Seichtgebiete - Michael Jürgs - E-Book

Seichtgebiete E-Book

Michael Jürgs

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Beschreibung

»Ein kluger politischer Kopf.« Frankfurter Rundschau

Alle wissen es, keiner schreit auf: Ob falsche Betroffenheit in Talkshows, prollige Vorbilder wie Mario Barth oder Dieter Bohlen, von Supernannys statt von ihren Eltern erzogene Kinder oder die selbst vom Feuilleton zu Ikonen der Subkultur stilisierten Bestsellerautoren à la Roche, Bushido und Co. – überall breiten sich Seichtgebiete und Verblödung aus. Jürgs prangert nicht deutsch bierernst, sondern indem er sie lächerlich macht, jene an, die zynisch schamlos mit der Verdummung Geld machen. Er schont auch nicht sich und seine Branche, und erst recht nicht die Oberlehrer der Nation, die nur angeekelt ihre Nasen rümpfen. Mit seiner provokanten Streitschrift warnt Jürgs vor den Folgen einer verödenden demokratischen Kultur.

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Seitenzahl: 315

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Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
© 2009 by C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München ISBN: 978-3-641-02833-6V002
www.cbertelsmann.dewww.penguinrandomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
 
KAPITEL I – Unternehmen Seichtgebiete
KAPITEL II – »Ich bin ein Depp, lasst mich hier rein!«
KAPITEL III – Menschenversammler
KAPITEL IV – Little Monster Horror Schools
KAPITEL V – Kante statt Kant
KAPITEL VI – Das Versagen der Eliten
KAPITEL VII – Die Sprache der Sprachlosen
KAPITEL VIII – Die Gärtner der Seichtgebiete
KAPITEL IX – Nicht gesellschaftsfähig
KAPITEL X – Und wo bleibt das Positive?
 
Personenregister
Medien- und Titelregister
Copyright
KAPITEL I
Unternehmen Seichtgebiete
 
 
 
 
Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens. Bei Gott kein überraschender erster Satz für ein Buch, in dem es um Blöde und um Blödmacher gehen wird und warum es ihnen – seid hiermit verschlungen, Millionen – Arm in Arm, gelungen ist, die Gesellschaft grundlegend zu verändern, indem sie diese tieferlegten so wie einen Opel Manta. Autos dieser Marke, Spoiler und Blondine im Preis ab Werk inbegriffen, waren für armselige Unterschichtler das, was ein Porsche für neureiche Oberschichtler verkörperte: Statussymbol und Penisersatz in einem.
So vereinfacht lassen sich heute weder diese noch jene einordnen. Allgemeine Verblödung und sie fördernde Blödmacher und die wiederum tragende Blöde müssen vielmehr auf einer Expedition erkundet werden. Spurensuche in den Seichtgebieten also. Nur wenn das gelingt, werden die wahren Ursachen sichtbar, hörbar, spürbar. Und bevor die nicht erforscht sind, fehlen die Voraussetzungen für die Bekämpfung der Wirkungen. Dann bleiben Gegenmaßnahmen wirkungslos. Die Suche dürfte vor Ort nicht immer lustig sein, und für zart Besaitete ist zudem die Gefahr groß, sich anzustecken. Im Tiefland lauern Viren auf sie. Die machen mitunter blöde. Wer sich fürchtet, sollte deshalb hier schon die Reise abbrechen und das Buch verschenken.
Doch neugierig?
Auf eigene Gefahr also.
Los.
Freiwillige Teilnehmer an den Exkursionen in die Dschungelcamps des Fernsehens, des Internets, des Radios, der Zeitschriften, der Bücher, der Schulen, der Politik, der Gesellschaft, der Familien müssen sich zuvor jedoch impfen lassen. Nicht nur wegen der stets möglichen Ansteckung durch Dumpfsinn-Viren. Wer sich selbst errötend dabei ertappt, gelegentlich hemmungslos unter seinem Niveau zu lachen, gehört zwar noch nicht automatisch gleich zu den Blöden. Für den ist’s nur mal momentan dumm gelaufen, und falls es niemand miterlebt hat, bleibt der Ausrutscher sogar ohne Folgen.Vorsorglich muss deshalb geimpft werden, um immun zu sein gegen selbst gezüchtete Erreger in Kulturen wie Arroganz, Einbildung und Besserwisserei.Von oben herab zu lästern über die Blödheit derer da unten ist erstens nicht komisch, zweitens nicht schwer und drittens nicht besonders originell.
Sind wir doch mitunter alle mal blöde.
Auch Oberlehrer der Nation, von denen die Deutschen, erst recht seit der Einheit, mehr haben als andere Nationen, könnten das Buch jetzt zur Seite legen und sich wieder auf die eigenen wohlfeilen Klagen über die Blödheit ihrer Mitbürger stürzen. Die Hölle, das wissen sie, sind ja immer die anderen.
Wer sind die anderen?
Dass es Sender gibt, die bei den Blöden erste Wahl sind und Heimvorteil genießen – weil die Dummies nicht allzu viel wissen, aber eines dann schon: Bei RTL und Sat.1 und ProSieben und VOX würden sie täglich die ihrem IQ entsprechenden Showformate finden, bei ARD und ZDF nicht immer -, ist auch eines jener Vorurteile, die vor Antritt der Forschungsreisen abgelegt werden müssen. Zwar hat an einem März-Samstag des Jahres 2009 die Übertragung der wöchentlichen Mottoshow zu Deutschland sucht den Superstar, moderiert von Marco Schreyl, auch »Karteikarten-Marco« genannt, 5,61 Millionen Zuschauer zu RTL gelockt, doch der zeitgleich in der ARD laufende Musikantenstadl, moderiert von Andy Borg, auch »Schunkel-König« genannt, kam locker auf 5,68 Millionen Fans.
Da es sich aufgrund des Lebensalters der Zuschauer um unterschiedliche Zielgruppen handeln muss, sind mögliche Überschneidungen durch Doppelseher ausgeschlossen. Was wiederum den Schluss zulässt, dass insgesamt 11,29 Millionen Deutsche die beiden ihren Bedürfnissen am meisten zusagenden Angebote unter allen TV-Programmen am betreffenden Samstagabend ausgewählt haben. Eines ausgestrahlt von einem privaten, das andere von einem öffentlich-rechtlichen Sender. Beide wären in diesem Fall zu definieren als klassische Bedürfnisanstalten des Volkes.
