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Daniel Duddek

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Beschreibung

Zehntausende Kinder werden Opfer von Mobbing, werden in Kindergarten und Schule ausgegrenzt, gedemütigt, bedroht oder gar geschlagen. Daniel Duddek, erfahrener Coach und gelernter Erzieher, zeigt, was Kinder brauchen, um sich gegen Mobbing zu wehren und souverän, selbstbewusst und glücklich zu werden. Anhand zahlreicher Fallgeschichten stellt er konkrete Lösungen und Handlungsspielräume in Konfliktsituationen vor, bietet betroffenen Familien kompetente Hilfestellung, und nimmt gleichzeitig auch die Eltern in ihrer Vorbildfunktion in die Verantwortung. Kurzum: Er gibt Tipps und Ratschläge gegen Mobbing, die wirklich funktionieren.

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Seitenzahl: 317

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Daniel Duddek

Sei stark wie ein Löwe!

Wie Eltern ihre Kinder gegen Mobbing wappnen

 

 

 

Über dieses Buch

Zehntausende Kinder werden Opfer von Mobbing, werden in Kindergarten und Schule ausgegrenzt, gedemütigt, bedroht oder gar geschlagen. Daniel Duddek, erfahrener Coach und gelernter Erzieher, zeigt, was Kinder brauchen, um sich gegen Mobbing zu wehren und souverän, selbstbewusst und glücklich zu werden. Anhand zahlreicher Fallgeschichten stellt er konkrete Lösungen und Handlungsspielräume in Konfliktsituationen vor, bietet betroffenen Familien kompetente Hilfestellung, und nimmt gleichzeitig auch die Eltern in ihrer Vorbildfunktion in die Verantwortung. Kurzum: Er gibt Tipps und Ratschläge gegen Mobbing, die wirklich funktionieren.

Vita

Daniel Duddek, geb. 1985, ist Vater von zwei Kindern, ausgebildeter Erzieher, Coach, Autor, Entwickler des Anti-Mobbing-Programms «Stark auch ohne Muckis» und der Show «ErziehungsRevolution»; seit 2006 hat er mit über 30 000 Kindern und deren Eltern gearbeitet. Daniels Shows, Trainings oder Coachings helfen Eltern, neue Sichtweisen anzunehmen, die Kindern eine glückliche Kindheit ermöglichen und somit den Grundstein für eine starke Zukunft legen.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung zero-media.net, München

Coverabbildung Mimi Haddon/Getty Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00608-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Mobbing. Wo stehen wir als Gesellschaft?

Mobbing. Der undefinierbare Dämon

Erinnern Sie sich an die Horrorfilmabende Ihrer Jugend? Bei uns war es so: Wir saßen mit Freunden zusammen, tranken heimlich Alkopops, die zu trinken einem die Eltern eigentlich verboten hatten, und gruselten uns herrlich. Irgendwann kam immer jemand auf die Idee, sich vor einen Spiegel zu stellen und fünfmal «Candyman» zu rufen, woraufhin mindestens einer nicht mehr einschlafen konnte. Sie kennen den Film vielleicht noch: In diesem Horrorfilm aus den 90er Jahren taucht der sogenannte Candyman immer dann auf, wenn man seinen Namen in einen Spiegel sagt, und bringt dann denjenigen um, der ihn gerufen hat. Platt, aber effektiv.

In anderen Filmen dieses Genres wusste man hingegen häufig erst am Ende, wer der Dämon oder das Monster, sprich, wer «der Böse» ist. Ähnlich ist es, wenn es um Mobbing geht. Ein Wort wie ein Monster, wie ein Dämon, von dem man nicht weiß, wann er zuschlägt. Ein Wort, das unangenehme Assoziationen, Ängste und Befürchtungen weckt. Doch fangen wir vorne an.

Laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung fühlt sich ein Viertel unserer Kinder und Jugendlichen an seiner Schule nicht sicher. Für die Studie wurden bundesweit 3448 Schüler zwischen acht und vierzehn Jahren befragt. Überrascht hat die Wissenschaftler dabei die Tatsache, dass unter ihnen der Anteil der Grundschüler besonders hoch ist: Dreißig Prozent der betreffenden Schüler und Schülerinnen gaben an, im Vormonat gehänselt oder ausgegrenzt worden zu sein. Dramatische Zahlen.

Um ehrlich zu sein: Mich überrascht dieses Ergebnis nicht. Seit 2008 arbeite ich in Grundschulen und Kitas und habe in diesen über zehn Jahren unzählige Geschichten von Mobbing, Hänseleien, Ausgrenzung und auch Gewalt gehört.

Und ich bin damit nicht allein: Jeder, der mit offenen Augen an Grundschulen unterwegs ist, sei es als Pädagoge oder Eltern, kennt Fälle von Mobbing. Wir haben also offenbar ein Mobbingproblem an unseren Schulen. Oder genauer gesagt, in unserer Gesellschaft. Und anders als beim Candyman müssen wir nicht fünfmal in den Spiegel rufen, um es heraufzubeschwören: Es ist bereits da. Und zwar in einem signifikanten Umfang. Deshalb sollten wir fünfmal besser hinschauen, um etwas zu ändern. Und das nicht nur bei den offensichtlichen, bei den schrecklichen Fällen. Denn auch das beobachte ich regelmäßig: Die ganz extremen Fälle gelangen in die Öffentlichkeit, der Aufschrei ist groß. Zumindest für eine gewisse Zeit steht das Thema auch bei den betroffenen Schulen im Fokus, es werden Redner in den Unterricht geholt, Gremien eingerichtet, Projekttage durchgeführt, Spendenläufe veranstaltet. Aber warum erst dann, wenn die Situation bereits eskaliert ist? Verstehen Sie mich nicht falsch: Ein guter Redner kann Impulse geben. Aber warum werden so selten konkrete, nachhaltige Handlungsschritte eingeleitet, die auch für die weniger schweren Fälle eine Besserung bewirken? Dabei ist es für die Bekämpfung von Mobbing ausschlaggebend, dass und wie darauf reagiert wird. Im besten Fall mit Bedacht, nicht mit Wut und Empörung. Sich über etwas zu empören, ist zwar eine normale und auch wichtige menschliche Reaktion, weil sie Missstände aufzeigt und verdeutlicht. Wenn dann aber keine langfristigen Strategien erarbeitet und vor allem kontinuierlich umgesetzt werden, bleibt es leider bei der reinen Empörung – bis zum nächsten schweren Fall.

