Sehnsucht nach Skye - Tamara McKinley - E-Book
SONDERANGEBOT

Sehnsucht nach Skye E-Book

Tamara McKinley

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tasmanien 1905: Nach dem Tod ihres Ehemannes will Christy Keller endlich ihren Geburtsort auf der Isle of Skye besuchen. Ihre Kinder sind von der Idee wenig begeistert und beschließen, dass Christys Tochter Anne nach Europa mitkommen wird.
Doch während der Reise brechen alte Konflikte auf: Zum einen drückt ein jahrelanger Streit zwischen Anne und Christy die Stimmung. Und auch in Tasmanien holt Christys Vergangenheit die Kellers ein, und ihre Söhne müssen alles daransetzen, die Familie zu schützen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 556

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumAnmerkung der AutorinProlog – Bellerive, Tasmanien1 – Inverness Juni 1905234 – Melbourne56 – Australien7 – Skye89 – Barossa Valley1011 – Melbourne12 – Bellerive, Tasmanien13 – Hafen von London14 – An Bord der SS Southern Cross15 – An Bord der SS Southern Cross16 – An Bord der SS Southern Cross17 – Sydney18 – An Bord der SS Southern Cross19 – Sydney20 – Sydney21 – An Bord der SS Southern CrossEpilog

Über dieses Buch

Tasmanien 1905: Nach dem Tod ihres Ehemannes will Christy Keller endlich ihren Geburtsort auf der Isle of Skye besuchen. Ihre Kinder sind von der Idee wenig begeistert und beschließen, dass Christys Tochter Anne nach Europa mitkommen wird. Doch während der Reise brechen alte Konflikte auf: Zum einen drückt ein jahrelanger Streit zwischen Anne und Christy die Stimmung. Und auch in Tasmanien holt Christys Vergangenheit die Kellers ein, und ihre Söhne müssen alles daransetzen, die Familie zu schützen.

Über die Autorin

Tamara McKinley wurde in Australien geboren und verbrachte auch ihre Kindheit im Outback des fünften Kontinents. Heute lebt sie an der Südküste Englands, aber die Sehnsucht treibt sie stets zurück in das weite, wilde Land, von dem sie in jedem ihrer Romane faszinierende neue Facetten entfaltet und sich weltweit eine große Fangemeinde erobert hat.

Tamara

McKinley

Sehnsucht nach Skye

Roman

Übersetzung aus dem Englischenvon Ariane Böckler

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der englischen Originalausgabe: »Spindrift«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Tamara McKinley

First published in Great Britain by Quercus Publishing Ltd.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Fröhlich, Bremen

Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung eines Motivs von © CLICKMANIS/shutterstock

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-5583-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Anmerkung der Autorin

Die Insel Skye – auf Gälisch An t-Eilean Sgitheanach – hat ihren Namen von dem altnordischen Wort sky-a, welches »Wolkeninsel« bedeutet und mit dem sich die Wikinger auf die von Nebel umhüllten Cuillin Hills bezogen, die die Insel überragen. Sehnsucht nach Skye ist meine Hommage an die Kleinbauern, »Crofter« genannt, deren Existenz durch die von der Kartoffelfäule ausgelöste Hungersnot zerstört wurde. Infolge der Highland Clearances – gälisch Fuadach nan Gàidheal –, der Vertreibung der ansässigen Bevölkerung im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, verloren sie ihre Heimat und blickten einer ungewissen Zukunft entgegen. Abgesehen von den verfallenen Ruinen der Crofterhäuser und ein paar gut erhaltenen Feldsteinmauern gibt es kaum Spuren, die an die Ereignisse von damals erinnern. Doch an stillen Tagen in den Highlands, wenn die Wolken die Cuillin Hills und die verlassenen Täler einhüllen, erzählt die Atmosphäre ihre eigene Geschichte.

Die Orte MacInnes Bay und Gilleasbuig gibt es nicht, doch bei meinen Schilderungen der Vertreibungen auf der Insel Skye habe ich mich auf tatsächliche Ereignisse gestützt.

Der geschützte Hafen in der Mündung des Tamar in Tasmanien wurde 1798 Port Dalrymple genannt, ehe 1804 rund um den Hafen George Town entstand. Ein Jahr später gründete William Paterson ein Stück flussaufwärts eine weitere Siedlung, die er Patersonia nannte. 1907 wurde sie zu Ehren von Gouverneur Philip King – der aus Launceston in Cornwall, England, stammte – in Launceston umbenannt.

Prolog

Bellerive, Tasmanien

Es war einer der letzten Tage des Jahres 1904. Christy saß auf dem Lieblingsplatz ihres verstorbenen Mannes neben der Verandatür und sah auf die Storm Bay und die Tasman-Halbinsel hinaus. Die sommerliche Hitze wurde von einer kühlen Brise gelindert, die übers Wasser heranwehte und den Duft von Eukalyptus und Kiefern hereintrug. Obwohl das Zwitschern der Honigfresser in den Bäumen und der weite Blick sich meist beruhigend auf Christy auswirkten, war sie starr vor Anspannung, denn sie fragte sich, wie ihre Familie wohl auf ihre Ankündigung reagieren würde.

Die Familie fand sich nur noch selten zusammen, seit Christys Kinder quer über Australien verstreut waren, doch anlässlich der Beerdigung ihres Vaters waren sie vor zwei Wochen nach Hobart gekommen. Da sie alle am nächsten Tag abreisen wollten, hatte Christy dieses Mittagessen organisiert, um die Stimmung aufzuhellen und zu feiern, dass ihre Enkelin zum Geschichtsstudium an der Universität Sydney zugelassen worden war. Christy war unglaublich stolz auf Kathryn, denn ein solcher Erfolg war in diesen Zeiten eine beachtliche Leistung für ein Mädchen.

Doch der Champagner war kaum ausgetrunken und das üppige Mahl verspeist, da hatte sie in das anschließende Schweigen hinein ihre Bombe platzen lassen, und seitdem war die Atmosphäre in ganz anderer Weise belastet.

Ihr ältester Sohn Hamish und seine Frau Beryl waren den weiten Weg von der Rinderfarm der Familie im Outback von Queensland angereist. Stämmig, schroff und meist sehr direkt, wurde Hamish gelegentlich laut und markierte gern den starken Mann, wenn er nicht seinen Willen bekam. Christy hatte die zunehmende Röte in seinem Gesicht ebenso registriert wie das streitlustige Blitzen in seinen blauen Augen, das nichts Gutes verhieß.

Der um zwei Jahre jüngere James war ein ganz anderer Charakter. Er hatte Yarrabinda übernommen, das Weingut der Familie im Barossa Valley, und war ein nachdenklicher Mann Ende dreißig, der Konflikte hasste. Erst vor kurzem hatte er die schüchterne und reichlich weltfremde Clarice geheiratet, die an seiner Seite saß und von dem plötzlichen Stimmungsumschwung erschrocken wirkte. Christy hatte stark darauf gehofft, James würde auf ihrer Seite sein, da sie sich immer gut verstanden hatten, doch seinem finsteren Stirnrunzeln nach zu urteilen, gab es keine Garantie dafür, dass er ihrem aktuellen Plan zustimmen würde.

Christy drehte sich auf ihrem Stuhl herum und sah zu Anne hinüber, ihrer Erstgeborenen. Wieder einmal verspürte sie Schmerz darüber, dass sie sich entfremdet hatten und keinen Weg mehr fanden, die Fäden, die sie einst so eng verbunden hatten, neu zu knüpfen. Sie wusste, was der Grund dafür war, doch es gab nichts mehr, was sie hätte tun können, um den Bruch zu kitten, solange Anne nicht bereit war, ihr zu vergeben.

Christy musterte Anne. Sie trug einen eleganten Hut, hochhackige Knöpfstiefel und einen modernen knöchellangen Rock zu einer schmalen Jacke, die bei der Hitze unerträglich beengend sein musste. Es war eigentlich nichts Matronenhaftes an Anne, die jetzt Anfang vierzig war, Ehefrau von Harold Ross und Mutter der achtzehnjährigen Kathryn, doch ihre oft so säuerliche Miene überschattete ihre dunkeläugige Schönheit. Heute konzentrierte sich ihr böser Blick voll auf Christy – eine Warnung vor dem drohenden Gewitter.

Christys Hände auf ihrem Schoß verkrampften sich, als sie von Schuldgefühlen überflutet wurde. Sie hatte an diesem so besonderen Tag keinen Ärger heraufbeschwören wollen, doch die Dringlichkeit, ihre Pläne zu offenbaren, hatte sich als zu groß erwiesen. Sie hatte gehofft, ihre Familie würde sich, durch den Champagner und ein üppiges Mahl milde gestimmt, zugänglicher zeigen, bereit, sie anzuhören und zu begreifen, wie wichtig es für sie war, ihre Träume wahrzumachen. Doch dieser Wunsch schien sich nicht zu erfüllen.

