpasste ich um Haaresbreite und die Klimaanlage existiert auch in Erster-Klasse-Wagen nur dem Gerücht nach. Aber ich habe es bis zu Ihnen geschafft, und darauf bin ich stolz.«
»Sie werden müde und hungrig sein.« Die Frau sah sie mitfühlend an. »Wie wäre es, wenn ich Ihnen gleich Ihr Zimmer zeige und Ihnen eine Tasse Tee und Kekse hinaufbringe?«
»Das klingt traumhaft.« Erleichterung durchflutete Constanze. Der Gedanke, in wenigen Minute aus ihren engen Schuhen schlüpfen zu dürfen, ließ sie die Schmerzen an den Zehen schon fast vergessen. Pumps hatte sie noch nie gemocht. Aber sie hätte die Reise unmöglich in ihren himmelblauen Crocks antreten können, mit denen sie üblicherweise im Haus, dem Stall und dem Garten unterwegs war. Also hatte sie sich einmal mehr in die Garderobe einer altjüngferlichen Lehrerin gezwängt und zufrieden festgestellt, dass der Bund ihres besten Rockes nicht kniff. Ihre Figur hatte sich demnach in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert, aber mit ihren Füßen musste etwas geschehen sein. Sie rebellierten schon seit Antritt der Reise.
»Sie sind Frau Herbst, wie ich annehme?« fragte Constanze
»Sagte ich das nicht? Wie nachlässig von mir. Ja, ich bin Frau Herbst. Die Pension September gehört mir. Klein aber fein, und bis vor ein paar Jahren ständig ausgebucht.«
»Jetzt nicht mehr?«, fragte Constanze und nahm ihre Handtasche vom Gepäckstapel. Für die größeren Koffer hatte Frau Herbst hoffentlich eine Hilfe im Haus, denn der Taxifahrer war inzwischen wortlos gegangen.
»Die Konkurrenz macht mir zu schaffen. Ich müsste modernisieren, aber das ist nicht so leicht, wie es sich anhört.« Frau Herbst schnappte sich entschlossen die Griffe der beiden Koffer und trug sie selbst vor Constanze her, wobei sie mit dem Fuß die rechte der beiden Türen aufstieß. Dahinter lag ein in hellem Grau gefliestes Treppenhaus. Die Stufen der Treppe, die sich nach oben wand, waren aus poliertem Eichenholz und bildeten einen netten Kontrast zu dem kühlen Steinboden.
»Meinetwegen bräuchten sie nichts zu ändern. Mir gefällt bisher sehr gut, was ich sehe«, sagte Constanze und folgte ihr.
»Oh, vielen Dank. Empfehlen Sie uns unbedingt weiter. Mundpropaganda ist noch immer die beste Werbung, und Werbung ist ja so wichtig. Zeitungswerbung wird übrigens billiger, wenn man ab und zu einen Preis wie den stiftet, den Sie gewonnen haben, wussten Sie das?« Frau Herbst sah sie über die Schulter an und strahlte.
»Nein, aber ich lerne gern dazu.« Constanze musste zugeben, dass sie die herrlich erfrischende Offenheit ihrer Gastgeberin mochte. Margarete Herbst hatte sich anscheinend das unbeschwerte Gemüt eines sehr jungen Menschen erhalten, auch wenn ihr Gesicht unter dem dunklen Haaransatz bereits deutliche Anzeichen des Alterungsprozesses zeigten. Constanze schätzte sie auf Anfang fünfzig.
In dem Flur, im ersten Stock, lagen sich vier Zimmertüren gegenüber. Da Constanze in der Etage über sich Schritte hörte, ging sie davon aus, dass dort weitere Gästezimmer zu finden waren. Ihres war die Nummer 2, das Frau Herbst nun für sie aufschloss, bevor sie den Schlüssel an Constanze weitergab. »Tee und Kekse kommen sofort. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«
»Vielen Dank.« Constanze ließ die Handtasche in den einzigen Sessel fallen und schleuderte die Pumps von den Füßen, noch ehe sich die Zimmertür wieder ganz geschlossen hatte. Dann trat sie an das von weißen Gardinen eingerahmte Fenster.