Deshalb ist es essenziell, rechtzeitig Prävention zu betreiben und nicht erst zu handeln, wenn es die ersten Mobbingopfer gibt. Dafür muss klar sein, was Mobbing eigentlich ist.

Das Wort taucht immer wieder auf, oft verbunden mit schrecklichen Geschichten über Demütigungen, Schikanen und Hänseleien. Teilweise wird es fast inflationär benutzt. Es ist gefühlt in aller Munde – und das ist auch erst mal gut so. Aber was genau verbirgt sich hinter diesem Schlagwort? Und reden wir alle über dasselbe, wenn wir über Mobbing reden?

Im digitalen Zeitalter öffnen wir der Einfachheit halber Wikipedia, und schon haben wir eine Definition gefunden: «Mobbing oder Mobben als soziologischer Begriff beschreibt das wiederholte und regelmäßige, vorwiegend seelische Schikanieren, Quälen und Verletzen eines einzelnen Menschen durch eine beliebige Art von Gruppe.» Unterschieden wird in der Fachliteratur häufig auch direktes (z.B. Drohungen, Schikanen, Hänseleien) und indirektes Mobbing (wie z.B. Ausgrenzen, Rufschädigung). Mobbing ist damit eine Form der Machtausübung, deren Ziel es ist, so die Psychologin Mechthild Schäfer, die seit vielen Jahren über das Phänomen forscht, den eigenen sozialen Status zu halten oder zu verbessern.

Wer sich näher auf die Wikipedia-Definition einlässt, wird feststellen, dass die Beschreibung unpräzise ist. Was ist «wiederholt»? Was «regelmäßig»? Wenn ich als Lehrer oder Pädagoge eine Situation beobachte, in der ein Kind über einen Zeitraum von einer Woche immer mal wieder von seinen Mitschülern beleidigt wird – ist das dann bereits «regelmäßig»? Oder ist es unnötig einzugreifen, weil es sich laut Definition nicht um Mobbing handelt, schließlich dauern die Beleidigungen ja noch nicht so lange an?

Wir sehen: Eine begriffsscharfe Definition ist schwierig. Mich treibt seit Jahren die Frage um, was genau Mobbing ist und was nicht, was zu normalen Streitigkeiten im Miteinander von Menschen gehört und was inakzeptables Verhalten ist. Ich bin inzwischen zu dem Schluss gekommen: Mobbing ist kein Zustand, sondern ein individuell gefühlter Prozess. Und das bedeutet für uns als Eltern, Lehrer, Pädagogen, dass wir nicht auf irgendwelche Definitionen schauen sollten, sondern vielmehr den betroffenen Personen zuhören und individuell reagieren müssen.

Machen wir es an einem Beispiel deutlich: Die elfjährige Julia wird täglich von einer Gruppe von Mitschülern beleidigt; außerdem verbreitet diese Lügengeschichten über das Mädchen. Das Ganze zieht sich bereits über einen Zeitraum von drei Wochen hin. Julia ist jedoch relativ entspannt. Sie hat mehrere Freunde auf der Schule, mit denen sie eine gute Zeit verbringt, und ihr gelingt es in den meisten Fällen, die Mitschüler und ihr abschätziges Verhalten zu ignorieren.

Auf der anderen Seite ist da Franziska; ebenfalls elf Jahre und auf derselben Schule. Franziska wird von denselben Leuten auf dieselbe Art und Weise wie Julia beleidigt und ausgegrenzt. Franziska kann mit dieser Situation aber nur sehr schlecht umgehen: Bereits nach drei Tagen geht sie mit Bauchschmerzen in die Schule. Nach einer Woche hat sie regelrecht Angst vor der Schule und versucht alles, um zu Hause bleiben zu können.

Und nun stellen Sie sich die Frage: Welches der Mädchen wird gemobbt? Julia? Franziska? Beide? Folgen wir lediglich der Definition, muss die Antwort «Nur Julia» lauten, denn sie wird bereits über einen längeren Zeitraum kontinuierlich schikaniert. Meine Antwort lautet jedoch: Franziska ist diejenige, die gemobbt wird. Denn Julia scheint, so jung sie ist, bereits einen Weg gefunden zu haben, mit den Beleidigungen der Mitschüler umzugehen und sich mental davon abzugrenzen. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Das Verhalten der anderen Kinder ist in beiden Fällen weder angemessen noch akzeptabel und sollte von Eltern und/oder Lehrern thematisiert werden. Aber nur Franziska leidet bereits nach sehr kurzer Zeit massiv unter ihren Mitschülern, sie wird gemobbt: Mobbing, nun erklärt sich meine Aussage weiter oben vielleicht besser, ist eben kein Zustand mit klaren Kriterien, sondern ein individuell gefühlter Prozess. Mobbing kann man nicht in zwei Sätzen definieren. Bleiben Sie im Dialog mit Ihren Kindern und handeln Sie, wenn es nötig ist, und nicht erst dann, wenn irgendwelche Definitionen oder Standards greifen! Das bedeutet auch, sich nicht von solchen Festlegungen vorschreiben zu lassen, ab wann man tätig werden darf – und ab wann Kinder leiden «dürfen».

Denken wir zurück an die Horrorfilmabende. Der Grusel lag darin, dass wir das Böse nicht greifen konnten, nicht wussten, wann und in welcher Gestalt es zum Vorschein kam, und außerdem nur vage Hinweise auf seine Identität hatten. Der erste Schritt, um unsere Kinder gegen Mobbing zu wappnen, ist, weg von Vermutungen zu kommen und hin zu echten Dialogen miteinander. Kinder müssen gesehen und ernst genommen werden – ihnen muss aber auch gezeigt werden, dass sie selbst etwas an ihrer Situation ändern können. Lassen Sie uns dem Bösen die Zähne ziehen und es rational angehen.