Womit zwei der bekannten Vorurteile begraben werden könnten. Das Vorurteil, kommerzielle TV-Anbieter seien hauptverantwortlich für die Ausbreitung der Seichtgebiete und die dort gelagerten Container voller Leergut, sowie das Vorurteil, die Alten seien nicht so leicht für blöd zu verkaufen wie die Jungen. Es gibt offenbar keine typische Generation Doof minus x und keine auffällige Generation Doof plus y, sondern ein generationenübergreifendes gesamtdeutsches Bedürfnis nach der Seichtigkeit des Seins. Die Unart älterer Mitbürger, einer ihnen fremd vorkommenden Gruppe von eindeutig Jüngeren das Etikett »Generation« aufzukleben, um dann als Experten für Jugendprobleme in Talkshows eingeladen zu werden, ist gleichfalls symptomatisch für die allgemeine Verunsicherung und gemeingefährliche Verflachung. Dass junge Blöde auffälliger doof sind als alte, liegt nur daran, dass sie sich lautstark äußern – Boah, Ey, Super, Geil -, während die Alten allenfalls laut mitsingen.
Bei aufkeimender Verzweiflung während der Forschungsreisen auf der Suche nach den Wurzeln des Übels hilft allerdings kein noch so starkes Serum. Gegen Depressionen schützt entweder Zynismus oder aber Gelassenheit. Was nicht mehr zu ändern ist, muss offenbar als Bodensatz der Gesellschaft akzeptiert werden. Zudem ist ja niemand verpflichtet, sich auf Niveau null aufzuhalten. Es lassen sich deshalb die meisten Begegnungen mit Blöden dadurch vermeiden, dass man die Stätten ihrer Vergnügen meidet; es lassen sich traumatische Erfahrungen verhindern, indem man bestimmte Fernsehprogramme nicht einschaltet, bestimmte Bücher, bestimmte Zeitschriften und Zeitungen ignoriert, bestimmte Veranstaltungen und Partys meidet.
Hilfreicher ist es, um wenigstens die Schieflage der Nation zu justieren, die Blöden nicht als gottgegeben zu akzeptieren oder schweigend zu verachten, sondern sie lächerlich zu machen. Was nur dann funktioniert, wenn Blödmacher und Blöde ernst genommen werden in ihrer vielfältig sich zeigenden Einfalt. Sinnvoller ist es, in heiterer Gelassenheit jeden Erfolg der Dummheit zwar ehrlich als verlorene Schlacht zu registrieren, aber unverdrossen an einen noch möglichen Gesamtsieg zu glauben.
Früher hieß das Weisheit.
Eine gewisse Schar von Blöden gab es immer schon, und die gab es auch in jedem Land. Doch die Blöden der anderen Nationen berühren uns nicht, solange wir ihnen nicht am Strand über den Weg laufen müssen oder sie mit ihren Handtüchern unsere Liegestühle am Pool besetzen. Die eigenen Blöden sind uns gut genug. Es ist einfacher als früher, sie aus der Nähe zu beschreiben, weil ihre Dummheit nicht mehr im Verborgenen blüht. Um ihre Wünsche zu wecken und ihre Instinkte zu befriedigen, sind Fernsehanstalten gegründet, Zeitschriften entwickelt, Bücher gedruckt, Helden erfunden worden. Die Prinzipien der Marktwirtschaft haben sich bei der Eroberung auch dieser Klientel bewährt.Wo es eine Nachfrage gibt, die in diesem Fall einem dringenden Bedürfnis entsprach, wäre es schlicht blöde, keine entsprechenden Angebote zu entwickeln.
Das geschah in vier Phasen einer wohlüberlegten Strategie: Zielgruppe erkannt. Zielgruppe analysiert. Zielgruppe eingekreist. Zielgruppe gefangen. Strategen in Sendern und Verlagen, die erfolgreichen Gärtner der Seichtgebiete, haben sich deshalb im Gegensatz zu Bad Bankern ihre Boni verdient. Weil sie clever genug waren, früh die Möglichkeiten zu erkennen, die sich Investoren boten, denen so etwas wie Schamgefühl, Moral,Anstand fremd war. Blöde sind fruchtbar und wachsen nach. Der TV-Markt, bei dem hohe Renditen garantiert sind, weil er sich auf niedrigem Niveau selbst stets neu erfindet, ist deshalb ein Wachstumsmarkt.
Das befreit die Marktbeschicker aber nicht von ihrer Verantwortung. Mit Hinweis auf die geistigen Bedürfnisse der Unterschicht, zu der – was Verstand und Geschmack und Stil betrifft – auch viele gehören, die sich aufgrund von Einkommen, Einfluss und Einbildung zur Oberschicht zählen, entschuldigen sie sich zwar.Weil es aber einen solchen Rabauken-, Rummel- und Rammelplatz nun mal gebe, wäre es schön blöd, ihn nicht mit eigenen Produkten zu beschicken und dort nicht selbst gezüchtete Sumpfblüten anzubieten, bevor andere die ihren auf die Plätze, fertig, los schicken.
Dennoch wird ihnen keine Vergebung zuteil. Denn sie wissen, was sie tun. Das können sie täglich an den Quoten ihrer TV-Formate ablesen oder an den verkauften Auflagen von Produkten bemessen, denen selbst die karge Bezeichnung »Druckerzeugnisse« noch schmeichelt. Früher galt die stillschweigende Übereinkunft, dass über Sex und Geld öffentlich nicht geredet wird. Basta. Heute ist die offenhosige, die Beine breitmachende Bereitschaft, Privates öffentlich zu machen, die Voraussetzung dafür, um überhaupt bei gewissen Talkshows eingeladen zu werden. Mitschuldig am Zustand einer Gesellschaft diesseits aller Tabus sind gleichgültige Eltern und frustrierte Lehrer und moralfreie Manager und geschwätzige Politiker – aber auch wir Journalisten, die sich übers dumme Volk und seine Helden lustig hermachten und dadurch ungewollt viele unbedarfte Deppen zu Stars hochgeschrieben haben.