»Der versprochene Panoramablick ist offensichtlich kein Meerblick«, stellte sie fest und versuchte, dem Anblick der properen Häuschen, wie sie da in ihren eher kleinen Gärten standen, etwas abzugewinnen. Der Strand lag auf der anderen Seite und wäre von einem der Zimmer gegenüber bestimmt gut zu sehen gewesen. Nun, das machte nichts, sie war nicht wegen der Aussicht gekommen. Und da ihr Verhältnis zu Wasser ohnehin nicht das beste war, zumindest, wenn es in großen Mengen, wie etwa einem Meer auftrat, legte sie auch keinen Wert darauf, es ständig vor Augen zu haben. Vielleicht würde sie es später wagen, barfuß an der Wasserkante entlangzuspazieren, aber mehr war nicht drin. Sofern kein Tsunami heranrollte, konnte dabei bestimmt nicht einmal Nichtschwimmern wie ihr etwas zustoßen.
Eine Weile beobachtete sie das Treiben am Strand und auf der Promenade, bis sich ihr Interesse auf die Einrichtung des Zimmers richtete. Das breite Bett hatte einen geblümten Überwurf, ein Fernseher, für den sie sich nicht interessierte, stand gleich gegenüber auf einer Anrichte und es gab zwei winzige Nachttische, auf denen kaum mehr als ihre Lesebrille und eine Packung Taschentücher Platz finden würden. Nichts in dem Raum wirkte modern oder elegant. Aber alles machte einen gepflegten Eindruck auf Constanze.
Gerade begann sie sich zu fragen, wo wohl der Tee blieb, da öffnete sich völlig unerwartet die Tür zum Badezimmer. Auf der Schwelle stand eine junge Frau mit klatschnassen Haaren, die sich ein blaues Badehandtuch um den schlanken Körper gewickelt hatte. Sie legte beschwörend den Finger auf die Lippen.
Constance war so verdattert, dass sie gehorchte und schwieg. Mit einer Mischung aus Faszination und Ungläubigkeit betrachtete sie die Fremde, in deren Ohrläppchen gleich mehrere teuer aussehende Edelsteine funkelten.
»Ist sie weg?«
»Ja, aber sie kommt gleich wieder«, gab Constanze bereitwillig Auskunft, da sie davon ausging, dass von Margarete Herbst die Rede war. »Sie holt mir eine Tasse Tee.«
»Oh bitte, verraten Sie mich nicht.« Die junge Frau hatte einen flehenden Blick aufgesetzt, den Constanze noch allzu gut von faulen Schülerinnen kannte, die kurz vor der Zeugnisausgabe noch eine bessere Note herausschlagen wollten. »Dieses Zimmer ist das einzige im Haus mit einer Badewanne. Alle anderen haben nur Duschen. Und dieser feine Strandsand kriecht einem doch in jede …« Die junge Frau verstummte und schloss hastig die Badezimmertür, als ein lautes Klopfen ertönte und eine Stimme rief: »Frau Schick? Ich bringe den Tee!«
»Tee und Butterkekse!« Constanze hoffte sehr, dass ihr Jubelruf nicht allzu gekünstelt klang. »Das wird mir guttun. Und hinterher werde ich ein Stündchen schlafen. Vielen Dank.«
Es bedurfte keiner weiteren dezenten Hinweise, um Frau Herbst klarzumachen, dass Constanze gerade nicht der Sinn nach einem Schwätzchen stand. Die Pensionsinhaberin reichte ihr das kleine Tablett, auf dem ein dampfender Becher Tee neben einer Untertasse mit Gebäck stand, und eilte in ihren sehr bequemen Schuhen die Treppe wieder hinunter. Constanze ärgerte sich. Sie hätte doch in ihren Gummisandalen anreisen sollen. Auch für den Strand wären die hässlichen Dinger ihr von Nutzen gewesen.