Mit Mobbing konfrontiert zu sein, ist eine große Herausforderung. Und natürlich wünschen wir unseren Kindern, dass sie diesen Herausforderungen nicht ausgesetzt sind. Aber wir können sie nun mal leider nicht ausschließen, sie gehören in gewisser Weise zum Leben dazu. Ja, es wäre wünschenswert, wenn es kein Mobbing gäbe, und sicherlich sollten wir alles dafür tun, es einzudämmen und zu ächten. Nur leider ist es nicht realistisch, es gänzlich zu eliminieren. Die gute Nachricht: Herausforderungen können gemeistert werden. Es kommt auf die richtigen Strategien an.

Bestimmt kennen Sie Menschen, die in ihrem Leben schon mal vor großen Herausforderungen standen: Geldprobleme, Krankheiten, Trennung, Jobverlust oder Schwierigkeiten bei der Arbeit – das Leben ist leider nicht immer ein Spaziergang. Aber Sie kennen sicherlich auch Menschen, die gestärkt aus diesen krisenhaften Zeiten hervorgegangen sind, während andere unter der Last strauchelten. Wenn also manche Menschen die Herausforderung meistern und andere daran zerbrechen, scheint es nicht nur die Herausforderung an sich zu sein, um die es geht, sondern auch der Mensch und die Art, wie er an sie herangeht.

Das gilt ebenso für den Umgang mit Mobbing. Hier spielt beispielsweise Resilienz eine große Rolle. Unter Resilienz versteht man die psychische Widerstandsfähigkeit, die Art und Weise, wie man Krisen überwinden und sie sogar für die persönliche Weiterentwicklung nutzen kann. Menschen, die psychisch widerstandsfähig sind, leiden logischerweise weniger unter Mobbing als andere. Wenn wir Kinder also gegen Mobbing wappnen wollen, dann müssen wir sie so begleiten, dass sie resilient werden, sich nicht jedes Wort zu Herzen nehmen und sich auf die positiven Dinge in ihrem Leben fokussieren lernen statt auf die negativen. Dazu gehört, ihnen klarzumachen, dass ihr Wert nicht von der Meinung, der Bewertung anderer abhängt. Das ist in unserer digitalen Gesellschaft, in der Likes und Smileys und Herzchen und Follower eine zunehmende Rolle spielen – auch und gerade bei Kindern und Jugendlichen –, immer schwerer zu vermitteln. Und leider hören Kinder von ihren Eltern noch viel zu oft Sätze, die wie folgt klingen: «Was sollen denn die anderen von dir denken?», oder: «So kannst du nicht aus dem Haus gehen, wie sollen die Lehrer über uns denken?» Solche Sätze vermitteln den Kindern, dass die Meinung anderer über sie ausschlaggebend ist. Sagen andere dann tatsächlich etwas Schlechtes über sie, leiden sie mehr darunter, da es ja «wichtig ist, was die anderen denken»! Das Leid der Kinder wurde heraufbeschworen wie der Candyman, den man fünfmal ruft. «Candyman, Candyman, Candyman, Candyman, Candyman!»

Wie wir diesen Effekt vermeiden können, wollen wir uns im Verlauf des Buches noch genauer anschauen.

Wie mich das Thema fand

In diesem Buch soll es nicht um mich, sondern um unsere Kinder und deren Zukunft gehen. Doch vielleicht hilft es, die folgenden Ideen besser einzuordnen, wenn Sie mehr über mich und meinen Werdegang erfahren.

Ich verbrachte den ersten Teil meiner späten Kindheit und frühen Jugend mit massiven Minderwertigkeitskomplexen: Mit zwölf Jahren sah ich aus wie neun, mit sechzehn Jahren wie zwölf. Ich war klein, eher schmächtig. Alle meine Freunde hatten im Gegensatz zu mir Freundinnen und einen Bart. Ich wurde häufig von Kumpels «aus Spaß» geboxt, sagte aber nichts dagegen und tat so, als störe es mich nicht. Ein Satz, den ich in dieser Phase meines Lebens ständig hörte: «Bei dem Bartwuchs reicht aber auch ein raues Handtuch zum Rasieren!» Aus Erwachsenenperspektive mag das nach einer Lappalie klingen, aber als Jugendlichen trafen mich diese und andere Hänseleien ungemein. Mir gelang es nicht, mich mental davon abzugrenzen, und ich nahm sie mir sehr zu Herzen.

Bei einem Klassentreffen vor einigen Jahren erzählte ich meinen damaligen Mitschülern davon. Alle guckten mich mit großen Augen an: Sie hatten überhaupt nicht das Gefühl, mich damals gemobbt zu haben. Sie mochten mich sogar gut leiden. Und das glaube ich ihnen auch, denn rückblickend betrachtet, waren ihre Sprüche tatsächlich nur als Spaß gemeint. Aber ich war damals nicht stark genug für diese Späße. Ich war Teil der Klasse, habe das aber überhaupt nicht so wahrgenommen. Ich habe mir eingeredet, ich sei weniger wert als andere Menschen. Ich fühlte mich gemobbt.

Mit fünfzehn Jahren fürchtete ich mich immer mehr davor, auch körperlich gedemütigt zu werden. Durch einen Zufall lernte ich über einen Freund ein paar ältere «schwere Jungs» kennen. Darunter waren stadtbekannte Schläger, Graffitisprüher und Dealer. Wenn ich mit denen rumhänge, dachte ich, müsste ich mich nicht mehr fürchten. Ich schloss mich ihnen an, sie nahmen mich in Schutz und waren bereit, mich auch körperlich zu verteidigen. Das fühlte sich super an. Nun war ich endlich wer.

Aber es kam, wie es kommen musste: Ich rutschte durch meinen neuen Freundeskreis auf die schiefe Bahn ab; begann, Drogen zu nehmen und nachts, mit Rucksack und Sprühdosen ausgerüstet, Graffiti zu sprühen.