»Mach dich nicht lächerlich«, fauchte Hamish, und sein wettergegerbtes Gesicht wurde rot bis zu den Wurzeln seiner hellen rotbraunen Haare. »Du trauerst noch um Vater und kannst nicht klar denken.«

Christy musterte ihren ältesten Sohn, der von Tag zu Tag mehr wie ihr Vater aussah. Sie wusste, wie schwer es sein würde, ihn davon zu überzeugen, dass ihre Pläne vernünftig und wohldurchdacht waren. »Natürlich trauere ich noch«, versetzte sie ruhig, »das bedeutet aber nicht, dass ich nicht im vollen Besitz meiner Geisteskräfte wäre.«

»Ich bin ganz Hamishs Meinung«, sagte Anne. »Es schickt sich nicht für eine Frau deines Alters, ohne Begleitung eine so weite Reise anzutreten. Was ist, wenn du krank wirst – oder, Gott behüte, stirbst?«

»Ich mag ja fünfundsechzig Jahre alt sein«, gab Christy zurück, »aber ich bin noch nicht senil, und ich habe nicht die leiseste Absicht, tot umzufallen, ehe es an der Zeit dazu ist.«

»Du wirst nicht viel mitreden können, was den Zeitpunkt betrifft«, versetzte Anne.

»Das ist doch purer Wahnsinn«, stieß Hamish hervor. »Und ich verbiete es mit aller Entschiedenheit.«

»Euer Vater hat mir nie etwas verboten«, erinnerte Christy ihn gelassen, »und ich lasse mir auch von meinen Kindern nichts vorschreiben.« Sie rutschte auf dem Stuhl ein Stück nach vorn, um ihren Argumenten mehr Nachdruck zu verleihen. »Ihr scheint alle vergessen zu haben, dass ich reichlich Erfahrung darin habe, allein zu reisen, und wenn ich nicht so abenteuerlustig und entschlossen wäre, gäbe es nichts von alldem, was ihr heute habt.«

»Damals warst du jung, und alles war anders«, tat Anne das Argument ab. »Außerdem hattest du die meiste Zeit Vater an deiner Seite, also kannst du das nicht dir allein zugutehalten.«

Ihre selbstgefällige Miene genügte, um Christy innerlich aufzubringen. Nur mit Mühe konnte sie sich eine scharfe Entgegnung verkneifen.

»Was du da vorhast, ist völliger Irrsinn«, fuhr Anne ungerührt fort. »Und ich bin sicher, dass die anderen mir da zustimmen werden.« Gebieterisch ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und musterte ihre Brüder, deren Ehefrauen, ihre Tochter und ihren Mann, fast, als wollte sie sie davor warnen, ihr zu widersprechen.

»Ich finde, wir sollten Mutters Wünsche respektieren«, durchbrach James ruhig das nun folgende Schweigen. »Schließlich hat sie im Lauf der Jahre so viel für uns getan, und sie hat schon immer davon geträumt, ihren Geburtsort einmal wiederzusehen.«

»Dann hätte sie hinfahren sollen, solange Vater noch lebte«, blaffte Hamish und wand seinen Arm aus dem Griff seiner Frau, die ihn zurückhalten wollte. »Eine solche Reise ist etwas ganz anderes als eine Überfahrt über die Bass-Straße, die nur ein paar Stunden dauert. Ich werde nicht zulassen, dass Ma aus einer albernen Laune heraus ihr Leben aufs Spiel setzt.«

»Es ist keine Laune«, protestierte Christy erbost. »Es ist ein lange gehegter Wunsch, und du weißt ganz genau, dass dein Vater eine derartige Seereise niemals in Erwägung gezogen hätte – nicht nach dem, was er als Junge durchgemacht hat.«

Als sie das sagte, tauchten fast unerträgliche Bilder vor ihr auf, und Christy musste sich zusammenreißen, um weiterzusprechen. »Traurigerweise ist er aber nicht mehr da. Ihr Kinder habt euer eigenes Leben, und nun bin ich an der Reihe zu tun, was mir gefällt.«

»Das ist eine sehr egoistische Einstellung«, sagte Anne mit leisem Schnauben. »Du hast Verpflichtungen hier und kannst uns und deine Enkelkinder nicht einfach sitzen lassen.«

»Abgesehen von Kathryn sehe ich meine Enkelkinder kaum«, erinnerte Christy sie. »Sie wohnen viel zu weit weg. Und was meine Verpflichtungen angeht, so habe ich einen Anwalt und einen Buchhalter, die sich darum kümmern können. Ich habe einen Nachbarn, der meine Pferde versorgt, und drei Söhne, die fraglos imstande sind, die Geschäfte der Familie ohne mich zu führen.« Sie blickte zu Harold hinüber, um ihn einzubeziehen, denn sie empfand ihn ebenfalls als Sohn.

»Statt diesen hirnrissigen Plan zu verfolgen, könntest du die freie Zeit, die du jetzt hast, dazu nutzen, uns zu besuchen und unsere Kinder kennenzulernen«, knurrte Hamish ärgerlich.

»Das tue ich, wenn ich wieder da bin«, erwiderte sie. »Fürs Erste werden Postkarten und Briefe genügen müssen.«

»Du wirkst sehr entschlossen, Mutter«, sagte James und schwenkte den tiefroten Yarrabinda Shiraz in seinem Glas. »Aber bist du sicher, dass das klug ist? Es ist eine weite Reise für eine alleinstehende Frau.«

»Die ganze Sache ist völlig lächerlich«, schnaubte Hamish und schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. »Natürlich ist es unklug, auf Reisen zu gehen – noch dazu bei dieser Entfernung, und ohne Begleitung.«

»Hamish hat recht, Christy«, sagte seine Frau Beryl voller Ernst. »Die Reise ist für eine Frau jeden Alters gefährlich, und du wirst an zwielichtigen Orten Aufenthalt haben.«

Clarice blickte zu James hinüber, ehe sie das Wort ergriff. »Ich bin der gleichen Meinung«, sagte sie und blinzelte hinter ihren Brillengläsern hervor wie eine Eule. »Du könntest Menschenhändlern zum Opfer fallen oder eine dieser schrecklichen Krankheiten bekommen, die im Ausland so verbreitet sind. James und ich verstehen ja, dass du die Reise machen willst, aber es ist wirklich unvernünftig, Christy.«

»Wenn einer von uns mitfahren würde, wäre uns vielleicht allen wohler«, schaltete sich Kathryn, die bisher geschwiegen hatte, ins Gespräch ein.

»Ich kann Yarrabinda nicht so lange allein lassen. Weinstöcke sind kapriziös, selbst bei gutem Wetter. Die muss ich mit Argusaugen überwachen.« James sah zu seinem Bruder hinüber, der finster dreinblickte. »Und ich bezweifle, dass Hamish sein Vieh allein lassen kann, nicht bei der Dürre, die nach wie vor so erbarmungslos in Queensland wütet.«

Er warf Christy ein verständnisvolles Lächeln zu, das ihr das Herz wärmte. »Allerdings klingt es ganz danach, als würden wir alle ein sagenhaftes Abenteuer verpassen.«

Kathryn beugte sich vor, und ihr Gesicht leuchtete vor Begeisterung. »Aber ich könnte mitfahren«, sagte sie leise. »Ich fange erst im Oktober an der Universität an, und die Erfahrung wäre viel mehr wert als alles, was ich in einer Bibliothek lernen könnte.«

Während sich ein Proteststurm erhob, schwoll Christy vor Liebe zu ihrer Enkelin das Herz. In ihrer Sanftmut hatte Kathryn zwar auch ein wenig von der Eigenwilligkeit ihrer Mutter, aber die äußerte sich bei ihr ganz anders: Im Gegensatz zu Anne wusste Kathryn ganz genau, dass sie mit ihren Worten am meisten bewirken konnte, wenn sie sie mit Bedacht wählte und gezielt einsetzte.

»Du wirst nichts dergleichen tun«, zischte Anne. »Du bist viel zu jung, um allein mit Mutter auf Reisen zu gehen. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass sie länger als fünf Minuten nichts anstellt. Wisst ihr noch, was passiert ist, als sie letzten Sommer unbedingt mit Pferd und Wagen an diesem Rennen teilnehmen wollte? Am Schluss hatte sie eine Gehirnerschütterung und ein gebrochenes Handgelenk.«

»Immerhin hat sie es ausprobiert«, entgegnete Kathryn ungerührt. »Ich verstehe nicht, warum sie nicht all das tun soll, was sie will, solange sie es noch kann.«

»Hört, hört«, sagte James und zwinkerte seiner Nichte zu. »Es ist ja nicht so, als stünde Mutter schon mit einem Fuß im Grab. Ja, wahrscheinlich hat sie mehr Energie als wir alle zusammen. Ich finde, das ist eine geniale Idee, Kathryn, und mich würde es auf jeden Fall beruhigen.«

Christy schmunzelte, denn sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als die lange Reise in Gesellschaft ihrer Enkelin zu machen.

Doch dann lehnte sich Anne über Kathryn hinweg und stieß ihren schweigenden Ehemann in die Rippen. »Sag doch ausnahmsweise auch mal was, Harold«, fauchte sie, »und unterstütze mich.«

Christy sah beklommen zu, wie Harold Ross sich räusperte und auf dem Stuhl hin und her rutschte. Man sah ihm an, wie unangenehm es ihm war, in diesen Familienstreit hineingezogen zu werden. Er war ein reicher Mann und von scharfem Verstand, wenn es um die Leitung seines Exportimperiums ging, jedoch reichlich hilflos, wenn er mit seiner herrschsüchtigen Frau fertigwerden musste. In häuslichen Angelegenheiten widersetzte er sich ihr fast nie – schon gar nicht vor Publikum.