Gerade hatte sie ihren Imbiss auf dem kleinen Nachttisch abgestellt, da öffnete sich die Badezimmertür erneut. Die junge Frau, noch immer in blaues Frottee gehüllt, trat heraus und faltete die Hände vor der Brust. »Oh, danke, dass Sie mich nicht verraten haben. Frau Herbst ist zwar die Nettigkeit in Person, aber alles lässt sie uns Gästen nun doch nicht durchgehen. Und sie hat mir unmissverständlich klargemacht, dass ich dieses Zimmer nicht bekommen kann. Sie sagte zu mir, eine Dame hätte ihr bestes Zimmer für ein paar Tage gewonnen. Die Dame müssen demnach Sie sein. Hallo, ich heiße Janine. Janine Singer. Aber ich bringe nicht einen geraden Ton über die Lippen.«
»Es freut mich, dich kennenzulernen, Janine. Ich bin Constanze. Und ja, der Ausblick auf die Dächer und die Badewanne gehören für die kommenden Tage mir. Was die Dame betrifft, bin ich mir nicht immer ganz sicher, ob diese Bezeichnung auf mich zutrifft. Aber bestimmt lege ich keinen Wert darauf, gesiezt zu werden. Nicht von Mädchen im Badehandtuch, die überraschend in meinem Zimmer stehen.«
»Du hast Humor, das finde ich großartig.« Janine legte eine Hand auf ihre wohlgeformte Brust und atmete erleichtert aus. »Das können nicht viele der Gäste hier von sich behaupten. Liegt es am Alter? Werden wir in unseren mittleren Jahren zickiger als mit fünfundzwanzig oder fünfundsechzig?«
»Fünfundsiebzig«, verbesserte Constanze. »Und du bist auch keine fünfundzwanzig mehr, aber das Alter sagt nicht viel über einen Menschen aus. Weder über seine Reife und schon gar nicht über die Intelligenz. Nicht einmal über Lebenserfahrung, wenn man es genau nimmt. Ich habe Zehnjährige gekannt, die erwachsener waren als ihre Eltern es je geworden sind. Auch ob jemand zickig ist oder nicht, ist keine Frage des Alters.«
»Dann liegt es eben an etwas anderem.« Sie deutete auf den Keks. »Willst du den essen?«
»Ja.«
»Macht nichts, das sind ohnehin überflüssige Kalorien. Würde ich ihn nehmen, müsste ich noch öfters schwimmen gehen.« Ein Wassertropfen lief aus ihrem Haaransatz über die Stirn und bis über die Nasenwurzel. Janine wischte ihn weg. »Ich sollte mich vernünftig abtrocknen und mir etwas anziehen. Sehen wir uns gleich am Strand? Und darf ich dich und deine Badewanne wieder besuchen?«
»Sehr gern.« Constanze musste lächeln. »Da es gewissermaßen meine Schuld ist, dass du dieses Zimmer nicht bekommen hast, bin ich gern bereit, dir das eine oder andere Vollbad zu ermöglichen.«
»Du bist so süß. Ich liebe deine altmodische Art, dich auszudrücken.« Janine warf ihr eine Kusshand zu. »Wir sehen uns noch.«
Constanze war für einen Moment verwundert, als Janine nicht wie erwartet zur Zimmertür, sondern zurück ins Bad lief. Doch gleich darauf war sie schon wieder da, schwenkte eine rote Kulturtasche und schon war sie fort. Constanze hörte, wie die Tür des gegenüberliegenden Zimmers geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen wurde. Noch immer lächelnd, öffnete sie den kleineren ihrer beiden Koffer und entnahm ihm eine angefangene Stickarbeit samt rundem Rahmen und Nadel. Dann zog sie den Sessel dicht an das Nachttischchen heran, nahm darin Platz und trank den ersten Schluck Tee. Augenblicklich trat ein Gefühl der Entspannung ein, und als sie die Sticknadel zum ersten Knötchenstich ansetzte, war ihre kleine Welt wieder in Ordnung. Sah man einmal von den schmerzenden Füßen ab.
»Eine merkwürdige junge Frau«, sagte Constanze zu sich selbst und zog den roten Faden durch den hellen Stoff. »Sie ist offensichtlich nicht zum ersten Mal hier, denn sonst hätte sie von der Badewanne gar nicht wissen können. Wie mag sie ins Zimmer gekommen sein? Frau Herbst jedenfalls musste erst aufschließen, damit wir eintreten konnten. Und warum interessiert es sie überhaupt, ob die anderen Pensionsgäste zickig sind oder nicht? Kann es ihr nicht völlig egal sein? Ist sie gleich mit mehreren von ihnen aneinandergeraten? Aus welchem Grund? Es wird doch nicht um die Nutzung von Badewannen gegangen sein.«
Der Klang ihrer eigenen Stimme und die Gedankengänge, die nirgendwo hinführen konnten, ließen sie schläfrig werden. Im letzten Moment legte sie die Handarbeit beiseite, dann fielen ihr die Augen zu.
Als sie wieder erwachte, war weit mehr als nur ein Stündchen vergangen. Das Licht im Zimmer hatte sich verändert. Es hatte einen goldenen Farbton angenommen und die Schatten krochen langsam vorwärts.