Zwei Ereignisse brachten eine Wendung in mein Leben: Erstens habe ich in genau dieser Zeit eine Ausbildung begonnen. Ich hatte knapp die mittlere Reife geschafft und sollte nun einen Beruf erlernen. Die Berufswahl fiel mir nicht leicht, vor allem konnte ich mir nicht vorstellen, in einem «typischen» Männerberuf zu arbeiten, wie z.B. Handwerker. Ich fühlte mich erwachsenen Männern gegenüber immer noch unterlegen: Ich war sechzehn, hatte keinen Bartwuchs, sah aus wie zwölf und war nur 169 cm groß. Also überlegte ich, in welchem Beruf ich es mit möglichst wenigen Männern zu tun haben würde. Bald kam ich auf die Lösung: Ich werde Erzieher! Da gibt es fast nur Frauen und Kinder.

Also begann ich meine Ausbildung zum Erzieher, einfach nur, um nicht mit Männern arbeiten zu müssen. Was damals eine Notlösung war, entpuppte sich im Nachhinein als die perfekte Wahl: Ich entdeckte mein Potenzial. Mir fielen die Lerninhalte einfach so zu. Ich schrieb plötzlich nicht mehr nur Dreien oder Vieren, sondern Einsen. Ich musste noch nicht mal dafür üben. Es war so, als ob mich mein Lebensthema gefunden hatte.

Diese positive Erfahrung änderte jedoch zunächst nichts daran, dass ich nachmittags weiter mit meiner Gang abhing und Dinge tat, die nicht gut waren. Mit der Zeit spürte ich, dass ich das alles eigentlich nicht mehr wollte, und suchte nach Alternativen, mein geringes Selbstwertgefühl aufzupolieren. So begann ich, Kampfkunst zu trainieren. Schon nach kurzer Zeit stand mein Meister vor mir und sagte: «Du wirst Trainer bei mir!» Ich schaute ihn an und dachte: «Du hast keine Ahnung, was ich mache, wenn ich nicht beim Training bin. Ich werde sicherlich vieles, aber Trainer sein gehört bestimmt nicht dazu.» Doch er hielt sein Wort. Mit neunzehn Jahren wurde ich jüngster Trainer seines Verbands und war fortan für das Kinder- und Jugendtraining an zwei Standorten verantwortlich.

Mit diesen neuen Verpflichtungen und positiven Erfahrungen, die ich in meiner Ausbildung und als Trainer machte, distanzierte ich mich immer mehr von der Drogen- und Graffitiszene. Meine Gang traf ich nur noch in unregelmäßigen Abständen, wurde aber immer wieder in irgendwelche Probleme reingezogen. Also traf ich eine drastische Entscheidung: Ich entschied mich, meine Freunde hinter mir zu lassen, solange diese weiter Drogen nahmen und Stress verbreiteten. Das war der Startschuss für ein neues Leben. Ich war Kampfkunsttrainer und auf dem besten Weg, einen super Abschluss als staatlich anerkannter Erzieher zu bekommen. Aus einem schlechten Realschulabschluss wurde ein Fachabitur mit Einserschnitt.

Die Kinder in meinen Trainings begannen mit der Zeit, Vertrauen zu mir aufzubauen, erzählten mir von ihren Problemen und stellten mir vermehrt Fragen: «Was können wir machen, wenn wir beleidigt werden?», «Was tun wir am besten, wenn wir ausgeschlossen werden?», «Was machen wir, wenn uns jemand mit Schlägen droht?». Ich gab meinen Schülern entsprechend Tipps, die sie dann umzusetzen versuchten. Beim nächsten Training reflektierten wir dann, was gut funktioniert hatte und was nicht. Wir entwickelten so die erste Version meines «Stark auch ohne Muckis»-Konzepts. Es entstand aus der Praxis und wurde anhand der Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen immer wieder angepasst. Wenn etwas funktionierte, wurde es verfeinert, und Ideen, die zwar schön klangen, aber nichts brachten, wurden gestrichen. Das sollte das Credo des Konzepts sein: nicht schulklug, sondern straßenschlau.

Nach meiner Ausbildung zum Erzieher machte ich noch meinen Zivildienst und bewarb mich dann in einer Kita. Dort arbeitete ich zunächst in Vollzeit. Doch ich merkte, dass ich nicht wirklich das umsetzen konnte, was mir mittlerweile so wichtig geworden war: Kinder zu stärken und gegen Mobbing zu schützen – und zwar möglichst viele und möglichst umfassend.

Also nahm ich allen Mut zusammen und entschied mich, mich selbständig zu machen: Auf der Basis meiner Ausbildung und meiner Kinder- und Jugendarbeit in der Kampfkunstschule wollte ich Anti-Mobbing-Trainings in Kitas und Schulen geben.

Irgendwann fragten mich die Eltern der Kinder, die an meinen Kursen teilnahmen, ob ich nicht auch mal einen Elternvortrag zu dem Thema halten könne. Aus diesen Vorträgen entwickelten sich mit der Zeit die ersten Schulungen für Lehrer und Erzieher, die mich baten, die Inhalte in ihre Teams zu tragen.

In den nächsten Jahren bildete ich mich weiter im Bereich Erlebnis- und Theaterpädagogik, machte eine Mentaltrainerausbildung und eine Ausbildung zum Hypnosecoach und verfeinerte mein «Stark auch ohne Muckis»-Konzept.

Doch irgendwann kam eine Phase, in der ich den Fokus verlor. Ich fing an, mich auf die Businesswelt zu konzentrieren und Trainings und Vorträge zum Thema Erfolg in Unternehmen zu geben. Finanziell war das in jedem Fall ein Gewinn, ich wurde von großen Unternehmen gebucht und erhielt hohe Tagesgagen.

Doch eines Tages wachte ich nach einem intensiven Traum morgens auf und hatte eine Frage in meinem Kopf: «Warum lässt du dein Herzensthema zu einem Nebenprojekt werden? Du erzählst den Kindern immer, dass sie auf ihr Herz hören sollen, du selber hörst aber nur noch auf die Höhe deines Honorars. Was ist denn los mit dir?»