Allen vereinfachenden Schlagzeilen zum Trotz gibt es also keine Generation von Doofen, ebenso wenig, wie es einst eine Generation der besonders klugen 68er gab. Es sind immer nur wenige, die das Denken oder Nicht-Denken und den Stil oder die Unsitten von vielen prägen. Ende der Sechzigerjahre im vergangenen Jahrhundert begannen die überfälligen Denkprozesse mit den Demonstrationen von Studenten gegen den tausendjährigen Muff an deutschen Universitäten, gegen braunes Gesindel im Amt. Daraus wuchsen dann Proteste von vielen Tausenden auf den Straßen mit den bekannten Folgen.
In Frankreich, wo Revolution allerdings zur Tradition gehört und im kollektiven Bewusstsein der Nation im Gegensatz zur deutschen positiv verankert ist, brannten im Mai 1968 die Barrikaden. In England blieb es britisch ruhig, weil die Klassengesellschaft ungerührt die Parolen der Klassenkämpfer über sich ergehen ließ, sowohl die Ober- als auch die Unterklasse. In den Vereinigten Staaten vereinten sich in leidenschaftlichem Protest gegen den Vietnamkrieg Jung und Alt, weil die einen nicht sterben und die anderen nicht ihre Söhne verlieren wollten.Von diesen gewalttätigen Auseinandersetzungen wurde weltweit berichtet. Die gesendeten Bilder beflügelten Anti-Kriegs-Demonstranten im fernen Europa.
Da es um kritisches Bewusstsein ging, blieben die Protestierenden in Deutschland auch innerhalb ihrer Generation eine lautstarke radikale Minderheit. Die Mehrheit der Jungen war zufrieden mit einem kleinen Glück, so wie es ihnen ihre Eltern vorgelebt hatten, aber sie waren letztlich gemeinsam mit denen irgendwann doch dazu bereit, mehr Demokratie zu wagen.Angesichts erreichter Wohlstandsziele schien gegen ein wenig undeutsche Leidenschaft prinzipiell nichts einzuwenden zu sein. Sie wählten 1969 Willy Brandt zum Bundeskanzler.
Im anderen Teil Deutschlands gab es auch 68er, deren mutiger Protest gegen die steinernen Verhältnisse sich jedoch an einem speziellen Datum festmachen ließ, dem 21. August 1968, jenem Tag, an dem die Truppen des Warschauer Paktes den Prager Frühling erstickten. Bevor aus dem Protest von wenigen Mutigen im Osten eine die Verkrustungen der Gesellschaft zerbrechende Bewegung werden konnte wie die im Westen, brachen ihnen die Machthaber das Rückgrat und sperrten sie ein.
Nur Rockmusik übertönte alle Mauern, wurde zur Internationale von Jugendlichen über alle nationalen Grenzen hinweg und zur Mutter aller Jugendbewegungen. Rock’n’ Roll als vielfältige Hymne einer Generation verstanden weltweit alle.
Auch die Einfaltspinsel.
Nach 1969 gingen im Westen die Gleichaltrigen, die nur kraft und dank ihres Alters zu einer Generation gehörten, wieder getrennte Wege. Die einen begannen den langen Marsch durch die Institutionen, die anderen richteten sich in ihren Verhältnissen ein.Wie groß das Potenzial an Blöden schon damals war, fiel nicht weiter auf, weil sie nicht als geschlossene Gruppe auftraten und sich nicht als kommende Kraft der Zukunft verstanden.
Es gibt heute zwar mehr Verblödete denn je, aber auch das ist einfach zu erklären. Mittlerweise ist eine ganze Generation von Deutschen – hier stimmt endlich mal der Begriff »Generation«! – aufgewachsen mit Tutti-Frutti-TV. Das konnte nicht ohne Folgen für denVerstand bleiben. Im Westen waren es seit Gründung des Privatfernsehens 25 Jahre, im Osten, wo RTL und Sat.1 bis zum Untergang der DDR nicht empfangen werden konnten, nur 20. Inzwischen ist zusammengewachsen, was zusammengehört, wie an den Quoten bestimmter Sendungen deutlich wurde. Doch ebenso viele tapfere Widerständler haben, im Westen wie im Osten, alle Attacken der Blödmacher abgewehrt und sich jenseits der Seichtgebiete in bewässerten Oasen behauptet.Auch unter den Nicht-Blöden ist zusammengewachsen, was zusammengehört. Die neue deutsche Grenze, an der nur verbal geschossen wird, verläuft zwischen Wissenden und Unwissenden.
Letztere müssten mit allen Mitteln aus den Fesseln der Blödmacher befreit werden. Denn auch sie werden für die Zukunft der Nation gebraucht.
Aber wie soll das gelingen?
Weil heute weder Weise noch Götter helfen, weil verbretterte Köpfe mit Argumenten nicht zu löchern sind, weil auch das Recht auf Dummheit zu den unveräußerlichen Menschenrechten zählt, ist im Kampf gegen die Blöden außer selbstverständlicher Tapferkeit eine Strategie bestehend aus List,Tücke,Witz, Fantasie nötig.
Auf Altkluge, die ungebrochen an sich und die Überlegenheit ihrer göttlichen Gedanken glauben, muss dabei verzichtet werden. Die Alten sind zwar immer noch klug und weise, doch nicht mehr so beweglich wie einst. Deshalb schweben sie über den Niederungen des Alltags.Wenn auf Erden alle gültigen Normen zum Teufel gehen, wenn die letzten Tabus sterben, wenn singende, grölende, tanzende Prolos die Mattscheiben bevölkern, wenn Lehrer von ihren Schülern gemobbt, Eltern von ihren Kindern beschimpft, wenn sprachlose Bücher die Hirne verkleben, wenn brutale Killerspiele echte Killer produzieren, wenn eine Gesellschaft Shakespeare mit einem Hersteller von besonderen Angelruten statt mit jenem Besonderen assoziiert, bedarf es sprachgewaltiger, laufstarker Guerillataktik statt mahnender Worte. Gegen die Besatzungsmacht der Kopflosen ist eine verbale Intifada nötig.
Darf man das?
Darf man.
Wie so oft im Leben gibt es zwei mögliche Wege zum Ziel. Alternative drei, den Blöden das Tiefland zu überlassen und sich in den nah wie fern vorhandenen Hochburgen der Kultur – Kunst, Literatur,Theater, Musik – an den Freuden schöner Götterfunken zu ergötzen, ist keine Option. Ein solcher Rückzug wäre Feigheit vor dem Feinde.
Auf, auf zum Kampf also.