»Mir scheint, deine Mutter ist fest entschlossen, und die Erfahrung hat gezeigt, dass unsere Einwände nichts daran ändern werden«, begann er vorsichtig. »Allerdings«, fuhr er fort, während er dem zornigen Blick seiner Frau geflissentlich auswich, »glaube ich auch, dass es unklug wäre, eine so weite Reise ganz alleine zu unternehmen.«

Annes finstere Miene hellte sich kurzfristig auf, bis Harold weitersprach. »Wenn die Universität nichts dagegen hat, dass Kathryn auf Reisen geht und dadurch womöglich die Einführungsphase versäumt, dann gebe ich ihr meine Erlaubnis, Christy zu begleiten.«

Diese Aussage wurde mit allgemeinem Schweigen quittiert. Alle warteten mit angehaltenem Atem auf Annes Reaktion.

Anne starrte ihren Mann schockiert an, und die Spannung stieg, bis sie sich genug gefasst hatte, um eine Antwort zu formulieren. »Unsere Tochter ist gerade mal achtzehn Jahre alt«, stieß sie schließlich hervor. »Sie ist noch ein Kind. Hast du komplett den Verstand verloren?«

Harold lief rot an – Christy wusste nicht, ob vor Wut oder vor Verlegenheit –, doch dann, als sich Kathryns Hand in seine stahl, setzte er sich aufrecht hin, umfasste die Finger seiner Tochter fest und begegnete Annes Zornesfunkeln mit gleichmütigem Blick.

»Reisen erweitert den Horizont«, erklärte er entschieden, »und da unsere Tochter noch nie im Ausland war, glaube ich, dass sie von dieser Erfahrung enorm profitieren würde.«

Christy spendete ihm im Stillen Beifall – sie war ihm ausnehmend dankbar für seine Unterstützung –, doch Anne kochte offensichtlich immer noch vor Wut. »Ich verlange nicht viel von dir«, sagte sie tonlos, »und Gott weiß, dass du die wirklich wichtigen Entscheidungen meistens mir überlässt. Aber ich wäre froh gewesen, wenn du ausnahmsweise einmal Verantwortung für unsere Tochter übernommen hättest.«

Sein Mund wurde schmal, und seine grünen Augen glitzerten. »Genau das tue ich«, versetzte er kühl. »Und ich bin in dieser Sache fest entschlossen. Wenn Kathryn mit Christy fahren will, dann hat sie meinen Segen.«

Während Kathryn seine Hand drückte und ihn anlächelte und Anne um Fassung rang, war rund um den Tisch verlegenes Räuspern und Stühlerücken zu vernehmen.

Es war Christy, die das unbehagliche Schweigen brach, denn sie hatte keinen Streit zwischen ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn vom Zaun brechen wollen. Dennoch konnte sie nicht leugnen, dass Kathryn zur Reisegefährtin zu haben die Patentlösung für die Bedenken ihrer Familie wäre.

»Es tut mir leid, Anne, aber nachdem Harold seine Zustimmung gegeben hat und Kathryn mich offenbar sehr gerne begleiten möchte, begreife ich nicht, warum du dich weiter hartnäckig dagegenstemmst.« Sie wich dem zornigen Blick ihrer Tochter aus und lächelte Kathryn an. »Ich würde dein Angebot mit großer Freude annehmen, meine Liebe.«

Kathryns grüne Augen, die denen ihres Vaters so ähnlich waren, funkelten aufgeregt. »Wir werden ein richtiges Abenteuer erleben, Großmutter«, sagte sie. »Ich kann es kaum erwarten.«

»Das kann und werde ich nicht zulassen«, zürnte Anne.

»Es sieht nicht danach aus, als hättest du eine andere Wahl«, warf James mit schelmisch blitzenden Augen ein. »Spiel, Satz und Sieg für Harold, würde ich sagen.«

Annes böser Blick hätte einen wilden Stier auf Abstand gehalten, doch James konnte er nicht schrecken. Als Jüngster der drei Geschwister hatte er ihn im Lauf der Jahre nur allzu oft erlebt, und so hob er sein Glas und trank seinem Schwager zu, der ihm seinerseits freundlich zuzwinkerte.

»Ich halte die ganze Idee für kompletten Irrsinn«, knurrte Hamish. Nach Harolds Erklärung war er nicht mehr ganz so wütend. Er ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern und schnaubte verdrossen. »Doch da nun Harold seine Einwilligung gegeben hat, sollten wir vielleicht akzeptieren, dass man manche Schlachten einfach nicht gewinnen kann.«

Anne warf Harold einen giftigen Blick zu und setzte sich noch aufrechter hin. »In diesem Fall habe ich keine andere Wahl, als meinen mütterlichen Pflichten nachzukommen und meine Tochter zu begleiten.«

Ein Raunen wie das Rascheln von Herbstlaub zog sich durch den Raum, und als Kathryn entsetzt ihre Mutter ansah, hatte Christy Mühe, ihren eigenen Schrecken im Zaum zu halten.

»Das ist wirklich nicht nötig, Anne«, versetzte sie rasch. »Kathryn und ich werden bestens zurechtkommen, ohne dir zur Last fallen zu müssen.«

»Es ist allerdings eine Last, vor allem, weil für das kommende Jahr schon so viele gesellschaftliche Verpflichtungen in meinem Kalender stehen. Doch das Wohlergehen und der Ruf meiner Tochter sind mir weitaus wichtiger, und es wäre nicht schicklich, wenn Kathryn unbegleitet eine so weite Reise unternähme.«

»Sie hat doch mich«, sagte Christy. Bei dem Gedanken, dass ihre herrische und feindselige Tochter all ihre sorgfältig geschmiedeten Pläne durchkreuzen und ihr das Leben zur Hölle machen würde, wurde ihr ganz schwindelig.

Anne tat Christys Proteste mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Du bist viel zu unzuverlässig«, entgegnete sie. »Du könntest krank werden oder irgendwo auf Abwege geraten und euch dadurch beide in Gefahr bringen. Du weißt selbst, dass du dich immer wieder von deiner Neugier hinreißen lässt, was enorme Schwierigkeiten nach sich ziehen kann.«

Von Annes barschem Ton und ihrer Gefühllosigkeit gekränkt, fühlte sich Christy trotzdem schmerzhaft an den Vorfall erinnert, wie sie einmal mit der fünfjährigen Kathryn in den Busch gezogen war, um einen seltenen Vogel aufzuspüren. Die Männer, die am Gordon River arbeiteten, hatten ihn gesichtet. Sie hatte geglaubt, es wäre ein Abenteuer für die Kleine, doch dann hatte sie sich hoffnungslos verirrt und mehr Glück gehabt als Verstand, als sie schließlich wieder nach Hause zu ihrem Mann und ihrer Tochter gefunden hatte, die beide außer sich vor Sorge gewesen waren.

»Offensichtlich erinnerst du dich an diesen Tag«, sagte Anne finster. »Und das war nicht das einzige Mal, dass du der Familie durch deine Unbesonnenheit große Sorgen beschert hast.«

Christy registrierte auf einmal, dass die anderen mit erhöhtem Interesse zuhörten und auf ihre Reaktion warteten, und begriff, dass das Ganze allmählich zu einem Zirkus ausartete, dem sie rasch ein Ende machen musste. Sie strich ihren Leinenrock glatt, zog die Schleife an ihrer schmalen Taille zurecht und holte tief Luft, ehe sie jeden Zentimeter ihrer wenig imposanten Körpergröße aufrichtete, um ihrer Tochter stehend entgegenzutreten.

»Du würdest es nicht wagen, so mit mir zu sprechen, wenn dein Vater noch lebte, und ich lasse mir das nicht länger bieten«, erklärte sie entschlossen. »Wenn du darauf bestehst mitzufahren, musst du die Tatsache respektieren, dass ich deine Mutter bin, und mich entsprechend behandeln. Diese Reise ist etwas sehr Persönliches, und ich lasse sie mir von dir nicht verderben. Hast du das verstanden?«

Annes Wangen röteten sich, doch sie hielt dem Blick ihrer Mutter trotzig stand. »Oh, das verstehe ich nur allzu gut«, sagte sie, »aber Respekt muss man sich …«

Christy merkte, dass ihre Tochter im Begriff war, etwas zu sagen, was sie bitter bereuen würde, und fiel ihr schnell ins Wort. »Ich weiß, dass es dir vor allem um Kathryns Wohl geht – und dass du manchmal Dinge sagst, ohne dir zu überlegen, wie verletzend sie sein können. Ich hoffe nur, dass du ein wenig Demut und Verständnis für andere gelernt hast, wenn wir wieder nach Tasmanien zurückkehren.«

Hamish schnaubte. »Demut? Anne? Das will ich sehen.«

Die anderen kicherten nervös, bis Christy ihnen einen strengen Blick zuwarf und James bat, noch eine Flasche Yarrabinda-Wein aufzumachen, damit sie miteinander anstoßen konnten.

Als die Gläser gefüllt waren, lächelten sie und ihr Sohn sich voller Zuneigung an. »Auf wen oder was stoßen wir denn an?«, fragte er.

»Wir erheben die Gläser auf die Insel Skye und meine lange ersehnte Heimkehr«, antwortete sie. Mit einem entschlossenen Lächeln verbarg sie die Bedenken, die plötzlich in ihr aufkeimten. Was mochten die kommenden Monate und die lange Reise an den Tag bringen? Nicht nur über sie selbst, sondern auch über ihre Beziehung zu ihrer einzigen Tochter.