An diesem Morgen ging ich in mein Büro und sagte zu meinem Mitarbeiter: «Sascha, wir machen diese Businesssachen nicht mehr. Wir nehmen keine neuen Kunden an, arbeiten nur noch die Verträge ab und setzen alles auf ‹Stark auch ohne Muckis›. Wir machen das groß!» Er guckte mich an, als hätten mich alle guten Geister verlassen. Aber was danach passierte, ist kaum in Worte zu fassen: Ich war relativ schnell wieder komplett mit Aufträgen von Kitas und Schulen ausgebucht. Auf Facebook und Instagram begannen Leute, mir zu folgen und mit mir zu interagieren. Wir buchten ein Theater, und ich spielte ein Abendprogramm für Eltern; schließlich entwickelten wir ein Event, bei dem Eltern und Kinder gemeinsam an einen Tag lang lernen, besser mit Mobbing umzugehen. Inzwischen haben wir eine Deutschlandtour an den Start gebracht und bilden Kinder- und Jugendcoaches aus, die die Methoden und Ideen von «Stark auch ohne Muckis» weitertragen.

Jetzt ergibt plötzlich alles Sinn: Ich musste erst selbst Opfer und dann Täter werden, um heute beide Seiten wirklich verstehen zu können. Ich musste mich zu schwach fühlen, um mit Männern zu arbeiten, um Erzieher zu werden. Ich musste Kinder und Jugendliche in einer Kampfkunst unterrichten, damit sie mir die Fragen stellen, die das Anti-Mobbing-Konzept erst gut machten. Mittlerweile sind es über dreißigtausend Kinder, die ich geschult habe. Wir leben das Leben vorwärts, verstehen es aber erst rückblickend.

Mir war es wichtig, an dieser Stelle meine Geschichte mit Ihnen zu teilen, damit Sie wissen, dass Sie in diesem Buch keine Methoden finden, die sich jemand am Schreibtisch ausgedacht hat. Hier geht es ausschließlich um Methoden aus der Praxis, für die Praxis. Eben straßenschlau und nicht schulklug. Für Ihre Kinder. Für deren Zukunft.

SmartMob. Wie Handys das Problem ausdehnen

Kennen Sie noch Schwenkbusse? Diese Busse mit dem Gelenk in der Mitte, bei denen jeder dachte, dass irgendwann mal jemand zerquetscht werden würde? Zum Glück ging es immer gut. Mit einem solchen Schwenkbus bin ich nach der Schule immer nach Hause gefahren. Dieser Schwenkbus war für mich «minus zwanzig Minuten!» Warum? Dazu kommen wir gleich.

Mobbing damals war anders als heute – mal abgesehen davon, dass es das Wort noch nicht gab. Das Wort Mobbing wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus dem Englischen übernommen. «To mob» bedeutet anpöbeln oder belästigen. Im Deutschen benutzen wir das Wort «Mob» wenn wir von einer aufgebrachten Volksmenge sprechen. Der schwedische Arzt Peter-Paul Heinemann verwendete das Wort Mobbing im Jahr 1969 für das Phänomen, dass Gruppen eine Person angreifen, die von der Norm abweicht. Bekannt wurde der Begriff schließlich durch den schwedischen Arzt Heinz Leymann, der von Mobbing in Bezug auf das Arbeitsleben sprach. Gehänselt, geärgert, beleidigt, ausgeschlossen wurde man auch vor dieser Zeit. Es wurde nur nicht als Mobbing bezeichnet. Aber der wichtigste Unterschied war wohl, dass es zu der damaligen Zeit keine Smartphones mit Apps oder sozialen Medien gab. Auch nicht zu der Zeit, als ich die weiterführende Schule besuchte. Das war ein riesiger Vorteil: Wenn wir in der Schule Stress mit anderen hatten, dann endete er für gewöhnlich nach der Schule. Es wurden keine unschönen Bilder verbreitet, nicht in Gruppenchats gelästert oder unvorteilhafte Videos versendet. Es war zwar nicht angenehm, wenn mehrere Personen der Stufe gegen einen gewettert haben, doch wenn man nicht direkt in der Nachbarschaft dieser Personen wohnte, hatte man zumindest nachmittags seine Ruhe. Heute ist das anders. Die Kinder und Jugendlichen nehmen die Probleme mit ihren Smartphones in der Hosentasche mit nach Hause, in den WhatsApp-Klassenchats, bei Snapchat, auf Instagram oder TikTok. Ich nenne dieses digitale Mobbing SmartMob; häufig findet man auch den Begriff Cybermobbing dafür.

Werden Kinder heutzutage gemobbt, dann häufig vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Die bösen Aussagen, diskriminierenden Bilder oder demütigenden Filmchen sind in Sekundenschnelle einer potenziell unendlich großen Gruppe zugänglich. Was früher in einem überschaubaren Kreis blieb, z.B. in der Klasse, kann nun auch in der Schule, im Sportverein, in der Nachbarschaft ja, der gesamten Stadt und darüber hinaus geteilt werden und den Demütigungseffekt noch erhöhen.

Es sei denn, die betroffenen Kinder trennen sich vom Smartphone und gehen offline. Das wiederum wollen viele Kinder und Jugendliche nicht, weil sie befürchten, dann erst recht fertiggemacht zu werden. «Waaaas? Du hast kein Insta? Du kennst diesen YouTuber nicht? Was bist du denn für ein Opfer!»

Das Smartphone mit seinen Anwendungen ist heute ein wichtiger Bestandteil der Kommunikation von Kindern und Jugendlichen; über die neuesten Ereignisse in den sozialen Medien, über aktuelle Games und Videos Bescheid zu wissen, ist wichtig, um dazuzugehören. Inzwischen gibt es in 98 Prozent aller Haushalte mit Kindern zwischen drei und dreizehn Jahren Smartphones. Laut einer Umfrage des digitalen Branchenverbandes Bitkom (nachzulesen u.a. bei statista.de) besitzen rund 6 Prozent der sechs- bis siebenjährigen Kinder in Deutschland ein eigenes Smartphone. Bei den Acht- bis Neunjährigen sind es 33 Prozent, 75 Prozent bei den Zehn- bis Elfjährigen und 95 Prozent bei den zwölf- bis fünfzehnjährigen Jugendlichen. Diese Zahlen zeigen eindrücklich, welch zentraler Bestandteil des Alltags die Smartphonenutzung geworden ist. Und wenn ein Kind sowieso schon den Eindruck hat, nicht Teil der Gruppe zu sein, fällt es natürlich umso schwerer, auf das Smartphone mit den Spielen und sozialen Medien zu verzichten, nicht mehr mitreden zu können und damit auch noch das restliche Ansehen zu verspielen.