Alternative eins: Einmarsch mit offenem Visier ins Feindesland, im Tornister profunde Bildung verstaut, die passende Munition gegen alles, was im Fernsehen stinkt oder was nach sprachlosen Büchern riecht oder was im Internet die Luft verpestet. In den eigenen Schützengräben lauern zur Unterstützung Gleichgesinnte, ebenfalls mit Sprache bewaffnet. Wackere Kämpfer fürs Wahre, Gute, Schöne aber, so grimmig entschlossen sie auch sein mögen, wecken jedoch selten Leidenschaft, erreichen Blöde nicht, reden bedeutend, aber unverständlich, sind ausgerüstet mit schusssicheren Überzeugungen, die in ihrer Jugend 1968 revolutionär waren, aber mittlerweile Patina angesetzt haben. Ihre Schüsse gehen sozusagen nach hinten los.
Das sehen sie natürlich anders. Ihre Erzählungen, wie mutig und leidenschaftlich sie mal die Welt verändert haben oder zumindest verändern wollten, wenn ihnen nicht leider im letzten Moment was dazwischengekommen wäre, will jedoch niemand mehr hören. So wenig, wie sie es einst hören wollten, wenn ihre Väter die ewig gleichen Geschichten erzählten, wonach früher alles besser war – die Kirche im Dorf, die Ordnung im Staat, der Respekt vor dem Alter.
Die hartleibigen Besserwisser unter inzwischen Zweifelnden sind aber immer noch und nichtsdestotrotz überzeugt davon, wenn auch nicht mehr recht überzeugend, besser als andere zu wissen, was Schüler lernen müssen – siehe da: Ordnung einhalten; warum sich Erwachsene so benehmen sollten, dass sie in ihrem Tun ein Vorbild sind – siehe da: Beispiele geben; wie Eltern ihre Kinder erziehen sollten – siehe da: Disziplin durchsetzen. Die Anhänger von Alternative eins glauben vor allem – außer an die genannten Tugenden, die Böswillige sekundäre nennen würden – unerschütterlich daran, dass sich mit den klassischen Methoden Humanismus, Bildung,Vernunft der Sumpf trockenlegen ließe. Ihre auf intellektuelle Einsicht in das Notwendige bauende Taktik versteht jedoch keiner von denen, die sie erreichen wollen, weil die nun mal keine Intellektuellen sind. Und sie erzielt keine nennenswerten Quoten bei noch unentschlossenen Schlachtenbummlern, die zögern, wem sie sich anschließen sollen, um am Ende bei den Siegern zu landen, den Kämpfern oder den Bekämpften.
Niemand mag Oberlehrer.
Niemand schätzt Besserwisser.
Deutsche Blöde schon mal gar nicht.
Hiermit wird die »Operation Klugscheißer« beerdigt.
Alternative zwei ist erfolgversprechender: Der Einmarsch ins Feindesland wird angepasst an die zu erobernde Umgebung. Visier heruntergeklappt, um sich als Blödkopf getarnt dem tümelnden Volk nähern zu können. Die Massen werden nicht in offener Feldschlacht gestellt, sondern unauffällig und klammheimlich unterwandert. Das macht zudem grundsätzlich mehr Spaß als die im deutschen Wesen verankerte Neigung, andere mit ernster Miene zu belehren.
Sobald die Blöden ihre diversen Dschungelcamps verlassen, um schwimmend neue Ufer zu erobern, werden sie unauffällig unter Wasser begleitet. Das schaffen nur die Besten unter den Klugen. Jede Art von Ekel muss zuvor abtrainiert werden, man braucht einen langen Atem, und die Guerilleros müssen lernen, ihre Intelligenz so zu verbergen, dass ihnen niemand von den Blöden auf die Schliche kommt. Ihr verborgenes Wissen macht sie zwar stark. Doch die Stärke dürfen sie um Himmels willen nicht ausspielen, denn Taktik zwei verlangt, ihr Mehrwissen nur unauffällig trickreich einzusetzen.
Wie denn nun?
Wer Blödmacher besiegen will, muss sie lächerlich machen. Werden sie ausgelacht statt ausgezählt, veräppelt statt verehrt, verlieren sie ihre Anziehungskraft bei den Blöden. Das Volk lässt dann seine bloßgestellten, entblößten Helden fallen, statt ihnen zu verfallen.
So erging es bekanntlich einst jenem Kaiser aus dem Märchen von Hans Christian Andersen. Ein eitler Tropf. Er hielt sich mehr in seiner Garderobe auf als bei seinen Staatsgeschäften und er ging nicht ins Theater und er las kein Buch und er hörte keine Musik. Doch weil er nun mal der Herrscher war, konnte er sich seine eitle Blödheit, ohne Folgen befürchten zu müssen, erlauben.
Wie eitel und wie blöde er tatsächlich war, erkannten zwei kluge Betrüger, die ihm einredeten, ihr neues Format, anschmiegsame Haute Couture, das sie ihm auf den Leib schneidern könnten, sei nicht nur unglaublich schön und würde ihn noch schöner machen, als er eh schon war, sondern hätte auch die sensationelle Eigenschaft, für alle unsichtbar zu sein, die »unverzeihlich dumm« seien. Blöde, wie er war, glaubte ihnen der Kaiser. Die Behauptungen der Betrüger, die heute als Unique Selling Point (USP) bezeichnet würden, sprachen sich im Lande herum, wurden nicht hinterfragt. Der Kaiser gab bei Anproben nie zu, dass er im Spiegel nichts sah, um nicht als unverzeihlich dumm zu gelten, bewunderte stattdessen Muster und Farben, obwohl die beiden Schneider noch keinen einzigen Faden gesponnen, aber bereits viel Geld für die teure Seide kassiert hatten.
Endlich war es so weit, dass sich der Kaiser in den neuen Kleidern zeigen konnte. Er wollte es, denn zur Dummheit gehört die Eitelkeit. Das wollte er öffentlich zelebrieren und ging, von seinem Hofstaat begleitet, durch die Stadt. Des Kaisers Untertanen, die ebenfalls nicht für blöde gehalten werden wollten, stießen bewundernde Rufe aus und lobten seine neue Kleider. Heute würden ihre Hochrufe als Quotenhoch gewertet werden. Keiner aber wollte zugeben, nichts zu sehen. Bis auf einmal ein kleines Kind rief, der Kaiser habe doch gar nichts an. Der sei ja nackt. Da merkten alle Erwachsenen, für wie dumm sie sich hatten verkaufen lassen, und erst dann lachten sie ihren dummen Kaiser aus.