Constanze warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, deren viele Funktionen sie im Allgemeinen überforderten, aber die Zeit wurde gut lesbar angezeigt. Es war bereits nach neunzehn Uhr und ihr Tee schon lange kalt. Als sie sich aus dem Sessel erhob und widerwillig in die Pumps zurückquälte, fühlte sie den Hunger irgendwo hinter ihrem Bauchnabel rumoren. Es wurde Zeit fürs Abendessen. Und da die Pension September ganz gewiss nicht über ein eigenes Restaurant verfügte, musste sie wohl oder übel ausgehen.
Constanze betrat das Bad, in dem noch der Duft von Lavendel in der Luft und ein Rest angetrockneter Seifenschaum am Wannenboden an Janines Besuch erinnerten und betrachtete sich im Spiegel. Der silbergraue Pagenkopf war schnell in Form gezupft, statt nach einem Lippenstift zu suchen, biss sie ein paar Mal kräftig zu und kniff sich selbst in die Wangen. So hatte sie es schon als junges Mädchen gemacht, wenn sie etwas Farbe in ihr Gesicht bringen wollte, und es funktioniert noch immer. Na bitte. Eine adrette ältere Dame lächelte ihr aus dem Spiegel entgegen. Und schließlich musste sie nur sich selbst gefallen und niemandem sonst.
Als sie in den kleinen Flur trat, der an die Lobby grenzte, bemerkte Constanze, dass die dem Treppenhaus gegenüberliegende Tür weit offen stand. Dahinter befand sich der Frühstücksraum, in dem Frau Herbst soeben die Tische für den kommenden Morgen eindeckte.
»Haben Sie sich von den Strapazen der Reise erholt?«, fragte die Pensionswirtin, kam auf sie zu und zückte einen kleinen Abreißblock aus ihrer Schürzentasche. »Sie müssen hungrig sein. Nur ein Haus weiter befindet sich das Gut und Dunkel, und ich kann Ihnen das Lokal nur wärmstens ans Herz legen. Wenn Sie dort diesen Abschnitt vorlegen, bekommen Sie fünfzehn Prozent Rabatt auf alle Tagesgerichte und ein Gratisgetränk. Die Küche könnte man als gutbürgerlich bezeichnen und die Cocktails sind hervorragend.«
»Vielen Dank.« Der Gedanke, auf ihren hohen Absätzen nicht weit laufen zu müssen, um heute Abend preisgünstig essen zu können, gefiel Constanze. Sie steckte die bunten Coupons ein und hielt Frau Herbst ihren Zimmerschlüssel hin. »Wird er an der Rezeption verwahrt, bis ich wiederkomme?«
»Nein, ich kann nicht den ganzen Tag auf einem Fleck herumsitzen und alles andere liegen lassen.« Die Pensionsbesitzerin seufzte. »Der Schlüssel bleibt bei Ihnen, bis Sie wieder auschecken. Ich weiß, er ist etwas sperrig, das lässt sich leider nicht ändern. Sie können den Anhänger aber leicht abmachen, dann passt er besser in die Tasche. Herr Maestre macht das immer so, damit er den Schlüssel in sein Herrenhandtäschchen stecken kann. Kaum zu glauben, dass es noch Männer gibt, die mit so etwas herumlaufen. Der kleinere Schlüssel öffnet Ihnen die Haustür. Falls Sie mal länger ausbleiben.«
Constanze begutachtete den kegelförmigen Schlüsselanhänger aus Holz, der für ihre Tasche ganz bestimmt keine zusätzliche Belastung darstellte und steckte ihn ein. Dann verließ sie die Pension September.
Draußen korrigierte der Seewind zuallererst ihre Frisur nach seinen eigenen Vorstellungen. Noch immer herrschte reger Betrieb auf der Strandpromenade. Auf dem Sand selbst allerdings waren deutlich weniger Badegäste als noch Stunden zuvor zu sehen. Vögel, vermutlich Möwen, zogen über den strahlend blauen Himmel, und auf dem Meer kräuselten sich die Wellen. In einiger Entfernung konnte Constanze die weißen Dächer zahlreicher Strandkörbe erkennen. Schon sah sie sich mit ihrer Stickerei, einem neuen Sonnenhut und nagelneuen Plastiklatschen in einem von ihnen sitzen. Ob die Miete für fünf Tage für sie wohl erschwinglich war? Egal. Urlaub war nur einmal im Jahr. Oder, wie in ihrem Fall, nur einmal im Jahrzehnt.