Doch wäre die Internetabstinenz nicht trotzdem eine gute Möglichkeit, das Online-Mobbing-Problem schnell zu entschärfen? Wir werden sehen.

 

Und was hat es nun mit den Schwenkbussen vom Anfang dieses Kapitels auf sich? Warum waren sie meine «minus zwanzig Minuten?» Immer wenn ich nach Schulschluss in den Bus stieg, wusste ich, es dauert noch zwanzig Minuten, und ich bin zurück im sicheren Hafen. Denn zwanzig Minuten später stieg ich fast vor meiner Haustür aus und konnte mich aufladen. Aufladen mit Energie. Ich konnte mental entspannen und meinen Widerstandsfähigkeits-Muskel regenerieren lassen. Ich finde diese Analogie, vor allem im Gespräch mit den Kindern selbst, immer sehr hilfreich: Denn auch ein Muskel kann nicht ständig unter Volllast arbeiten. Er braucht Zeit, um sich zu erholen. Selbst Profisportler trainieren schließlich nicht rund um die Uhr. Und genauso ist es mit unserer Widerstandsfähigkeit: Nach Zeiten der Belastung braucht sie immer auch Entlastung, Regeneration. Und die habe ich als Jugendlicher zu Hause bekommen: Ich bekam Liebe und erfuhr Wertschätzung. So wurde mein Selbstwertgefühl wieder aufgepäppelt; mein Widerstandsfähigkeits-Muskel konnte sich erholen und für den nächsten Tag erstarken. Denn dieser kam garantiert – und mit ihm die Hänseleien, Sprüche und Beleidigungen einiger meiner Mitschüler.

Mein Elternhaus war für mich ein Rückzugsort. Natürlich gab es auch Meinungsverschiedenheiten, aber im Kern ging es bei uns harmonisch zu. Und damit sind wir bereits bei einer weiteren wichtigen Botschaft für uns als Eltern: Um Kinder gegen Mobbing zu wappnen, brauchen sie einen sicheren Hafen, in dem sie sich «aufladen» können. Kinder brauchen zu Hause Harmonie, Wertschätzung, ein offenes Ohr, Zuwendung, schlichtweg Zeit – und nicht noch mehr Stress.

Doch wie sieht die Lebenswirklichkeit vieler Kinder aus? Sie kommen aus der Schule nach Hause, wollen einfach nur gesehen und aufgefangen werden – und das Erste, was Eltern machen, ist, die Butterbrotdose rauszuholen und vorwurfsvoll zu sagen: «Du hast ja schon wieder nicht aufgegessen!» Ich überspitze hier bewusst, aber Sie wissen sicherlich, was ich meine: Es geht darum, dass Kinder auch zu Hause viel zu oft mit Vorwürfen und Abwertungen zu kämpfen haben, damit, dass niemand ihnen zuhört, keiner Zeit für sie hat, sie funktionieren müssen, weil ihre Eltern Stress haben und diesen an die Kinder weitergeben. Wie sollen sie so zu Hause Kraft schöpfen? Kraft, um am nächsten Tag den Widrigkeiten in der Schule zu trotzen?

Ein Schiff wird im Hafen gebaut, aber dafür ist es nicht gedacht. Kinder müssen auch im stürmischen Meer «manövrierfähig» sein, denn im Leben gibt es nun mal stürmische Phasen. Doch sie brauchen diesen sicheren Hafen, in dem der Sturm ihnen nichts anhaben kann – und wo sie ausgerüstet werden mit allem, was sie zum Navigieren brauchen.

Dies ist heute wichtiger denn je, da durch die Smartphones das Mobbing im heimischen Kinderzimmer weitergeht und der Blick in den WhatsApp-Chat, auf Instagram und Co immer wieder Nadelstiche in das Kinderherz setzen kann. In meinen Trainings erzählen mir Kinder häufig schon ab der dritten, spätestens ab der vierten Klasse, dass bei und über WhatsApp wirklich unschöne Dinge geteilt werden. Und damit meine ich nicht nur fiese Bemerkungen über Mitschüler: In einer vierten Klasse, die ich betreute, kam beispielsweise heraus, dass Hardcore-Pornographie via WhatsApp geteilt worden war. Lange ist es nicht zur Sprache gekommen, da sich die Kinder, die das falsch fanden, nicht trauten, etwas zu sagen.

Ich persönlich finde, dass Smartphones, Apps, ja, die Digitalisierung an sich eine Riesenchance für uns sind, wenn wir lernen, damit richtig umzugehen. Ich bin kein Gegner der neuen Medien. Ganz im Gegenteil. Doch ich muss mit dem Spielfeld klarkommen, wenn ich es betrete. Ich kann nicht ohne irgendwelche Kenntnisse über das Spiel auf ein Fußballfeld gehen, mitspielen wollen und mich dann beschweren, dass ich angegriffen werde, wenn ich den Ball habe. Ähnliches gilt für das Internet und die Smartphonenutzung: Ich muss mich auskennen, ich muss wissen, was mir dort begegnen kann, wie die Regeln lauten, ich muss lernen, wie Informationen einzuordnen sind, wie ich sie nutzen, aber ggf. auch ignorieren kann und wie und wann ich mir Hilfe suchen muss, falls ich verunsichert oder verängstigt bin. Doch viele Kinder haben genau das nicht gelernt, da auch ihre Eltern damit überfordert sind.

Insofern lautet eine wichtige Botschaft an die Eltern: Bringen Sie Ihrem Kind Medienkompetenz bei! Klären Sie es über den Nutzen, aber auch über die Fallen der digitalen Kommunikation auf. Interessieren Sie sich für das, was es online macht. Geben Sie ihm Hinweise, wie es sich schützen und reagieren kann, sollten ihm unangenehme Dinge begegnen.