1

InvernessJuni 1905

Sie waren mit dem Dampfschiff aus London gekommen und hatten sich schnurstracks zu dem alten Gasthaus am Ufer des Moray Firth in Inverness begeben. Nach einem gemütlichen Spaziergang durch die Stadt mit ihren Kirchtürmen, steinernen Brücken und eleganten Häusern aus Granit hatte Christy vorgeschlagen, früh zu Abend zu essen und sich zur Nachtruhe zurückzuziehen, um sich für den nächsten Tag zu rüsten. Zur Begründung hatte sie die lange Weiterreise angeführt, damit sie sich ausruhen konnte, ohne Besorgnis zu erregen. Ganz im Gegensatz zu sonst spürte Christy jedes einzelne ihrer fünfundsechzig Jahre.

Die alten Holzbalken des Hotels ächzten und knarrten, vom Moray Firth wehte salzige Luft herein, und auf dem Kopfsteinpflaster unter ihrem offenen Fenster waren Pferdegetrappel und das Rumpeln von Fuhrwerken zu vernehmen, als Christy an ihrem Frisiertisch saß und sich versonnen die dunklen Haare bürstete. Sie trug sie immer noch lang, obwohl sie nicht mehr so kräftig waren wie früher, stattdessen aber von silbernen Strähnen durchzogen wurden. Ihr verstorbener Mann hatte es geliebt, seine Finger durch ihr Haar gleiten zu lassen, und ihr graute vor dem Gedanken, es abzuschneiden – das würde sich anfühlen, als trennte sie sich von allem, was sie geteilt hatten. Nichts als eine schreckliche Leere würde zurückbleiben, und dazu war sie noch nicht bereit.

Seufzend musterte sie ihr Spiegelbild und stellte fest, dass ihre dunklen Augen ihren Verlust verrieten. Die Jahre hatten ihr Gesicht gezeichnet. Sie wandte sich ab, nicht bereit zu akzeptieren, dass das Mädchen, das sie einst gewesen war, nur noch in ihrem Geist existierte, während die Welt – und ihre Familie – lediglich eine alte Frau in ihr sah.

Sie streifte den Morgenmantel ab, schloss das Fenster, drehte die Gaslampe aus und stieg in das hohe Himmelbett. Die schweren Vorhänge waren muffig von Staub, Feuchtigkeit und Alter, doch die Bettwäsche war sauber, die Decken schützten sie vor der nächtlichen Kälte, und Christy schmiegte sich in die Kissen und sehnte sich nach Schlaf. Doch trotz der Müdigkeit brodelte Vorfreude in ihr, und ihr Geist fand keine Ruhe.

Von dieser Reise hatte sie fünfzig Jahre lang geträumt, und sie konnte kaum glauben, dass sie nun schon fast zuhause war. Allerdings war ihr die Freiheit, sich diesen lange gehegten Traum zu erfüllen, nicht in den Schoß gefallen. Sie hatte einen hohen Preis dafür zahlen müssen, da sich die Gelegenheit erst durch den Verlust ihres geliebten Mannes ergeben hatte, und der anfängliche Widerstand ihrer Familie hätte ihren Entschluss beinahe ins Wanken gebracht.

Sie starrte in die Dunkelheit, während die Geräusche von der Straße nach oben wehten. Möwen kreischten über den nahen Hafenanlagen, wo die Takelage der Schiffe im scharfen Ostwind disharmonische Klänge erzeugte. Ihre Erinnerung an diese Auseinandersetzung verblasste, und sie stellte sich den scharfen Geruch von Seetang an einer Felsküste vor, die klagenden Schreie der Brachvögel, die über den Cuillin Hills schwebten, und das stachelige Heidekraut der Bergtäler unter ihren nackten Füßen.

Christys Lider wurden schwer. Wie hätte ihre Familie den tieferen Sinn dieser Wallfahrt begreifen sollen? Schließlich hatte sie ihren Kindern so wenig wie möglich über die Mühsal erzählt, die sie in ihrer Kindheit und Jugend hatte erdulden müssen. Sie hatte die ungeschönte Wahrheit darüber in sich verschlossen und nur ihrem Mann anvertraut, weil sie wusste, dass auch er durch andere gelitten hatte. Die Erinnerungen an diese Zeit waren zu schmerzhaft, um sie zu teilen, zu dunkel, und sie sollten das Leben, das sie sich in diesem neuen Land voller Sonnenschein und Chancen aufgebaut hatten, nicht überschatten.

Doch das Bedürfnis, ihre Erinnerungen aus der Versenkung zu holen, wurde immer dringlicher, je näher sie dem Ziel ihrer Reise kamen. Als sie endlich in den Schlaf fiel, spürte Christy, dass der Zeitpunkt, an dem sie ihre Geschichte erzählen konnte, sich mit großen Schritten näherte. Dann würde sie endlich wahren Frieden finden.

Kathryn lag in dem schmalen Bett, ihr üppiges kastanienbraunes Haar auf dem Kissen ausgebreitet, und starrte in die Finsternis des holzgetäfelten Zimmers mit den schweren Deckenbalken, das sie mit ihrer Mutter teilen musste. Sie konnte kein Auge zutun vor lauter Vorfreude auf den nächsten Tag und das, was er bringen mochte.

Sie drehte sich um und schlang die Arme um ihr Kopfkissen, während ihr die leuchtenden Bilder ihrer bisherigen Reiseerlebnisse durch den Kopf gingen. Sowie ihre Großmutter ihre Absicht verkündet hatte, nach Skye zu fahren, war ihr klar geworden, dass dies eine einmalige Gelegenheit wäre, die sie sich nicht entgehen lassen durfte. Trotz des Aufhebens, das ihre Mutter darum machte, und ihrer ständigen Nörgelei, war sie nicht enttäuscht worden.

Die SS Celtic hatte sich als ausgesprochen prachtvolles Schiff erwiesen, mit großzügigen Kabinen für die erste Klasse, einem eleganten Speisesaal, einer gut sortierten Bibliothek und einem Swimmingpool aus Zeltplane auf dem Vorderdeck. Es gab sogar einen herrlichen Ballsaal, wo die Schiffsoffiziere in ihren weißen Jacken dafür sorgten, dass jede allein reisende Frau, egal welchen Alters, einen Tanzpartner fand. Kathryns Mutter hatte das Ganze sehr frostig beäugt, doch Gran hatte sie streng ermahnt, keine Spielverderberin zu sein, und Kathryn ermuntert, ihre Tanzkarte jeden Abend vollzumachen.

Die Überfahrt war dankenswerterweise sehr glatt verlaufen – selbst bei der Umrundung des berüchtigten Kap Hoorn –, sodass keine von ihnen seekrank geworden war. Kathryn hatte alles unglaublich romantisch gefunden. Jeden Abend war sie von all der Aufmerksamkeit, die ihr zuteilwurde, ganz verzückt ins Bett gesunken, und sie hatte lange Briefe an ihre Freundinnen in Melbourne geschrieben, in denen sie ihnen die Vorzüge einer Seereise schilderte und einen ganz besonders gut aussehenden Ersten Offizier beschrieb, mit dem sie auf dem vom Mondlicht beschienenen Deck ein paar ziemlich aufregende Küsse getauscht hatte.

Beim Gedanken an diese gestohlenen Momente grinste sie in ihr Kissen, akzeptierte sie aber als das, was sie waren – ein belangloses Vergnügen, passend zur Romantik einer Seereise über ein Meer, das unter dem funkelnden Sternenhimmel magisch leuchtete. Sie vermutete, dass der Offizier seine Zuwendung schon bei der nächsten Überfahrt einem anderen Mädchen schenken würde.

Hinzu kamen all die exotischen Dinge, die sie bei ihren Landgängen sahen, die fremden Düfte und Geräusche. Sie hatte alles in ihrem Tagebuch festgehalten, um auch nicht das kleinste Detail zu vergessen. Sie hatten die traumhaft schönen palmenbestandenen Inseln Vanuatu und Fidschi besucht und waren dann weitergefahren nach Tonga und an die chilenische Küste. Nachdem sie das Kap umrundet hatten, machten sie Halt in Montevideo und in dem quirligen, lauten Rio de Janeiro, ehe sie in Richtung Afrika weiterfuhren und die exotischen Häfen Senegals und Marokkos anliefen.

Die marokkanische Hafenstadt Safi stand in scharfem Kontrast zu allen anderen Orten, die sie besucht hatten. Es herrschte dort nicht nur eine unerträgliche Hitze, sondern sie mussten auch Schmutz und üble Gerüche ertragen. In der Stadt wimmelte es von Menschen, und es stank nach verbranntem Müll und Tierkot, gemischt mit dem Geruch von Gewürzen, was Kathryn verstört hatte. Doch trotz der unverschämt penetranten Blicke der Männer in ihren Kaftanen und der klagenden Stimmen der Bettler hatte sie fasziniert die antiken Ruinen und die scheinbar endlose Wüste bestaunt, die sich jenseits der Festungsmauern am Stadtrand erstreckte. Diese Wüste war die Heimat der Nomaden mit ihren Kamelkarawanen, der bunt gekleideten Frauen und Kinder.

Ihre Mutter hatte sich, seit sie Melbourne verlassen hatten, anmaßend und grotesk pingelig gezeigt – sie hatte an allem herumgemäkelt, Christy wegen jeder Kleinigkeit zurechtgewiesen und ihnen die Freude an der Reise gründlich verdorben. Doch bei ihrem kurzen Aufenthalt in Safi hatte sie das alles auf die Spitze getrieben, und Kathryn war über die Feindseligkeit ihrer Mutter gegenüber Christy erschrocken.