Constanze wandte sich nach links und stand fast augenblicklich vor dem Gut und Dunkel. Im Außenbereich der Gastwirtschaft saßen Gäste an weißen Bistrotischen unter ausladenden Sonnenschirmen. Einen freien Platz erspähte sie nicht. Aber der frische Seewind musste ihr heute Abend auch nicht unbedingt die Petersilie von den Kartoffeln pusten. Sie beschloss, hineinzugehen und die erstbeste Person, die so aussah, als ob sie sich auskennen würde, nach einem Tisch zu fragen. Kaum war sie über die Schwelle des in seinem Innern tatsächlich auffallend dunklen Hauses getreten, kam auch schon ein sommersprossiger Mann in blütenweißem Hemd und dunkler Hose auf sie zu.
»Wir sind heute Abend sehr gut besetzt, aber wenn Sie einen Augenblick warten möchten, dürfen Sie gern an der Cocktailbar Platz nehmen.«
Er deutete auf einen mit Lampions geschmückten Tresen, der, wie der Rest der gesamten Einrichtung aus dunklem Eichenholz gebaut worden war. Dies in Kombination mit dem schokoladenbraunen Teppich und den mokkafarbenen Wänden sorgte für den höhlenartigen Charme des Lokals, der ihm eine gewisse Behaglichkeit verlieh.
»Ein Cocktail auf nüchternen Magen scheint mir nicht ganz das Richtige zu sein.« Sie zog die bunten Gutscheine hervor und versuchte, das Kleingedruckte zu entziffern. Galt ihr Rabatt auch für alkoholische Getränke?
»Oh, Margarete schickt Sie. Das ist natürlich etwas anderes. Darf ich Sie an den Tisch der Pension September bitten?« Der Kellner deutete auf eine lange Tafel, an der bereits mehrere Personen Platz genommen hatten. Insgesamt zählte Constanze drei Frauen und fünf Männer. Ganz oben, am Kopf der Tafel, war noch ein Platz frei.
Einen kurzen Augenblick zögerte sie noch. Dann sagte sie: »Warum nicht? In Gesellschaft isst es sich gleich viel netter.«
»Wie recht Sie haben. Ich bin übrigens Urs. Wenn Sie irgendetwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.
»Für den Anfang wäre eine Speisekarte ganz schön«, meinte Constanze, setzte sich auf den ihr zugewiesenen Platz und nickte den bereits essenden Anwesenden höflich zu.
Der Mann zu ihrer Linken, ein auffallend magerer Mann mit eingesunkenen Augen und schütterem Haar erwiderte die Geste. Die Dame auf der rechten Seite nickte nicht. Constanze musterte sie nur kurz, wandte dann rasch den Blick ab und fragte sich, was mit dem Gesicht dieser Person nicht stimmte. Plötzlich wusste sie es: Die Frau hatte keine Augenbrauen.
»Sie sind zum ersten Mal im September abgestiegen«, rief ein noch recht junger Mann in grellbuntem Sakko und mit schulterlangen Haaren, der zwei Plätze weiter saß, ihr zu. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Ein wunderbares Fleckchen Erde ist das hier. Mein Mann und ich«, er wies auf sein Gegenüber, einen Herrn mit tiefschwarzem Haar und buschigem Schnäuzer, »wir kommen jeden Sommer nach Travemünde. Es ist so eine Art Tradition, nicht wahr, Carlos?«
Carlos, der sich soeben eine Fischgräte aus dem Mund zog, schwieg.
»Im Grunde sind wir alle alte Bekannte«, sprach der junge Mann weiter. Ich heiße Jonah. Und Sie sind?«
Constanze nannte ihren Namen und nahm aus den Händen des Kellners die Speisekarte entgegen. Doch bevor sie sie aufschlagen konnte, wurde ihr klar, dass soeben die offizielle Vorstellungsrunde eingeleitet worden war. Gleich darauf wusste sie, dass die Frau ohne Augenbrauen Ruth Maestre hieß. Ihr hagerer Gatte auf der linken Seite trug den wohlklingenden Namen Severino. Constanze vermutete, dass er spanischer Herkunft sein musste, einen Akzent konnte sie in seiner Stimme allerdings nicht heraushören, als er sich mit ihr bekanntmachte.