Wir werden im weiteren Verlauf des Buches hier noch etwas genauer hinschauen. An dieser Stelle möchte ich festhalten, dass Mobbing durch die Smartphones nicht neu entstanden ist, sondern durch sie ausgedehnt und intensiviert wurde – und dass uns diese Tatsache vor neue Herausforderungen stellt.

Widersprüchlichkeit auf allen Ebenen

Ich sitze hinter dem Bühnenvorhang in einer Schulaula und höre, wie vor der Bühne Stühle geschoben, Lehrer begrüßt und befreundete Eltern herbeigerufen werden. Die übliche Geräuschkulisse vor Schulveranstaltungen. Selbst bin ich gerade dabei, ein paar Atemübungen als Warm-up für meinen gleich startenden Vortrag zu machen. Die Besucher in der ersten Reihe unterhalten sich, und da ich hinter dem Vorhang nur ein paar Meter von ihnen entfernt sitze, höre ich das Gespräch ungewollt mit. Es geht um eine Fernsehshow, in der sich junge Talente einer Jury präsentieren, um Zugang zu sogenannten Liveshows zu bekommen, an deren Ende ein Sieger gekürt wird. Gerade werden die ersten Folgen der neuen Staffel ausgestrahlt, und eine Frauenstimme vor dem Vorhang lästert: «Hast du gehört, wie schief diese Blonde gesungen hat? Wie kann man nur so dumm sein und sich damit ins Fernsehen trauen? Ich mein, hat die keine Freunde, die ihr mal ins Gewissen reden?» Die Gruppe lacht. «Und wie die aussah, ich mein, hübsch ist echt was anderes», wird von einer weiteren Stimme hinzugefügt. «Aber viel schlimmer war dieser Typ. Ich hab mich halb totgelacht. Habt ihr gesehen, wie …?»

Ich sitze hinter dem Vorhang und höre lästernden Eltern zu, die gekommen sind, um sich meinen Vortrag über Mobbingprobleme in der Schule anzuhören. Fällt Ihnen etwas auf?

Gucken wir uns das mal genauer an: Wie viele Menschen kennen Sie, die schlecht über andere reden? Und können Sie sich selbst davon ausnehmen? Zu lästern, über andere herzuziehen, zu klatschen und zu tratschen, scheint uns Menschen etwas zu geben. Es bereitet uns Spaß, wir fühlen uns in unseren Ansichten und Werten bestätigt. Forscher haben herausgefunden: Das gemeinsame Herziehen über andere kann sich sogar positiv auf unsere Psyche auswirken: So stärkt Lästern etwa das Zugehörigkeitsgefühl. Wir Erwachsenen nehmen uns u.a. deshalb beim privaten Kaffee- oder Bierplausch sehr gerne das Recht heraus, über andere herzuziehen.

Vielleicht werden Sie jetzt gerade innerlich rebellieren und denken, dass so ein bisschen Lästern doch etwas ganz anderes ist, als jemanden bewusst zu mobben. Und ja, es ist sicherlich nicht dasselbe. Aber nehmen wir mal an, die Person, über die gelästert und hergezogen wird, erfährt von diesen Gesprächen. Wie wird es ihr gehen, vor allem, wenn sie sowieso nur ein geringes Selbstwertgefühl besitzt? Sie wird sich wahrscheinlich schlecht fühlen, verunsichert, minderwertig. Erinnern Sie sich? Mobbing ist ein individuell gefühlter Prozess und kein Zustand. Ein «War nicht so gemeint» oder «Stell dich nicht so an» wird an dieser Stelle nicht viel an der Gefühlslage der betroffenen Person verändern.

Wir Erwachsenen nehmen uns also das Recht heraus, indirekt zu mobben. Manchmal sogar, während Kinder im Raum sind. Vielleicht kennen auch Sie Familienfeiern, auf denen über einen Promi, einen Politiker oder die nervigen Nachbarn und Kollegen hergezogen wird.

Wir gucken «DSDS», «Das Supertalent» oder andere TV-Formate, amüsieren uns über die Protagonisten und nennen es gute Unterhaltung. Gleichzeitig regen wir uns über die Verrohung der Kinder und Jugendlichen auf, die sich auf Schulhöfen über andere amüsieren. Finde den Fehler.

Dieses Statement habe ich einmal bei Instagram und Facebook gepostet und viel Zuspruch dafür erhalten. Einige Kommentatoren bestanden jedoch darauf, dass es etwas anderes sei, ob man sich über Menschen lustig macht, die im Fernsehen sind, oder über «ganz normale Menschen.» Was bitte ist das für eine Aussage? Wenn ich in die Öffentlichkeit gehe, werde ich Freiwild für verletzendes Verhalten? Hier wird eine Widersprüchlichkeit im Umgang mit Mobbing deutlich, die mir immer wieder auffällt: Das diskriminierende, schädigende Verhalten wird bei anderen kritisiert und angeprangert, bei sich selbst aber gerechtfertigt mit dem Hinweis, derjenige sei «selbst schuld». Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Ich bin jedoch der Auffassung: Entweder ich meine es ernst und bin ein Gegner von Mobbing und respektlosem Verhalten oder nicht. Mensch ist Mensch. Aber zu sagen, es gibt Menschen, die darf man «fertigmachen», weil sie z.B. in der Öffentlichkeit stehen, ist, verzeihen Sie, komplett bescheuert. Als ob jemand es «verdient» habe, durch bestimmte Eigenschaften wie Prominenz gemobbt zu werden! Doch solche Rechtfertigungen höre ich immer wieder: «Selbst schuld, sie muss ja nicht in die Medien geben.» Oder: «Augen auf bei der Berufswahl, als Politiker muss man so was abkönnen.» Oder bei Mobbern: «Die ist einfach so nervig, deshalb haben wir die halt geärgert.»

Eigenschaften oder Charakterzüge als Rechtfertigung für respektloses Verhalten dieser Person gegenüber anzuführen, ist auf den ersten Blick vielleicht menschlich, für das soziale Miteinander allerdings wenig zielführend. Es sollte gelten: Menschen haben Gefühle, und diese sollte ich respektieren, egal welche Eigenschaften eine Person mitbringt.