Was für dessen Ego und dessen Ansehen natürlich tödlich war.
Was wäre also, würde nach der Art dieses wunderbaren Märchens verfahren werden beim Kampf gegen die allgemeine Verblödung? Zum Beispiel die Welt der Blödmacher auf den Kopf stellen, um zu sehen, wer hinten runterfällt, statt wie bisher als bewunderter Popanz auf den Seichtgebieten zu agieren? Zum Beispiel im nächsten Kapitel mit der Realität spielen, statt sie tief grübelnd ändern zu wollen?
Zum Beispiel schauen, ob die beim Volk beliebten Kaiserinnen und Kaiser auch dann noch so beliebt wären, wenn man sie nackt, wie sie im Geiste sind, gegeneinander antreten ließe in einem einzigen furiosen Showdown?
Schauen wir doch einfach mal.
KAPITEL II
»Ich bin ein Depp, lasst mich hier rein!«
 
 
 
 
Gegen die herrschenden Spießer und Spaßmacher, Blödmacher und Banausen in die entscheidende Schlacht zu ziehen – ach, wäre das schön! Ach, wäre das unterhaltsam! Ach, wäre das spannend! Motiviert durch beispiellos freche Ideen, bewaffnet mit grenzenloser Fantasie, ausgebildet von abtrünnig gewordenen Blödmachern ließen sich die Blöden besiegen.
Die verdeckt operierenden Spezialkommandos von »Enduring Wisdom« müssten sich der Mittel des Gegners bedienen, ohne Bedenken ihre Taktik kopieren und dürften – insbesondere aus moralischen Gründen – keinen der schmutzigen Tricks scheuen, mit denen die von der anderen Straßenseite arbeiten. Bis zu einer Entscheidung, die jedoch erst am Ende des Buches fallen wird, müssen die feindlichen Heere mit verbalen Gemeinheiten attackiert und, sooft es nur machbar ist, mit überraschenden Ein- und Ausfällen konfrontiert werden.
Am einfachsten wäre es, ihnen eines ihrer populären Formate zu klauen und listig mit anderen Inhalten zu füllen.
Geht das?
Und ob das geht.
So zum Beispiel:
Deutsche ab sechs Jahren werden nach diesem notwendigerweise in strikter Geheimhaltung entwickelten Plan X aufgerufen, während eines live übertragenen Fernsehevents aus der Schar der ihnen bekannten Blödmacherinnen und Blödmacher eine Königin oder einen König zu wählen. Mittels Teledialog (TED) soll das gesamte Volk telefonisch einen Superstar unter all denen küren, die ansonsten in ihren als Show getarnten Seichtgebietsvergnügen selbst nach einem Superstar suchen lassen. In Deutschland lebende Ausländer dürfen, falls sie ein Handy bedienen können – aber das können die meisten, bevor sie zu lesen gelernt haben -, bei der Wahl mitmachen. Deutschkenntnisse sind nicht erforderlich. Die werden bei gebürtigen Deutschen ja auch nie hinterfragt. Jede abgegebene Stimme zählt. Damit dabei möglichst viele aus der Zielgruppe derer mitspielen, die sich dumm und dämlich lachen, wenn sie mal wieder nicht merken, dass sie für dumm verkauft werden, müsste als Sponsor ihr Zentralorgan gewonnen werden, die »Bild«-Zeitung.
Schon wären zwei Essentials aus dem skizzierten Strategiepapier verwirklicht – ohne moralische Bedenken ein Erfolgsformat kopieren und ohne Scham den stärksten Verbündeten wählen. Geistiger Diebstahl als Vorwurf kann mit der Bitte gekontert werden, in dem Zusammenhang doch gefälligst mal das Wort »geistig« zu definieren.
Das Spiel wäre ein Spiel ohne Grenzen, weil der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. Die unterscheidet sich von der Realität unter anderem dadurch, dass mit ihr Seit’ an Seit’ auf der Welt alles möglich ist. Es soll zwischen Himmel und Erde bekanntlich mehr geben, als Schulweisheit sich träumen lässt. In diesem Zwischenreich siedeln die Erfinder des Unvorstellbaren ihre ultimative Show an, verankern sie aber aus taktischen Gründen Richtung Erde in den unterirdischen Wünschen des Publikums und lassen sich trotzdem nach oben gleichzeitig alle Möglichkeiten offen.
Übertragen wird das nicht, wie es im realen Fernsehalltag Sitte ist, als übliche Freakshow von RTL oder Sat.1 oder ProSieben, den für Ausscheidungen zuständigen Kanälen der Unterschicht. Sondern als Themenabend, der ohne Beispiel ist in der Geschichte des seriösen Fernsehens, von Arte oder als Kulturzeit in 3sat, die in diesem einmaligen Fall in gelassener Selbstironie der Macher als »Kultzeit Extra« angekündigt würde.
Wer den gewaltigen Unterschied zwischen Kultur und Kult kennt, freut sich auf seinem gehobenen Niveau, wer ihn nicht kennt, versäumt auf seiner Ebene auch nichts. Denn der Begriff des Kults, der eigentlich die unsterblichen Mythen der Kultur umfasst und zutrifft auf Legenden wie Jim Morrison, James Dean, Jimi Hendrix, Jerome D. Salinger, Marilyn Monroe, Greta Garbo etc., ist über Jahre systematisch entseelt worden durch sprachlose Dummschwätzer, weltweit werktätige Leichenschänder, die sich inzwischen in allen Medien herumtreiben. Hier geht es zwar vorrangig um deutschsprachige Deppen, um heimisches Leergut, doch im globalen Netzwerk lässt sich jede Dummheit innerhalb weniger Sekunden online in alle leeren Köpfe pflanzen.
Prominente Nullnummern werden von Gossenguys und -girls in bunten Blättern oder TV-Magazinen schon in dem Moment als »kultig« bezeichnet, wenn sie bei ihren Auftritten von pubertierenden Kreischkindern bedrängt oder auf Jahrmärkten der Eitelkeiten umschwärmt werden, obwohl sie eigentlich nichts weiter können, als zu massieren, zu frisieren, zu frittieren. Es gab Zeiten, da hätte man ihnen nicht nur geraten, sondern befohlen, uns mit ihren Dummheiten zu verschonen und sich auf- oder untereinander zu vergnügen – aber das ist lange her.