Christy, deren Neugier unersättlich war, hatte sich von ihrem Reiseführer entfernt und war allein durch die Ruinen einer portugiesischen Festung geschlendert, umgeben von einer Horde einheimischer Bettler und Straßenverkäufer. Es hatte Kathryn und Anne enorme Mühe gekostet, ihr nachzukommen, als sie im Souk verschwand, um dort mit den Marktleuten zu handeln, und sich dann in dem Labyrinth aus engen Gassen ihren Weg durch die Menschenmenge gebahnt hatte. Irgendwann hatten sie Christy aus den Augen verloren.

Die beiden jüngeren Frauen hatten eine Stunde lang immer panischer nach Christy gesucht, bis sie sie schließlich inmitten einer Gruppe verschleierter Frauen auf der Erde sitzend fanden, wo sie einen lebhaften Vortrag hielt, während die Frauen ihre Kinder in Blechschüsseln wuschen.

Kathryn hatte vor Erleichterung fast geweint, doch ehe sie ihre Großmutter umarmen konnte, hatte Anne Christy am Arm gepackt und sie grob durchs Gedränge in Richtung Schiff gezerrt.

Entsetzt hatte Kathryn eingreifen wollen, doch schon bald schaffte Christy es selbst, sich aus dem Griff ihrer Tochter zu befreien, und war mit grimmiger Miene stehengeblieben. Anne hatte sie derart heruntergeputzt, dass die Leute haltmachten und hersahen. Vor Angst, dass ihre Mutter zu körperlicher Gewalt gegenüber Christy greifen könnte, um ihrem Ärger Luft zu machen, wollte Kathryn sich schon zwischen die beiden stellen. Doch da tat ihre Großmutter die Tirade einfach mit einem Schulterzucken ab, lächelte zuckersüß und ohne jedes Schuldbewusstsein und schritt eilig mit ihren vielen Einkäufen die Gangway hinauf, um den Nachmittagstee einzunehmen.

Kathryn hatte versucht, ihre Mutter zu besänftigen, hatte sich bei ihr eingehängt und sie angebettelt, an Bord zu gehen, um sich auf Deck mit Christy zu versöhnen. Doch Anne hatte nicht einlenken wollen, sondern war, nach wie vor völlig außer sich, in ihre Kabine gegangen und bis zum nächsten Morgen dort geblieben.

Kathryn kuschelte sich tiefer in ihre Kissen und fragte sich, warum ihre Mutter eine solche Abneigung gegenüber Christy hegte. Das war nicht immer so gewesen, denn sie konnte sich daran erinnern, dass in ihrer frühen Kindheit ein sehr herzliches Verhältnis zwischen den beiden geherrscht hatte.

Sie konnte nur den Schluss ziehen, dass etwas passiert war, das diesen Wandel herbeigeführt hatte. Sie hatte gehofft, die lange Reise würde den Riss zwischen den beiden kitten. Doch trotz all ihrer sanften Überredungsversuche waren die beiden Frauen bisher verschlossen und distanziert geblieben. Allmählich fragte sie sich, ob sie wohl je erfahren würde, was zwischen ihnen stand.

2

Sie hatten Inverness im Morgengrauen verlassen, nach einem schnellen Frühstück aus köstlichem Porridge und mehreren Tassen starkem Kaffee. Die lange Reise mit Pferd und Kutsche zum westlichen Ende des Kyle of Lochalsh hatte den ganzen Tag in Anspruch genommen. Sie hatten die Nacht in einem heruntergekommenen kleinen Gasthof verbracht und dann für den letzten Teil ihrer Reise die Inselfähre SS Pioneer bestiegen.

Das Wetter war über Nacht schlechter geworden, und während sich die Pioneer entschlossen durch die rauen Fluten vor der Südküste von Skye kämpfte, stand Christy allein auf dem regennassen Deck und blinzelte ihre Tränen weg. Trotz der langen Zeit und der großen Entfernung hatte ihre Erinnerung sie nicht getrogen, denn alles war genauso, wie sie es zuletzt gesehen hatte. Ohne auf den Wind zu achten, der an ihrem Hut und ihrem viel zu dünnen Regenmantel zerrte, oder auf ihren Rock, der so nass war, dass er an ihren Knöcheln klebte, blickte sie auf die schwarzen Felswände hinaus. Wasserfälle stürzten daran herunter ins Meer, und die aufsprühende Gischt vermischte sich mit einem weichen Regenschleier.

Christy suchte mit den Füßen festeren Halt auf dem glitschigen Deck, das unter ihr hüpfte und wankte, und umklammerte die Reling. Ihre Gefühle, die sie sonst immer so fest unter Verschluss hielt, gerieten in Aufruhr, als sie den satten, torfigen Geruch des scheinbar so kargen Landes einatmete, das nun vor ihr lag. »An t-Eilean Sgitheanach«, flüsterte sie auf Gälisch, der Sprache ihrer Kindheit. Das hier war ihre »Wolkeninsel«, wie die Wikinger sie genannt hatten, und sie war froh, dass sie die ersten Augenblicke ihrer Heimkehr allein und ungestört in sich aufsaugen konnte.

Während die Pioneer mit ihrer Fracht aus Passagieren, Post, Versorgungsgütern und lebendem Vieh langsam nordwärts stampfte, betrachtete Christy die unveränderte Landschaft, die sich allmählich vor ihr entfaltete. Es war ein seltsames, aufwühlendes Gefühl, denn ihr schien, als wären die fünfzig Jahre ihrer Abwesenheit im Handumdrehen verstrichen, und die Erinnerungen, die sie die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte, überschlugen sich – sie waren heute noch ebenso klar und schmerzhaft wie einst.

Schließlich fand sie ein wenig Schutz unter dem schmalen Sims am Dach des Steuerhauses. Sie strich liebevoll über ihren abgewetzten Karoschal, der einst ihrer Mutter gehört hatte, und zog ihn enger um ihre schmalen Schultern. Als sie die Nase in den feuchten Falten vergrub, glaubte sie beinahe, in der Wolle aus den Highlands den Duft der Frau, die sie so geliebt hatte, wahrzunehmen. Ihre Großmutter hatte den Schal gewoben, in Blau- und Grüntönen und von wenigen schmalen, orangefarbenen Streifen durchzogen – das war der alte Tartan des MacInnes-Clans. Sie hing an dem Stück, da es voller Erinnerungen steckte und das einzige Besitztum war, das ihr aus diesen längst vergangenen Tagen geblieben war.

»Um Gottes willen, Mutter. Was treibst du denn hier?«

Annes herrischer Ton riss Christy aus ihren Gedanken, und sie brauchte einen Moment, ehe sie etwas erwidern konnte. »Ich genieße meine Heimkehr«, erklärte sie fest.

»Du holst dir den Tod«, versetzte Anne bissig, wobei sie ihren Hut festhielt und den Kopf vor der Gischt senkte, die der Wind vom Bug der Fähre herbeiwehte.

»Ich hab schon Schlimmeres überlebt«, erwiderte Christy knapp und wandte sich erneut dem vorüberziehenden Panorama zu, in der vagen Hoffnung, dass ihre Tochter den Wink verstehen und wieder hineingehen würde. Doch offenbar wollte Anne ihren Wachposten partout nicht aufgeben.

»Das glaube ich dir durchaus«, entgegnete Anne, »aber jetzt bist du älter und nicht mehr so robust.«

Christy ignorierte sie geflissentlich. Sie hatte gehofft, dass diese lange Reise sie einander etwas näherbringen würde, aber trotz all ihrer Versuche, Anne zu besänftigen, schien diese fest entschlossen, ihre Mutter auf Abstand zu halten, indem sie unentwegt nörgelte und alles beanstandete, was Christy tat und sagte. Nach all den Wochen erzwungener Nähe fühlte sie sich zermürbt von dem endlosen Ringen darum, nicht die Geduld zu verlieren und die Attacken ihrer Tochter zu parieren.

Anne war nach ihrer schon lange verstorbenen schottischen Großmutter getauft worden, doch verband sie keinerlei Ähnlichkeit mit der Frau, die mit solch stoischer Geduld Armut und Elend ertragen und einen tragischen, allzu frühen Tod gefunden hatte. Christy bedauerte, dass das unversöhnliche Wesen ihrer Tochter sie zu einer unangenehmen Xanthippe machte, die beinahe jeden gegen sich aufbrachte – selbst ihren duldsamen Ehemann. Schon lange hegte Christy den Verdacht, dass Annes Ehe unglücklich war. Wie Harold an jenem Tag in Hobart gegen Anne rebelliert hatte, war sehr verräterisch gewesen.

Christy rang sich ein Lächeln ab und tätschelte Anne beschwichtigend den Arm. »Bitte mach dir meinetwegen keine Umstände, meine Liebe. Ich bin ganz zufrieden hier draußen, und dieser Frühlingssturm wird bald ein Ende haben.«

Anne schüttelte sich geziert, zog sich die feine Pelzstola enger um den Hals und hielt ihren Hut fest. »Man sollte kaum glauben, dass wir Juni haben«, murmelte sie. »Hört es eigentlich nie auf zu regnen?«

»Natürlich tut es das, aber du darfst nicht vergessen, wie weit nördlich wir sind, und das Wetter ist hier immer unberechenbar.« Sie schob ein paar Strähnen ihres von Silberfäden durchzogenen Haars zurück, die sich aus den Spangen gelöst hatten. »In Tasmanien ist es doch genauso, Anne. Ich kann mich an etliche Weihnachten erinnern, an denen wir drinnen saßen und dem Regen zugeschaut haben.«

Anne schnaubte verächtlich. »Wie das Wetter auch sein mag, du bist viel zu alt, um hier im Freien herumzustehen«, sagte sie.