Doch genau das leben wir Erwachsenen unseren Kindern häufig nicht vor. Über den strengen Chef ziehen wir her, weil er so drakonisch ist. «Wer sich so benimmt, muss mit Ablehnung leben», höre ich es tönen. Aber die Kinder dürfen nicht über den Klassenkameraden lästern, der so langsam arbeitet, dass alle anderen warten müssen. Sagen die Kinder dann: «Der nervt voll! Wenn der so langsam ist, muss er sich nicht wundern, dass keiner ihn abkann und wir über ihn lästern», würden wir ihnen sicherlich sagen, es sei nicht akzeptabel, jemand für seine Langsamkeit zu ächten.

Warum aber ist es in dem einen Fall in Ordnung zu «mobben» und in dem anderen nicht? Weil der eine das als Vorgesetzter «abkönnen» muss und es sich im anderen Fall um Kinder handelt?

Noch mal: Es darf nicht um Eigenschaften von Personen gehen, die angeblich Mobbing rechtfertigen – solche gibt es nicht. Es muss um Gefühle gehen, die wir jedem zugestehen müssen, um grundsätzlichen Respekt, dem wir jeden entgegenbringen sollten – auch denjenigen, die wir anstrengend finden oder die «anders» sind.

Ich muss natürlich nicht jeden mögen. Ich darf auch eine kritische oder ablehnende Haltung gegenüber anderen Menschen haben. Mir geht es hier vielmehr darum, uns Erwachsenen den Spiegel vorzuhalten. Wir widersprechen uns sehr häufig und fordern bei Kindern ein Verhalten ein, das wir selbst nicht an den Tag legen. Und warum sollten sie sich dann an die von uns aufgestellten Regeln halten? Plausibel ist das nicht. Ich habe es z.B. einmal erlebt, dass Kollegen von mir, die sich gegen Mobbing einsetzen, selbst mobbingähnlich agierten, wenn man nicht ihrer Meinung war oder in ihren Augen nicht «richtig» reagierte. Das heißt, es wird Mobbing im Kampf gegen Mobbing betrieben. Unglaublich.

 

Kommen wir zurück zu meinem Vortrag in der Schulaula. Ich betrete die Bühne und begrüße die Anwesenden. Die Stimmung ist trotz des ernsten Themas gut. Ich spreche über die Situationen auf Schulhöfen und wie häufig es dort zu Ausgrenzungen und Diffamierungen kommt. Ich stelle die Frage: «Wer von Ihnen kennt solche Situationen?» Alle Hände gehen hoch. «Wer von Ihnen findet es schlimm, dass es so ist?» Wieder gehen alle Hände hoch.

Ich gucke in die erste Reihe, gehe zum Bühnenrand und spreche die Gruppe an, die vorher so gelästert hat: «Das überrascht mich jetzt ehrlich gesagt etwas. Ich konnte nämlich vorhin bei Ihrem Gespräch hören, wie Sie über Sänger hergezogen sind, die sich angeblich im Fernsehen blamiert haben. Und jetzt melden Sie sich und finden es bedenklich, wenn Kinder sich genauso verhalten? Während Sie selbst sich das Recht herausnehmen, sich über andere Menschen zu stellen und schlecht über sie zu sprechen, wundern Sie sich über das, was auf dem Schulhof passiert?»

Applaus im Saal. Wütende Gesichter in der ersten Reihe.

Auch wenn es vielleicht nicht sehr nett war, die Eltern öffentlich zurechtzuweisen, war es mir wichtig, ihr widersprüchliches Verhalten aufzuzeigen. Ich bin überzeugt: Wir werden Mobbing unter Kindern nur dann in den Griff bekommen, wenn wir auch unser eigenes Verhalten kritisch beleuchten. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, wertschätzende und respektvolle Umfangsformen mit- und füreinander zu entwickeln.

Und die Eltern aus der ersten Reihe? Ich würde jetzt gerne schreiben, dass sie sich hinterfragt hätten, ihnen mein Hinweis zu denken gegeben hätte. Doch die Wahrheit ist folgende: Sie haben sich hinterher beim Direktor über mich beschwert. Dieser wiederum bedankte sich bei mir für die klaren Worte, denn auch er beobachtete in der Elternschaft häufig mobbingähnliches Verhalten untereinander und fand es gut, dass es einmal klar angesprochen wurde.

Was nehmen Sie für sich aus diesem Kapitel mit?

Respekt. Eine Tugend

Kinderzimmer! Hand aufs Herz: In welcher Familie ist Aufräumen kein Thema? Meist gleicht der Weg von der Kinderzimmertür zum Kleiderschrank einem Hindernislauf, der gerade in der Nacht zu fluchenden Eltern und wachen Kindern führt. Ich sage nur: Legosteine und nackte Füße.

Auch meine Tochter legt nicht gerade viel Wert aufs Aufräumen. Wenn ich in ihr Zimmer komme und das Chaos dort sehe, fühle ich jedoch nichts. Weder Wut noch Unruhe. Ich sehe, da liegt einiges auf dem Boden rum, bleibe aber völlig entspannt. Meine Frau kommt in dasselbe Zimmer und reagiert ganz anders. Sie fühlt viel. Und es ist nicht gut, was sie fühlt.

Sie kennen solche Situationen sicherlich: Da sind zwei Personen, die mit ein und derselben Situation konfrontiert werden, und trotzdem reagieren sie grundverschieden darauf. Mich stört die Unordnung im Zimmer meiner Tochter nicht, deshalb sage ich ihr auch seltener, dass sie aufräumen soll. Meine Frau hingegen achtet darauf, dass es eine Grundordnung gibt, weil sie ein gewisses Ordnungsempfinden wichtig findet. Wer von uns beiden handelt nun «richtig»? Wer hat recht?

Fangen wir etwas grundsätzlicher an. Was ist eigentlich Respekt? Wir alle reden davon. Auch Kinder und Jugendliche nehmen das Wort gerne und mitunter inflationär in den Mund. Respekt kommt vom lateinischen respectus, «Rücksicht, Berücksichtigung», bzw. von respicere, worin das Verb spicere steckt, was so viel heißt wie sehen