Solche Pauschalurteile sind verlockend wie Pauschalreisen. Der Verzicht auf Originalität macht beide billiger. Pauschal urteilend schreibt es sich deshalb leichter. Doch ist es wirklich besonders originell, die Frage zu stellen, wie viel Dummheit eine Gesellschaft verträgt, ohne dass die demokratische Kultur in Gefahr gerät? Wer sie so pauschal stellt, gilt fast als Philosoph, zumindest als Leser von Peter Hahne, und gehört zu den nicht ganz so Blöden. Die in diesem Zusammenhang rein zufällig passende Metapher des unvergessenen Heinz Erhardt, wonach viele deshalb einen Kopf besitzen, damit sie ihr Stroh nicht mit beiden Händen tragen müssen, beweist nur, dass Verblödung kein neues Phänomen ist. Früher waren nicht schon automatisch alle besser, weil alles besser war oder die Klugen klüger oder die Blöden nicht gar so blöd.
Man könnte tatsächlich recht haben mit der Vermutung, dass es damals in der Gesellschaft kaum weniger Blöde gab als heute. Die fielen nicht weiter auf. Jedes Dorf hatte seine eigenen Trottel. Die vom Nachbardorf lernte man nie kennen.
Eine Massenbewegung, vernetzt durch eigens für sie produzierte Zeitungen, Zeitschriften und TV-Programme, sind die als Individuen unauffälligen und ungefährlichen Seichtmatrosen erst seit dem Start des privaten Fernsehens, der Stunde null im Jahre 1984. Auf Kiel gelegt wurden die Kommerzdampfer von Politikern, die sich von einer ihnen dankbaren Masse massenhaften Zuspruch für ihre Partei versprachen, die zufällig CDU hieß. Gesteuert wurden die fröhlichen Wellenbrecher von ausgebufften Blödmachern, die sich als Pioniere fühlten.
Wichtiger als irgendwelche Inhalte war ihnen von Anfang an, für die angebaggerte Masse Blödköpfchen zu zeugen und die populär zu machen. Profis wie sie wussten, dass jedes Rudel einen Leitwolf braucht, jede Gruppe einen Führer und viele Gruppen entsprechend viele Helden. Bis dahin hatten die Blöden keinen Überblick darüber, wie viele sie waren. Sie ließen höchstens im engsten Freundes- und Familienkreis die ihnen vertraute dumme Sau raus. Erst an dem Tag, an dem sie eine für die Werbung relevante Zielgruppe wurden, begann ihr Aufstieg. Seichtes gibt es inzwischen für jedes Alter. Die Jungen treffen sich bei Castings oder bei Übertragungen der für sie produzierten Freakshows, ihre Eltern und Großeltern, die Alten, bei Festen der Volksmusik.
Zurück zum Geheimplan.
Die Lieblinge der Unterschicht ausgerechnet auf den Sendern der geistigen Oberschicht, Arte und 3sat, gegeneinander kämpfen zu lassen wäre schon deshalb unter strategischen Gesichtspunkten betrachtet ein genialer Einfall, weil die Grundbedingungen für spannende Unterhaltung erfüllt sind – durch Verfremdung mit genau den Inhalten zu überraschen, die allen wohlvertraut scheinen.
In dem Fall sind Arte und 3sat das fremde Terrain, das die aus RTL und Sat.1 und ProSieben und VOX und Kabel eins bekannten Helden der Unterschicht betreten müssten. Millionen von Deutschen würden, um ihre Lieblinge live zu erleben, zwei Sender einschalten, von deren Existenz sie bisher nichts ahnten; es würde deswegen überraschend Kulturgut auf Leergut prallen. Und alle Stammkunden von Arte und 3 sat, die sich als was Besseres dünken, die nie gesehen haben, wie spielend es in sich geschlossenen Anstalten gelingt, mit talentlosen Trotteln und tapsenden Vollidioten, mit kultigen Knallchargen und furchtlosen Zotenlümmeln traumhafte Einschaltquoten zu erzielen, würden durch diese Show auf ihren Heimatsendern erschaudernd die »Wonnen des Trivialen« (Medienforscher Norbert Bolz) erfahren. Über die haben sie bislang, eigenen Angaben zufolge bei jeder Zeile von Ekeln geschüttelt, allenfalls in den Feuilletons der Gebildeten gelesen.
Der Begriff »Massenkultur« bekäme in einer solchen Show eine ganz andere Bedeutung, denn Anspruch und Amüsement sind bekanntlich selten miteinander kompatibel. Es ist also ein Experiment.Wird es gelingen, die simplen Vergnügungen der Massen dadurch kulturell wertvoller zu gestalten, dass ihre Stars auf einem ganz anderen Feld auflaufen? Werden die Blöden trotz ihrer Blödheit die böse Absicht merken? Die fantasiereiche Taktik durchschauen, ihre Lieblinge lächerlich zu machen? Sie bloßzustellen und nackt vorzuführen?
Bestimmt hätten 3sat und der deutsch-französische Kulturkanal Arte einen in ihrer von hohem Anspruch statt von hohen Quoten geprägten Geschichte noch nie erreichten und bestimmt nie wieder erreichbaren Marktanteil in der sonst den anderen Sendern hörigen Zielgruppe zwischen erster Zahnspange und erstem Zungenkuss. Und eventuell bliebe was hängen bei denen. Zum Beispiel ein noch zaghafter, aber zu Hoffnungen doch berechtigender Gedanke, diese Sender auch dann mal auszuwählen, wenn es nichts zu gewinnen gibt außer Erkenntnis.
Der harte Kern der Fernsehsüchtigen lebt im Osten Deutschlands. Nicht nur bei den dortigen Jugendlichen wird mehr geglotzt als unter Gleichaltrigen im Westen. Die Ostdeutschen triumphieren in allen untersuchten Altersgruppen, von den Dreijährigen bis zu denen über siebzig. Liegt es daran, dass die Arbeitslosigkeit nach wie vor trotz aller Aufbauhilfen Ost doppelt so hoch ist wie die im Westen, also mehr Zeit totgeschlagen werden muss, und dies nun mal am besten, und winters sowieso, vor dem Fernseher geschieht? Wie ist der diesbezügliche Vorsprung der Kleinen Ost vor den Kleinen West erklärbar? Hat der von ARD und ZDF gemeinsam betriebene Kinderkanal KiKa etwa deshalb einen sich in Quoten niederschlagenden Heimvorteil, weil die Verantwortlichen in Erfurt sitzen? Oder lassen Eltern und Großeltern ihre Nachkommen im Osten so lange vor dem Familienmittelpunkt TV-Apparat sitzen, bis auch sie selber eingeschlafen sind?