Christy seufzte innerlich. Sie hatte es gründlich satt, diesen verletzenden Satz immer wieder von ihrer Tochter zu hören.

»Was hast du da überhaupt für einen erbärmlichen Fetzen um die Schultern? Wo ist die Pelzstola, die du in London gekauft hast?«

Christy vergrub die Finger in ihrem Schal und musterte Anne gelassen. »Die liegt sicher verwahrt in meinem Koffer«, erwiderte sie. »Und das hier ist ein Familienerbstück, das für diesen Anlass bestens geeignet ist.«

»Es ist eine Schande«, versetzte Anne und griff hastig nach der Reling, als das Schiff einen Satz machte und sie fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Du kannst manchmal reichlich schwierig sein«, grollte sie. »Was werden die Leute denken, wenn sie dich damit sehen?«

Christy schmunzelte. »Das ist mir ganz egal. Außerdem bezweifle ich, dass mich die Leute überhaupt ansehen werden, so alt und hinfällig, wie ich bin. Allerdings werden sie hier in der Gegend das MacInnes-Tartan erkennen und wissen, dass ich es mit Stolz trage, ganz egal, wie zerschlissen es ist.«

Sie sah ihre Tochter frösteln. »Geh hinein, Anne«, sagte sie sanft, »und überlass mich meinen Erinnerungen.«

»Du warst schon immer dickköpfig«, erklärte Anne und ging damit ungeniert über ihren eigenen Starrsinn hinweg. »Diese ganze Reise ist eine einzige Zumutung, und ich weiß nicht, warum ich mich von dir dazu habe zwingen lassen.«

Das war ziemlich unverschämt, denn schließlich hatte Anne darauf bestanden mitzukommen, ohne dass Christy oder Kathryn sie dazu ermutigt hätten. »Du hättest nicht mitfahren müssen«, erklärte Christy trocken.

»Natürlich musste ich«, entgegnete Anne missmutig. »Ich konnte meine Tochter nicht um die halbe Welt reisen lassen, wo ich doch genau weiß, wie verantwortungslos du sein kannst. Schau dich nur an, wie du dastehst und dir den Tod holst.«

Christy unterdrückte einen tiefen Seufzer. »Geh rein, Anne, und ich komme dann wieder zu euch, wenn wir angelegt haben.«

»Es ist extrem unangenehm in der Kajüte, wo man dicht an dicht neben ungehobelten Leuten und ihren stinkenden Tieren sitzen muss. Ich weiß nicht, wie Kathryn das aushält.«

»Dann bleib hier draußen und sei still«, wies Christy sie scharf zurecht. »Du verdirbst mir meine Heimkehr.«

Anne bewegte sich nicht von der Stelle. »Ich habe auf die Landkarte geschaut, die ich gekauft habe, und mir scheint, diese schreckliche Bootsfahrt war vollkommen unnötig – zweifellos wieder eine deiner Launen, um uns das Leben schwer zu machen. Wir hätten für die kurze Strecke nach Portree die Fähre nehmen und dann eine Kutsche mieten können, also warum haben wir das nicht gemacht?«

Christy blickte beiseite und biss sich auf die Unterlippe. Portree barg Erinnerungen an dunkle Zeiten, und sie fühlte sich noch nicht bereit für eine Konfrontation. »Ich wollte die Küste hier sehen«, erwiderte sie, »und dachte, du und Kathryn könntet sie auch interessant finden.«

Anne sah sie weiter unverwandt an. »›Interessant‹ ist nicht gerade das Wort, das ich verwenden würde«, sagte sie barsch. »Es ist kalt, nass und unbehaglich. Und was den Blick angeht …«, sie schaute verächtlich auf die tiefhängenden Wolken über den Hügeln, »… es gibt ja gar nichts zu sehen.« Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte in den Passagierraum zurück.

Dass Anne die atemberaubende Küste so grausam geringschätzte, schmerzte Christy, doch war sie froh, wieder allein zu sein. Sie wusste, dass ihre Tochter grundsätzlich gereizt auf sie reagierte, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Doch es schien keine Möglichkeit zu geben, eine Versöhnung zwischen ihnen herbeizuführen, und es brachte sie ziemlich auf, wenn Anne sie ständig wie eine schwachsinnige Tattergreisin behandelte. Trotzdem liebte sie ihre Tochter und bedauerte, ihr gegenüber so spitz geworden zu sein. Dass sie auf Deck erschienen war, zeigte ja auch, dass ihr etwas an ihrer Mutter lag und sie sich um ihr Wohlbefinden sorgte. Es war nur schade, dass sie eine so herrische Art hatte.

Sie wandte sich wieder der Reling zu und erkannte auf einmal Ardtreck Point und die schmale Halbinsel von Ullinish. Wenn der Himmel aufklarte, könnte sie bald den alten hölzernen Leuchtturm und die Reste des alten Duns sehen, eines steinernen Forts, das der Legende nach vor Christi Geburt erbaut worden war und noch heute auf den Klippen wachte.

Und dann würden sie wieder Kurs nach Westen nehmen, bevor sie der Küste in nördlicher Richtung folgten, um den Hauptteil der Insel herum bis zum Loch Dunvegan. Das war ihr Reiseziel – ein Ort, der ebenfalls schwere Erinnerungen barg, auch wenn sie für Christy leichter zu verkraften waren als jene aus Portree.

Sie jauchzte vor Freude, als sie die Robben sah, die glatt und schwarz auf den Felsen lagen, und die Vögel, die ihre Nester hoch oben in den Klippen gebaut hatten. In früheren Zeiten hatten die Männer ihr Leben riskiert, um ihre Eier einzusammeln und damit ihre Familien zu ernähren.

Trotz ihrer Freude fühlte sie sich auf einmal mutlos. Der ständige Widerstand Annes hatte an ihrer Entschlossenheit gezehrt und seinen Tribut gefordert. Zweifel nagten an ihr, während sie da stand und weiter Wind und Regen trotzte. War es töricht von ihr, in ihrem Alter um die halbe Welt zu fahren und an den Ort zurückzukehren, wo sie so viel Kummer und Elend erlitten hatte? Hätte sie auf die eindringlichen Warnungen von ihren Freunden und von Hamish hören sollen, dass eine solche Reise äußerst waghalsig war und nur in bitterer Enttäuschung enden konnte? Was wollte sie eigentlich mit ihrer Rückkehr erreichen?

Erneut kamen ihr die Tränen, die sie entschlossen wegblinzelte. Sie durfte nicht zulassen, dass Anne ihr alles verdarb, nicht jetzt, wo die Erfüllung ihres Traums zum Greifen nah war. Sie hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt, ohne auf die Einwände ihrer Familie zu achten, ohne Rücksicht auf ihr Alter und auf die Mühen, die eine solche Reise unweigerlich mit sich brachte. Nun würde sie die Sache zu Ende bringen.

Christy hörte Schritte näher kommen, drängte die Tränen zurück und wappnete sich für eine weitere Auseinandersetzung. Doch als sie sich umwandte und die kleine Person erkannte, die sich nun schweigend neben sie stellte, lächelte sie erleichtert.

»Na, Kathryn, wie gefällt dir meine Insel?«

Die grünen Augen über der von hellen Sommersprossen gesprenkelten Stupsnase blickten besorgt. »Sie erinnert mich an die tasmanische Küste«, antwortete sie und ergriff Christys Hand.

Christy nickte. »Es gibt einige Ähnlichkeit«, stimmte sie zu. »Genau deshalb fühle ich mich dort auch so zuhause.«

»Ist alles in Ordnung, Grandma?«

»Mir fehlt nichts, ganz egal, was deine Mutter behauptet hat. Heute ist ein wichtiger Tag, und ich finde, ich habe das Recht, ausnahmsweise mal ein bisschen sentimental zu werden, findest du nicht?«

Sie warf ihrer Enkelin ein trauriges Lächeln zu und hielt ihre Hand fest, während sie an atemberaubenden Felsformationen entlangfuhren und sich allmählich Dunvegan Head näherten. Dicht nebeneinander standen sie in kameradschaftlichem Schweigen da und betrachteten die verlassenen Buchten mit ihren schwarzen Felsen und dem grobkörnigen Sand. Zahlreiche Ruinen verlassener Steinhäuser und Bauernkaten standen im Schatten der Hügelketten unter dahinjagenden Wolken.

Christy konnte sich nur allzu gut an die Zeiten erinnern, als sie hier Seetang gesammelt hatte, während ihre jüngeren Brüder in den Felsenbecken nach Schalentieren suchten. Wie kahl alles aussah – die einsamen Wachposten der verwitterten Steinmauern hoben sich scharf vom Himmel ab. Auf dem spröden Gras weideten Schafe, und das Heidekraut, schwarz von Winter und Frost, war noch nicht zu neuer Blüte erwacht.

Verstohlen betrachtete Christy das Gesicht ihrer Enkelin, die ebenfalls die Szenerie in sich aufnahm. Es war unverkennbar, dass das Mädchen von dem Anblick bewegt war. Vielleicht verstand sie jetzt besser, warum Christy diese lange und scheinbar unnötige Fahrt mit der Fähre gebraucht hatte. Christy schwoll das Herz, und sie war froh, Kathryn auf dieser Reise an ihrer Seite zu haben, denn ohne sie wäre es sehr einsam gewesen.