Eine füllige Dame mit einem Kopf voller winziger Locken wie ein Pudel stellte sich als Annabelle vor, ihr kahlköpfiger Gatte trug den wenig spektakulären Namen Heinz. Wie das letzte Pärchen, ganz hinten am Tisch hieß, erfuhr Constanze nicht, denn als sie sich vorstellten, schwoll der Lautstärkepegel im Lokal vorübergehend stark an. An der Bar waren mehrere stimmgewaltige Männer in lautes Gelächter ausgebrochen.
Constanze reckte den Hals, um zu sehen, was dort vor sich ging und entdeckte inmitten einer Gruppe Anzugträger, die im Gut und Dunkel wohl ihren Feierabend begossen, eine junge Frau in einem silbernen Minikleid, dessen dezente Träger nur aus dünnen Perlenketten bestanden. Das Gesicht kam Constanze bekannt vor, trotzdem brauchte sie einen Augenblick, um Janine wiederzuerkennen. In trockenem Zustand wirkte ihr blondes Haar völlig anders. Auch Ihre Wimpern schienen binnen weniger Stunden deutlich an Volumen gewonnen zu haben. Der Blick der Augen wurde dadurch nahezu verschleiert. Constanze war sich nicht sicher, ob sie diese Veränderung als vorteilhaft ansah. Irgendwie hatte ihr Janine im Frotteehandtuch besser gefallen.
»Haben Sie schon gewählt?« Urs stand mit gezücktem Notizblock neben ihr. Hastig schlug Constanze die Karte auf und las die erste Seite.
»Das Angebot scheint mir etwas fischlastig zu sein«, murmelte sie und blätterte hastig weiter.
»Das liegt daran, dass wir am Meer sind«, bemerkte die Frau ohne Brauen namens Ruth. »Nehmen Sie das Schollenfilet, damit machen Sie nie etwas verkehrt.«
Constanze inspizierte das Essen auf Ruths Teller. Es sah wirklich gut aus. Auch wenn Ruth den Fisch und die Beilagen nur lustlos von links nach rechts schob.
Sie entschied sich für das Schollenfilet mit Bratkartoffeln und ein Glas Weißwein, woraufhin Urs ihr zu der Wahl gratulierte und mit der Karte unter dem Arm davonspazierte. Am Tisch war es nun merklich still. Nicht nur, weil die meisten der Anwesenden sich auf ihr Essen konzentrierten, sondern auch, weil der eine oder andere nebenbei heimlich auf sein Handy starrte, wie Constanze nun feststellte. Severino allerdings, hatte es sich in den Kopf gesetzt, ein wenig Konversation zu betreiben.
»Der Fisch im Gut und Dunkel ist immer frisch. Auch die Garnelensuppe kann ich Ihnen ans Herz legen. Wie lange werden Sie bleiben?«
Constanze sagte es ihm.
»Dann sollten sie die nächsten Tage unbedingt zum Baden nutzen. Gegen Ende der Woche soll das Wetter umschlagen. So erzählen es sich die Einheimischen und auf deren Vorhersagen ist Verlass.«
Constanze dankte ihm und bemerkte, dass auch Severino, genau wie seine Frau, seinen frischen Fisch nur von einer Seite des Tellers auf die andere manövrierte. Das entging auch Ruth nicht.
»Iss, Liebling«, sagte sie und spuckte eine Gräte in ihre Papierserviette. »Du musst wieder zu Kräften kommen.«
»Das sagt die Richtige.«
Der Tonfall, in dem dieser kurze Dialog stattfand, war so schneidend, dass Constanze Mühe hatte, sich ihre Verwunderung nicht anmerken zu lassen. Falls das Ehepaar gedachte, einen Streit auszutragen, gab es dafür gewiss bessere Orte.
Erneut ertönte lautes Gelächter und Constanze konnte von ihrem Platz aus erkennen, wie Janine mittels eines Strohhalms Luft in ihren Cocktail blies, der daraufhin begonnen hatte, milchige Blasen zu werfen. Wie einfach es doch für eine hübsche, junge Frau war, kleine Jungs in Schlips und Kragen zum Lachen zu bringen. So eine Albernheit hätte ihr mal einfallen sollen. Vermutlich wäre sie umgehend von einem der Anwesenden zum Demenztest eingeladen worden.
»Ich werde uns Cocktails holen«, verkündete der kahle Heinz und machte Anstalten, aufzustehen.