Bei Superstar-Extra muss die ganze Nation vereint wach bleiben, auf ihre Stimmen kommt es schließlich an. Gesendet wird deshalb im Oktober am Abend vor dem Tag der deutschen Einheit, damit alle anderntags ausschlafen können.
Die Teilnehmer an dem als Mega-Event angekündigten Showdown müssten selbstverständlich nach den gleichen Kriterien ausgewählt werden wie die Kandidaten für die täglich versendeten Formate, die als unterhaltend gelten, weil sie vor keinem unterirdischen Thema und keinem unterschichtigen Volksvertreter haltmachen. An den gewohnten Abläufen – eene, meene, muh, raus bist du, hässliche Kuh – würde ebenfalls nichts geändert. Doch bei dieser Premiere, einmalig in der Geschichte des Fernsehens, würden erstmalig nicht die Verführten vorgeführt, sondern ihre Verführer.
Bei deren Anblick dürfte zwar den geistig normalen Zuschauern von Arte und 3sat das Lachen im Hals stecken bleiben, aber das müssten sie nun bitte mal schlucken. Sie dürfen auch nicht den Ton wegschalten – es gehört zu ihren Pflichten als Staatsbürger, sich anzuhören, wie die ihnen unbekannten anderen reden und was sie reden und worüber sie reden.Verglichen mit dem Erkenntnisgewinn über die wahren Bedürfnisse ihrer Mitmenschen, ist der Preis, den sie zu zahlen haben, nachgerade lächerlich.
Weil sich naturgemäß viele Deppen aus lokalen TV-Seichtgebieten zum Superstar berufen fühlen, braucht es regionale Vorwahlen vor der nationalen Entscheidung. Bei den üblichen Blödsendungen gibt es vorher Castings, im zynischen Jargon ihrer Produzenten auch »Migrantenstadl« genannt. Ähnliche Castings sind jetzt erforderlich, wenn unter den TV-Profis eine Auswahl getroffen werden muss. Ohne Ansehen von Aussehen und Alter und wegen der Einschränkungen durch die Bestimmungen des Datenschutzes auch ohne Andeutung des Intelligenzquotienten dürfen dabei alle mitmachen, die jemals vor laufenden Kameras auftraten und fehlerfrei einen ganzen Satz aufsagen konnten.
Das unter Fernsehverantwortlichen einst geltende Gesetz »Wehret den Anfängern!« ist zugunsten ihrer seit Viagra gewachsenen ständigen Hoffnung, bei mancher Anfängerin könnten sie mit ihren eigentlichen Bedürfnissen endlich mal richtig liegen, falls sie zuvor die ihren erfüllen, außer Kraft gesetzt worden.
Ausgeschlossen von der Teilnahme sind nur die aus der Zunft, die sowohl von privaten als auch von öffentlich-rechtlichen Sendern bereits entsorgt wurden und in diversen Homeshopping-Kanälen ihr Gnadenbrot verzehren.Also die Menschendarsteller, deren Wert sich ausschließlich danach bemisst, ob es ihnen gelingt, möglichst vielen noch Blöderen einzureden, durch das Anwählen einer gebührenpflichtigen Telefonnummer, von denen die Sender ihren Anteil kriegen und damit die Honorare ihrer Namenlosen bezahlen, eine günstige Diamantenhalskette für 19,90 Euro zu bestellen oder für nur 23,99 Euro die garantiert wasserdichten Schlüpfer für den reifen Herrn und die noch reifere Dame.
Selbst auf diesen Sendern der Massenverarschung gibt es Ratgeber-Formate mit unmittelbar der Kundschaft einleuchtendem Nutzwert.Wenn einer zur Fortbildung bereiten Schar Frauen von der mütterlichen Moderatorin erklärt wird, wie sie die Batterien eines Dildo auswechseln und welche Farben der kleine Lümmel haben sollte, damit er sie beim Gebrauch nicht an den Fleischfarbenen erinnert, der neben ihnen im Bett schnarcht, lachen alle gemeinsam Reste ihrer vielleicht doch noch vorhandenen Scham weg.
Weil Arte oder 3sat nicht einfach nur wertfrei unter dem in diesem besonderen Fall naheliegenden Aspekt, Schadenfreude sei eben die reinste Freude, unterhaltend sein dürfen – denn wertfrei Luftiges würde ihre seriöse Marke beschädigen -, müsste beim Schau-Laufen der sich gegenseitig prominent Düngenden aus den Biotopen des Massengeschmacks eine zum Anspruch der Sender passende Botschaft vermittelt werden.
Aber welche Botschaft passt?
Wie bei den meisten Sinnfragen des Lebens hilft bei der Suche nach Sinn auch in dem Fall einer von Deutschlands Besten, nämlich Goethe. »Durch nichts bezeichnen die Menschen mehr ihren Charakter als durch das, was sie lächerlich finden«, ist als Merksatz des Überlebensgroßen ganz okay, aber eben nur bedingt einsetzbar, weil zu viele aus der zusehenden Unterschicht, die schließlich erreicht werden soll, damit hoffnungslos überfordert wären. »Faust« im Kopf, leicht variiert – gleich sehe man des Volkes Getümmel, wo zufrieden jauchzet Groß und Klein, hier sei man Mensch und dürfe es sein usw. -, passt ebenfalls nicht. Diese doppeldeutigen Anspielungen versteht von den Fremdbestimmten bestimmt niemand. Sie kennen die Faust aufs Auge oder die geballte eigene in der Tasche.
Die etablierten Blödmacher haben es einfacher, zugegeben. Denen reicht ein simplerer Anspruch, der die Bedürfnisse ihrer Gemeinde voll total trifft, etwa der: Ich bin ein Depp, lasst mich hier rein! Dass jederzeit als Vollidiot wieder rausfliegen kann, wer als normaler Idiot irgendwo reinwill und damit zur allgemeinen Belustigung beiträgt, dass sich öffentlich knechten lassen muss, wer unbedingt König werden will, ist den Willigen zwar nicht fremd, aber egal.