»Oh, wie wundervoll«, hauchte Kathryn, als die Fähre einen Bogen machte und sie einen klaren Blick auf Dunvegan Castle am Ende des Sees hatten. »Es sieht aus wie ein Märchenschloss. Jetzt begreife ich, warum du diese Strecke nehmen wolltest.« Strahlend wandte sie sich zu Christy um. »Was ist es für ein Gefühl, nach so langer Zeit wieder in der Heimat zu sein?«

Christy brannten wieder die Tränen in den Augen, und sie zog den Schal enger. Sie mied den Blick auf das verhasste Schloss – sie hasste alles, wofür es stand; dennoch konnte sie ihre Vorfreude auf die baldige Ankunft nicht verhehlen. »Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll«, gestand sie und tupfte sich die Augen. »Ich habe beinahe Angst vor dem, was mich in MacInnes Bay erwartet.«

Kathryn legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich bin bei dir, Grandma, und wenn dir nach Weinen ist, dann wein ruhig – dafür muss man sich nicht genieren.«

»Du liebes Kind.« Christy tätschelte ihr die Wange. »Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dafür bin, dich an meiner Seite zu haben.«

Kathryn lächelte. »Ich hätte mir die Reise um nichts auf der Welt entgehen lassen. Die Gelegenheit, dich zu begleiten und mehr über die Familiengeschichte zu erfahren – zu sehen, wo du gelebt hast, und mir deine Geschichten anzuhören … Das wird etwas sein, was ich für den Rest meines Lebens in mir tragen werde. Ein wunderbares Erlebnis, das ich meinen eigenen Kindern weitergeben kann, wenn es so weit ist.«

»Nicht alle Geschichten sind heiter«, warnte Christy. »Aber es ist an der Zeit, dass du und deine Mutter sie hört. Dieser Ort, die Menschen, die einst hier gelebt haben, und dieses schreckliche Schloss sind Teil unserer Familiengeschichte.«

Kathryn runzelte die Stirn über Christys plötzlich so harschen Tonfall, und Christy wandte sich ab, um die Wut in ihren Augen zu verbergen. Sie würde bald genug darauf zu sprechen kommen, wie die MacDonalds und ihre Gutsverwalter ihr Leben für immer verändert hatten.

Um sich von diesen finsteren Gedanken abzulenken, hob sie den Blick. Der Himmel war aufgerissen und ließ einen breiten Sonnenstrahl hindurch, der die steilen Klippen beleuchtete und das helle Schloss, das gebieterisch über dem See thronte. Der Regen hatte aufgehört.

Wortlos zeigte sie auf den perfekten Regenbogen über ihnen. Jede einzelne Farbe war deutlich zu erkennen, und er zog sich wie ein Geschenk des Himmels über die wilde, karge Landschaft, um sie zuhause willkommen zu heißen.

Während Kathryn hingerissen den Anblick bewunderte, fröstelte Christy und vergrub die Finger tief in ihrem Karoschal. Es war kein Regenbogen dagewesen, als sie die Insel verlassen hatte, nur ein rauer Wind unter zerfetzten Regenwolken und ein Gefühl von abgrundtiefer Hilflosigkeit und Verzweiflung.

Christy reckte das Kinn, entschlossen, ihre Gefühle im Zaum zu halten, damit sie diesen Moment genießen konnte. Die Geschichte ihres Lebens und all jener, die einst hier gelebt hatten, würde erzählt werden – jedoch nicht heute. Heute wollte sie dankbar sein, dass sie noch am Leben war und hierher zurückkehren konnte.

Anne hatte sich in eine Ecke zurückgezogen, weit weg von den aufgestapelten Fischkisten und zwei an den Beinen gefesselten Ziegen, die sie mit ihren Teufelsaugen zu fixieren schienen, während sie überall ihre Köttel fallen ließen. Ihr war ganz schlecht von dem Gestank nach Räucherhering und ungewaschenen Menschen sowie dem Stampfen und Rollen der Fähre, doch war sie fest entschlossen, ihr Frühstück bei sich zu behalten. Das Letzte, was sie wollte, war, sich vor diesen Leuten, die offenbar nicht einmal korrektes Englisch beherrschten, zu blamieren.

Sie drehte ihnen allen den Rücken zu, wischte das Kondenswasser von der salzverklebten Scheibe des Bullauges und beobachtete eifersüchtig ihre Mutter und ihre Tochter, die dicht beieinander an der Reling standen. Von Kathryns Geburt an hatte zwischen den beiden ein enges Band bestanden. Sosehr sie es auch versuchte, Anne konnte nichts dagegen tun, dass sie sich daran störte.

Sie sah beiseite, indem sie die unverhohlene Neugier der anderen Passagiere geflissentlich ignorierte, und zog ihre Puderdose hervor. Während sie sich in dem kleinen Spiegel betrachtete, registrierte sie, dass ihr dunkles Haar dort, wo der Wind es aus den Spangen gerissen hatte, feucht und zerzaust und ihr Hut nahezu ruiniert war.

Sie gab sich die größte Mühe, ihr Haar glattzustreichen, obwohl sie wusste, dass ihre Frisur wieder von dem grässlichen Wetter zerstört werden würde, sobald sie von Bord gingen. Auch ihr Teint würde leiden, wenn sie nicht aufpasste, dachte sie und tupfte sich ein wenig Puder auf Nase und Wangen. Die Elemente, denen sie in letzter Zeit ausgesetzt war, sabotierten ihre kosmetischen Bemühungen, und Gott allein wusste, was ihre eleganten Freundinnen denken würden, wenn sie sie jetzt sähen.

Sie klappte die goldene Puderdose zu und ließ sie in ihre lederne Handtasche fallen. Dann schüttelte sie die Regentropfen aus ihrer Pelzstola und legte sie sich wieder um die Schultern. Ihr adretter Gabardinerock und die dazu passende Jacke waren feucht, und die Rüschen an ihrer weißen Bluse hingen schlaff herunter. Sie war gezwungen gewesen, sie einen zweiten Tag anzuziehen, da ihr großer Schrankkoffer über Nacht im Lagerhaus am Kai verwahrt worden war. Sie konnte nur hoffen, dass sich die nächste Unterkunft als komfortabler erweisen würde als die letzte, denn sie hatte auf der klumpigen und äußerst dubiosen Matratze kein Auge zugetan. Nun freute sie sich auf ein langes Bad und wärmere Kleidung.

Ein weiterer Blick aus dem Fenster bestätigte ihr, dass ihre Mutter und ihre Tochter noch immer dort draußen standen, doch zumindest hatte der Himmel aufgeklart, und ein herrlicher Regenbogen schimmerte über einem imposanten Schloss. Das Bauwerk schien sogar noch in einem guten Zustand zu sein, im Gegensatz zu vielen anderen, die sie auf dieser strapaziösen Reise gesehen hatte.

Wohl wissend, dass sie von den anderen Passagieren reichlich unverfroren begafft wurde, und nicht bereit, sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen – im Gegensatz zu ihrer Mutter, die mit jedem redete – straffte Anne die Schultern und beobachtete die beiden Frauen auf dem Deck.

Als Kind hatte sie ihre Mutter innig geliebt und ihre Energie, ihren Humor und ihre Abenteuerlust bewundert. Sie hatte sie für klug und aufrichtig gehalten und war fest davon überzeugt gewesen, dass das Band zwischen ihnen niemals reißen würde. Doch dieses Vertrauen war erschüttert worden, und nun brachte Anne es nicht übers Herz, ihr zu verzeihen. Die Kälte zwischen ihnen war unangenehm, vor allem, wenn sie mit dem Rest der Familie zusammen waren – der glücklicherweise nichts von Christys verheerendem Geständnis wusste. Im Lauf der Jahre hatte ihre Verletztheit sich immer mehr festgefressen, und mittlerweile beherrschte sie alles.

Nun fragte sie sich, ob es von ihrer Seite aus jemals eine Versöhnung geben konnte – und ob sie überhaupt eine wollte. Es lag nicht daran, dass sie ihre Mutter nicht mehr geliebt hätte, denn natürlich tat sie das, tief in ihrem Inneren, unter all der Bitterkeit und dem Schmerz. Doch die Lüge, die man ihr aufgetischt hatte, war allzu schockierend gewesen, hatte ihre Welt auf den Kopf gestellt und alles zerstört, was ihr lieb und teuer gewesen war.

Ihre Mutter hatte versucht, es ihr zu erklären, sie hatte Tränen der Reue vergossen und sie angefleht, sie doch zu verstehen. Annes Vertrauen in sie war jedoch unwiderruflich zerstört, und ohne dieses Vertrauen war es unmöglich, ihr gutes Verhältnis wiederherzustellen.

Anne seufzte, denn sie hatte ihrer Tochter zuliebe ihr Möglichstes getan, um auf dieser Reise nett zu ihrer Mutter zu sein. Aber sie war sich wohl bewusst, dass ihre gut gemeinte Sorge um Christys Wohlbefinden reichlich barsch und herrisch gewirkt und ihre Mutter nur noch mehr gegen sie aufgebracht hatte.

Sie zog sich den Pelz enger um den Hals, um die Zugluft abzuwehren, die durch die verzogene Tür drang, und rechtfertigte ihr Verhalten im Stillen vor sich selbst. Da in ihrer Ehe mit Harold die wichtigsten häuslichen und gesellschaftlichen Entscheidungen stets ihr überlassen blieben, hatte sie sich angewöhnt, Anweisungen zu erteilen und andere herumzukommandieren. Das war ihre Art, die Dinge zu erledigen, und sie hatte nicht die Absicht, sich zu ändern.