»Das wirst du nicht«, erwiderte seine Gattin Annabelle und versuchte, Heinz mit Blicken zu erdolchen. »Du bleibst schön sitzen.«
»Also keine Cocktails.« Heinz lehnte sich mit einem Seufzer zurück und begann, seine Serviette zusammenzufalten. »Und wann darf ich mich wieder frei bewegen?«
»Jetzt bestimmt nicht.«
Constanze war sich nicht sicher, ob ihr Weißwein, den Urs soeben brachte, so kalt war, dass das Glas beschlug, oder ob es an der Pudeldame Annabelle lag. Vorsichtig trank sie einen Schluck. Er schmeckte vorzüglich.
»Ruth könnte einen Cocktail vertragen.« Heinz hatte offensichtlich noch nicht ganz aufgegeben. »Ruth, darf ich dir einen Cocktail spendieren?«
»Lieber nicht. Der Barkeeper tut immer zu viel Sahne hinein. Auch wenn ich prinzipiell nichts gegen ein paar zusätzliche Kalorien einzuwenden hätte, so ist der Geschmack einfach fettig. Ich bekomme das Zeug nicht herunter.«
»Solltest du aber«, meinte Heinz. »Wie viele Kilos hast du seit dem letzten Sommer verloren? Zehn oder fünfzehn?«
»Ich weiß nicht genau«, gab Ruth zu und legte das Besteck auf ihren noch immer gut gefüllten Teller. »Mir ist es ein Rätsel, wohin sie verschwinden. Jeden Morgen bin ich leichter als am Tag davor.«
»Ich kann dir genau sagen, wohin sie verschwinden, die landen alle bei mir«, sagte Annabelle. »Was du an Gewicht verloren hast, habe ich zugelegt.«
»Wisst ihr, dass die Erde tatsächlich immer gleich schwer bleibt?«, rief Jonah, der junge Mann im Papageiensakko, der Constanze zuerst angesprochen hatte. »Es ist wirklich so. Also muss, wann immer jemand an Gewicht verliert, ein anderer dafür zunehmen. Oder was meinst du Carlos?«
Carlos, ein bulliger Kerl, der bestimmt viel Zeit in der Gesellschaft verschiedener Fitnessgeräte verbrachte, hielt diese Theorie für Schwachsinn und stand nun seinerseits auf. »Cocktails für alle? Heinz, kommst du mit zur Bar und hilfst mir tragen?«
Das ließ sich der Kahlköpfige nicht zweimal sagen und verließ unter den finsteren Blicken seiner Ehefrau den Tisch. Auch Jonah zog ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
»Na. Da wären wir also alle wieder«, ließ sich die schmalgesichtige Frau mit den rotblonden Haaren am Ende der Tafel vernehmen, deren Namen Constanze nicht verstanden hatte. »Auf einen erholsamen Urlaub.« Sie erhob ihr Glas, doch niemand außer Constanze tat es ihr gleich.
Diese war erleichtert, als Urs ihr endlich das Essen servierte. Das wirklich vorzüglich zubereitete Schollenfilet hätte mehr Muße verdient, doch Constanze verspürte immer stärker den Wunsch, dieser illustren Runde zu entkommen. Hastig stopfte sie den Fisch in den Mund, verschluckte sich fast an einer Gräte und ließ die Bratkartoffeln fast unbeachtet. Zum Zahlen zog sie es vor, Urs an der Bar zu besuchen. Schweigend schob sie ihm ihre Rabattcoupons zu und legte den geforderten Restbetrag in bar obendrauf.
»Dieser Tisch war heute Abend nicht die beste Wahl, wie?« Urs sah ein wenig zerknirscht aus. »Aber das gibt sich. Ich würde darauf wetten, dass sie alle morgen wieder ein Herz und eine Seele sind. Die vier Paar kennen sich nämlich schon eine ganze Weile. Sie kommen jedes Jahr hierher.«
»Vielleicht sollten diese Leute mal darüber nachdenken, ob ihnen das guttut«, meinte Constanze, stopfte den Kassenbeleg in ihre Handtasche und ging.
Draußen sank die Sonne langsam dem Horizont entgegen und tauchte die Dächer von Travemünde in ein rotgoldenes Licht. Trotz ihrer drückenden Schuhe beschloss Constanze, noch einen Spaziergang entlang der Promenade zu unternehmen. Einen Spaziergang, in dem sie sich selbst dazu beglückwünschen würde, niemals geheiratet zu haben.
Verhör am 28. Juli 2024