Egal, ob es ein Container ist, in dem sich jugendliches Prekariat wohlfühlt, weil da alles so aussieht und nach ein paar Tagen so riecht wie zu Hause jeden Tag. Egal, ob alleinerziehende Mütter mit ihren verschiedenen Kindern von verschiedenen abwesenden Vätern gemeinsam mit den Scouts von RTL nach einem neuen Ernährer suchen. Egal, ob ein echter Gerichtsvollzieher klingelt, klopft, kassiert, was der Sat.1-Klientel bekannt vorkommen dürfte aus ihrem häuslichen Alltag. Egal, ob man auswandern, rückwandern, ausreißen oder nur mitten im Leben stehen muss, sich für eine Woche bei einer fremden Familie einquartieren lässt oder den Traum vom eigenen Restaurant beerdigt: Geht nicht gibt’s hier nicht. Bei solchen Sendeformaten geht – ungeniert kommt nach dem Fall – alles. Unter die Haut. Unter die Gürtellinie. Unter aller Sau. Wer mitmacht, muss nur irgendwas können, und sei es auch Pfeifen im Wald, muss nicht zu Besonderem, aber zu allem fähig sein.
Unvergessen die Jubiläumssendungen des privaten Marktführers RTL zum 25-jährigen Bestehen seines Seichtgebietes. Nicht die Gäste auf dem Sofa schreckten ab, obwohl da an zwei Abenden viele Horrorfiguren aus versendeten Lemurenkabinetten saßen. Nicht die Schwenks aufs verzückt klatschende Publikum, wo die Ahnung zur schrecklichen Gewissheit wurde, dass im Saal zusammensitzt, was zusammengehört. Am dämlichsten wirkte Oliver Geissen, der so aussieht und spricht, als könne er kein Wässerchen trüben und damit geschickt alle täuscht. Er kann tatsächlich keines trüben.
Wie könnte beim Themenabend Superstar für Arte und 3sat ausgeschlossen werden, die beiden Sender beim Zappen trotz der sichtbaren Auftritte von Sumpfblütlern und Paradiesvögeln mit RTL oder ProSieben oder VOX oder Sat.I zu verwechseln?
Eingängig müsste der Titel der Show sein, doch gleichzeitig nicht allzu banal.Verbale Verballhornungen der Gebildeten wie »Arten-Miss-Wahl« oder »Dreist auf Sat« versteht außer denen kein normaler Mensch, werden bereits bei der Planung abgeschmettert. »Was ihr wollt« dagegen wäre ein passender Titel, weil sich die einen, die immer wissen, was sie zuvorderst wollen, angesprochen fühlen und die anderen sich mit Verweis auf Shakespeare vorab Absolutionen erteilen dürfen, weil sie sich freiwillig auf Banales wie eine Superstar-Show einlassen.
Shakespeare übrigens lieferte vor fünfhundert Jahren bereits den Beweis dafür, dass sich Qualität und Quote, falls beide gleich ernst genommen werden, bestens heiter miteinander verbinden lassen. Die Aufführungen seiner Komödien im Londoner Globe Theatre wurden von allen Schichten bejubelt, weil die Spiele um Liebe und Lüge, Intrigen und Irrungen im Wortsinne volkstümlich waren, das niedere wie das höhere unverbildete Volk die Sprache verstand und am Ende entweder die Guten siegten oder aber die Bösen, falls sie es sein mussten, die gewannen, von der Macht des Schicksals oder den eigenen inneren Dämonen bestraft wurden. Richtig los ging es übrigens erst im zweiten Akt. Die per Kutsche oder hoch zu Ross anreitende Oberschicht wollte sich nicht mit den zum Theater strömenden Unterschichtlern gemein machen und traf deshalb erst dann ein, wenn das Volk seine Stehplätze eingenommen hatte.
Shakespeare wusste, was alle Menschen zu allen Zeiten bewegt: Menschliches, allzu Menschliches. Deshalb fehlt auf keinem Spielplan deutscher Bühnen ein Stück vom Volksverführer Sir William, dem immer noch populären Garanten für ein ausverkauftes Haus. Seine Dramen sind quotenträchtig. Vor fünfzig Jahren sangen im Film Das Wirtshaus im Spessart, der auf Wilhelm Hauffs Märchen für Söhne und Töchter gebildeter Stände basierte, die beiden komödiantischen Gauner Wolfgang Müller und Wolfgang Neuss einen Schlager aus dem Cole-Porter-Musical »Kiss me Kate« nach Shakespeares »Widerspenstigen Zähmung«-Komödie: »Schlag nach bei Shakespeare / denn da steht was drin / Kommst du mit Shakespeare / sind die Weiber alle hin« usw.
Selbst durch Goethes »Faust« ließe sich, mit ein paar unwesentlichen Änderungen, die nötige Stimmung erzeugen. So einst geschehen in einem Hamburger Volkstheater. Gegeben wurde »Faust« pur, also die bekannte Fassung, die ja nicht so gut endet, wie viele seit ihren Schulzeiten noch wissen. Hier auf St. Pauli jedoch war das normale Volk im Publikum überhaupt nicht mit Goethe pur einverstanden, als es merkte, es würde böse ausgehen. In Gruppen zogen die Besucher in Richtung Bühne, und die starken Männer unter ihnen drohten lautstark dem Darsteller des Faust nachhaltige Bekanntschaft mit ihren Fäusten an, falls er nicht sofort und öffentlich das von ihm so schändlich entehrte Gretchen heiraten würde. Das hatten sie ihren Begleiterinnen versprochen.
Erklärungsversuche des Mimen, dies sei nicht so ganz im Sinne des verblichenen Autors, machten keinen Eindruck. Entweder reiche er ihr sofort die Hand fürs Leben oder er bekäme von ihnen ein paar aufs Maul. Schließlich gab er improvisierend nach. Der Abend endete mit ungeteiltem Beifall aller Besucher. Die einen freuten sich übers Happy End, die anderen über die überraschende Schlussvariante, die sie so nie wieder erleben würden.
Alle fühlten sich gut unterhalten.
Nichts aber scheint schwerer machbar als die hohe Kunst der Unterhaltung. Nichts schwerer zu produzieren als lässig leichtfüßig daherkommende Heiterkeit. Also muss es von Fall zu Fall mit List und Tücke versucht werden. Weil zum Beispiel Pocher nicht nur ein manchmal unerträglicher Angeber ist, sondern auch ein gewitzter Puck sein kann und