Erschauernd sah sie zu, wie Kathryn Christy umarmte, wie sie die Köpfe zusammensteckten und lachten. Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal so mit Kathryn gelacht oder einen derart vertrauten Moment geteilt hatte, und sie spürte einen Stich reinen Neids. Kathryn war ihr einziges Kind, das einzige Gute, das ihrer enttäuschenden Ehe mit Harold entsprungen war, und sie wünschte ihr nur das Beste – Kathryn sollte die Dinge haben, die ihr als Kind versagt geblieben waren. Anne hatte sich gewünscht, das Band zwischen ihnen würde im Lauf der Jahre immer enger werden, bis sich dann der richtige Mann für Kathryn fände, der sich um alles kümmern, sie verehren und verwöhnen würde, so wie sie es verdient hatte.

Doch Kathryn hatte sich als ebenso dickköpfig erwiesen wie ihre Großmutter. Eine Einführung in die Gesellschaft lehnte sie ab, stattdessen wollte sie ihre Ausbildung fortsetzen und an der Universität studieren. Anne, die wie ihre Mutter lediglich das Nötigste an Schulbildung mitbekommen hatte, begriff nicht, wo dieser Wissensdurst herrührte. Harold war ein Selfmade-Man, der seine prägenden Jahre damit zugebracht hatte, gemeinsam mit seinem verwitweten Vater auf den Opalfeldern zu graben. Er hatte zwar einen scharfen Geschäftssinn, aber beim Lesen und Schreiben hatte er sich von seiner Frau Nachhilfe geben lassen müssen. Anfangs hatte sie das liebenswert gefunden, doch es verlor seinen Reiz, sowie der Rausch der Flitterwochen vorüber war und sie vom Wirbel des Gesellschaftslebens aufgesogen wurden.

Anne biss sich auf die Lippe, während sie ihre Tochter beobachtete. Obwohl auch sie von den Elementen in Mitleidenschaft gezogen worden war, sah sie reizend aus. Für so ein gut erzogenes Mädchen war es in Annes Augen nicht ganz passend, ein »Blaustrumpf« zu werden. Sie hatte einige von Kathryns gleichgesinnten Freundinnen kennengelernt, die ihr mit ihren kurzen Haaren und der wenig schmeichelhaften, ja fast männlichen Kleidung wunderlich und reichlich suspekt wirkten, und konnte nur hoffen, dass ihre hübsche Tochter es ihnen nicht gleichtun würde.

Tiefer Groll stieg in ihr auf, als ihr Blick auf Christy fiel. Ihre Mutter hatte Kathryn natürlich ermutigt, und Harold hatte sich ihr angeschlossen, also war ihr selbst wenig anderes übriggeblieben, als sich zurückzuhalten und Kathryn einen Weg einschlagen zu lassen, der ganz anders war als der, den sie jahrelang für sie geplant hatte. Und nun waren sie hier, meilenweit von der Zivilisation entfernt, auf einer schmutzigen alten Fähre, die wie ein bockiges Wildschwein durch das eisige Wasser stampfte, und die beiden standen offenbar völlig unbeschwert dort draußen.

Die Scheibe war schon wieder beschlagen, doch diesmal wischte Anne das Kondenswasser nicht weg. Sie hatte genug gesehen. Sie zog sich die Handschuhe straffer über die Hände, um all die Keime abzuwehren, die zweifellos in jedem Winkel dieser schmutzigen Schaluppe lauerten, und griff nach dem Tagebuch, das sie seit Beginn dieser Reise führte.

Sie hatten Melbourne auf der SS Celtic verlassen – extra wegen ihres Namens von ihrer Mutter ausgewählt, die auf ihre alten Tage eindeutig übersentimental wurde. Harold war stellvertretend für die Familie da gewesen, um sie zu verabschieden, und während die Band spielte und zwischen Schiff und Kai Luftschlangen geworfen wurden, hatte sie auf ihn hinabgesehen und sich gefragt, ob er wohl in diesem Augenblick genauso erleichtert war wie sie. Die Atmosphäre zwischen ihnen war in letzter Zeit erdrückend geworden.

Das Tagebuch blieb ungeöffnet in ihrem Schoß liegen, während sie an ihren Mann dachte. Harold war ein anständiger Mann, das ließ sich nicht bestreiten. Er war sogar gutaussehend, mit seinem von der Sonne gebleichten dichten braunen Haar und seinem markanten Gesicht. Er hatte jede Menge Charme, wenn er etwas haben wollte, und Anne hatte er vom Augenblick an haben wollen. Sie hatte sich von seinen Avancen, seinem offenkundigen Reichtum und der lässigen Art, mit der er sich unter die Melbourner Gesellschaft mischte, angezogen gefühlt. Dann hatte sie sich in ihn verliebt – oder es sich zumindest eingebildet – und sich trotz der Warnung ihrer Mutter, nichts zu übereilen, Hals über Kopf in diese Ehe gestürzt.

Alle Hoffnungen und Träume waren im Lauf der Jahre durch Enttäuschungen und ihre wachsende Distanz nach und nach zerstoben. Eine gedankenlose Missachtung der Gefühle und Ansichten des jeweils anderen hatte dazu geführt, dass sie praktisch getrennte Leben führten. Die Situation wurde dadurch noch verschärft, dass Kathryn zugunsten ihres neuen Lebens in Sydney bald ihr gemeinsames Zuhause verlassen würde. Dann wären sie allein auf sich gestellt.

Rasch schob Anne diesen entsetzlichen Gedanken beiseite und blätterte in ihrem Tagebuch. Sie hatte diese grässliche Reise eigentlich gar nicht antreten wollen, doch ihr war klar gewesen, dass sie ihr die Chance bot, für eine Weile zu entkommen, durchzuatmen und eingehend darüber nachzudenken, was die Zukunft für sie bereithielt, wenn Kathryn in Sydney wäre. Was sie allerdings nicht erwartet hatte, war dieses Gefühl der Befreiung, das all die neuen Erfahrungen in ihr auslösten.

Sie überflog eine Seite und erlebte noch einmal die Schönheit der ruhigen Pazifikinseln, die in krassem Kontrast zu den bunten, lärmenden Menschenmassen in Rio und den überfüllten, stinkenden Souks von Marokko standen. Am Morgen nach ihrer Auseinandersetzung mit Christy in Marokko hatte sie im Hafen an Deck gestanden, auf die Wüste hinter den Stadtmauern geblickt und dann die kleinen Jungen beobachtet, die im trüben Wasser nach den Münzen tauchten, die ihnen manche Passagiere zuwarfen.

Ihre Mutter hatte sich natürlich an dieser Verrücktheit beteiligt und zusammen mit allen Münzen, die sie in ihrer Tasche fand, auch sämtliches Obst aus ihrer Kabine hinuntergeworfen. Daran, dass sie ihnen durch ihr Verschwinden den Landgang ruiniert hatte, schien sie keinen einzigen Gedanken mehr zu verschwenden. Anne erschauerte bei der Erinnerung, wie außer sich vor Sorge sie gewesen war und wie gefährlich nahe dem Impuls, ihre Mutter zu ohrfeigen, und so blätterte sie rasch um.

Die Weiterreise nach Portugal war reibungslos verlaufen, und sie hatte sich schließlich entspannen und die Zeit genießen können. Lissabon hatte sich als wunderbar geordnete Stadt erwiesen, mit Parks und breiten, von Bäumen gesäumten Straßen voller eleganter Häuser, die sie ein wenig an Melbourne erinnerten. Mutter hatte sich benommen und sich, als sie schließlich in London eingetroffen waren, als kenntnisreiche und anregende Stadtführerin erwiesen, obwohl sie noch nie einen Fuß in diese Stadt gesetzt hatte und ihr Wissen ausschließlich aus den vielen Reiseführern bezog, die sie erstanden hatte.

Anne schlug das Tagebuch zu und steckte es in ihre Handtasche, als sie Rufe vom Kai her sowie die schnellen Schritte der Bootsmänner auf dem Deck vernahm. Endlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Mutter keinen allzu langen Aufenthalt plante. Bereits Schottland war ihr ziemlich leer vorgekommen, doch hier auf dieser Insel gab es außer ein paar Schafen und alten Ruinen offenbar überhaupt nichts.

3

C  hristy holte tief Luft, als sie zu Dunvegan Castle aufblickte, denn die steinernen Festungsmauern, die lange Schatten über den winzigen Hafen warfen, erinnerten sie an die Macht und die Grausamkeit der Gutsverwalter der MacDonalds. Sie hatte gehofft, dass die Jahre ihre Spuren hinterlassen hätten, dass bröckelnde Mauern und eingefallene Türme auf eine selbstverschuldete Verarmung und den tiefen Fall der MacDonalds hindeuten würden – doch das Schloss stand nach wie vor wuchtig auf der Anhöhe, unverändert.

Während die Fähre langsam zum Anlegeplatz tuckerte, verschwand das Schloss außer Sichtweite, sodass Christy ihre dunklen Gedanken abschütteln und der Crew beim Anlegemanöver zusehen konnte.

»Das ist dein besonderer Augenblick, Gran«, sagte Kathryn. »Ich kümmere mich um Mutter, damit du allein an Land gehen kannst.«